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1. Auflage 2017
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-031840-3
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pdf: ISBN 978-3-17-031841-0
epub: ISBN 978-3-17-031842-7
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Dieses Studienbuch setzt vieles von dem fort, worüber ich seit Jahren einmal die Semesterwoche im Karlsruher Schlosscafé mit Prof. Hans-Peter Schütt, Institut für Philosophie, spreche. Prof. Kurt Möser, Institut für Geschichte, danke ich für die kritische Lektüre und Diskussion großer Teile des Texts. Genau im richtigen Moment haben wir im Sommersemester 2016 zusammen ein Hauptseminar über Kolonialismus und Dekolonisation angeboten, das zum Prüfstand für Gobal-, Welt- und Universalgeschichtliches wurde. In der Lehre kann man, anders als bei PKW-Abgaswerten, nicht tricksen. Prof. Marcus Popplow, Institut für Geschichte, gab mir wichtige Hinweise auf aktuelle globalgeschichtlich ausgerichtete Literatur im Bereich der Technikgeschichte, wofür ich herzlich danke. Wie immer habe ich das Thema auch mit meinem akademischen Lehrer und Freund, Prof. Wolfgang Altgeld, Würzburg, diskutiert. Er empfahl auch, die Fischer-Weltgeschichte wegen ihrer hohen Verbreitung seit den 1960er Jahren rezeptionsgeschichtlich zu berücksichtigen. Erwähnenswert finde ich, wer mich auf das Thema der Weltgeschichte gebracht hat: der Bremer Neuzeithistoriker Imanuel Geiss (1931–2012), und zwar durch sein einzigartiges universalgeschichtliches Nachschlagewerk Geschichte griffbereit, das von 1979 bis 2004 erschien. Als Student in den Anfangssemestern konnte ich gar nicht verstehen, wieso von seiner Weite des Blicks im inhaltlichen Kanon eines deutschen Geschichtsstudiums praktisch nichts vorkam. Geiss besuchte mich im Sommer 2005 und hielt einen weltgeschichtlichen Vortrag in meiner Überblicksvorlesung zur Geschichte der Niederlande in der Neuzeit, in dem er zeigte, wie sich weltgeschichtliche Perspektiven entwickeln lassen: ob zu den chinesischen Motiven auf Delfter Fliesen und zu der abwertend gemeinten, die Verspätung ihrer Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft karikierenden Bezeichnung der Niederländer im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als den »Chinesen Europas«. Geiss war ein Vorbild. Besonderen Dank verdienen meine Lektoren bei Kohlhammer, Dr. Daniel Kuhn und Frau Jennifer Wilczek. Ihrer Beratung verdankt der Text viel an Stringenz.
Für seine Fehler und Fehlwahrnehmungen haftet der Autor ebenso wie für die Verwendung des generischen Maskulinums.
Dieses Buch ist meinem akademischen Lehrer Wolfgang Altgeld zum 65. Geburtstag gewidmet.
Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe, im August 2016
Es ist naturgemäß auf die spätestens seit 1990 im öffentlichen Diskurs so oft beschworene Globalisierung, zurückzuführen, dass das (relativ) neue Etikett › Global History‹ – oder deutsch eben ›Globalgeschichte‹ – mittlerweile wie selbstverständlich gebraucht werden kann. Diese Globalisierung ist ein politisch-ökonomisches Faktum, das sich in mehreren vermutlich irreversiblen Einzeltatsachen manifestiert: im Eintritt der Volksrepublik China und weiterer ehedem den sogenannten Entwicklungsländern zugerechneten Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft, in der weltumspannenden Vernetzung der großen Finanzplätze und in vielem anderen mehr. Wenn Global History ein Geschäft ist, das von Historikern betrieben wird, die unter solchen nicht nur relativ, sondern absolut neuen Randbedingungen arbeiten, dann nimmt es nicht wunder, dass diese Global History etwas anderes ist als das, was in früheren Zeiten unter so ambitionierten Bezeichnungen wie ›Weltgeschichte‹ oder ›Universalgeschichte‹ betrieben wurde. Die Erfahrung zu Beginn des 21. Jahrhunderts lehrt fast täglich, dass einzelne Staaten, selbst wenn sie die Größe und das Gewicht Russlands, Chinas oder der Vereinigten Staaten von Amerika haben, wo immer sie souverän zu agieren versuchen, auf Grenzen stoßen, die vermöge der Abhängigkeiten gezogen werden, in denen auch sie von anderen Akteuren auf diesem Planeten stehen.
Gemessen an diesen harten Realitäten, die eine globale oder, wie man gelegentlich auch gesagt hat, »planetarische« Perspektive auf die Sachverhalte erzwingt, von denen zu erwarten ist, dass sie zum Gegenstand einer späteren Historiographie werden, sind die Vorstellungen, die frühere Historiker von einer Welt- oder Universalgeschichte haben sprechen lassen, geradezu niedlich. Das hat mit entsprechend harten Worten — »brutalstmöglich« möchte man sagen — nicht nur, aber eben auch Oswald Spengler ausgesprochen, und zwar in der Einleitung des Buchs, das ihn so berühmt wie berüchtigt gemacht hat. » Altertum – Mittelalter – Neuzeit:«, schreibt Spengler im 6. Abschnitt dieses Textes, »das ist das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema, dessen […] Herrschaft über unser geschichtliches Denken uns immer wieder gehindert hat, die eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt, wie sie sich […] auf dem Boden des westlichen Europa entfaltet, in ihrem Verhältnis zur Gesamtgeschichte des höheren Menschentums […] richtig aufzufassen. Es wird künftigen Kulturen kaum glaublich erscheinen, dass dieser Grundriss mit seinem einfältigen geradlinigen Ablauf, seinen unsinnigen Proportionen […] gleichwohl in seiner Gültigkeit niemals ernstlich erschüttert wurde.« Das Wort ›niemals‹ im letzten Satz mag, als Der Untergang des Abendlandes erstmals erschien, also pikanterweise im Jahre 1918 – vielleicht – seine Berechtigung gehabt haben. Inzwischen jedoch sind sowohl die Dürftigkeit des Dreierschemas, dem Spenglers Schelte gilt, wie auch die Beschränkung des Blickwinkels auf die in der Tat kleine europäische Teilwelt nichts mehr, das man den zünftigen Historikern noch vorwerfen könnte. Was Spengler in dieser Hinsicht mit der ihm eigenen Großspurigkeit, aber doch mit Recht zum Ausdruck gebracht hat, ist hundert Jahre später Gemeingut, ja fast schon ein Gemeinplatz. So brauchen jedenfalls wir nicht mehr auf künftige Kulturen zu warten, denen ein Verständnis von Weltgeschichte wie das von Spengler gegeißelte unglaublich erscheint. Wir glauben es ja selbst kaum. Wir können indes noch etwas anderes nicht recht glauben, dass nämlich jemand den Anspruch erheben könnte, von einem über den Dingen – will sagen: über den Epochen und über den Kulturen – befindlichen, gleichsam perspektivefreien Standpunkt aus eine »Morphologie der Weltgeschichte« zu umreißen. Der Philosoph, der Spengler ja vor allem sein wollte, wäre dann doch allenfalls daran zu erinnern, wie wenig – »blutwenig« hätte Max Weber gesagt – ein view from nowhere einen sehen ließe.
