Cover

Das Buch

Hamburg 1936. Die junge Sophie Terhoven, Tochter eines einflussreichen Kaffeebarons, genießt ihr komfortables Leben. Hannes Kröger, der Sohn der Köchin, ist ihr von Kindheit an Freund und Vertrauter. Irgendwann verändern sich ihre Gefühle füreinander, und plötzlich wird ihnen klar, dass sie sich ineinander verliebt haben. Doch Reich und Arm gehören nicht zusammen, und ein dunkles Geheimnis ihrer Eltern, von dem sie bisher nichts wussten, scheint ihre Liebe unmöglich zu machen.

Die Autorin

Teresa Simon ist das Pseudonym einer bekannten deutschen Autorin. Sie reist gerne (auch in die Vergangenheit), ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale, hat ein Faible für Katzen, bewundert alles, was grünt und blüht, und lässt sich immer wieder von stimmungsvollen historischen Schauplätzen inspirieren.

Lieferbare Titel

Die Frauen der Rosenvilla
Die Holunderschwestern

T E R E S A S I M O N

R O M A N

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2017 by Teresa Simon
Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH München,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright Gedicht: Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm.
© 1977 dtv Verlagsgesellschaft, München.
Redaktion: Katja Bendels
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung
von Arcangel / Ildiko Neer
Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-19198-6
V005
www.heyne.de

Pour Julie

Dum spiro spero

Solange ich atme, hoffe ich

MARCUS TULLIUS CICERO, 106–43 v. Chr.

Prolog

Hamburg, 1. Juli 1943

Du musst fort von mir, geliebter Schatz, obwohl mein Herz bei dieser Vorstellung blutet. Aber ich darf dich nicht länger bei mir halten. Tödliches Feuer fällt vom Himmel, verbrennt die Häuser, vernichtet die Menschen, und ich kann dich nicht davor schützen.

Jetzt, da ich so streng liegen soll, weniger denn je.

Was würde ich darum geben, zusammen mit dir aufbrechen zu können, weil ich ja weiß, dass die Reise lang ist und nicht ohne Gefahr! Ein wenig tröstet mich, dass du dabei in Gesellschaft bist, die dich hoffentlich ablenken und deine Tränen rasch trocknen wird. Doch wie solltest du verstehen können, dass ich nun nicht mehr bei dir bin, so wie du es seit jeher gewohnt bist? Es tut mir unendlich leid, mein heiliges Versprechen brechen zu müssen, das ich dir damals auf jener stürmischen grauen Insel gegeben habe: dich niemals zu verlassen, solange ich atme. Und doch muss ich es tun, um dein kostbares Leben zu bewahren, bevor es dafür zu spät ist.

Und so lasse ich dich also mit den anderen ziehen, in der Hoffnung, dass wir wieder vereint sein werden, sobald ich dir nachfolgen kann. Dann werden wir zu dritt sein, nein, zu viert oder genau betrachtet eigentlich sogar zu fünft, weil wir eben eine ganz besondere Familie sind, die das Schicksal auf seine eigene Weise zusammengeschweißt hat.

Dieser Brief soll dich auf deiner Reise begleiten, dich schützen und stärken, auch wenn du ihn nicht lesen kannst – noch nicht, mein Herzallerliebstes. Aber du wirst bald so weit sein, denn ich kenne deine stürmische Neugierde und deine kluge Ungeduld.

Ich gebe dir ein paar getrocknete Oleanderblüten mit, die aus jenem Garten stammen, in dem du jetzt eigentlich unbeschwert spielen solltest. Das Gegenstück kommt in mein silbernes Medaillon. Herrschaftlich und groß ist der Garten, steigt von der Elbe auf, mit schattigen alten Bäumen, unzähligen Blumenbeeten und eben jenem italienischen Glashaus, in dem sich meine Zukunft entschieden hat. Ich durfte jenes herrliche Paradies über Jahre genießen, bevor man mich für immer daraus vertrieb, und so kenne ich also seine berückende Schönheit. Ich weiß aber auch um seine giftige Bitternis, die ich dort schon als Kind gespürt habe, ohne zu ahnen, woher sie rührte.

Wenn jener Garten reden könnte …

Irgendwann werde ich dir noch einmal ausführlicher die alte Geschichte von Hero und Leander erzählen, und du wirst Augen machen, wie viel sie mit jenen Menschen zu tun hat, die dir vertraut sind. Leider nahm sie kein gutes Ende, auch wenn sie die beiden Liebenden unsterblich gemacht hat. Unsere Geschichte aber wird glücklich ausgehen. Ich wünsche es mir so inständig, dass dem launischen Schicksal gar keine andere Wahl bleibt, als mir diesen Herzenswunsch zu erfüllen. Niemand kann uns trennen, auch wenn wir nun für einige Zeit an verschiedenen Orten sein werden.

Vergiss niemals, dass du mein Augenstern bist, für den ich wie eine Löwin gekämpft habe und für den ich immer wieder kämpfen würde, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Du hast meine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt – und das bereue ich nicht einen einzigen Augenblick. Stark hast du mich gemacht, und mutig dazu, hast mich von einem verwöhnten Gör in eine erwachsene Frau verwandelt, und dafür bin ich dir unendlich dankbar.

Was wäre ich ohne dich?

Ein Nichts. Ein Blatt im Wind …

Nun aber muss ich schließen, denn so vieles gibt es noch zu erledigen, bevor wir morgen Abschied voneinander nehmen. Auch wenn ich nicht am Bahnsteig stehen kann, so werde ich dir in Gedanken nachwinken, bis du dein Ziel erreicht hast, um dich dann dort in Gedanken sofort wieder in die Arme zu schließen.

Du und ich gehören zusammen. Auf ewig …

1

Hamburg, Mai 2016

Wie konnte jemand nur so viel Pech haben!

Tränenblind starrte Jule Weisbach auf das zerknitterte Anschreiben der Nobel GmbH & Co KG in ihren Händen.

»… teilen wir Ihnen mit, dass sich der Mietzins für Ihre Gewerberäume ab dem 1. 8. 2016 um 650,– Euro monatlich erhöht …«

Die akkuraten schwarzen Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Wenn kein Wunder geschah, bedeutete dieser Brief das Aus für ihr kleines Café am Alma-Wartenberg-Platz, dem sie in Anlehnung an die berühmte große Schwester drunten in Ovelgönne augenzwinkernd den Namen Strandperlchen gegeben hatte. Es hatte fast zwei Jahre gedauert, bis sie in Ottensen heimisch geworden war. Mittlerweile aber liebte sie dieses schillernde Viertel und konnte sich kaum vorstellen, an einem anderen Ort zu leben und zu arbeiten – und das, obwohl sie im Erzgebirge aufgewachsen und später zum Studium nach Dresden gegangen war, wo inzwischen auch ihre Mutter lebte. Aber jene unbestimmte Sehnsucht nach weitem Himmel, großen Schiffen und der salzigen Luft des Meeres hatte es immer schon in ihr gegeben, und wenn Jule jetzt an den Landungsbrücken stand oder auf dem sonntäglichen Fischmarkt das Geschrei der Händler hörte, fühlte sie sich ganz zu Hause.

