Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Epilog
In dieser Nacht sollte ein Sturm aufziehen, aber noch lag die Ostsee ruhig da. Zwischen den Kaiserbädern, deren Seebrücken hell erleuchtet in das Meer ragten, und den großen Schiffen am Horizont war nicht einmal einer der Usedomer Fischer auf dem Wasser unterwegs.
Nur ein kleines Boot glitt unter dem gleichmäßigen Röhren seines Außenbordmotors immer weiter auf die dunkle See hinaus.
Nachdem die Fahrt gestoppt wurde und der Kahn in den seichten Wellen schaukelte, leuchtete für ein paar Minuten ein schwaches, gelbschimmerndes Taschenlampenlicht in die Dunkelheit. Auf den Bootsplanken wurde ein großes Plastikbündel sichtbar, dessen Konturen eindeutig einen menschlichen Körper erkennen ließen. Es war mit einem groben Strick mehrfach umwickelt und verknotet.
Nachdem zwei mit Wasser gefüllte Benzinkanister an den Tauen befestigt waren, wurde die Lampe ausgeknipst.
Mit lautem Platschen gingen zuerst die schweren Kanister, dann das Bündel über Bord. Das Boot neigte sich gefährlich auf seine Backbordseite, fast wäre es gekentert.
Dann erstarben die Geräusche. Stille. Das leise Plätschern kleiner Wellen am Rumpf war kaum wahrnehmbar.
Eine halbe Stunde später traf das Boot auf den Sandstrand ein paar hundert Meter westlich der Heringsdorfer Seebrücke, wurde herausgezogen und vertäut. Niemand hatte die Person bemerkt, die sich in der Dunkelheit schnell entfernte.
»Wo ist denn nun die berühmte Heringsdorfer Seebrücke?«
Maja Vogelsang blickte ihre Kundin, die ihr diese Frage im schönsten sächsischen Dialekt gestellt hatte, erstaunt an. »Hier! Sie stehen mitten drauf«, erklärte sie etwas zögernd, nicht ganz sicher, ob die Frage ernst gemeint war.
»Häh? Das ist doch keine Brücke, das ist eine Einkaufspassage.«
»Genau! Die Passage auf der Seebrücke. Gehen Sie einfach weiter, durch die Tür da vorn, dann kommen Sie auf einen Steg, dann zur Mittelplattform, da sind auch Läden, dann wieder Steg, vorn an der Spitze befinden sich ein Restaurant und der Schiffsanleger. Das Ganze liegt über dem Wasser und heißt deshalb Seebrücke.«
»Na so was, unter einer Brücke stelle ich mir etwas ganz anderes vor«, erklärte die Urlauberin vorwurfsvoll. Sie sah sich in dem kleinen Laden um, nahm ein paar Dinge in die Hand, legte sie wieder hin und verließ ihn dann kopfschüttelnd.
Die Verkäuferin schaute ihr kurz hinterher, dann blieb ihr Blick an einer jungen Frau hängen, die gerade an dem Geschäft vorbeischlenderte. Sie war mittelgroß und schlank, das Gesicht hatte sie zur anderen Seite gewendet, aber Maja hatte sofort das Gefühl, sie zu kennen, und war sich dessen ganz sicher, als die Frau mit beiden Händen von hinten in das lange blonde Haar griff, es mit der rechten Hand zu einem Pferdeschwanz bündelte und dann wieder auseinanderfallen ließ. Diese Geste kannte sie. Auch den bewusst lässigen Gang, der Selbstbewusstsein vortäuschen sollte. Vor ihrem inneren Auge sah sie kurz ein hübsches, junges Gesicht mit einem trotzigen Mund und flackerndem Blick. Aber sie konnte das Bild nicht festhalten und als die Frau unter den anderen Leuten, die auf der Seebrücke flanierten, verschwand, wollte sie am liebsten hinterherlaufen.
›Wer war das?‹ Sie ärgerte sich, weil es ihr einfach nicht einfiel. Es musste jemand sein, den sie gut kannte, aber längere Zeit nicht gesehen hatte. Vielleicht aus ihrem Heimatdorf? ›Hoffentlich kommt sie noch einmal vorbei‹, dachte sie. Die Neugier ließ Maja mal wieder keine Ruhe.
Eine ältere Frau riss sie aus ihren Gedanken. »So einen Laden hatte ich früher auch. Auf der alten Seebrücke.«
»Wirklich? Das ist ja interessant. Das muss doch dann wohl in den Fünfzigern gewesen sein, oder?«, entgegnete Maja.
»Stimmt!« Die zierliche weißhaarige Dame lächelte wehmütig. Eigentlich war es nicht ihre Art, fremde Menschen anzusprechen, aber die freundliche Verkäuferin gefiel ihr.
Maja war auch nicht mehr ganz jung mit ihren 55 Jahren, die Dauerwelle, die sie sich von keinem Friseur ausreden ließ, verlieh ihr ein etwas altbackenes Aussehen und auch die Kleidung konnte nicht gerade als modisch durchgehen, was zum Teil ihrer vollschlanken Figur geschuldet war.
Es waren gerade keine weiteren Kunden im Laden und Maja schien tatsächlich interessiert, deshalb erlaubte sich die ehemalige Verkäuferin, ausführlich in ihren Erinnerungen zu kramen. »Mein Laden war ganz ähnlich wie dieser, auch nicht sehr groß, wir haben Andenken verkauft, vieles aus Muscheln oder Schildplatt, echten und künstlichen Bernsteinschmuck, Gläser und Schalen mit Wappen, Ostseebilder – lauter Kitsch eben, aber die Gäste haben das damals gern mitgenommen. Wir hatten auch noch Strandspielzeug: Eimer und Förmchen, Schwimmringe und Wasserbälle.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Am 27. Juni 1958 war es, den Tag vergesse ich nie. Ich hatte vormittags Ware bekommen und einige Wasserbälle aufgeblasen, um festzustellen, ob sie die Luft halten. Abends habe ich sie dann auf dem Feuer tanzen sehen. Die ganze Seebrücke hat lichterloh gebrannt. Sie war ja nur aus Holz. Und unter den Geschäften, in den Hohlräumen, haben wir die Verpackungen aufbewahrt. Ja, da brauchte man nur ein Streichholz ranhalten.« Sie seufzte tief. »Das war wirklich schlimm. Ganz Heringsdorf stand unter Schock. Es war eine so schöne Seebrücke, die schönste in Deutschland, hieß es. Und das Wahrzeichen der Insel Usedom. Sie war auch schon 500 Meter lang, damals was ganz Besonderes, Einmaliges. In der Form war sie ähnlich wie diese, aber mit hohen, spitzen Türmen und vielen Schnitzereien verziert. Aber, na ja«, sie lächelte freundlich, »diese ist auch schön. Und Ihr Laden gefällt mir. Sie haben viel schönere Sachen als wir damals.«
»Hat man die Brandstifter eigentlich gefasst?«, fragte Maja noch schnell, denn jetzt betraten einige Kunden den Laden.