Was die inzwischen, ich wiederhole mich, selbstverständliche globale Orientierung der nichtsdestoweniger perspektivisch gebundenen Blicke der Historiographie während des hinter uns liegenden kurzen 20. Jahrhunderts vor allem gefördert hat, das ist nicht das Erklimmen immer höher gelegener Blickpunkte, sondern gerade die kollektive Erfahrung, mitten drin zu sein in einem zweifellos und ohne Abstriche globalen Geschehen. Denn bestimmt haben dieses merkwürdige Jahrhundert zwischen 1914 und 1990 nun einmal zwei Weltkriege oder, wenn man so will, ein einziger dreißigjähriges Weltkrieg, dem eine fünfundvierzig Jahre dauernde Nachkriegszeit folgte. Die Erfahrungen dieser Zeit haben, so scheint mir, nicht zuletzt unter Historikern der Einsicht zum Durchbruch verholfen, dass ein Gewinn an Objektivität in der Geschichtsbetrachtung nicht zu erzielen ist, indem man der Illusion eines neutralen Standpunktes hinterher jagt. Die Hoffnung auf einen solchen Gewinn beruht vielmehr auf dem Eingeständnis der perspektivischen Begrenzung jeder solchen Betrachtung und dem mühseligen Versuch, aus einer solchen Perspektive verständlich zu machen, weshalb sich die Dinge aus einer anderen Perspektive eben mehr oder weniger anders zeigen. Von der Mühsal dieser Arbeit und dem nicht nur intellektuellen Gewinn, den sie abwerfen kann, handelt das nachfolgende Buch.
Hans-Peter Schütt
»Unser Feld ist die Welt.«1
Titel der Festschrift zum 150-jährigen Bestehen der Hapag-Lloyd.
»Globalgeschichte ist ein relativ junger Ansatz in der Geschichtswissenschaft, der auch jenseits der Fachwissenschaft zunehmend Beachtung findet: der Wechsel der Perspektive, den die Globalgeschichte impliziert, scheint einer globalen Welt angemessen. Wo sich die Beziehungen zunehmend weltweit erstrecken, interessiert es auch, ob es ähnliche Beziehungen schon in der Vergangenheit gegeben hat. Hinzu kommt, dass die Globalgeschichte den Fokus von einer Zentrierung auf die westliche oder europäische Vergangenheit weg und hin zu der Beachtung außereuropäischer Kulturen – vor allem im asiatischen Raum – lenkt.«2
Landesbildungsserver Baden-Württemberg, 3/2016.
Geht man nach dem ersten Blick auf Cover- und Schutzumschlagabbildungen führender Darstellungen der Global History, kann an ihrem Gegenstand keinerlei Zweifel bestehen: Wie der Slogan der Traditions- und Großreederei Hapag-Lloyd3 es suggestiv fernwehlastig ausdrückt: »Unser Feld ist die Welt«: Weltkugeln, Weltkarten, immer wieder Schiffe, überhaupt jede Art der Verkehrs- und Kolonialinfrastruktur, gern Häfen ohne und mit Schiff-Schiene-Warenumschlag in diesen, vor allem auch zweier für die Globalgeschichte besonders bewusstseinsbildender Handelswaren nicht nur der Vormoderne: Sklaven und Kolonialwaren werden immer wieder abgebildet.4
Aber schon ein zweiter Blick auf die Titel macht nachdenklich, was noch unter globaler oder gar einer Weltgeschichte verstanden werden kann. Der Karlsruher Verbundkatalog KVK gibt unter den ersten zehn Treffern für die Titelstichworte global history Ende März 2016 u. a. die folgenden Monographien an:5
• Frans Josef Jeroen, Dynasties. A Global History of power, 1300–1800, Cambridge/UK 2016.
• Haaro Maat, Sandrip Hazareesingh (Eds.), Local Subversions of Colonial Studies: Commodities and Anti-Commodities in Global History, Basingkstoke/UK 2016
• Alexander Mikaberidze, The Napoleonic Wars. A Global History, Oxford/UK 2016.
• Kiran Klaus Patel, The New Deal. A Global History, Princeton, NJ 2016.
• Dietmar Rothermund, Aspects of Indian and Global History. A collection of Essays, Baden-Baden 2016.
Die Geschichte der Macht, der Veränderung der kolonialen Provinz, der Napoleonischen Kriege, des New Deal und Indiens ist also auf den Nenner der Weltgeschichte zu bringen? Wie macht man das?