Ein Glücksfall, dass ihr Vormieter sich entschlossen hatte, zu seinem Schatz nach Kiel zu ziehen. Damals war hier noch alles grau und trist gewesen, eine heruntergekommene Punkkneipe, die den Anschluss an die Gegenwart verschlafen hatte. Jetzt aber leuchteten die Wände in sonnigem Türkis, und die hell gebeizten Tische und Stühle wirkten wie eine gemütliche Sommerfrische, in der man sich gerne aufhielt. Ein Ort zum Reden, zum Ausruhen, zum Genießen, genauso hatte Jule es sich gewünscht. Die Unterschiedlichkeit ihrer Gäste gefiel ihr dabei besonders. Sie mochte die Alten ebenso gern wie die ambitionierten Mütter mit ihren verzogenen Kleinkindern, die jungen Frauen, die meist im Rudel auftraten, die älteren Freundinnen, die sich so viel zu erzählen hatten, oder die verliebten Pärchen, die sich am liebsten in einen der beiden Strandkörbe kuschelten, die Jule bei halbwegs gutem Wetter vor der Tür aufstellte. Dass die Straßenreinigung regelmäßig den feinen hellen Sand wieder wegkehrte, den ein Freund ihr ebenso unermüdlich vom Elbstrand mitbrachte, war eine andere Sache.

Das zählte Jule nicht einmal zu den Pleiten, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zogen. Eigentlich war sie inzwischen daran gewöhnt und hatte so einiges an Erfahrung darin gesammelt, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Doch seit einigen Monaten häuften sich die Pleiten dermaßen, dass sie manchmal Beklemmungen bekam. Angefangen hatte es im letzten Herbst, als sie die letzten drei Treppenstufen im Hausflur übersehen und sich beim Sturz eine üble Bänderzerrung zugezogen hatte, die erst im Dezember wieder ausgeheilt war. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Aphrodite, die zwei Türen weiter ihren Laden catch the bride für schräge Hochzeitsmoden betrieb und spontan im Café ausgeholfen hatte, hätte Jule damals schon zumachen müssen.

Zur Jahreswende hatte dann die alte Dame in der Wohnung über ihr die eingeweichten Strümpfe im Waschbecken vergessen und, leider ebenso, den Hahn wieder zuzudrehen. Aus unzähligen Deckenrissen war bis in die frühen Morgenstunden Wasser in Jules Wohnung erst getröpfelt und schließlich gelaufen. Wände und Böden hatten sich in eine übelriechende Sumpflandschaft verwandelt, die von Spezialmaschinen wochenlang hatte trockengelegt werden müssen.

Natürlich gehörte auch der Verkehrsunfall im Februar dazu, bei dem ihr alter Ford Kombi geschrottet worden war – schuldlos hin, schuldlos her. Von den paar Euro, die sie dafür von der gegnerischen Versicherung noch bekommen hatte, konnte sie sich keinen halbwegs brauchbaren Wagen leisten. Aber um im Großmarkt für das Café einzukaufen, benötigte sie nun einmal ein Auto, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als eben doch wieder Jonas um Hilfe zu bitten.

Jonas.

Er war die Dauerbaustelle in ihrem Herzen, eine Wunde, die nicht heilen wollte. Vielleicht lag es daran, dass sie noch immer zu oft miteinander in Kontakt waren. Dabei tat es weh, mit anzusehen, wie der Babybauch seiner Freundin Claudi von Monat zu Monat wuchs und er nun scheinbar aus freien Stücken Verbindlichkeiten einging, von denen Jule immer nur geträumt hatte. Auf einmal war es kein Problem mehr für ihn, mit einer Frau zusammenzuleben, während Jules Nähe ihn bereits nach einem langen gemeinsamen Wochenende »eingeengt« hatte. Jonas arbeitete wieder als Lehrer, hatte seinen Bart abrasiert und wirkte in seinen neuen Klamotten so aufgeräumt, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Sah ganz so aus, als sei er endlich an jenem Ort angekommen, an den sie es vermutlich niemals schaffen würde – schon gar nicht allein.

Ein Rütteln an der Tür schreckte sie aus ihrem Kummer auf.

Es war der weißhaarige Monsieur Pierre aus Toulouse, der jeden Morgen bei ihr zwei speziell zubereitete Gläser Latte macchiato trank, während er seine Le Monde von der ersten bis zur letzten Zeile studierte. Neben ihm saß immer statuengleich Mims, die schwarze Katze mit den weißen Pfoten, die das Strandperlchen im letzten Sommer zu ihrem neuen Zuhause erkoren hatte.

Jule wischte die Tränen weg. Es gelang ihr sogar, ein halbwegs beherrschtes Gesicht aufzusetzen, als sie die beiden hereinließ. So glaubte sie zumindest. Aber weder der alte Mann noch die Katze ließen sich davon täuschen. Mims strich ihr unermüdlich um die Beine, als wollte sie sie trösten, und Monsieur Pierre sah sie so mitfühlend an, dass ihre Augen schon wieder feucht wurden.

»Sorgen?«, fragte er mit seinem charmanten französischen Akzent, der alles so viel leichter klingen ließ. »Die vergehen wieder, ma chère! Wenn Sie erst einmal so alt sind wie ich …«

Er nahm wie gewohnt am Fenstertisch Platz, wo er alles beobachten konnte, was sich draußen tat.

»Diese leider nicht«, murmelte Jule, während sie zur Theke ging, um dort das Herzstück ihres kleinen Ladens in Gang zu setzen, die Faema, die sie bei einem Italientrip in einer Turiner Bar aufgetrieben hatte. Obwohl die alte chromglänzende Espressomaschine schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, funktionierte sie noch immer einwandfrei und genügte sogar den Anforderungen einer ambitionierten Barista, zu der Jule sich mehr und mehr entwickelte. Irgendwie schmeckt der Kaffee im Strandperlchen anders, frischer, aromatischer, aufregender, egal, ob als Espresso oder aufgebrüht zubereitet, wie es wieder immer mehr in Mode kam. Das hatte sich rasch herumgesprochen in diesem Szeneviertel, in dem alle paar Monate ein neues Café eröffnete und manchmal ebenso schnell wieder schloss. Hatte Jule anfangs gängige Kaffee-Sorten verwendet, so war sie nach ein paar Monaten auf eine junge Spanierin gestoßen, die ihr die Augen geöffnet hatte und schon bald zu ihrer persönlichen Kaffeeberaterin avanciert war.