»Ja, es waren Jugendliche aus dem Ort. Sie sind ins Gefängnis gekommen.«
Die Verkäuferin hätte gern noch mehr über die alte Seebrücke erfahren, aber die Frau winkte ihr noch einmal kurz zu und verließ das Geschäft. ›Ich müsste Valentin mal fragen‹, dachte Maja. ›Der weiß bestimmt mehr darüber. Die fremden Reiseleiter erzählen den Gästen doch nur Unsinn.‹
Während Maja eine Kundin abkassierte, sah sie durch die Scheibe erneut die junge Frau, die ihr vorhin so bekannt vorgekommen war. Sie stand jetzt vor dem Schaufenster des Schmuckladens. Plötzlich drehte sie den Kopf zur Seite und zog die Schultern hoch, so als wollte sie nicht erkannt werden. Ja, das war es, das Auffällige an dieser Passantin. Sie wollte nicht erkannt werden, schien sich zu verstecken, aber auch viel Zeit zu haben. ›Jedenfalls ist es keine Touristin‹, dachte Maja, ›und ich kenne sie! Wenn ich nur mal ihr Gesicht sehen würde. Irgendwas stimmt nicht mit ihr, da bin ich mir ganz sicher.‹
Am Abend, als die Verkäuferin zu Haue im Sessel ihre müden Füße massierte, fiel es ihr plötzlich ein. ›Das war eine von den Ludwig-Schwestern! Myrna oder Luisa. Sie sind sich ziemlich ähnlich, waren es jedenfalls immer.‹ Maja war mal gut mit ihnen befreundet gewesen, hatte sie aber schon lange nicht mehr gesehen. Sie ahnte nicht, dass sie die eine ihrer ehemaligen Freundinnen auch nie wiedersehen würde.
Luisa bummelt durch das große Einkaufscenter mitten in Hamburg. Sie wirft einen sehnsüchtigen Blick in einen Backwarenshop, geht aber schnell weiter. Wie gern würde sie jetzt einen Kaffee trinken! Aber dafür kann sie kein Geld ausgeben, es reicht ohnehin nicht mehr lange. Um sich abzulenken, geht sie in ein Modegeschäft, sieht sich Kleidung an und nimmt sogar ein paar Teile mit in eine Kabine. Sie zieht eine Hose an und betrachtet sich im Spiegel. ›Sieht toll aus‹, stellt sie fest, ›ich bin wieder richtig schlank geworden. Armut ist eine ziemlich wirksame Diät.‹ Frustriert verzichtet sie darauf, die anderen Kleidungsstücke anzuprobieren. Sie kann sie sich ohnehin nicht leisten, und etwas zu stehlen, das traut sie sich nicht.
Als sie in Richtung Ausgang schlendert, blickt Luisa in zwei bekannte Gesichter und grüßt unwillkürlich. Sofort zuckt sie erschrocken zusammen und geht schnell weiter, ohne sich umzudrehen. Erst an der anderen Seite des Ladens bleibt sie hinter einem Regal stehen und holt tief Luft. Sie spürt ihr Herz bis in den Hals schlagen. Nach einer Weile späht sie vorsichtig um die Ecke. Dann schleicht sie sich langsam zurück. Warum nur hat sie so reflexhaft gegrüßt? Sie sieht die beiden immer noch an der Stelle stehen, an der sie sie getroffen hat. Luisa zieht sich die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf und geht hinter einem Kleiderständer so nah wie möglich heran. Sie muss unbedingt wissen, worüber sie reden, ob das Ehepaar sie erkannt hat.
Sie steht jetzt dicht hinter ihnen, nur durch eine Reihe Blusen von den beiden getrennt. Die Frau deutet immer wieder mit dem Finger in die Richtung, in die Luisa verschwunden ist und redet lebhaft auf ihren Mann ein. Warum ist sie nur so aufgeregt? Endlich kann Luisa das Gespräch verstehen.
»Das kann sie nicht gewesen sein, du weißt genauso gut wie ich, dass Luisa tot ist. Meinst du, sie spukt hier in Hamburg durch die Kaufhäuser?«
»Aber ich habe sie doch genau gesehen. Und sie hat sogar gegrüßt. Sie hatte die gleiche Jacke an wie immer. Nur die Haare trägt sie jetzt kurz.«
»Vielleicht war es Myrna. Die beiden sahen sich doch ziemlich ähnlich.«
»Also, ich bitte dich. Ich kann doch Myrna und Luisa unterscheiden.«
›Das solltest du‹, denkt Luisa, ›nachdem wir zwanzig Jahre lang Nachbarn waren. Aber wieso denkt der alte Trottel, dass ich tot bin?‹
»Die Leiche wurde doch wohl nie gefunden«, überlegt die Frau jetzt, und Luisa, die sie nicht sehen kann, erinnert sich, wie die dürre Blondine ihre spitze Nase rieb und wie ihre Augen blitzten, immer dann, wenn sie im Dreck ihrer Nachbarn wühlte. »Wahrscheinlich wurde sie gar nicht ermordet, sondern ist mal wieder einfach abgehauen. Das würde ihr auch ähnlich sehen!«
›Ermordet? Das wird ja immer schöner. Wie kommen die darauf, dass ich ermordet wurde? Das ist doch makaber.‹ Luisa bekommt eine Gänsehaut. Sie hört noch etwas von einem Boot und einem Leichenhund, aber die beiden gehen jetzt langsam weiter und Luisa bleibt wie versteinert stehen.