Überblick verschafft vielleicht ein Lexikon. Daher kann man sich über den Artikel Weltgeschichte aus der 19. Auflage des Brockhaus umso mehr wundern, in dessen entsprechendem Band von 1994 das Thema für erledigt erklärt wird:
»Weltgeschichte, Universalgeschichte, die Darstellung der Menschheitsgeschichte als Ganzes. Im 18. und 19. Jh. wurde die Weltgeschichte meist als fortschreitende Entwicklung der Menschheit begriffen, im 20. Jh. trat die Betrachtung des globalen Zusammenhangs wechselseitiger Beziehungen von Völkern und Kulturen in den Vordergrund. Infolge der Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft und angesichts der Komplexität von Geschichte hat die Darstellung der Weltgeschichte ihre Bedeutung verloren.«6
Die 16. Auflage des Großen Brockhaus von 1957 war noch nicht so pessimistisch:
»Weltgeschichte, in der Geschichtsschreibung der Versuch, die geschichtliche Entwicklung der verschiedenen Völker, Reiche und Kulturen in ihren wechselseitigen Beziehungen und inneren Gemeinsamkeiten zu einem wissenschaftlichen Gesamtbild zusammenzufassen. Über die Darstellung der tatsächlichen Ereignisse und der feststellbaren Kulturwandlungen hinaus enthält jede Weltgeschichte, sofern sie eine Sinndeutung anstrebt, Elemente der Geschichtsphilosophie in sich.«7
Weltgeschichte aber ist wie alle Geschichte nicht neutral. Der Große Herder benannte 1935, im Jahr der »Nürnberger Rassegesetze«, neben der Entwicklung der Weltgeschichtsschreibung auch deren zeitgenössische Anpassung an den politischen Zeitgeist:
»Weltgeschichte, die Geschichte der ganzen Menschheit in ihren ursächlichen Zusammenhang und ihrer gegenseitigen Beeinflussung. Seit dem christlichen Altertum begnügte sich die Weltgeschichtsschreibung mit einer erzählenden Darstellung des Hauptstoffs aus der politischen und religiösen Geschichte. Voltaire und die Romantiker dehnten ihre Aufgabe auf alle Kulturgebiete aus. Lange beschränkte sie sich auf die orientalisch-abendländische Kulturgemeinschaft; heute fordert man Ausdehnung auf die ganze Erde und auch auf die vorgeschichtliche Zeit. Die von einer einheitlichen Auffassung (der teleologischen Auffassung vom Werden des Gottesreichs im Sinn Augustins oder dem optimistischen Fortschrittsglauben der Aufklärung) getragene Weltgeschichtsschreibung wurde im 19. Jahrhundert aufgegeben, weil ein einzelner den gesamten Stoff nicht mehr beherrschen kann. Entgegen den bisherigen Deutungen von der Entwicklung der Rassen und Völker erklären neuere Auffassungen die Weltgeschichte als die Darstellung bestimmter Rassenvölker und Rassenseelen und fordern die Durchforschung der Weltgeschichte nach diesen Gesichtspunkten (›Weltgeschichte auf rassischer Grundlage‹).«8
Meyers Konversations-Lexikon verweist in seiner fünften Auflage von 1897 im entsprechenden Band unter Weltgeschichte auf den Artikel Geschichte:9
»Die Universal- oder Weltgeschichte verarbeitet die in den Spezial- und Partikulargeschichten gewonnenen Ergebnisse zu einem nach räumlichen und zeitlichen Verhältnissen wohlgeordneten Ganzen. Sie soll uns die Zustände des gesamten menschlichen Geschlechts, wie sie sich im Laufe der Zeiten gestaltet haben, nach ihren wichtigsten Beziehungen und bedeutungsvollsten Erscheinungen kennen lehren und so gleichsam die Krone bilden, in welcher alle Strahlen geschichtlicher Darstellung zusammenfließen.«10
Offenbar gibt es lediglich Weltgeschichten, aber keine Weltgeschichte.11 Möglicherweise erinnern sich Geschichtsstudierende in ihrer Ratlosigkeit auch an ihre Einführung in das Studium der Geschichte und/oder an die Einführung in ihre Universitätsbibliothek. Auch dort gibt es an den Rändern der Abteilung Geschichte sogar deutschsprachige Hilfsmittel, in deren Titeln Welt- erscheint, auch wenn sie schon einigermaßen betagt sind, u. a.:
• dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Martin Broszat, Helmut Heiber, Bd. 1–14, München 1967 ff.
• Fischer Weltgeschichte, Bd. 1-36, Frankfurt am Main 1965–1983.
• Propyläen-Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, hg. v. Golo Mann u. a., Bd. 1–10, Berlin/Frankfurt am Main 1960–1965.
Manche Studierende werden sich auch an weltgeschichtliches Unterrichtsmaterial aus dem Gymnasium erinnern. Seit 1964 erscheint der dtv-Atlas zur Weltgeschichte, ein systematischer Durchgang durch die Geschichte mit Karten- und Datenmaterial. Im Vorwort der Erstausgabe heißt es:
»Der ›dtv-Atlas zur Weltgeschichte‹ stellt einen Versuch dar, Karten und chronologischen Abriß sinnvoll miteinander zu verbinden und dem Benutzer historische Situationen auch auf optischem Wege nahezubringen. Bei der Auswahl der Fakten haben wir uns nicht von einem bestimmten Geschichtsbild leiten lassen, sondern wollten versuchen, einen möglichst objektiven Überblick zu geben. Aus diesem Grunde wurden auch außereuropäische Themen und Epochen berücksichtigt«.12
Schon eine solche Aussage wirft viele Fragen auf: Gibt es eine Auswahl historischer Fakten, die nicht von einem bestimmten Geschichtsbild geleitet sind? Ist schon die Berücksichtigung außereuropäischer Themen und Epochen ein hinreichender Maßstab für einen objektiven Überblick und kann es den überhaupt geben?