Maite da Silva schien einfach alles zu wissen über jene begehrten roten Kirschen, die entlang des Äquators wuchsen und geröstet so fantastisch schmecken konnten – oder einfach nur langweilig, ja, sogar widerwärtig, wenn man ihre Zubereitung vergeigte. Nach und nach erweiterte Jule ihre Kenntnisse, besuchte Maites ebenso informative wie unterhaltsame Fortbildungen, ließ sich in Sensorik-Kursen schulen, die ihren Geschmacksradius erweiterten, und bot ihren Gästen inzwischen ausgefallene Sorten von selbstständigen Kaffeebauern oder kleineren Kooperativen an, die selbstredend nachhaltig angebaut waren und den Gesetzen des Fair trade entsprachen.

Was natürlich seinen Preis hatte.

Während Jule behutsam die Milch für den alten Franzosen aufschäumte, stand ihr wieder die drohende Mieterhöhung vor Augen. In absehbarer Zeit konnte sie nicht so viel mehr bezahlen, ohne empfindlich teurer zu werden oder die Qualität zu senken, was beides für sie nicht in Frage kam. Auch ihr zweites Standbein, dem sie den klangvollen Titel Ich schreib dir dein Leben gegeben hatte, lief gerade erst an. Begonnen hatte es mit einer alten Dame, die vor einem Stoß vergilbter Briefe schier verzweifelt war, unfähig, aus eigener Kraft ihre verwickelte Familiengeschichte zu rekonstruieren. Mehr aus einer Laune heraus hatte Jule ihr angeboten, dies für sie zu übernehmen – und schon bald Feuer gefangen. Nach wenigen Wochen überreichte sie Frau Hinrichs ein gebundenes Konvolut, das diese überglücklich gemacht hatte.

Weitere Aufträge folgten, denn die begeisterte Kundin hatte umgehend Bekannte, Freunde und Nachbarn informiert: Herr Holms, der vor fast vierundachtzig Jahren in Altona als uneheliches Kind zur Welt gekommen war und endlich mehr über seinen Vater erfahren wollte, den die SA am Tag seiner Geburt zu Tode geprügelt hatte. Frau Willemsen, die ohne Unterstützung garantiert an den Nachforschungen über ihre lebenslustige Großmutter Agathe gescheitert wäre, die, wie sich herausstellte, nicht nur drei Ehemänner, sondern auch eine stattliche Anzahl an Liebhabern aufzuweisen hatte. Herr Brockmann mit dem silbernen Backenbart, der bis zum Rentenalter zur See gefahren war und bis dato so gut wie nichts über seine Familie gewusst hatte, weil er bei einer Großtante aufgewachsen war – Geschichten über Geschichten …

Reich wurde man damit zwar auch nicht, aber es machte Jule Spaß, Geschichte so hautnah zu recherchieren und niederzuschreiben. Das war etwas ganz anderes als jene öden Klausuren oder staubtrockenen Seminararbeiten, die ihr das Studium in Dresden schließlich verleidet hatten. »Jule ohne Plan« – so hatte ihre Mutter es stirnrunzelnd kommentiert, als es vor nunmehr drei Jahren leider keinen Universitätsabschluss in Geschichte und Germanistik gegeben hatte, den sie so gern mit ihrer Tochter gefeiert hätte.

»All die Jahre büffeln und pauken umsonst – und was nu?« Nie zuvor hatte Rena Weisbach bedrückter geklungen. Sie selbst war Physiotherapeutin und arbeitete gern mit ihren Händen, die anderen Menschen bei Verspannungen und Krankheiten wohltuende Erleichterung verschaffen konnten. In Dresden hatte sie sich mit diesen Fähigkeiten schon zum zweiten Mal einen ebenso treuen wie begeisterten Kundenstamm aufgebaut. »Die Lehre davor hast du ja auch abgebrochen. Gibt es denn gar nichts, was du einmal ganz zu Ende führen magst, jetzt, wo du schon fast dreißig bist?«

»Ich gehe in die Gastronomie. Und zwar nach Hamburg. Am liebsten möchte ich dort selbst etwas Kleines aufmachen.«

»Und womit, wenn ich fragen darf?«

»Mit Omas Hinterlassenschaft. Als Startkapital.«

»Ach, Kind, das sollte doch eigentlich dein Notgroschen für schlechte Zeiten sein! Und wie lange wirst du wohl dieses Mal dabei bleiben …«

Was ihre Mutter wohl zu der kleinen Histo-Nische sagen würde, die Jule inzwischen in der hinteren Café-Ecke eingerichtet hatte? Noch hatte sie ihr nichts davon erzählt, weil sie erst ganz sicher sein wollte, dass dieser Plan ausnahmsweise einmal funktionierte. Obwohl: Sprach das halbe Dutzend Familiengeschichten, die sich bereits auf einem schmalen Regal versammelt hatten, nicht für sich?

In der Nische stand Jules alter Laptop hinter einem historischen Hamburger Stadtplan von 1900 auf einem Tisch, zusammen mit zwei Stühlen, auf denen die Menschen es sich bequem machten konnten, um ihre Wünsche und Sehnsüchte an sie zu delegieren. Natürlich konnte Jule die dazu notwendigen Recherchen auch von zu Hause aus erledigen, was sie oft genug bereits tat, aber wenn das Strandperlchen als Anlaufstelle fehlte, würden weitere Anfragen vermutlich bald ausbleiben.

Tief in Gedanken griff Jule nach dem Schälchen, um Monsieur Pierre die gewünschten Schokoflocken auf sein Getränk zu streuen, als sie plötzlich erstarrte. Statt der gewünschten zartdunklen Verzierung schwammen plötzlich ein paar bräunliche Katzenbrekkies auf dem hellen Milchschaum.

Jule ohne Plan.

Sie zog die Schultern hoch und drehte sich leicht zur Seite, damit ihr Stammgast nichts bemerkte. Mims war erwartungsvoll sofort zur Stelle, während Jule alles weggoss und rasch die nächste Latte macchiato produzierte. Danach bekam die maunzende Katze ihr Frühstück.

»Sie sehen müde aus, Julie«, sagte Monsieur Pierre eindringlich, als sie ihm das Glas an den Tisch brachte. »Und so blass habe ich Sie auch noch nie gesehen. Ein Urlaub wäre wohl genau das Richtige für Sie. Wenigstens ein paar Tage zum Ausspannen …«

Als ob sie das nicht selbst wüsste!

Die dunklen Schatten unter ihren Augen wollten gar nicht mehr verschwinden, weil sie seit Monaten viel zu wenig Schlaf bekam.