Am Nachmittag bummelt Luisa durch die Stadt. Es nieselt ein wenig, ist aber zum Glück recht warm für diese Zeit im späten Herbst. Immerhin ist es schon Ende November, richtig kalt war es für ein paar Wochen im Oktober geworden. Gewohnheitsmäßig sieht sie in jeden Abfallkorb, findet heute aber nur eine einzige Pfandflasche. Sie ist immer noch aufgeregt über ihr Erlebnis vom Vormittag.
›Wenn ich doch nur mit Myrna reden könnte! Sie wird doch wohl nicht auch denken, dass ich tot bin?‹ Dieser Gedanke erschreckt Luisa so, dass sie unwillkürlich stehen bleibt. Ein Mann rempelt sie an und schimpft. Sie tritt zur Seite und setzt sich auf eine Bank an einer Bushaltestelle. Fieberhaft überlegt die junge Frau, wie sie ihre Schwester erreichen kann. Es gibt keine andere Möglichkeit, sie muss nach Hause zurückkehren! Eigentlich war es ihr schon lange klar. Sie kann nicht hier in Hamburg überwintern, ohne Unterkunft, ohne Geld, ohne Papiere. Seit Monaten schläft sie im Auto, und nicht einmal das gehört ihr. Es ist Myrnas alter Golf, aber sie durfte ihn schon immer nutzen, und ihre Schwester wollte ihn ihr ohnehin schenken.
Der Entschluss steht fest. Luisa ist jetzt sogar erleichtert, dass sie es nicht mehr hinauszögern kann. Im Gegenteil, jetzt will sie so schnell wie möglich nach Hause, auf die Insel Usedom.
›Ob das Auto noch fährt, wenn sie denn endlich einmal die Batterie aufladen lässt?‹ Sie könnte beim ADAC anrufen und sich als Myrna ausgeben, die ist dort Mitglied. Aber vielleicht verlangen die einen Ausweis zu sehen. Oder sie spricht einfach einen Autofahrer an, der einen netten Eindruck macht, und bittet um Starthilfe. Und dann? Luisa muss nicht in ihr Portemonnaie sehen, um zu wissen, dass sie noch genau 52,63 € besitzt. Damit bekommt sie das Auto nicht einmal vollgetankt und auf keinen Fall reicht es bis nach Usedom. Soll sie einfach so weit fahren, wie sie kommt, und es dann per Anhalter weiter versuchen?
Ein gelber Reisebus fährt an die Haltestelle. Postbus liest Luisa. Spontan springt sie auf und spricht den Busfahrer an. »Fahren Sie zufällig auf die Insel Usedom?«
»Zufällig nicht. Aber planmäßig.«
»Und wann?«
»Um 15.30 Uhr.« Er sieht auf die Uhr. »Also in einer Stunde und vierzig Minuten. Und dann wieder übermorgen.«
»Und was kostet das?«
»15 €. Aber so einfach geht das nicht. Sie müssen die Fahrt buchen. Übers Internet oder …«
»Bitte«, unterbricht Luisa den jungen Mann und blickt ihn flehend an, »ich muss unbedingt auf die Insel, so schnell wie möglich. Gibt es denn gar keine Möglichkeit, dass ich heute mitfahren kann?«
»Na ja«, der Fahrer überlegt kurz, dann zuckt er mit den Schultern, »der Bus ist sowieso halb leer. Also von mir aus. Was ist mit Gepäck?«
»Ich wohne gleich um die Ecke. Ich hole meine Sachen und bin pünktlich wieder hier, okay?«
Ihr Golf steht auf dem Hinterhof eines großen Mietshauses, zwischen einem anderen Autowrack und einem halbzerfallenen Schuppen. Anscheinend ist noch niemandem aufgefallen, dass hier jemand übernachtet. Luisa ist immer wieder froh, dass die Kinder heute nicht mehr draußen spielen, sondern ihre Abenteuer bei Computerspielen suchen. Trotzdem sieht sie sich gewohnheitsmäßig um, bevor sie hinter den Schuppen zur Fahrerseite des Autos schlüpft.
Einen Moment lang bleibt sie sitzen und überlegt. Sie weiß, sie kann es nicht hinausschieben, sie muss zurück. Ihre Sehnsucht ist unbändig, nach Myrna, nach richtigen Gesprächen mit Menschen, die sie kennt. In den letzten Monaten hat sie manchmal tagelang kein Wort gesagt. Und wenn, dann waren es belanglose Bemerkungen zu fremden Leuten. Sie wird wahnsinnig, wenn sie noch lange allein bleibt. Aber da ist immer noch die Scham, die Angst, sich im Heimatdorf zu zeigen. Das schafft sie nicht, sie kann keine Fragen beantworten, bevor sie mit Myrna gesprochen hat.
›Am besten wäre es, wenn mich niemand erkennt‹, denkt sie. ›Ich muss mein Aussehen verändern.‹ Sie greift in das Handschuhfach. Tatsächlich, da ist die schwarze Haarfarbe, die sie gleich am ersten Tag in Hamburg gekauft und dann völlig vergessen hat. Ohne noch lange zu überlegen, greift sie nach der Packung und steigt hastig aus, dann beugt sie sich noch einmal ins Auto und zieht ein paar Kleidungsstücke hervor, die auf dem Rücksitz unter einer Decke verborgen waren. Schnell läuft sie über den Hof zu einem flachen und heruntergekommenen Nebengebäude, dessen Eingangstür schon etwas schief in den Angeln hängt. Ein großer Wasserkessel steht hier, der von unten beheizt werden kann, sogar Holz liegt noch in einer Ecke. Sie hat sich aber nie getraut, hier ein Feuer anzuzünden, irgendjemand hätte den Rauch sehen und die Feuerwehr rufen können. In dieser alter Waschküche hat sie sich monatelang nur mit kaltem Wasser gewaschen, froh, dass der Wasserhahn in der Ecke noch funktionierte. Sie zittert vor Nervosität, als sie jetzt die Packung aufreißt und die Anleitung liest. Zwanzig Minuten einwirken lassen – das muss sie schaffen! Vielleicht reichen auch fünfzehn Minuten, ihr Haar ist sehr fein. Zum Glück hat sie es schon vor Wochen kurz geschnitten.