Noch fast 100 Jahre älter ist Putzgers Historischer Schulatlas, der seit 1877 erscheint. Während das Lehrmittel der Kaiserzeit in Aufbau und Anspruch eine deutsche Nationalgeschichte des Reichs von 1871 als sinnvolles Ziel der europäischen Geschichte samt ihrer kolonialen Anhänge darstellt,13 präsentiert sich der Putzger von 1979 dezidiert weltgeschichtlich:
»die 100. Auflage [führt] die schon vorhandenen Ansätze einer weltgeschichtlichen Orientierung konsequent weiter: Der Anteil weltweiter Themenkarten wurde insgesamt erhöht; Weltthemen, die für das universale Verständnis der Gegenwart von Bedeutung sind, wurden in einer gesonderten Kartenfolge zusammengefasst. Darüberhinaus ist die Abhandlung der modernen Geschichte der außereuropäischen Räume aus dem Kontext der europäischen Geschichte herausgenommen worden. Jeder Raum wird in einer eigenen Sektion mit Themenkarten aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft behandelt. So ist es möglich, die außereuropäischen Räume nicht mehr nur aus der Perspektive der europäischen Geschichte, sondern unter dem Aspekt ihrer eigenständigen Entwicklung zu betrachten.«14
Für die eher an histotainment als an Fachwissen Interessierten, denen vor allem optisch etwas geboten werden muss, das mit BBC und ZDF History annähernd mithalten kann, wird Weltgeschichte gern übersichtlich gemacht, zum Beispiel zum Ausklappen wie ein windowisiertes Kinderbuch: Weltgeschichte auf einen Blick. Vom Homo sapiens bis heute, 2001 herausgegeben vom DuMont-Verlag.15 Die Bildtafeln mit Textlängen, die an Internetnutzern orientiert sind, bieten einen Durchlauf der europäischen Geschichte einschließlich ihrer Berührungen mit anderen Weltteilen vor allem durch Kriege. Die Weltgeschichte kommt etwas zusammenhangslos tatsächlich vor, und zwar im beigefügten 20-seitigen Personenlexikon. Von 117 Kurzbiographien ohne Literaturangaben behandeln 14 keine Europäer oder Amerikaner. Und in der deutschen Geschichte bekennt sich die klappbare DuMont-Weltgeschichte mit impliziter Überhöhung der Chronologie zur Notwendigkeit der zumindest unter Zeithistorikern über 30 Jahre lang heiß umstrittenen These vom absehbaren Scheitern der Weimarer Republik am 30. Januar 1933. Die spruchbandartig auf jeder Doppelseite durchlaufende Epochencharakterisierung für die Jahre von vor dem Ersten bis nach dem Zweiten Weltkrieg lautet: Die Jahre 1900 bis 1919 – In den Zweiten Weltkrieg.16 Als habe es so und nicht anders kommen müssen.
» Welt. Im christlichen Denken treten zunächst keine neuen Vorstellungen über die räumliche Welt hervor. Die christliche Religion betrachtet die Welt vornehmlich in ihrem Verhältnis zu Gott. Gott ist der Schöpfer der Welt und der Begründer der Weltordnung. Doch die Schöpfung ist durch den Menschen gefallene Schöpfung; die Ordnung der Welt ist gestört«.17 Staatslexikon
Welt ist offenbar überall, aber was genau ist Welt? Bei näherem Hinsehen scheint einem das zunächst so klare Thema jedenfalls durch die Finger zu rinnen, bei dem es doch nach Augenschein darum zu gehen schien, dass der Globus mit einem Netz von ganz konkreten wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Austauschbeziehungen von der Zeit der Hanse bis zum Zweiten Weltkrieg, von der Vereinigten Ostindischen Kompanie bis zur Gegenwart des Internets überzogen wird.18 Woran liegt die für Studierende und Orientierungssuchende beunruhigende Flüchtigkeit des Themas?
Und welche Rolle spielen dabei Wertungen? Es scheint ein erhebliches, ja moralisches Problem geworden zu sein, Geschichte aus einer europäischen bzw. westlichen Perspektive zu betreiben19 – bisweilen könnte sogar der Eindruck entstehen: aus diesem Teil der Welt zu kommen. Diejenigen, die im Schulunterricht deutscher Bundesländer möglicherweise in mehreren Fächern, dem Geschichts-, Gemeinschaftskunde-, Deutsch-, Englisch-, Religions- oder Ethikunterricht mit den Folgen von Kolonialismus und Imperialismus konfrontiert worden sind, im Musikunterricht Spirituals gesungen, im Schulorchester Blues und Jazz gespielt und in ihrer Kirchengemeinde für Frauenbildungsprojekte in Afrika und Lateinamerika gesammelt haben, müssten sich über die Schärfe der Anklage wundern, die dem Westen und dem Eurozentrismus in Teilen der Globalgeschichte entgegengehalten wird: und das nicht ausschließlich von Historikern aus Ländern, die einmal europäische Kolonien waren, sondern auch von manchen Europäern und Nordamerikanern, die eine Art der kompensatorischen intellektuellen Selbstbezichtigung und symbolischer Wiedergutmachung im Stil von We’re sorry! betreiben, sich allerdings teils auch gegen solche Vorwürfe zur Wehr setzen.20
» Eurocentric discourse is complex, contradictory, historically unstable. But in a kind of composite portrait, Eurocentrism as a mode of thought might be seen as engaging in a number of mutually reinforcing intellectual tendencies or operations: […] Eurocentric discourse projects a linear historical trajectory leading from classical Greece (constructed as ›pure‹, ›Western‹, and ›democratic‹) to imperial Rome and then to the metropolitan capitals of Europe and the US. It renders history as a sequence of empires: Pax Romana, Pax Hispanica, Pax Britannica, Pax Americana. In all cases, Europe, alone, and unaided, is seen as the ›motor‹ for progressive historical change: it invents class society, feudalism, capitalism, the industrial revolution.«21
Ella Shohat, Robert Stam, Unthinking Eurocentrism
Ein Schlüsselbegriff zum Verständnis von Globalgeschichte ist Positionalität: die Erhöhung der Sensibilität für die Standortgebundenheit und Pfadabhängigkeit, also die nur teilweise Rückgängigmachung bzw. Umkehrung einmal getroffener Entscheidungen, der eigenen Argumentation.
Die Bäcker der New Yorker Lower East Side lieferten sich in den frühen 1920er Jahren einen Reklamewettstreit. Bester Bäcker in New York City! Bester Bäcker der Vereinigten Staaten! Bester Bäcker der Welt! Der am Ende erfolgreichste von allen hatte an seiner Scheibe stehen: Bester Bäcker dieser Straße!
Dieser in vielen Varianten erzählte Witz trifft gleich drei Probleme der Boom-Phase der Global History recht gut, deren laute, anti-positionelle Aufbruchsdynamik in den letzten 25 Jahren den New Yorker Bäckern der roaring twenties um nichts nachsteht: Das erste Problem ist die Erlebnisdifferenz zwischen überlokalem, tendenziell globalem Anspruch und trotz aller virtuellen Vernetzung lokaler Wirklichkeit;22 das zweite die zu partieller Blindheit führende Faszination an der Konfrontation bestimmter lokaler Themen mit der großen weiten Welt, in deren Narrativen nicht Backwaren, sondern Handels-, Ideen- und Machtbeziehungen eine Rolle spielen; das dritte die Verschränkung von Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung. Je näher man hinsieht, als desto komplexer erweist sich die soziale Konstruktion »bester Bäcker« – ebenso wie der Globalgeschichte. Nichts versteht sich hier von selbst.