Meine kleine Römerin, so hatte Jonas sie in der ersten Verliebtheit genannt, und wenn sie in dem opulenten Bildband mit den pompejianischen Fresken blätterte, den er ihr damals geschenkt hatte, so lag er mit dieser Bemerkung gar nicht so falsch. Die nussbraunen Haare, die sich inzwischen in ihrem Nacken kringelten, weil sie den Friseurtermin immer wieder verschoben hatte, die grünen Augen, die hohe Stirn sowie die kühne Nase und der Mund mit dem exakt gezeichneten Venusbogen, der so übermütig lachen konnte, in letzter Zeit aber viel zu oft einen strengen Zug bekam, all das ähnelte den Zügen der Frauen auf den Bildern. Zumal nur ein paar Sonnenstrahlen genügten, und schon nahm Jules Haut einen Bronzeton an. Aber nicht einmal dafür hatte sie Zeit gefunden, obwohl die letzten Tage für einen Hamburger Mai ungewohnt heiter gewesen waren.

»Am besten mit einem netten Mann«, fuhr Monsieur Pierre fort. »Eine schöne junge Frau wie Sie – und dann immer ganz allein! Das soll verstehen, wer will …«

Oder einfach tausend Euro mehr im Monat, dachte Jule ungewohnt bitter. Dann könnte mein Leben so viel einfacher sein.

Um auf andere Gedanken zu kommen, konzentrierte sie sich auf ihr aktuelles Kuchenangebot. Dass die selbstgemachten Franzbrötchen vom Vortag stammten, sah man ihnen leider an. Gleiches galt für die Mini-Zitronengugl mit Buttermilch, die nicht mehr ganz so prall waren, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Zum Glück hatte Jule daheim in den frühen Morgenstunden noch einen Himbeer-Schmandkuchen gebacken, der sich ausnehmend gut in der Vitrine machte. Und auch die Schokobrownies, die sie danach in den Ofen geschoben hatte, sahen zum Anbeißen aus. Zudem waren nebenan in der kleinen Küche, die zum Café gehörte, gerade die Cheesecakemuffins fertig, wie ihr ein Klingelzeichen verriet.

Sie ging hinüber und holte sie aus dem Backofen. Jetzt mussten sie noch eine Weile auskühlen, bevor Jule sie ihren Gästen servieren konnte.

»Niemand da?«, hörte sie eine Männerstimme fragen.

Sie wusste sofort, wem sie gehörte, wenngleich ihr schleierhaft war, wieso dieser Gast immer wieder in ihr Café kam. Der Querulant, so nannte sie ihn längst insgeheim, weil er meistens etwas zu bekritteln hatte. Manchmal hatte er einen blonden Begleiter dabei, der viel freundlicher wirkte und ein ausgesprochen nettes Lachen hatte, doch heute schien er allein zu sein.

»Einen Moment noch!«, rief sie zurück.

Er stand vor der Kuchenvitrine, den Kopf mit dem dunkelbraunen Haar leicht schief gelegt. Auf seiner rechten Wange verlief eine Narbe, die ihn schon lange begleiten musste, so flach und blass, wie sie war. Schwarze Wimpern, blaue Augen, scharfe Kinnlinie. Angezogen war er lässig, so wie sie es bei Männern eigentlich mochte: Lederjacke, Jeans, schwarzer Pulli. Aber nicht einmal das machte ihn sympathischer.

»Kein Rüblikuchen?«, fragte er in leicht anklagendem Tonfall. »Und ich sehe heute auch keine Mandelhörnchen.«

»Beides ist leider aus.« Sie hatte keine Lust, ihm ausführlicher zu antworten. »Stattdessen könnte ich den Himbeer-Schmand empfehlen.«

»Das weiß-rote Cremezeug? Ist mir viel zu üppig.« Er deutete auf die Franzbrötchen. »Was ist mit denen?«

»Sind leider von gestern.«

Seine Miene geriet noch verdrießlicher. »Und diese kleinen Zitronen-Dinger daneben?«

»Dito.«

Inzwischen machte es Jule beinahe Spaß. Sollte der Querulant doch abziehen und seinen Verdruss anderswo abladen! Anfangs hatte sie ihn für einen Lehrer gehalten, weil er immer alles besser wusste, später für einen Steuerberater, so knausrig fiel jedes Mal sein Trinkgeld aus. Inzwischen war sie überzeugt, dass er Jurist sein musste. Vermutlich ein pingeliger Staatsanwalt, der harmlose Schwarzfahrer hinter Gitter brachte und an seinem freien Vormittag mit der Lederjacke auf cool machte.

»Und die Schokoküchlein?« Seine Stimme zitterte leicht.

»Köstlich, aber eine Kalorienbombe«, erwiderte sie ohne das Gesicht zu verziehen. »Dagegen ist der Himbeer-Schmand die reinste Diät.«

»Ich nehme trotzdem eins«, sagte er entschlossen. »Dazu einen Kamillentee. Wenn Sie mir beides dann bitte an den Tisch bringen könnten.«

»Aber gerne doch.«

Schokobrownies und Kamillentee, was für eine kranke Kombination. Vermutlich waren seine Geschmacksknospen bereits in frühester Kindheit abgestorben. Zum Glück hatte sie die frischen Cheesecakemuffins nicht erwähnt.

Jule ließ heißes Wasser in ein Glas laufen und legte den Teebeutel auf den Unterteller. Aus einem plötzlichen Impuls heraus schaltete sie ihr Mahlwerk ein, ließ die passende Portion Kaffeepulver in das Sieb rieseln und drückte es dann mit dem Tamper fest, Tätigkeiten, die ihr inzwischen wie von selbst von der Hand gingen, hinter denen aber eine Menge hart erarbeiteter Erfahrung stand – und so manche Pleite. Doch inzwischen wusste sie, wie es gemacht werden musste, damit es gut schmeckte. Aus der Faema strömte ein perfekter Espresso. Jule hatte sich für einen Tierras Vulcánicas aus Costa Rica entschieden, eine ihrer aktuellen Lieblingssorten.

»Aber den hab ich gar nicht bestellt«, protestierte ihr querulantischer Gast, als sie die kleine Tasse zu dem Tee und dem Kuchenteller auf seinen Tisch stellte.

»Ich weiß«, sagte Jule. »Probieren Sie ihn trotzdem. Aber zuerst essen Sie einen Bissen.«

Er folgte tatsächlich ihrer Aufforderung.

»Das schmeckt ja zusammen richtig gut«, sagte er verblüfft, nachdem er gekostet hatte.

»Ich weiß«, wiederholte sie und wandte sich ab. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal kurz zu ihm um. »Der Kaffee geht übrigens aufs Haus – ausnahmsweise.«

Jule spürte seinen Blick im Rücken, als sie zurück zum Tresen ging. Inzwischen waren fünf weitere Tische besetzt. Sie musste zügig arbeiten, denn morgens hatten es viele ihrer Gäste eilig. So versorgte sie das Pärchen am zweiten Fenster, die Frau mit dem Mops und das kichernde Mädchentrio, auf das die Schule wartete, sowie den Geschäftsmann, der seinen Espresso wie immer im Stehen schlürfte. Erst nachdem auch Monsieur Pierre seine zweite Latte macchiato entgegengenommen hatte, fiel ihr wieder der Querulant ein.