Nachdem die Farbe aufgetragen ist, zieht Luisa sich um. Sie hat absichtlich ihre Schwangerschaftskleidung gegriffen, jetzt zieht sie mehrere Pullover übereinander, dann die weite Hose und eine große Bluse darüber. ›Nein‹, denkt sie dann, ›das sieht komisch aus, damit falle ich nur auf. Außerdem schwitze ich mich tot im Bus.‹ Schnell streift sie einen Pullover nach dem anderen wieder ab, sieht auf die Uhr und spült ihre Haare gründlich aus. Dann zieht sie die enge Jeans wieder an.
Wieder im Auto sieht sie in den Spiegel, erschrickt und lockert die nassen Haare mit den Fingern ein wenig auf. Macht sie die dunkle Tönung so blass? Oder ist es die Aufregung? Dann stopft sie hastig die Kleidungsstücke in eine Reisetasche. Sie kontrolliert das Handschuhfach, da liegt noch Myrnas Handy, das sie einsteckt. Die Flasche mit dem Leitungswasser kommt in die Tasche und noch etwas Unterwäsche. Jetzt liegt nur noch Sommerkleidung auf dem Rücksitz. Sie zieht die Wolldecke darüber und steigt aus. Dann dreht sie sich noch einmal um und holt die Decke aus dem Auto. Die anderen Sachen schiebt sie auf den Boden, zwischen die Sitze. Sie verschließt die Türen und läuft nach einem Blick auf ihre Armbanduhr zur Straße. ›Irgendwann muss ich zurückkommen und das Auto holen. Erst mal nach Hause!‹
Der gelbe Bus ist nicht ganz voll, Luisa hat eine Sitzbank für sich allein. Ihr Blick schweift über die karge Landschaft, unwillkürlich fällt ihr Heinrich Heine ein, für den sie als Jugendliche geschwärmt hat: »Im traurigen Monat November war’s«. Wie lange hat sie keine gute Literatur mehr gelesen! In den vergangenen Monaten hat sie sich die Zeit mit Taschenbüchern vertrieben, die die Leute irgendwo abgelegt hatten. Einmal hat sie ein paar wirklich gute Bücher aus einem Papiercontainer gefischt. Richtig, die liegen immer noch im Auto, sie hat sie unter einen Sitz geschoben.
Im zurückliegenden Winter, als sie noch auf Usedom lebte, hat sie nur gelesen, was sie für wertvoll hielt, die deutschen Klassiker, aber auch Remarque, Dürrenmatt, Thomas Mann, Fontane und Tucholsky. Manches im Flüsterton, anderes halblaut, die schönsten Gedichte und auch Hemingways »Der alte Mann und das Meer« hat sie ihrem Baby laut vorgelesen. Wenn klassische Musik einem Kind im Mutterleib gut tut, warum dann nicht Worte, die Freude machen und Wohlbefinden erzeugen? Wenn nicht, bekommt es wenigstens eine gebildete Mutter.
Es war eine so schöne Zeit, vielleicht die beste ihres Lebens. Alle waren lieb zu ihr, nicht nur Myrna, die hat sich immer gekümmert. Robin vor allem, ihr schöner, kluger, heiß geliebter Mann. Sie haben sich so auf das Kind gefreut, sich so sorgfältig vorbereitet, sie hat auf ihre Gesundheit geachtet, alles war bestens, sie konnte es kaum erwarten, ihren Sohn im Arm zu halten. Gut, die Geburt dauerte sehr lange, die Schmerzen waren beinahe unerträglich, aber sagt man nicht, wenn das Kind da ist, wäre das alles vergessen? Was ist eigentlich passiert?
Zuerst war alles wie erwartet, sie empfand Liebe und Zärtlichkeit, Stolz und ein überschwängliches Mutterglück. Endlich konnten sie nach Hause, der kleine Linus war kerngesund, er würde sich wohlfühlen in seinem Nest, seiner perfekten kleinen Welt. Ihm würde es an nichts fehlen, er sollte wohlbehütet aufwachsen, nicht so wie Luisa, die ihren Vater nicht gekannt und ihre Mutter viel zu früh verloren hatte.
Aber er fühlte sich nicht wohl – er quengelte, er weinte, er schrie, sobald Luisa ihn in sein Bettchen legte. Also trug sie ihn mit sich herum. Wenn er einmal kurz einschlief, meist kurz nach dem Stillen, nutzte sie die Zeit, um schnell zu duschen. Manchmal kam sie den ganzen Tag nicht dazu. Sie hatte keine Zeit zum Kochen, aber sie hatte ohnehin keinen Hunger. Sie war völlig erschöpft, konnte sich auf nichts konzentrieren, eigentlich gar nicht mehr klar denken. Am liebsten hätte sie sich in ihr Bett verkrochen und nur noch geweint. Aber das Baby brauchte sie. Immer, ununterbrochen, Tag und Nacht. Robin war keine Hilfe. Er kam abends von der Arbeit nach Hause und wusste gar nicht, wen er zuerst trösten sollte, seine Frau oder sein Kind. Seine ständigen Redensarten – »Das ist normal.«, »Das geht vorbei.«, »Das geht allen Müttern so.« – reizten Luisa noch mehr. Als sie keine Milch mehr hatte, war sie erleichtert. Das Stillen war ihr unangenehm, manchmal schmerzhaft. Außerdem konnte sie jetzt, wenn sie dem Kind sein Fläschchen gab, kontrollieren, wie viel es trank und konnte Hunger als Ursache für das unablässige Schreien ausschließen. Und endlich konnte sie auch Tabletten gegen ihre ständigen Kopfschmerzen nehmen.
Im Bus sitzend denkt Luisa zum ersten Mal intensiv über diese Zeit nach. Fast genau ein halbes Jahr ist es her und bisher konnte sie die Erinnerung an die ersten vier Wochen nach der Geburt ihres Sohnes erfolgreich verdrängen. Sie war nur eine dunkle Wolke in ihrem Gehirn, unwirklich wie ein Alptraum, manchmal ein Schreck, wenn sie unwillkürlich in einen Kinderwagen blickte oder ein Baby weinen hörte. Heute weiß sie, sie hätte Hilfe suchen, zu einem Arzt gehen müssen. Aber sie konnte ja nicht mal mit Robin darüber sprechen. Sie hat es versucht, aber er hat sie nur verständnislos angeblickt. Myrna hätte die Verzweiflung ihrer kleinen Schwester sicher gespürt, aber die hatte gerade selbst mehr als genug um die Ohren. Nach einem Autounfall, den sie verschuldet hatte, lagen sie und ihr schwer verletzter Mann lange im Krankenhaus. Dann waren sie endlich wieder zu Hause, aber Luisa konnte mit Myrna nicht über ihre Sorgen reden. Joe saß von nun an im Rollstuhl. Die beiden mussten umbauen, ihren Alltag völlig neu organisieren – dagegen erschienen Luisas Probleme so unbedeutend.