Dies sind keineswegs die einzigen, vielleicht nicht einmal die wichtigsten, aber sicherlich typische Schwierigkeiten der Global History. Wissenschaftliche Perspektiven definieren sich durch ihre Fragen, Herangehensweisen an einen Gegenstand und deren Begründung. Doch über Gegenstand und Begründung gibt es mehr Diskussion im Fluss als akzeptierte Gewissheiten, obwohl oder gerade weil die Global History inzwischen in jeder größeren deutschen Bahnhofsbuchhandlung und den geschichtsdidaktischen Lernplattformen für den Schulunterricht deutscher Bundesländer angekommen ist. Eine Reihe in diesem Zusammenhang möglicher, in der Diskussion um die Globalgeschichte implizit und explizit verhandelter Fragen soll hier vorangestellt werden, um einen Eindruck von den Problemen zu vermitteln, um die es in diesem Band geht:
• Ist Global History die Geschichte der vor die Klammer aller nationalen, regionalen und lokalen Kontexte zu ziehenden Verhältnisse, Strukturen und Beziehungen, also eine Art Super-Makrodarstellung aus der Weltraumperspektive?
• Ist Global History die Geschichte der wesentlichen, eigentlich relevanten Ideen, bewegenden Prinzipien, Kräfte und Beweger unter der Oberfläche bzw. hinter dem Vorhang realgeschichtlicher Phänomene, also eine Art Meta-Ideengeschichte, Geschichtsphilosophie oder ideologisches belief system (zusammenhänges Konzept von Überzeugungen)?
• Ist Global History nur die in Historiographie übersetzte Praxis einer historisch begründenden Kritik an Kolonialismus und seinen Folgen, Rassismus, Diskriminierung und Nichtteilhabe stigmatisierter Gruppen, der Globalisierung und ihrer Folgen, der Dominanz und Diskurshegemonie eurozentristischer, teleologischer (zielgerichteter) westlicher und weißer Narrative mit Alleindeutungsanspruch von Geschichte im Allgemeinen und jeweils Besonderen? Ist sie also eine Art Anklagetext und Sündenregister des politischen Eine-Welt-Bewusstseins, die intellektuelle Ausbeutung der Ausbeuter (Karl Marx, die Enteignung der Besitzer von Produktionsmitteln) der Nordhalbkugel, die ihre Macht und ihren Wohlstand auf die Unterdrückung und Ausbeutung der Südhalbkugel stützten und stützen?
• Ist Global History vielleicht nur die zirkelschlüssig-bestätigende, in die Geschichte zurückprojizierte (zurückübertragene) Beschreibung der Lebensumstände und Weltwahrnehmung wissenschaftlich, wirtschaftlich und privat ultramobiler postnationaler Globalisierungseliten in ihren Hot Spots und an ihren Edel-Laptops, also eine Art intellektuelle Lifestyleartikulation der virtuellen und vielfliegenden Globetrotter des 21. Jahrhunderts, deren postmaterialistische Abgeklärtheit in krassem Gegensatz zur materiellen Bedürftigkeit großer Teile der Welt steht?
• Ist Global History vielleicht nur die methodisch unterkomplexe Fortschreibung beliebig kombinierter, lange bekannter Ansätze u. a. der vergleichenden Rechtswissenschaft, Weltwirtschaftsanalyse, Verkehrs- und Ideengeschichte, die in ihren Herkunftswissenschaftskulturen methodisch sehr genau begründbar sind, globalgeschichtlich aber oft keineswegs – wenn denn überhaupt – begründet werden, also ein kommunikativer Hype, der sogar Effekte der Deprofessionalisierung in Kauf nimmt?
• Ist Global History die multiperspektivische, superstrukturalistische best practice-(Erfolgsmethoden)-Lösung des Positionalitätsproblems in der Geschichte als Wissenschaft, also die größte Revolution in der Wissenschaftstheorie seit Thomas S. Kuhns bahnbrechenden Untersuchungen, wie das Neue in die Wissenschaft kommt,23 eine Form der Kopernikanischen Wende, weil sie Geschichte unabhängig vom Standpunkt des Betrachters objektiv prognosefähig macht?
• Ist Global History die endgültige Institutionalisierung der political correctness (im allgemeinen Sinn verstanden als Zustimmung zu nicht-diskriminierenden, integrierenden Verhaltens- und Diskursformen) in Gestalt der historical correctness (Übertragung von political correctness auf die Sicht und Darstellung von Vergangenheit), also eine Art kommunikatives Regulativ der präskriptiven Achtsamkeitskultur wie sie von den spirituellen Rändern der Umwelt- und Nachhaltigkeitsgeschichte bekannt ist?24 Gehört zu diesem Ritual die mantraartige Beschwörung der Kritik von Eurozentrismus oder Western Civilization und das Lob der Multikulturalität – ein Gewissensentlastungsmechanismus, der dem Ablass in der vorreformatorischen römischen Kirche ähnelt?
Global History und ihr Gegenstand entstehen überhaupt erst durch solche und andere Fragen nach dem Sinn globaler Phänomene. Bestenfalls münden sie in den Prozess historischer Sinnbildung, wie Jörn Rüsen ihn beschrieben hat:
» Wahrnehmen heißt Erschließen von äußerer und innerer Welt durch die ›Sinne‹. Deutung heißt Interpretation dieser Wahrnehmungen, mit der Welt erklärt und Verständigung über sich selbst mit den anderen geleistet wird. Orientierung heißt Verwendung der gedeuteten Wahrnehmungen zur intentionalen Steuerung von Praxis.«25 Das setzt Diskussion voraus.
Die Offenheit – oder, positivistisch bewertet: Schwammigkeit des Begriffs Global(isierungs)geschichte – spricht aus der oben vorangestellten beschreibenden Nicht-Definition des Landesbildungsservers Baden-Württemberg, der seine Aufgabe darin sieht, Material für den Schulunterricht bereitzustellen. Hier ist von einem Ansatz die Rede, von einem Wechsel der Perspektive auf die globalen Beziehungen in ihrer Interdependenz sowie der anti-eurozentristischen Ausrichtung des Blicks. Schon diese wenigen Schlüsselbegriffe können den Eindruck vermitteln, hier werde keine Form von Historiographie, sondern vielmehr eine neue soziale26 oder Ganzheitlichkeits-Bewegung beschrieben.
