ROBERT SILVERBERG
ÖFFNET
DEN HIMMEL
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Der Autor
Zitat
Einführung
Blaues Feuer – 2077
Die Streiter des Lichts – 2095
Wohin die Veränderten gehen – 2135
Lazarus steht wieder auf – 2152
Öffnet den Himmel! – 2164
Zu Beginn des 22. Jahrhunderts ist es nicht die Wissenschaft, die die Menschheit vorantreibt, sondern die Religion. Noel Vorst hat Technik und Mythos zu einer neuen Religion verbunden. Doch die Bewegung ist gespalten. Die Harmonisten haben sich auf der Venus angesiedelt, deren Bewohner genetisch verändert wurden, damit sie auf unserem Nachbarplaneten überleben können. Trotz der Kolonien ist die interstellare Raumfahrt bisher unmöglich. Viele glauben, dass die Menschen die Sterne nur dann erreichen werden, wenn Vorster und Harmonisten wieder zusammenarbeiten. Doch die Kluft zwischen den Fraktionen scheint unüberbrückbar – bis es auf der Venus zu einem Zwischenfall kommt, der alles verändert …
Robert Silverberg, geboren 1935 in New York, ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Autoren. 1954 beginnt er, auch um seine finanzielle Situation als Student zu verbessern, Science-Fiction-Geschichten an einschlägige New Yorker Verlage zu verkaufen. Sein erster Roman »Revolt on Alpha C« erscheint 1955, 1957 bekommt er den Hugo Award als vielversprechendster Nachwuchsautor verliehen. Bereits mit Ende zwanzig ist er dank eines gewaltigen Arbeitspensums und kluger Investition Millionär. Er hat über 50 Romane (darunter auch Fantasy) veröffentlicht. Silverberg erhielt zahlreiche Preise, darunter den renommierten Hugo-Award für den besten Science-Fiction-Autor. Er verfasst auch Sachbücher über Archäologie und Naturwissenschaften. Heute lebt er mit seiner Frau, der Autorin Karen Haber, in San Francisco.
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Titel der Originalausgabe
TO OPEN THE SKY
Aus dem Amerikanischen von Marcel Bieger
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1967, 1978 by Robert Silverberg
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-20603-1
V001
Für Frederik Pohl
Fast jeder Science Fiction-Autor bastelt zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Karriere an einer Tabelle der »zukünftigen Geschichte« herum. Soweit mir bekannt ist, hat Robert A. Heinlein damit angefangen. Er hat die Entwicklung der nächsten sechs- oder siebenhundert Jahre aufgelistet und die meisten seiner in den vierziger Jahren geschriebenen Geschichten danach ausgerichtet. Heinleins Geschichtsplan ist im Anhang vieler seiner Bücher abgedruckt worden. Poul Anderson hat für seine Zukunftsvision ein ähnliches Schema ausgearbeitet. Und ich glaube, auch Larry Niven hat seinem Werk so etwas zugrunde gelegt, und ... nun, ich habe so etwas nie getan; hauptsächlich deshalb nicht, weil ich ein rastloser Mensch bin, dem es rasch zuviel wird, all jenes zu er- und überarbeiten, was nötig ist, um eine lange Serie mit einem Background zu versehen, der in sich schlüssig ist.