Der Bus fährt jetzt durch Rostock, die Hälfte der Strecke ist bereits geschafft. Luisa betrachtet die hell erleuchteten Straßen und erinnert sich, dass sie früher in jedem Jahr mit Myrna hierher zum Weihnachtsmarkt gefahren ist. ›Ja, richtig! Es ist bald Weihnachten.‹ Im vorigen Jahr hat sie sich noch vorgestellt, wie toll es wohl sein würde, mit ihrem Kind Weihnachten zu feiern. Wie viel mag der Kleine davon schon mitbekommen? Sie sieht immer noch das kleine, schreiende Bündel vor sich, mit rotem Gesicht und offenem Mund, mit den Fäustchen in der Luft fuchtelnd, das sie am liebsten geschüttelt hätte, nur damit es einmal still wäre.
Jetzt weiß sie wieder, warum sie damals geflohen ist. Es war panische Angst. Angst vor sich selbst, dass sie ihrem eigenen Kind etwas antun und ihm ein Kissen auf das Gesicht drücken oder es fallen lassen würde, nur damit es einmal ruhig wäre – irgendetwas Schlimmes, etwas Nichtwiedergutzumachendes. Oder sich selbst, sie hatte schon eine Packung mit Schlaftabletten in der Hand. Dann hätte auch ihr Kind ohne Mutter aufwachsen müssen. Aber vielleicht wäre das am besten für den Kleinen. Sie ist eine schlechte Mutter. Sie kann ihr eigenes Kind nicht lieben. Manchmal hat sie es gehasst und dann hat sie sich selbst gehasst für dieses Gefühl. Mit wem hätte sie darüber reden sollen? Über ihren Verdacht, das Baby wäre im Krankenhaus verwechselt worden, es war ihr so fremd, so empfindet man doch nicht für seinen eigenen leiblichen Sohn. Nein, sie ist einfach nicht normal, psychisch gestört, wahrscheinlich hätte man ihr das Kind weggenommen, um es vor ihr zu schützen. So ist es wenigstens bei seinem Vater, und Myrna kümmert sich sicher auch um ihren Neffen, so wie sie sich immer um ihre kleine Schwester gekümmert hat.
Darüber hat sie aber erst viel später nachgedacht. Damals im Mai war es ein spontaner Entschluss. Der Kleine hatte den ganzen Tag geschrien, sie hatte Kopfschmerzen, die Tabletten halfen nicht mehr. Dann kam Robin nach Hause. Er nahm den Kleinen auf den Arm, redete leise zu ihm und das Kind war ruhig. Es schien sogar zu lächeln, unfassbar. »Na siehst du«, sagte er in einem herablassenden Ton, als wäre es das Einfachste auf der Welt, ein Baby zu beruhigen und nur sie wäre dazu nicht fähig. Luisa hätte vor Wut und Verzweiflung heulen können. Als ihr Mann dann nach einem Blick in die Küche noch vorwurfsvoll hinzufügte, »Du könntest auch mal wieder was kochen, du weißt doch, dass ich hungrig von der Arbeit komme«, lief sie hinaus. Auf der Wiese hinter dem Haus blieb sie stehen und atmete tief ein. Es war ein wunderschöner Frühlingsabend, die Luft war schon ganz mild, es roch nach Erde und Gras. Und süß nach Blumen, Jasmin vielleicht oder Flieder, ein Duft, der Sehnsucht weckte. Wonach genau, wusste Luisa nicht, vielleicht einfach nach Ruhe und Frieden. Sie sah hinüber zum Haus ihrer Schwester. Wenn sie doch mit Myrna reden könnte! Am Nachmittag hatte sie es versucht, war mit dem schreienden Baby hinübergegangen, aber ihre Schwester hatte sie sofort abgewimmelt. »Bitte, Luisa, jetzt nicht!« Sie hatte sie förmlich angeschnauzt, das war ganz ungewöhnlich und Luisa hatte sich tief gekränkt zurückgezogen.
Der schwarze Golf stand vor dem Haus, der Unfall war mit Joes Auto passiert. Ohne darüber nachzudenken, was sie vorhatte, ging Luisa wieder hinein. Aus der Küche hörte sie Robin ein Kinderlied summen, der Kleine war still. Sie ging die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und warf Kleidung in eine Reisetasche, hauptsächlich weite Hosen und Pullover, sie war noch nicht dazu gekommen, sich neue Sachen zu kaufen. Aus dem Bad holte sie ein paar Handtücher, ihre Zahnbürste, Duschgel, ihre Gesichtscreme, eine Haarbürste und Shampoo. Sie beeilte sich, nicht aus Angst, dass Robin sie zurückhalten könnte, sondern davor, dass ihre Vernunft einsetzte oder ihr Mut, der nur aus Verzweiflung entstanden war, sie verließ. Einem plötzlichen Impuls folgend, klemmte sie sich noch eine Wolldecke unter den Arm, nahm im Vorbeigehen ihre Handtasche und eine Jacke mit und verließ, ohne sich noch einmal umzusehen, das Haus.
Als sie aus dem Dorf fuhr, begann es zu regnen. Ziel- und planlos war sie losgefahren, einfach Richtung Westen, auf die Autobahn, tanken, weiter. Plötzlich fand sie sich in Hamburg wieder, einer Stadt, die sie schon immer mochte und in der sie garantiert niemand kannte. ›Nur ein paar Tage Ruhe‹, hatte sie zu sich selbst gesagt, ›abschalten, nachdenken‹. Mit etwas Abstand würde sie schon wieder »normal« werden, sie würde Sehnsucht nach ihrer kleinen Familie bekommen und endlich würde sich auch die ganz natürliche Mutterliebe wieder einstellen.