Eine andere radikale Antwort stammt vom Autor des Modern World System, Immanuel Wallerstein, Jahrgang 1930, einem der Vordenker der heutigen Global History. Seiner Definition zufolge ist der weitläufige Erkenntnisgegenstand seiner Weltsystemtheorie nichts anderes als der soziale Wandel in der Vergangenheit selbst:
»Change is eternal. Nothing ever changes. Both clichés are ›true‹. Structures are those coral reefs of human relations which have a stable existence over relatively long periods of time. But structures too are born, develop, and die.«27
Was nun?
Manchmal hilft der Blick auf das Gegenteil, also eine Haltung, die dem globalgeschichtlichen Blick auf Vergangenheiten evident entgegengesetzt ist. In einem umstrittenen Interview aus dem Jahr 1994 äußerte sich der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger des Jahres 1976, Saul Bellow (1915–2005), u. a. zum Multikulturalismus: »Who is the Tolstoy of the Zulus? The Proust of the Papuans? I’d be glad to read him.«28 Im publizistischen Streit um seine Aussage war Bellow um Relativierung der Diskriminierung bemüht, verschärfte jedoch sogar noch seine Kritik an der political correctness:
»In any reasonably open society, the absurdity of a petty thought-police campaign provoked by the inane magnification of ›discriminatory‹ remarks about the Papuans and the Zulus would be laughed at. To be serious in this fanatical style is a sort of Stalinism – the Stalinist seriousness and fidelity to the party line that senior citizens like me remember all too well.«29
» Europa, […] aber die selbständige Entwickelung, die das menschliche Geschlecht auf seinem Boden genommen, Europas Stellung in der Weltgeschichte berechtigen vollständig, dasselbe als besondern Erdteil anzunehmen. Diese Selbständigkeit seiner rastlos fortschreitenden Entwickelung hat Europa seiner eignen reichen äußern und innern Gliederung zu verdanken; daß es hierdurch zur Herrschaft über die Welt befähigt ist, daß der kleine Erdteil seinen überwältigenden Einfluß auf die größern ausüben kann, das hat seinen Grund in der Weltstellung desselben.«30
Meyers Konversations-Lexikon, 1897
» Europa, […] Nach Bau- und Formenschatz ist es eng mit der großen Landmasse von Asien verbunden und geht mit den einförmigen Landschaften Osteuropas (Halbasien) ohne natürliche Grenze in jenes über, ist aber durch glückliche Eigenarten wesentlich von ihm verschieden. Seine Hochentwicklung verdankt es seiner Lage auf der Landhalbkugel im Schnittpunkt des Weltgeschehens und einer reichen Gliederung in Halbinseln und Buchten, die in den Atlantischen Ozean und seine Nebenmeere eindringen, nicht allein aufschließend und völkerverbindend, sondern auch klimatisch überaus begünstigend. Der periodische Wechsel des anregenden Klimas ließ nicht nur vielfältigen Anbau zu, er begünstigte auch die Großtaten des materiellen und geistigen Lebens und die Zivilisationen. Die Vielgestaltigkeit der geographischen Grundlagen auf engstem Raum ermöglichte eine hohe Bevölkerungsdichte in dem europäischen Keil, in den zahlreiche Rassen und Völker meist aus Asien einströmten und so eine innige Bluts- und Ideendurchmischung brachten, aus der trotz aller volklichen Zersplitterung doch die gleichmäßig hohe Kultur hervorging.«31
Der Große Herder, 1932
Vertreter der Global History sind dann keine geistigen Stalinisten, wenn sie zu erklären versuchen, auf welchen Annahmen, Narrativen und kulturellen Valorisierungsprozessen Bellows streng exklusives Verständnis von Weltkultur beruhte – auch wenn es zweifellos Redekonventionen und hochgradig präskriptive und moralistische cultural codes innerhalb der Globalgeschichte gibt.32 Bellows überzogen scharfe, emotionale Reaktion macht verständlich, auf welche Widerstände die Infragestellung etablierter Leiterzählungen und der zu ihnen gehörenden Mentalitäten noch Mitte der 1990er Jahre treffen konnte. Es geht hier um nichts Geringeres als langtradierte, kanonisierte kulturelle Grundmuster einer ganz selbstverständlich eurozentristischen und weißen Sichtweise, um kulturelle Identität. Bellows Provokation lässt einerseits die Maßstäbe für die Definition kultureller Größe fragwürdig erscheinen, andererseits aber auch eine neue Positionalität, die zuerst die ethnische und kulturelle Herkunft eines Leistungsträgers daraufhin überprüft, ob sie weiß und westlich ist. Beide Positionen bedienen sich eines im Kern rassistischen Arguments.
Die nullte Arbeitsdefinition des Gegenstandsbereichs von Globalgeschichte muss dabei lauten: Sie ergibt und versteht sich nicht von selbst, allein durch Anschauung, auch nicht der von Quellen, sondern allein durch Fragen, die man an sie und nach ihr stellt.
Orientiert man sich an dem, was Sebastian Conrad in seiner Einführung als Praxis der Global History beschreibt, lassen sich zunächst ihren Akteuren einige kritische Fragen stellen:
• Wo wird Anti-Teleologie (Kritik an Zielgerichtetheit einer Argumentation) zu einer neuen Teleologie, die Kritik am Narrativ (der »Erzählung«) von der Dominanz des Westens und Europas zu einem eigenen Genre, in das hinein Geschichte erzählt wird, schlimmstenfalls als latent rassistischer Essentialismus (Auffassung und Betonung der Notwendigkeit von Eigenschaften) mit anderem Vorzeichen?
• Wo tritt Empathie an die Stelle von kulturvergleichender Kompetenz? Oder, direkt gefragt, wie viele Fremdsprachen muss jemand beherrschen, wieviele Kulturkreise und Methoden der Vergleichsarchitektur aus eigener Forschungsanschauung – und nicht nur aus den wenigen ins Englische übersetzten Quellen und Texten – kennen, der professionell Global History betreiben will?33
• Wo geraten soziökonomische Fakten in einer kulturalistischen Perspektive auf globale Austauschprozesse so weit aus dem Blick, dass Erscheinungen der ökonomischen und sozialen Ungleichheit vor Ort zu Randfaktoren der historischen Analyse werden?