Damals, 1957, habe ich aber doch kurzzeitig an dieser Sache herumgebastelt. Auf einen abgegriffenen linierten Notizblock kritzelte ich ein chronologisches Szenario, das die etliche hundert Jahre andauernde Entwicklung eines pseudowissenschaftlichen Religionskults umfasste. Ich habe keine Ahnung, was aus diesem Blatt heute geworden ist. Meine Unterlagen aus dieser Zeit sind durch den Brand, der 1968 in meinem Haus ausbrach, fast vollständig vernichtet worden. Und mein Umzug von New York nach Kalifornien, der ein paar Jahre danach stattfand, erwies sich auch nicht als ausgesprochene Pflege für jenes Material, das den Brand überlebt hatte. Ich glaube, irgendwo habe ich dieses Blatt immer noch; und wenn ich es finden könnte, würde ich es gern hier zitieren; als geschichtlichen Rahmen, der die Genesis von Ideen in der Science Fiction vorführt. Aber da das nicht möglich ist, kann ich mich nur noch an einen Satz davon erinnern. Und der lautete so:
»2150 – Aufstieg des abgefallenen Erzhäretikers.«
Na, das hört sich vielleicht herrlich geschmacklos knackig an! Der abgefallene Erzhäretiker! Ich denke mir, dass mein ganzer Zeitplan aus solchen Phrasen bestand. Damals hatte ich vor, diese Geschichten als Bündel von Kurzromanen für Infinity zu schreiben, jenes exzellente Science Fiction-Magazin unter der Herausgeberschaft von Larry T. Shaw, das eine Eintagsfliege war. Leider war somit Infinitys Lebensdauer für mich zu kurz. Das Magazin starb 1958, noch bevor ich überhaupt eine Gelegenheit hatte, mich mit dem abgefallenen Erzhäretiker und seinen Kollegen zu befassen. Also legte ich das Blatt in eine Schublade, wo ich alle möglichen Notizen für potentielle Storyprojekte aufbewahre.
Und dort lag es nun sechs Jahre lang herum. In dieser Zeit gab ich das SF-Schreiben ganz auf; teils, weil ich mich für den Abfall schämte, den ich bislang (meistens) geschrieben hatte, und teils aus Enttäuschung über die Schwierigkeiten, die ich bei der Suche nach einem Herausgeber hatte, der mir nicht nur für Abfallstorys Honorar zahlen wollte. 1962 führte mich Frederik Pohl, der damals der Herausgeber des SF-Magazins Galaxy war, in Versuchung, zur SF zurückzukehren; er versprach mir, meinem Material keine aus der »Herausgeberpolitik« entstehenden Grenzen aufzuerlegen. In den nächsten paar Jahren schrieb ich gelegentlich Kurzgeschichten für ihn. Und sowohl zu meiner wie auch zu seiner großen Befriedigung schrieb ich zum ersten Mal seit Jahren Science Fiction aus Liebe zum Genre und nicht bloß, um Geld zu verdienen. Im Sommer 1964 besuchte ich den Welt-Con{1} in Oakland, Kalifornien. Ich habe mich dort sehr viel mit Frederik Pohl, Philip K. Dick, Jack Vance und anderen Autoren unterhalten, deren Werk ich bewunderte. Wie ich Pohl in einem Brief am 19. September 1964 schrieb, kehrte ich nach Hause zurück »mit irgendeiner geheimnisvollen Alchimie, die in mir arbeitet. Plötzlich spüre ich einen Drang, der SF mehr zu geben, als ich das bisher getan habe – jedenfalls viel mehr als diese unregelmäßigen Kurzgeschichten, die ich für Sie geschrieben habe. Ich möchte jetzt lieber zu den Kurzromanen zurückkehren, die ja auch in Magazinen veröffentlicht werden.«