Sein Tisch war leer. Anstatt der wie üblich abgezählten Münzen lag ein Zehn-Euro-Schein neben dem Geschirr.

Verblüfft steckte Jule ihn in ihre Geldtasche, als erneut die Tür aufging.

Nur eine einzige Frau auf dieser Welt konnte solch einen Auftritt aus brandrotem Haar, wogendem Busen, Lagen von bunten Tüllröcken und einem kräftigen Schwall Rosenduft hinlegen.

»Gut, dass du da bist!« Leicht gequält lächelte sie ihrer Freundin entgegen. »Ich wollte schon zu dir rüberkommen. Hörst du sie auch, die Posaunen des Letzten Gerichts?«

»Welche Posaunen?« Aphrodites Stupsnase kräuselte sich skeptisch.

»Meine Posaunen natürlich. Ich bin praktisch am Ende.«

2

Hamburg, Juni 1936

Hannes ist zurück, und mein Herz schlägt so aufgeregt in meiner Brust wie ein gefangener Vogel. Wie braun er in Costa Rica geworden ist! Und wie erwachsen er aussieht – kein schlaksiger Junge mehr, sondern ein richtiger Mann. Er kommt mir größer vor als im Frühling, und dass die südliche Sonne sein weizenblondes Haar noch heller gemacht hat, steht ihm so gut, dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich war bereits unsterblich in ihn verliebt, als sein Frachtdampfer im Winter auslief, und daran hat sich nichts geändert.

Ganz im Gegenteil.

Alles in mir sehnt sich danach, ihn endlich zu berühren. Nicht auf die freundschaftliche Art, wie wir es als Kinder hundertfach gedankenlos unten in der Küche getan haben, sondern so wie Liebende. Ich möchte seine Arme um mich spüren und seine festen Lippen auf meinem Mund. Möchte seine hellen Haare verwuscheln, seine Lider mit zarten Küssen bedecken und seinen Duft nach Sommer und Gras einatmen.

Aber nimmt er mich überhaupt wahr?

Vorhin ist er im blumengeschmückten Vestibül so schnell an mir vorbeigegangen, dass ich vor Enttäuschung fast geweint hätte. Natürlich weiß ich, dass er heute sehr beschäftigt ist, wo doch unser großes Sommerfest stattfinden soll. Schon als Junge hat seine Mutter ihm verschiedene Aufgaben übertragen, vor allem, wenn Gäste erwartet wurden. Manchmal habe ich dabei auch mitgeholfen, denn in Käthe Krögers Nähe war ich schon als kleines Mädchen ganz besonders gern. Ich mag ihre Wärme, ihre klare, direkte Art, die Sorgfalt und Liebe, mit der sie alle Speisen für uns zubereitet. Essen ist für sie keine Nebensache, sondern etwas Wichtiges, das man ehren und würdigen sollte, das habe ich von ihr gelernt. Oft habe ich mir sogar ausgemalt, mit Hannes und ihr zusammen in der gemütlichen kleinen Souterrainwohnung zu leben, anstatt oben in der großen kalten Villa, wo sich alles immer nur um Kaffee dreht und sonst jeder seiner eigenen Wege geht.

Ich weiß also genau, was sie leisten muss, und dass ihr Sohn alles tut, um sie darin zu unterstützen, weil sein Vater ja noch vor seiner Geburt verstorben und er als lediges Kind zur Welt gekommen ist. Und trotzdem hätte Hannes mit mir reden können, anstatt mir nur kurz zuzunicken, mit jenem unwiderstehlichen Lächeln, das mich nur noch mehr in Verwirrung gestürzt hat!

Gäbe es nicht dieses Tagebuch, dem ich meine Gefühle und Wunschträume anvertrauen kann, wäre ich wahrscheinlich schon auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Mama besitzt auch so ein kostbares Büchlein, in das sie manchmal schreibt, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Sie versteckt es so gut, dass ich es bei meinen neugierigen Streifzügen durch ihr Boudoir bislang noch nicht entdeckt habe. Das habe ich mir zum Vorbild genommen: auch meines wird niemals jemand finden …

Das alte vom letzten Jahr habe ich neulich im Kamin verbrannt. Wie kindisch und unwichtig erschienen mir auf einmal meine Eintragungen! Doch dieses hier soll nun mein innigster Vertrauter werden. Hier kann ich offen niederschreiben, was mich bewegt, auch Gedanken und Begebenheiten, die ich nicht einmal meiner Freundin Jette anvertrauen würde. Ebenso wenig wie meiner heiß geliebten Tante Fee, die im Nebentrakt unserer Villa lebt und eigentlich das größte Herz hat, das man sich nur vorstellen kann. Manchmal kann ich kaum glauben, dass sie Papas jüngere Schwester sein soll, so verschieden sind die beiden, er so konservativ, traditionsbewusst und streng, sie so offen und frei. Aber dann gibt es doch wieder Momente, in denen ich spüre, dass sie vom gleichen Stamm sind, obwohl sie einige Jahre jünger ist als er, denn auch Fee ist nicht ganz ohne Dünkel.

»Du bist eine Terhoven, vergiss das nie«, hat sie zu mir gesagt, als ich eingeschult wurde. »Die Terhovens machen sich nicht mit jedem gemein, sondern besitzen Klasse und Stil. Sei anständig, klug, ehrlich und vor allem bescheiden. Aber vergiss dabei nie, dass die Menschen zwar gleich viel wert sind, gesellschaftlich jedoch sehr unterschiedlich stehen. Achte also stets darauf, mit wem du dich einlässt, dann wirst du passabel durchs Leben kommen.«

Damals habe ich noch nicht recht verstanden, was sie damit sagen wollte. Heute aber weiß ich, dass Hannes garantiert nicht zu diesem Personenkreis zählt, auch wenn seine Mutter schon seit einer halben Ewigkeit zu unserem Haushalt gehört. Und was wäre mit Malte, meinem Tanzpartner, der das linke Bein nachzieht? Immerhin besitzen seine Eltern drei gutgehende Speiselokale in Altona und Othmarschen – aber was ist das schon gegen eine Familie von Kaffeehändlern wie die Terhovens, die ihren Stammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückführen kann?

Meine Eltern haben anderes mit mir vor, das weiß ich längst, auch wenn sie nur darüber reden, wenn sie glauben, ich könne es nicht hören. Doch ich habe sie oft genug belauscht, um ihre Pläne für meine Zukunft zu kennen. Ein Reeder sollte es am besten sein, der mich einmal ehelicht, ein reicher Kaffeeröster oder ein erfolgreicher Kaufmann aus guter Familie und vor allem mit einem stattlichen Vermögen. So ist wohl auch ihre Ehe zustande gekommen: die bildschöne Bremerin Delia Bornholt, die den vierzehn Jahre älteren Friedrich Terhoven aus Hamburg zum Mann genommen hat, der ihr ein sorgloses Leben bieten kann.

Vernunft statt Gefühle.