• Wo macht die Faszination für das Fremde blind für das fremdgewordene Eigene, die eigene historische Gewordenheit in ihrer Mischung aus Determiniertheit und Kontingenz (Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden)?34
• Ab wann wird die Verantwortung für die Realgeschichte – wie der des Kolonialismus und der Dekolonisierung – geschichtspolitisch kompensiert und moralisch entsorgt? Oder, direkt gefragt, ab wann wird Global History zu einer Form der dritten Schuld nach der ersten am kolonialen und zum Teil katastrophal verlaufenden dekolonisierenden Geschehen selbst, der zweiten an dessen Nichtthematisierung?35
• Ab wann erhebt sich die Global History als Inbegriff eines historisch-politischen Super-Konstrukts über das nicht nur methodische, sondern anthropologische Grundproblem der Subjektgebundenheit aller historischen Perspektiven?36
• Ist die Global History eine neue radikale Form von histoire totale (einer totalen Geschichte mit tendenziell grenzenlosem Gegenstand)?37
• Ist bzw. war die Global History zwischen 1975 und 2005 am Ende nichts anderes als einer von vielen vorüberziehenden turns (konzeptionellen Wenden) in den Kulturwissenschaften: der global turn?
»›Dekolonisation‹ ist ein technischer und undramatischer Begriff für einen der dramatischsten Vorgänge der neueren Geschichte. […] Dekolonisation ist demnach erstens die gleichzeitige Auflösung mehrerer interkontinentaler Imperien innerhalb des kurzen Zeitraums von etwa drei Jahrzehnten (1945–1975), verbunden mit, zweitens, der historisch einmaligen und voraussichtlich unumkehrbaren Delegitimierung jeglicher Herrschaft, die als ein Untertanenverhältnis zu Fremden empfunden wird«.38
J. C. Jansen, J. Osterhammel, Globalisierung
Aber auch die Kritiker der Global History müssen Antworten geben:
• Wo werden eurozentristische und (neo-)imperiale Narrative direkt oder indirekt fortgeschrieben, gelebt, institutionalisiert und sogar als Lösungsmodell für gegenwärtige Weltlagen empfohlen?
• Wo wird in ökonomistischen Interpretationen der rational choice-orientierten Verallgemeinerung des homo oeconomicus (des allein nach seinem größtmöglichen Nutzen Entscheidenden) die Geschichte von kulturell verstärkter Ungleichheit ausgeblendet bzw. in Form der Antipolitik sogar gerechtfertigt?39
• Wo wird die kritische Reflexion historisch gewordener Zustände durch Verweis auf die Naturgegebenheit von historisch-politischen Entwicklungen verweigert, werden sozioökonomische Fakten und Interessen hinter Sachzwangargumenten versteckt?40
• Wo dient die Kritik der vermeintlichen historical correctness41 dem Zweck der Abschirmung bestimmter geschichtswissenschaftlicher Felder wie der Geschichte der Internationalen Beziehungen und der jeweiligen nationalen Außenpolitik42 und ihres angeblichen Primats43 vor der Notwendigkeit, die behauptete wissenschafts- und geschichtspolitische Autonomie ihres Gegenstands gegenüber der Herausforderung durch die Global History zu begründen?
• Wo wird der Zufall von zusammenwirkenden Kontexten z. B. bei der Geschichte der ersten Industrialisierung in England und nachfolgend auf dem europäischen Kontinent historiographisch marginalisiert?
• Wo erscheint die Kritik von nationalismus- und eurozentrismuskritischer Global- und Toleranzgeschichte44 als Form des rechtspopulistischen, verschwörungstheoretischen fremdenfeindlichen cultural code in globalisierten westlich-demokratischen Gesellschaften?45
In der Global(isierungs)geschichte geht es um Ambivalenzen, nirgendwo so deutlich wie in der Kolonial- und Dekolonisationsgeschichte. Lange bevor es die Global History gab, war dies schon ein Thema in der erzählenden Literatur, z. B. in der Kurzgeschichte Shooting an Elephant von George Orwell (1903–1950) aus dem Jahr 1936. Sie erzählt in der Ich-Perspektive von den Selbstzweifeln eines kleinen englischen Polizeibeamten in Burma, der von einer Menschenmenge gedrängt wird, einen durchgehenden Elefanten zu erschießen, und das nicht irgendwo, sondern in Moulmein, Burma, einem durch das Gedicht Mandalay von Rudyard Kipling (1865–1936) aus dem Jahr 1892 in den nationalen Erinnerungs- und Schulbuchkanon erhobenen Sehnsuchtsort des Fernen Ostens:46
»By the old Moulmein Pagoda, lookin’ eastward to the sea,
There’s a Burma girl a-settin’, and I know she thinks o’ me;
For the wind is in the palm-trees, and the temple-bells they say:
›Come you back, you British soldier; come you back to Mandalay!‹«47
Das ist nicht mehr das Burma des Ich-Erzählers:
»In Moulmein, in lower Burma, I was hated by large numbers of people – the only time in my life that I have been important enough for this to happen to me. I was sub-divisional police officer of the town, and in an aimless, petty kind of way anti-European feeling was very bitter. No one had the guts to raise a riot, but if a European woman went through the bazaars alone somebody would probably spit betel juice over her dress. As a police officer I was an obvious target and was baited whenever it seemed safe to do so. When a nimble Burman tripped me up on the football field and the referee (another Burman) looked the other way, the crowd yelled with hideous laughter. This happened more than once. In the end the sneering yellow faces of young men that met me everywhere, the insults hooted after me when I was at a safe distance, got badly on my nerves. The young Buddhist priests were the worst of all. There were several thousands of them in the town and none of them seemed to have anything to do except stand on street corners and jeer at Europeans. […] In a job like that you see the dirty work of Empire at close quarters. […] I did not even know that the British Empire is dying, still less did I know that it is a great deal better than the younger empires that are going to supplant it. All I knew was that I was stuck between my hatred of the empire I served and my rage against the evil-spirited little beasts who tried to make my job impossible. […] I often wondered whether any of the others grasped that I had done it solely to avoid looking a fool.«48
Mit moralischen Schwarz-Weiß-Kategorien ex post (im nachhinein) wird diese Ambivalenz nicht verständlich. Koloniale Gewalt deformiert alle beteiligten Seiten.