Ich hatte meinen aus dem Jahre 1957 stammenden Plan einer zukünftigen Geschichte wieder ausgegraben. »Was mir da im besonderen im Kopf herumspukt«, schrieb ich daher weiter, »ist eine Serie aus fünf Kurzromanen, die jeweils so um die neun- bis zehntausend Worte lang sind. Das Gerüst für diese Serie habe ich schon auf Papier gebannt und die Plots für die einzelnen Geschichten skizziert; alle fünf sollen sich wie bei einer Chronik kontinuierlich mit einem Thema befassen, das über ein Jahrhundert oder mehr verfolgt wird – also eine Serie, in der eine Entwicklung stattfindet, und nicht eine, wo schon alles festgelegt ist. Dahinter steckt natürlich der Wunsch, sie zu einem lose zusammenhängenden ›Roman‹ zu verweben, der später als Buch veröffentlicht werden kann.« Ich schickte Pohl kein Exposé, sondern nur noch die folgende, geheimnisvolle Ankündigung: »Die Serie soll eine Auffrischung von Neil R. Jones' Duma Rangue-Serie werden – versehen mit Obertönen von Cordwainer Smith und Poul Anderson. Alles klar?«
Ich wollte von Pohl nur die Zusage, dass er die erste Story dieser Serie kaufen würde. Wenn sie ihm gefiel, wollte ich auch die vier restlichen schreiben; wenn nicht, würde ich den Scheck einstecken und keine Zeile mehr an diese Sache verschwenden. Pohl akzeptierte die Sache nicht nur, er bot auch an, mir dabei zu helfen, die Buchrechte an der Serie an einen Verlag zu verkaufen. Er arbeitete damals als inoffizieller Talentsucher für den Buchverlag, bei dem er gerade selbst unter Vertrag stand, nämlich Ballantine Books. Er war sich ziemlich sicher, Ballantine für diesen Roman gewinnen zu können. Das begeisterte mich natürlich, denn Ballantine war einer der führenden Verlage von Science Fiction. Und wenn ich wirklich vorhaben sollte, zur SF zurückzukehren, dann konnte ich einen wohlwollenden Verlag nur allzu gut gebrauchen.
Mitte November 1964 schickte ich den ersten Kurzroman, »Blue Fire« (»Blaues Feuer«), ein. Pohl meinte, er sei teilweise zu unvollständig – ich hatte eine zu große Menge an Backgroundinformationen für spätere Geschichten zurückgehalten – und verlangte zusätzliche Einfügungen. Aber ansonsten war er über die Geschichte sehr erfreut, und er erklärte mir, ich solle weitermachen und die Serie zu Ende schreiben. Ich fügte weitere Informationen hinzu (die ich aber in der Buch-Ausgabe wieder herausnahm) und schickte Mitte Dezember den zweiten Teil, »The Warriors of Light« (»Die Streiter des Lichts«), ein. Wiederum war ich ein wenig zu geizig mit den Hintergrundinformationen verfahren, um den Spannungsbogen und die Kontinuität des Ganzen zu erhalten. Diesmal schrieb Pohl selbst den Zusatz; einen ganzen Abschnitt, den er mir zur Überprüfung schickte. Ich stimmte dem zu, und Pohls Abschnitt ist bis heute im Text geblieben. Wenige Tage nachdem der zweite Beitrag fertig war, wartete Pohl mit einem anderen Vorschlag auf: ob ich nicht den kompletten Text der Litanei der Stationen des Spektrums verfassen wollte, den er dann abgesetzt mit der Geschichte veröffentlichen konnte? Das tat ich, und als Honorar lud Pohl mich zum Essen ein. Einige Jahre später wurde die Litanei allein für den Nachdruck in irgendeiner Textsammlung angekauft, die mir aber völlig unbekannt geblieben ist (ich erhielt nur den Scheck, aber niemals ein Belegexemplar).