Tradition anstelle von Leidenschaft.

Das richtige Maß – und bloß keine unüberlegten Ausbrüche!

Und nun soll ich bald an der Reihe sein, es ihnen nachzutun. Doch da haben sie die Rechnung ohne mich gemacht!

Ich will keinen dieser betuchten Erben, und auch die Herren in brauner oder schwarzer Uniform, die man jetzt so häufig in Hamburg sieht, interessieren mich nicht die Bohne. Malte Voss ist mein bester Freund (trotz seiner nervigen Schwester Hella), der mich so gut versteht, wie sonst kaum jemand. Ich mag es, mit ihm zusammen zu sein, höre gern zu, wenn er seinen Rilke rezitiert oder mir von den Romanen erzählt, die er ständig liest.

Aber all mein Fühlen und Sehnen gilt Hannes.

Ihn will ich, ihn und nur ihn. Er soll mein Liebster sein, mein Herzensschatz, mein Augenstern …

Sie hörte Schritte auf der Treppe. Er bemühte sich zwar, leise zu gehen. Aber ein pummeliger Tollpatsch wie ihr zwölfjähriger Bruder schaffte das eben nie. Sophie schlug das Tagebuch zu und schob es blitzschnell in das Geheimfach ihres Biedermeiersekretärs. Als Lennie vor ihr stand, war die Lade bereits geschlossen.

»Was schleichst du dich an?«, fuhr sie ihn an. »Du weißt ganz genau, dass ich das nicht mag. Ungezogene kleine Brüder haben in meinem Zimmer nichts zu suchen!«

»Hab dich bloß nicht so«, konterte er. »Mama schickt mich. Sie will wissen, ob du schon angezogen bist. Und das bist du – natürlich nicht! Wird ihr gar nicht gefallen, glaube ich. Außerdem will die Tante dich auch noch sehen. Sieh zu, wie du das alles rechtzeitig hinkriegst!«

Sophies Blick glitt zu dem Abendkleid, das außen am Schrank hing. Vom ersten Moment an hatte sie es nicht gemocht, und wenn der Taft noch so mitternachtsblau schimmerte und die elfenbeinfarbene Spitze noch so kostbar war.

»Ich hasse es«, murmelte sie. »Und zu weit ist es mir auch.«

»Schön scheußlich«, pflichtete Lennie ihr bei, und für einen Moment war es zwischen ihnen wieder wie früher, bevor er Mitglied im Jungvolk geworden war und ständig mit Slogans und Parolen um sich warf, die er dort aufgeschnappt hatte. Seitdem brannte er nur noch darauf, mit seinen Kameraden nach endlosen Märschen am Lagerfeuer kriegerische Lieder zu schmettern. Am liebsten wäre er sogar in Uniform zur Schule gegangen, aber das hatten die Eltern ihm verboten. Dafür trug er sie stolz in jeder freien Minute, und so steckte er auch jetzt in kurzer Hose, Lederkoppel, Braunhemd sowie Halstuch mit Lederknoten. Schulterriemen und HJ – Fahrtenmesser würde er erst nach bestandener Pimpfenprobe erhalten, an der er allerdings schon zwei Mal gescheitert war. Genau da lag nämlich Lennies Problem: Der rosige, kugelrunde Säugling, den Sophie liebevoll herumgeschleppt hatte, damit er endlich zu schreien aufhörte, war inzwischen zu einem kräftigen Jungen mit strammen Waden herangewachsen, aus dem niemals eine Sportskanone werden würde.

Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl – von dieser Vision des Führers war Lennart Terhoven denkbar weit entfernt, selbst wenn er demnächst garantiert in die Höhe schießen würde, eine Vorstellung, an die er sich verzweifelt klammerte. Während Sophie mit ihren langen Beinen nur lossprinten musste, um bei den Jugendspielen auch ohne Training auf dem Siegertreppchen zu landen, war Lennie in seiner Altersgruppe stets unter den Letzten. Auch mit dem verlangten Weitsprung von über 3,50 Metern tat er sich schwer, und dass seine Schlagballwürfe auf der Hälfte der geforderten Strecke jämmerlich verreckten, war für ihn ein ganz besonderes Ärgernis. Er versuchte krampfhaft, seine sportlichen Schwächen mit Übereifer auf anderen Gebieten zu kompensieren und nervte unter anderem seine gesamte Umgebung mit dem ständigen Zitieren der Schwertworte der Jungvolkjungen, die in der Familie Terhoven längst keiner mehr hören konnte.

»Du solltest dich ebenfalls beeilen«, sagte Sophie, die endlich wieder allein sein wollte. »Für eine Abendveranstaltung erwartet Mama einen ordentlichen Aufzug, das weiß du ganz genau.«

»Ich kenne nichts Ordentlicheres«, sagte er leise, aber bestimmt, und klang plötzlich fast erwachsen. Ob es daran lag, dass er erst neulich zum Streifendienst des Jungvolks befördert worden war und alle Elemente aufdecken sollte, die sich gegen die nationalsozialistische Bewegung richteten? Sophie konnte sich nicht genau vorstellen, was ihr kleiner Bruder eigentlich bewirken konnte, aber es ließ sie trotzdem frösteln. »›Die nationale Erneuerung geht von der Jugend aus.‹ Das hat Baldur von Schirach mehrfach gesagt. ›Daran werden die Alten sich gewöhnen müssen.‹«

Verblüfft sah Sophie ihm hinterher, als er ihr Zimmer verließ.

Wo er das nur wieder herhatte? Und die »Alten« – wenn ihr Vater das hören könnte!

Vielleicht würde Friedrich Terhoven sich nicht einmal sonderlich darüber aufregen, denn seinem Sohn, der nicht nur seine untersetzte Statur geerbt hatte, sondern ihm mit der breiten Stirn, den wasserblauen Augen und dem viereckigen Kinn wie aus dem Gesicht geschnitten war, verzieh er nahezu alles. Dagegen stieß die erstgeborene Tochter überall auf Vorschriften und Hürden. Doch wozu gab es weibliche List, Schleichwege und Verbündete, die einem beistanden? Sophie war nicht bereit, sich kampflos den väterlichen Beschränkungen und Geboten zu fügen – und jetzt, da Hannes endlich wieder zurück war, weniger denn je.

Während sie Rock und Bluse auszog, die Baumwollunterwäsche gegen ein Hemdhöschen aus weißer Seide tauschte und mangels einer besseren Alternative nun doch in das ungeliebte blaue Kleid schlüpfte, begann ein Plan in ihr zu reifen.

In den Spiegel warf sie nur einen raschen Blick.