»Teleologie (aus griechisch telos, »Ende, Ziel, Zweck, Vollendung«, und logos, Lehre), die Lehre vom Zweck oder von der Zweckmäßigkeit: die Lehre, wonach nicht nur das menschliche Handeln, sondern auch das geschichtliche und das Naturgeschehen im ganzen wie im einzelnen durch Zwecke (teleologisch) bestimmt und geleitet werde; die Betrachtung der Dinge unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit.«49
Philosophisches Wörterbuch
Und dann gibt es jenseits der Auseinandersetzungen um die Globalgeschichte das weite Feld derjenigen Autoren, deren konventionelle Geschichtsschreibung immer noch erfolgreich die Leitmotive der großen Erzählung vom Aufstieg des Westens, seiner Werte und seines Modernisierungsmodells variiert. Ihr erklärtes oder unbewusstes Vorbild ist William McNeal und seine einflussreiche Synthese The Rise of the West. A History of the human Community vom Anfang der 1960er Jahre, deren Titel das hochteleologische Programm enthält:50 die prädestinative Geschichte der Western civilization. Dass es solche Perspektiven in geschichtspolitischer und teils apologetischer Wendung im alten Westen gibt, ob sie nun das British Empire oder die Vorherrschaft der USA gegen anti-westliche Dekonstruktion verteidigen, erstaunt wenig. Aber auch bei einigen Spätzündern der Westlichkeit spielt die Zugehörigkeit zum Westen eine wichtige Rolle. Das offensichtlichste deutsche Beispiel dafür ist das gewaltige Lebenswerk des Berliner Neuzeithistorikers Heinrich August Winkler. Führte er mit seiner Nationalgeschichte Der lange Weg nach Westen51 einmal mehr den Beweis des Ankommens der deutschen politischen Nation im politischen Westen, belegt sein noch umfangreicheres Überblickswerk Geschichte des Westens52 das Ankommen sowohl des Westens im Westen wie auch Deutschlands und der Deutschen in der Western Civilization.53 In Anlehnung an Theodore Roosevelts Diktum über Kalifornien könnte man sagen, einiges im Westen und das meiste in Winklers Deutschland nach dem Zivilisationsbruch ist West of the West.54 Seit 9/ 11 ist sogar vor allem Deutschland der Westen des Westens, und die USA sind East of Eden. Wie auch bei McNeall wird bei Winkler eine Große Erzählung geboten. Mit Global(isierungs)geschichte haben beide nichts zu tun. Die Welt ist nicht erst seit 1989 erheblich komplizierter geworden, sie war es schon vorher. Winklers langer Weg nach Westen fehlt in Herfried Münklers Handbuch Die Deutschen und ihre Mythen.55 Aber immerhin ist die deutsche Geschichte nach Winkler in der eurozentristischen Mithaftung der Western Civilization, obwohl das Deutsche Reich seine Kolonien schon1919 im Versailler Friedensvertrag verloren hat.
» Der Aufstieg des Westens. Der Begriff des Westens versucht nicht nur, die Moderne zu erklären, sondern auch, weshalb die Moderne vor allem europäisch geprägt ist. Der dahinter steckende Gedanke ist einfach und begann kurz nach der spanischen Eroberung Amerikas […] in Erscheinung zu treten. […] Im späten 18. Jahrhundert, so dieses Deutungsmuster weiter, verstärkten die Industrielle und die Französische Revolution von 1789 in den Europäern das Bewusstsein, dass sie nicht nur anders als der Rest der Welt seien, sondern obendrein rasch fortgeschritten, während der Rest der Welt zu stagnieren schien, kurz: dass Europäer irgendwie außergewöhnlich – einfach besser – als alle anderen seien.«56
R. B. Marks, Die Ursprünge der modernen Welt
»When we attempt to answer the question ›What is history?‹ our answer, consciously or unconsciously, reflects our own position in time, and forms part of our answer to the broader question what view we take on the society in which we live.«
Edward Hallett Carr57
Diese Einführung erhebt weder den Anspruch, noch hat sie das Ziel, in ein bestehendes Narrativ hineinzuerzählen oder auch nur eine der oben genannten Fragen abschließend beantworten zu können. Ihre positionelle Motivation ist es nicht, im Material- und Verschleißkrieg an der Westfront von Eurozentrismus und Western Civilization tapfer zu kämpfen, allerdings auch nicht, einen unangebrachten Waffenstillstand zu verkünden. In erkenntnisleitender Hinsicht geht es nicht darum, begründet ausgewählte Fragen aus der bereits vorhandenen breiten Literatur über die Global History einmal mehr diskursgeschichtlich in den Kontext ihrer Diskussionszusammenhänge vor allem der letzten beiden Jahrzehnte einzusortieren. Das deutschsprachige Standardwerk dafür liegt von Sebastian Conrad seit 2013 vor.58 Seine Einführung erfüllt zugleich die Funktion eines Wegweisers in die feld- und diskussionsbeherrschende englischsprachige Grundlagenliteratur und die Institutionen der Global History.
In die Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts führen die beiden Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum und Cord Arendes ein.59 Der Titel in einer »Grundlagen«-Reihe bietet einen Überblick zur politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Leitbegriffe der Global History wie Migration spielen eine Rolle,60 werden aber nicht in den Forschungsstand eingeordnet, sondern lediglich politisch und ereignisgeschichtlich belegt. Das Globale daran ist die Bezeichnung als global, nicht die Begründung.
Edgar Wolfrum hat seine Einleitung als Gegenüberstellung von Gegensätzen angelegt, u. a. »Krieg und Frieden«, »Demokratie gegen Diktatur und Ost-West-Konflikt«, »Nord-Süd-Konflikt und ›Dritte-Welt‹-Bewegung«, »Naturbeherrschung und Umweltkatastrophen«, »Pflug und Mikrochip«, »Übervölkerung und Bevölkerungsrückgang«, »Wirtschaftswachstum und Verelendung«, »Wohlstand und Hunger/ AIDS«. Das ist überzeugend und hätte eine Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts strukturieren können. Was vorliegt, ist eine ausgewählte internationale (und zum Teil perspektivisch ausgesprochen nationale)61 Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts.62
Global History