Aber genau das geschah nicht. Nicht nach drei Tagen, auch nicht nach drei Wochen. Das war schon viel zu lange für eine einfache »Auszeit« einer jungen Mutter, das war Luisa klar, aber sie konnte es nicht ändern. Sie konnte auch nicht richtig nachdenken über ihre Situation, ließ einfach alles geschehen. Robin machte sich sicher Sorgen, er würde sie suchen lassen und irgendwann würde die Polizei sie aufgreifen und nach Hause bringen. Dann würde sie ihm alles erklären und … würde, würde, würde. Irgendwann, nur jetzt nicht, sie war noch nicht so weit. Außerdem hoffte Luisa, dass Myrna dann wieder die alte sein und ihr raten und helfen würde, so wie sie es doch immer getan hatte.
Aber auch das geschah nicht. Ob Robin vielleicht froh war, sie los zu sein? Sicher kam er mit seinem Sohn allein zurecht. Aber was war mit Myrna? Warum suchte sie nicht nach ihrer Schwester? Was hat Robin ihr erzählt? Als sie nach Hamburg fuhr, hat Luisa noch gedacht, sie kann ihre Schwester jederzeit anrufen und ihr zumindest sagen, wo sie ist und dass es ihr gut geht. Aber dann fand sie Myrnas Handy im Handschuhfach – natürlich mit leerem Akku. Ihr eigenes Handy lag zu Hause, sie wusste nicht einmal genau wo. Damit war jede Verbindung zur Familie unterbrochen. Luisa beschloss, einfach abzuwarten. Das war ohnehin das, was sie am besten konnte. Wenigstens hatte sie die Kreditkarte von ihrem »geheimen Konto«, ihrer stillen Reserve, von der nicht einmal Robin wusste. Myrna hatte es schon vor Jahren eingerichtet und 2 000 € vom Erbe der Eltern darauf eingezahlt. Es lief auf Myrnas Namen, da Luisa immer mal Sozialhilfe bezog, nach einer abgebrochenen Lehre oder einer hingeworfenen Arbeit, da war es vielleicht besser, kein Guthaben auf der Bank zu haben.
In Hamburg hat Luisa nur zwei Nächte in einer billigen Pension gewohnt, dann ging sie bei ihrem Bummel durch die Innenstadt in eine Einfahrt und fand den verlassenen Hinterhof, bestens geeignet, um das Auto zu parken. Gleich in der ersten Woche in Hamburg kaufte sie sich einen engen kurzen Rock, eine freizügige, aber elegante Bluse und High Heels. Am Abend ging sie in ein Hotel, setzte sich in das Restaurant, bestellte ein Wasser und blickte immer wieder erwartungsvoll zur Tür, bis jedem, der sie beobachtete, klar sein konnte, dass sie versetzt worden war. Sie wurde von mehreren Männern angesprochen, bis sie endlich den richtigen fand. Es war ein sehr von sich überzeugter Geschäftsmann, der sie zunächst zum Essen und später mit dümmlichem Grinsen in sein Zimmer einlud. Luisa nahm das Angebot gern an. Ohne dass es zu mehr als vieldeutigen Blicken und eindeutigen Worten gekommen war, gelang es ihr, ein langes Schaumbad zu nehmen, Shampoo, Duschgel und ein Handtuch einzustecken und mit einem freundlichen »Danke, tschüss dann!« zu verschwinden. Dieser Trick war so einfach, dass er immer wieder funktionierte. Sie hätte leicht auch Brieftaschen oder Handys stehlen können, aber davor scheute sie zurück.
Sie ließ sich einfach treiben, genoss das Abenteuer, die Freiheit und schob eine Rückkehr in ihr altes Leben immer wieder hinaus. Manchmal wunderte sie sich, dass sie gar keine Sehnsucht nach ihrem Baby hatte, aber den Gedanken verdrängte sie schnell wieder. Sie war eben nicht normal, was konnte sie dafür.
An einem Augustabend bummelte Luisa an der Binnenalster entlang, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie setzte sich auf eine Bank und blickte mit betont gelangweiltem Gesichtsausdruck umher, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Kurz zuvor hatte sie eine größere Geldsumme abgehoben und wie immer sorgfältig am Körper versteckt. Sowohl das Auto als auch ihre Umhängetasche konnten gestohlen werden, an ihre Unterwäsche kam niemand heran. Hatte sie jemand am Geldautomaten beobachtet? Sie stand auf und ging schnell in eine schmale Straße, bog mehrmals um Ecken und verbarg sich eine Zeit lang in einem Hauseingang, bis sie sich sicher fühlte. Aber als sie sich in ihr Auto setzte, sah sie einen Schatten in der Einfahrt, offensichtlich hatte jemand den Hof betreten und sich versteckt. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Hastig schloss sie sich ein und versuchte dann, in den dunklen Ecken des Hinterhofes etwas zu erkennen. Nichts. Sie überlegte. Niemand durfte wissen, dass sie in ihrem Auto schlief, schon gar nicht jemand, der wusste, dass sie Geld bei sich hatte. Mit wenig Hoffnung steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und war selbst überrascht, dass der alte Golf nach kurzem Stottern ansprang. Sie hatte das Auto seit Wochen nicht gestartet, zum einen weil sie befürchtete, dass sich jemand anderes auf den Platz stellte, zum anderen hoffte sie, dass es durch die ringsherum wuchernde Natur immer weniger auffiel.
Dann fuhr sie langsam durch das hohe Gras, schaltete erst in der Einfahrt das Licht ein und rollte gemächlich und ziellos durch Nebenstraßen. Als die Öllampe aufleuchtete, fuhr sie an eine Tankstelle, füllte auch gleich Benzin und Kühlwasser nach und kaufte sich ein trockenes Brötchen und einen Becher Kaffee. Der Verkäufer erklärte ihr, wie sie am schnellsten zur Autobahn käme und ohne weiter darüber nachzudenken, fuhr Luisa zum ersten Mal wieder Richtung Heimat.
Als sie damals auf der Insel ankam, wurde es bereits hell. Ihr fielen immer wieder die Augen zu. ›Noch eine halbe Stunde‹, dachte sie, ›dann bin ich bei Myrna. Ich lege mich einfach in ihr Bett und schlafe erst einmal. Dann erzähle ich ihr alles, sie wird es schon verstehen. Und dann macht sie, dass alles wieder gut ist.‹ Kurz hinter Zinnowitz ging nichts mehr. Sie wäre fast mit einem anderen Autofahrer zusammengestoßen, als sie auf die andere Fahrbahnseite geriet. Sie fuhr links in den Wald hinein, ignorierte die Verbotsschilder, blieb am Rand eines sandigen Weges stehen, legte den Kopf auf das Lenkrad und schlief ein.