Die dunklen Locken waren zu widerspenstig für eine richtige Frisur und ohnehin am schönsten, wenn sie nur mit gespreizten Fingern hindurchfuhr. Zarter Lidschatten, wie Fee ihn manchmal auflegte, hätte ihre meergrünen Augen größer und sicherlich noch ausdrucksvoller gemacht, aber die deutsche Frau rauchte nicht, und sie schminkte sich auch nicht. Trotzdem hatte Sophie in einer ihrer Schubladen einen alten rosa Lippenstift versteckt, mit dem sie nun ihren Mund betupfte. Noch ein Spritzer Parfum hinter die Ohren – und sie war so weit.

Von unten hörte sie Klappern und Stimmen, die lauter wurden, je weiter Sophie die Treppe hinunterstieg.

Die Flügeltüren standen weit offen und verwandelten das Erdgeschoß der Villa an der Flottbeker Chaussee in ein riesiges Foyer. Im Vestibül mit den stilisierten dorischen Säulen würden die Begrüßungscocktails gereicht werden. Danach konnten die Gäste ihre Teller am Büfett füllen, das im Esszimmer an einer schier endlosen Tafel auf sie wartete, um danach entweder dort, im Wohnzimmer, der angrenzenden Bibliothek oder auf der großen Terrasse zu speisen, von der aus man einen atemberaubenden Blick über die Elbe hatte. Wer es verschwiegener mochte, spazierte hinaus in den weitläufigen Garten mit seinem alten Baumbestand, dem perfekt gepflegten Rasen, zahlreichen Rosenrabatten und dem großen gläsernen Gewächshaus, in dem während der langen kalten Monate Delia Terhovens geliebte Oleanderpflanzen überwintern konnten. Jetzt, im Sommer, waren dort nur ein paar stattliche Palmentöpfe zurückgeblieben, die zusammen mit diversen Deckchairs aus Tropenholz und kleinen Tischchen, die aus einer Schiffsladung aus Indonesien stammten, eine ebenso exotische wie gemütliche Atmosphäre schufen.

Beim legendären Sommerfest der Terhovens, das seit 1920 jedes Jahr stattgefunden hatte, reichte die Arbeitskraft des üblichen Hauspersonals – Käthe, Stine und Herta Petersen, der Frau des Chauffeurs – bei Weitem nicht aus. Hannes musste mit einspringen, und aus Altona waren zusätzlich einige junge Mädchen engagiert worden, die Käthe erst beim Anrichten der Speisen und dann später beim Servieren und Abräumen zur Hand gehen sollten. Spannung lag in der Luft, weil die Zeit bis zur Ankunft der Gäste trotz guter Planung nun eben doch knapp wurde, und alle in der Villa wussten, wie schnell Friedrich Terhoven aus der Haut fahren konnte, wenn ihm etwas nicht passte.

»Mit ner richtigen Hausfrau wäre alles ganz anders«, hörte Sophie Stine vor sich hin meckern, die gerade mit einem Blumengesteck kämpfte und nicht merkte, dass sie genau hinter ihr stand. Mit ihrem weißblonden Schopf, der kecken Nase und den kornblumenblauen Augen war sie eine auffällige Erscheinung, der viele junge Männer hinterherpfiffen. Sophie, die eine ähnliche Statur wie Stine hatte, überließ ihr manchmal abgelegte Kleider, mit denen das Hausmädchen vor ihresgleichen gerne angab. »Giftiger Oleander mitten auf’m Tisch – so’n Shiet! Ginge es nach mir, klebte das alles bereits an der nächsten Wand. Aber die eine im Haus ist sich ja für alles zu schade, und die andere vergräbt sich Tag und Nacht hinter ihren Büchern. Kein Wunder, dass hier manchmal alles drunter und drüber geht!«

Sophie räusperte sich, und Stine schreckte zusammen. Sie wirbelte herum, entspannte sich jedoch, als sie sah, wer hinter ihr stand.

»Du petzt doch nicht etwa, oder?«, fragte sie rasch. Irgendwann waren die beiden fast gleichaltrigen Mädchen dazu übergegangen, sich zu duzen, auch wenn die Hausherrin Delia das nicht gerne sah. »Aber heute isses tatsächlich ein büsschen drüber!«

Sophie legte einen Finger auf ihre Lippen und kämpfte gegen ihr schlechtes Gewissen an. Doch mit diesem wilden Aufruhr in ihrem Herzen war sie heute wirklich nicht in Stimmung für komplizierte Tischdekorationen.

»Das wird schon«, sagte sie und lief hinaus, weil sie endlich bei Tante Fee sein wollte.

Die paar Schritte bis zu dem Anbau, den Friedrichs jüngere Schwester seit vielen Jahren bewohnte, hätte sie auch mit geschlossenen Augen zurücklegen können, so oft war sie diesen Weg schon gegangen. Felicia Terhoven, die alle nur Fee nannten, war Sophies Felsen in der Brandung, ihr Rettungsanker, ihre Zuflucht, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Nach Lennies Geburt, als ihre Mutter monatelang unter einer schweren Depression gelitten hatte, war Sophie ganz bei ihrer Tante eingezogen, so verlassen hatte sie sich damals gefühlt. Nach einem guten halben Jahr hatte Delias Schwermut sich jedoch wieder gelegt, und Sophie konnte in die Villa zurückkehren, doch seitdem gab es zwischen Nichte und Tante ein starkes, unzerreißbares Band.

Warum Fee keinen Mann und keine eigenen Kinder hatte, war Sophie rätselhaft. Als Achtzehnjährige war ihre Tante mit einem englischen Earl verlobt gewesen und hatte sogar ein paar Monate bei seiner Familie in London verbracht, doch die Beziehung war zerbrochen und Fee wieder nach Hamburg in das Haus ihres Bruders zurückgekehrt. An ihrem leicht herabhängenden rechten Lid, einem Geburtsfehler, konnte es sicherlich nicht liegen. Ganz im Gegenteil: Sophie fand, dass diese Besonderheit die Tante umso reizvoller machte. Ihre so unterschiedlichen Augen schienen tief in ihr Gegenüber hineinzublicken. Manchmal glaubte sie sogar, dass ihnen kein Geheimnis verborgen blieb.

Fee hatte damals die ganze Schuld für das Desaster mit ihrem Verlobten auf sich genommen, doch manchmal fragte Sophie sich, ob der englische Lord, dem man eine Vorliebe für Pferdewetten und nicht ganz legale Glückspiele nachsagte, sich vielleicht zu schnell von ihr durchschaut gefühlt hatte?

»Ich tauge offenbar nun mal nicht zur Zweisamkeit«, hatte Fee einmal erklärt, als Sophie eines Tages neugierig in sie gedrungen war. »Vielleicht, weil ich eben keine Kompromisse mag. Was ich wollte, das konnte ich nicht bekommen – und wäre damit wahrscheinlich nicht einmal glücklich geworden. Und was ich bekommen konnte, das wollte ich nicht. So einfach ist das. Inzwischen bin ich gottlob zu alt für Herzensangelegenheiten, was durchaus seine Vorteile hat, mein Mädchen.«

Zu alt, was für ein Unsinn!

Das hatte Sophie schon damals gedacht, doch als sie ihre Tante heute sah, erschien es ihr absurder denn je. Das taillierte Kleid aus Organza mit weiten Schmetterlingsärmeln schimmerte in Blau- und Grüntönen und ließ sie noch fragiler wirken, als sie ohnehin war. Kein Mensch hätte Fee für Anfang vierzig gehalten, so bezaubernd und jung sah sie aus. Ganz gegen die herrschende Frisurenmode, die weich ondulierte Wellen verlangte, hatte sie ihre kinnlangen aschblonden Haare unter einem eng anliegenden grünen Käppchen versteckt, das ihre feinen Gesichtszüge noch unterstrich.

»Heute siehst du wirklich aus wie eine Fee«, sagte Sophie. »Ein Flügelschlag – und du könntest abheben.«

»Du dagegen siehst leider aus wie ein Landei.« Fee zog ihre Stirn kraus. »Was hat die liebe Delia sich nur dabei gedacht? Also raus aus dem Ding, und zwar dalli!«

»Ich soll mich ausziehen?«

»Was denn sonst? Ich bringe dir gleich was Passendes.« Sie ging nach nebenan in ihr Schlafzimmer und kam nach ein paar Minuten mit drei Kleidern über dem Arm zurück, die sie Sophie nacheinander anhielt.

»Rot ist mir zu aufdringlich für dich«, murmelte sie, »Lila zu elegisch, aber hier, das Weiße, das ist genau richtig.«

»Das hat ja nur einen Schulterträger«, sagte Sophie erschrocken. »Und man kann obenrum nichts darunter ziehen! Kann man denn so gehen?«

»Hellenisch inspiriert, mein Mädchen, ganz und gar klassisch hellenisch! Und wenn nicht jetzt – wann dann? Als Greisin kannst du dich gnädig verhüllen, aber doch nicht jetzt. Es wird dir ganz wunderbar stehen, vertrau deiner alten Tante.«

»Und meine Unterwäsche …«

»Die ziehst du aus und nimmst stattdessen das hier.« Sie reichte ihr ein blütenweißes Höschen.

Als Sophie nicht reagierte, begann sie zu lächeln.

»Du wirst dich doch nicht auf einmal vor mir genieren? Ich hab dich schon in allen Phasen des Lebens nackt gesehen, meine Kleine! Und außerdem: Mit so einem hübschen Körper musst du dich niemals schämen, vor niemandem, merk dir das!« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Aber wenn du unbedingt willst, dann verschwinde ich, bis du dich umgezogen hast.«

Es fühlte sich aufregend an, den Stoff auf der nackten Haut zu spüren – schwere weiße Seide, die unter dem Busen mit einem Band mit silbernen Mäandern verziert war und Sophie in weichen Falten bis auf die Knöchel fiel.

»Perfekt!«, sagte Fee, die unbemerkt wieder ins Zimmer getreten war. »Wie für dich gemacht. Eigentlich müsstest du dazu barfuß gehen, aber da würde deine Mutter vermutlich wieder eine ihrer Krisen bekommen, also nimm lieber die hier.« Sie reichte ihr ein paar silberne Sandaletten mit kleinem Absatz und Schnürungen. »Und? Wie fühlst du dich?«

»Herrlich!«, sagte Sophie, während sie in die Schuhe schlüpfte. »Das Kleid ist ein einziger Traum – ganz und gar ungewöhnlich. Woher hast du es?«

»Eine lange Geschichte«, sagte Fee, und ihr Lid zuckte leicht. »Irgendwann werde ich sie dir erzählen. Und jetzt komm! Wir müssen wenigstens so tun, als würden wir helfen wollen.«

Als sie das Vestibül betraten, kam Friedrich Terhoven ihnen entgegen. Er trug keinen Smoking, weil es ja sommerlich leger zugehen sollte, sondern einen dunklen Abendanzug, der ihn etwas schlanker wirken ließ. Die wirtschaftlichen Sorgen der vergangenen Jahre hatten sein kurz geschnittenes blondes Haar mit einigen Silberfäden durchmischt, aber noch immer war sein flächiges Gesicht frisch und sein Gang energisch, wenngleich er sich seit Jugendtagen ein paar Zentimeter mehr an Größe gewünscht hätte. Aus diesem Grund musste seine Frau auch stets auf hohe Absätze verzichten, da er nicht wollte, dass Delia ihn überragte. Dass die Tochter bereits ein wenig auf ihn hinunterschauen konnte, nahm er an manchen Tagen mit Humor, heute allerdings schien es ihn zu stören.

»Wie immer eine Augenweide, Fee«, sagte er galant. Dann erschien eine strenge Falte zwischen seinen Brauen. »Aber wie siehst du denn aus, Sophie? Dieses Kleid – ist das wirklich dein Ernst? Und hast du dir zudem auch noch Kothurne umgeschnallt, um größer zu wirken?«

»Wie die jungfräuliche Göttin Diana«, erwiderte Fee schlagfertig. »Junge Mädchen sollten immer Weiß tragen, findest du nicht, liebster Bruder? Und diese kleinen Absätze stehen deiner schönen Tochter doch ganz wunderbar!«

*

Zwei Stunden später waren die Platten mit Räucherlachs, Hummer und Matjessalat deutlich leerer geworden; Gleiches galt für die Schüsseln mit heißer und kalter Suppe, und auch vom Braten waren nur noch Reste übrig. Die Gäste hatten mit Champagner begonnen und waren inzwischen beim Riesling gelandet, bis auf einige der Herren, die lieber Rotwein oder Bier tranken, sofern sie sich nicht an den französischen Cognac hielten, den die jungen Servierinnen in bauchigen Schwenkern anboten.

Der Hausherr stand inmitten einer kleinen Gruppe von Männern auf der Veranda und rauchte Zigarre, ein untrügliches Anzeichen dafür, dass er sich wohl fühlte. Carl Vincent Krogmann, Regierender Bürgermeister Hamburgs, der ebenfalls unter den Gästen war – eine besondere Ehre, wie der Vater Sophie bereits vor dem Fest versichert hatte – stand neben ihm. Neben dem Bürgermeister posierte mit exakt gezogenem Scheitel der junge Handelskammerpräses Hermann Victor Hübbe, der seinen jüdischen Syndikus Eduard Rosenbaum schon vor drei Jahren aus dem Amt geboxt hatte. Von den zahlreichen jüdischen »Kaffeebaronen«, wie man im Volksmund die Eigentümer der großen Handelshäuser in der Speicherstadt halb spöttisch, halb respektvoll nannte, war kein einziger mehr anwesend. Obwohl es im Hamburger Kaffeeverein trotz des Drucks der Nationalsozialisten noch immer fünfzehn jüdische Mitglieder gab, die seit 1933 allerdings keine Vorstandsmitglieder mehr sein durften, hatte Friedrich Terhoven darauf verzichtet, sie einzuladen.