Erst gegen Mittag wurde sie wach. Zwei Radfahrer hatten an ihre Scheibe geklopft, waren aber weiter gefahren, als sie den Kopf hob. Sie riss die Türen auf, die Hitze im Auto war unerträglich. Das lauwarme Wasser aus der Plastikflasche schmeckte widerlich, ebenso wie die trockenen Kekse. Trotzdem nahm sie beides mit, als sie ein paar Schritte in den Wald hineinging und sich auf eine weiche Moosbank setzte. Zuhause! Luisa atmete tief die würzige Luft ein, die nach Kiefern und Meer schmeckte.
Sie dachte lange nach. So einfach und selbstverständlich, wie es ihr noch heute Morgen erschienen war – jetzt konnte sie sich nicht aufraffen, in das Auto zu steigen und die letzte kurze Strecke zurückzulegen. Sie fürchtete sich am meisten davor, Robin gegenüberzustehen. Erst jetzt wurde ihr langsam klar, was sie ihm und dem Kind angetan hatte. Sie konnte doch nicht so einfach zurückkommen. Er würde sie vielleicht gar nicht ins Haus lassen.
Dann würde sie dastehen, auf der Dorfstraße, dem Gespött und der Verachtung der Nachbarn ausgesetzt. Wie konnte sie es nur anstellen, mit Myrna zu reden, ohne dass sie jemand anderes sah? Am besten wäre es, erst in der Nacht ins Dorf zu fahren. Aber hier konnte sie nicht so lange bleiben. Jetzt kamen schon wieder Radfahrer vorbei. Außerdem hatte sie Hunger und brauchte dringend einen Kaffee. Luisa beschloss, nach Heringsdorf zu fahren.
Sie stellte ihr Auto im Parkhaus ab und ging zur Seebrücke. Wie erwartet, waren hier so viele Urlauber, dass sie in der Menge unterging. Dennoch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte sich immer wieder unsicher um, die Verkäuferin im Andenkenladen schien sie zu erkennen, sie musterte sie auffällig. Kannte sie die Frau? Sie hatte sich schnell weggedreht, als sie deren Blicke bemerkte. Luisa aß ein Fischbrötchen, trank einen Becher Kaffee, stellte fest, dass hier alles viel billiger war als in Hamburg und ging wieder zurück in die Passage, als sich gerade eine Reisegruppe hindurchschob. Vor einem Schmuckladen blieb sie stehen. Im Schaufenster spiegelte sich das gegenüberliegende Geschäft und sie beobachtete die ältere Verkäuferin, die gerade mit eine Kundin sprach. Gerade, als ihr der Name einfiel – Maja Vogelsang, sie hatte mitten im Dorf, neben der Kneipe, gewohnt –, hatte die Frau sie erneut entdeckt und Luisa ging schnell weiter.
Auf dem Steg blieb sie stehen und sah hinunter zum Strand. Fast alle Strandkörbe waren belegt, dazwischen lagen die Menschen in Badehosen oder Bikinis auf bunten Strandlaken im schneeweißen, feinen Sand. In Ufernähe wurde Ball gespielt, kleine Kinder bauten Kleckerburgen oder planschten im flachen Wasser. Einige Teenager und Erwachsene warfen sich in die Gischt der sich brechenden Wellen, schwammen etwas weiter draußen oder ließen sich auf Luftmatratzen treiben. Luisa bedauerte, keinen Badeanzug dabei zu haben, die Ostsee sah verlockend aus.
Plötzlich sah sie ihn. Robin kam aus dem Wasser. Er strich sich durch die nassen Haare und ging zu einem Strandkorb, in dem eine sehr schlanke, dunkelhaarige Frau ein kleines Kind auf dem Schoss hielt. Während der Mann sich abtrocknete, starrte Luisa wie gebannt auf die kleine Gruppe. ›Das ist mein Kind, mein Sohn!‹, versuchte sie möglichst melodramatisch zu denken und wartete auf die Gefühle, die sich nun einstellen müssten. Sie würde jetzt gleich hinunterlaufen, das sie schmerzlich vermissende Kind an sich reißen, Robin würde sie beide in seine Arme schließen, die fremde Frau sich in Luft auflösen – Happy End, glückliche kleine Familie. Stattdessen blieb sie wie angewachsen stehen und beobachtete, wie der Kleine, den sein Vater jetzt hochgenommen hatte, die Arme nach der jungen Frau ausstreckte.
Als Luisa eine halbe Stunde später quer durch den Ort zurück zum Parkhaus lief, spürte sie Erleichterung. Ein Gefühl, für das sie sich sofort schämte. Was war sie für eine Mutter! Der Anblick ihres Kindes hatte nichts in ihr ausgelöst, keine Sehnsucht, keine Liebe, nur Schuldgefühl und Angst. Ja, sie hatte Angst. Vor der Verantwortung, vor den Pflichten, vor den Erklärungen, vor allem, was von ihr zu recht erwartet wurde. Erst als sie auf der A 20 in Richtung Westen nach Hamburg fuhr, empfand sie ein leises zärtliches Gefühl für Robin. Sie wollte nicht, dass er traurig war, hoffentlich ging es ihm gut mit der neuen Frau. An das Kind dachte sie nur mit Unbehagen, es war ihr fremd. ›Es geht allen besser, wenn ich nicht da bin‹, dachte sie trotzig. ›Auch Myrna. Ich muss ihr nur sagen, dass es mir gut geht, damit sie sich keine Sorgen macht. Sie wird sich schon denken können, dass ich mal wieder abgehauen bin, sie weiß ja, dass ich das Auto habe. Und dass ich Geld habe, weiß sie auch. Ich muss nur mal das Handy aufladen, da ist bestimmt Joes Nummer drin gespeichert, über ihn erreiche ich sie. Das mache ich gleich morgen.‹
›Erst am nächsten Tag ist mir eingefallen, dass ich keine PIN für ihr Handy hatte‹, erinnert sich Luisa jetzt und zieht das Telefon aus dem Seitenfach ihrer Handtasche, die sie auf dem freien Sitz neben sich abgestellt hat. Einer Eingebung folgend nimmt sie die Schutzhülle ab und blickt fassungslos auf den Zettel mit der vierstelligen Nummer, der darin versteckt war. Darauf hätte sie auch schon früher kommen können, Myrna konnte sich noch nie Zahlen merken.
Luisa starrt in die Dunkelheit. Es gibt keine Ablenkung, sie kann ihren Gedanken nicht entkommen. Nicht davonlaufen, wie sie es immer tut. Seit ihrer Kindheit ist sie allen Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen, hat sich immer darauf verlassen, dass ihre große Schwester alles wieder in Ordnung bringen, sich um die Trümmerhaufen, die sie hinterließ, kümmern würde. Endlich gesteht sie sich selbst ein, dass sie im Unterbewusstsein die ganze Zeit darauf gewartet hat, dass Myrna kommen, sie in die Arme nehmen und flüstern würde: »Hab keine Angst, alles wird gut.«
Aber diesmal ist sie nicht gekommen. Luisa fällt das Gespräch im Einkaufscenter ein. Warum denken die Leute, sie sei tot? Denkt Myrna das auch? Hat sie sie deshalb nicht gesucht? Ihr kommen die Tränen vor Mitleid und Entsetzen.
Als der Bus über die Wolgaster Brücke auf die Insel fährt, sieht Luisa auf ihre Armbanduhr. Es ist genau 20 Uhr, sie sind pünktlich. Am Bahnhof in Zinnowitz endet die Fahrt. Luisa setzt sich auf eine Bank auf dem hell erleuchteten Bahnsteig und überlegt. Wo kann sie jetzt das Handy aufladen? Sie benötigt die Telefonnummer von Joe. Die blauweiße Bahn fährt ein und hält. Spontan steigt sie ein. Koserow, Ückeritz, Bansin – in Heringsdorf verlässt sie den Zug. Diese Fahrt war fast genauso teuer wie die Busreise von Hamburg auf die Insel, aber das macht nichts, sie ist ja jetzt zu Hause.
Langsam bummelt Luisa durch den Ort. Es ist erst kurz nach neun Uhr abends, aber es sind kaum noch Menschen unterwegs. An der Seebrücke ist schon alles weihnachtlich geschmückt. Die große Granitkugel, die sich im Sommer auf einem Wasserfilm dreht, ist mit Schleife und Glitzerpapier als Geschenkpaket verkleidet, Rentier und Schlitten bieten sich als Foto-Hintergrund an und sind ebenso wie der Plastikweihnachtsbaum mit unzähligen winzigen Lämpchen geschmückt. Auch die Passage ist hell erleuchtet durch eine Fülle von Sternen und weihnachtlichen Girlanden.
Luisa tritt auf den Steg hinaus und blickt über das Wasser. Hinter der Ahlbecker Seebrücke blinkt der Swinemünder Leuchtturm, die farbigen Lichter, die die Hafeneinfahrt kennzeichnen und unter ihr das glitzernde Wasser. Dazu leises Plätschern, wenn die kleinen Wellen auf das Ufer treffen. Tief atmet sie ein. Zuhause!
Nach einer Weile wird ihr kalt und sie geht zurück in die warme Einkaufspassage. Hier sind inzwischen gar keine Spaziergänger mehr, nur zwei Männer vom Wachschutz stehen in einer Ecke und unterhalten sich leise. Luisa tritt wieder hinaus auf den Vorplatz und überlegt. Sie sollte jetzt in ein Restaurant gehen, sich ein Taxi bestellen lassen und zu Myrna fahren. Sie hat zwar kaum noch Geld, aber ihre Schwester wird die Fahrt bezahlen. Sie wird sie in die Arme schließen und das Denken übernehmen. Und dann kann Luisa aufhören, sich Sorgen zu machen.
Luisa geht ein paar Schritte auf das Kurhotel zu, dann bleibt sie stehen und setzt ihre Reisetasche wieder ab. Die ganze Zeit hat sie es sich so einfach vorgestellt. Jetzt fehlt ihr der Mut für diesen letzten Schritt nach Hause. Diesmal ist es doch anders. Sie hat ihr Kind im Stich gelassen und ist einfach ein halbes Jahr lang untergetaucht. Wenn Myrna ihr das nun nicht verzeiht? Und wie soll sie ihr überhaupt helfen? Nein, sie muss erst einmal nachdenken. Zögernd nimmt sie ihre Tasche wieder auf und sieht sich um. Dann geht sie die Treppe neben der Seebrücke hinunter. Sie benutzt die öffentliche Toilette unter dem Steg, wäscht sich die Hände und betrachtet sich im Spiegel. Wieder erschrickt sie vor dem eigenen Anblick. Die kurzen, pechschwarzen Haare verändern sie völlig. Niemand wird sie erkennen, das steht fest! Luisa hat keine Ahnung, wie viel sie jetzt wiegt, aber auf jeden Fall hat sie nach der Schwangerschaft abgenommen. Nicht nur der Busen ist viel flacher, alle ihre alten Kleidungsstücke sind zu weit geworden. Nicht, dass sie viel davon bei sich hätte. Bei ihrem plötzlichen Aufbruch, ihrer »Flucht« denkt sie jetzt, hat sie die bequemen Schwangerschaftsklamotten eingepackt, warum auch immer. Vorher hat sie gern Röcke oder Kleider getragen, die ihre Beine zur Geltung brachten. Außerdem war sie immer stark geschminkt. Jetzt ist sie total farblos, durch die dunklen Haare wirkt sie totenblass. Luisa kramt in ihrer Handtasche und findet ein Schminktäschchen. Sie zieht die Augenbrauen nach und tuscht die Wimpern, das gibt ihr ein etwas weniger unheimliches Aussehen. Als sie den kleinen Beutel in die Tasche zurücklegt, gerät ihr eine Brille in die Hände. ›Richtig!‹ – die hat sie im Handschuhfach des Autos gefunden. Sie muss Myrna gehören, obwohl Luisa sie noch nie bei ihr gesehen hat. Sie setzt sie auf und ist erstaunt, dass sie dadurch sogar besser sehen kann als vorher. Mehrmals setzt sie das dunkle Gestell ab und wieder auf und betrachtet ihre Umgebung. Das ist ja ein Ding! Vermutlich ist sie kurzsichtig, das ist ihr noch nie aufgefallen.