Probleme tauchten erst bei der nächsten Geschichte, »Where the Changed Ones Go« (»Wohin die Veränderten gehen«), auf. Ich lieferte sie im März 1965 ab, und Pohl gefiel sie nicht. Nach unserer Vereinbarung musste er sie kaufen, ob sie ihm nun gefiel oder nicht. Aber er hoffte, ich würde nicht auf dieser Abmachung bestehen. Stattdessen schlug er vor, ich möge ihm zuliebe die Geschichte um die Hälfte kürzen, damit er sie dann an unauffälliger Stelle im Magazin unterbringen könnte, oder ich sollte sie ganz vergessen und erst bei der Buchausgabe wiederauferstehen lassen – oder aber ich sollte einen ganz neuen dritten Teil schreiben. Keine von diesen Möglichkeiten wollte mir sonderlich gefallen. Was Pohl als unverdaulicher Kloß vorkam, war in meinen Augen das Kernstück des ganzen Romans, der Dreh- und Angelpunkt meiner ganzen Serie. (Man muss sich ja daran erinnern, dass ich nach einer acht Jahre alten Grundlage arbeitete, die sich schon vor langer Zeit in meinem Hirn unverrückbar festgesetzt hatte.) Ich wollte Pohl nicht dazu zwingen, eine Geschichte zu kaufen, die ihm nicht gefiel. Aber ich sah auch keine Möglichkeit, diese Sache aus der Magazin-Serie auszumerzen; und mein Formgefühl rebellierte gegen die Vorstellung, dass in einer Serie eine Geschichte um so viel kürzer sein sollte als ihre Vorgänger und Nachfolger. Also machte ich genau das, was Pohl nicht gewollt hatte: Ich ging daran, die vorliegende Geschichte gründlich zu überarbeiten. Im April schrieb ich sie fast völlig neu. Pohl antwortete darauf nur: »Wenn ich Ihnen auch nicht die Möglichkeit vorgeschlagen habe, ›Where the Changed Ones Go‹ in eine passable Form umzumodeln, so muss ich andererseits doch auch zugeben, dass Sie Ihre Arbeit gut gemacht haben ... Ich werde mich also Ihrer Verblendung anschließen, diesen Text als lesbare Geschichte anzusehen, und sie abdrucken.« Zu dieser Zeit hatte er auch den Ankauf der ganzen Serie durch Ballantine in die Wege geleitet (plus den einer Sammlung meiner Kurzgeschichten, Needle in a Timestack){2}. Damit etablierte er für mich eine der lohnenswertesten Autor-Verlags-Beziehungen, die ich je erleben sollte.
Geschichte Nummer vier, »Lazarus Come Fourth« (»Lazarus steht wieder auf«), erreichte Pohl im August, und die Nummer fünf, »To Open the Sky« (»Öffnet den Himmel«) im Oktober. Bei keiner verlangte er größere Korrekturen. Im Dezember konnte ich dann auch das Romanmanuskript (ich hatte eine ganze Menge von den Wiederholungen gestrichen, die beim mehrteiligen Abdruck in einem Magazin nun einmal unvermeidbar sind) unter dem Titel To Open the Sky abschicken. Die Magazinabdrucke erschienen zwischen dem Frühjahr 1965 und dem Frühjahr 1966. Und die Buchausgabe – mein erster veröffentlichter Roman, der ernsthaft zu diesem Zweck ersonnen worden war – erschien im Mai 1967.
Und ich konnte mir keine Vorstellung davon machen, wie ernst der Roman genommen wurde. Wie ich bereits vorher erwähnte, wollte ich die eingerostete alte Durna Rangue-Serie auffrischen, die Neil R. Jones in den dreißiger Jahren in den Pulp-Magazinen veröffentlicht hatte, und ihr mit Aufgelesenem von Cordwainer Smith und Poul Anderson etwas Pep verleihen. (Im Nachhinein entdecke ich allerdings recht wenig Beeinflussung von den beiden letzteren Autoren im Endprodukt.) Jedenfalls erhielt Pohl, nachdem die Serie im Magazin ausgelaufen war, einen Brief vom Leiter eines buddhistischen Zirkels in (so glaube ich) Mexiko. Unterschrieben war das Ganze mit seinem hingeschmetterten, wohlklingenden Mantraspruch »Om tat sat Om«. In dem Schreiben hieß es:
»Erlauben Sie mir, meine Wertschätzung und meinen Dank an Galaxy dafür auszusprechen, dass Sie die Serie von Robert Silverberg veröffentlicht haben. Viele meiner Freunde haben sich nach dem Erscheinen jedes einzelnen Teils untereinander getroffen und dessen Bedeutung und Bestreben auf den verschiedenen Bewusstseinsebenen diskutiert ... Ich selbst war auch bemüht, meine Korrespondenz-Studenten und meine Klienten für diese Literaturgattung zu interessieren. Und ich habe diese Geschichten bei der Einführung in die Lehre als Hilfsmittel benutzt.«
Heutzutage ist es für die Science Fiction etwas Alltägliches geworden, in den Schulen durchgenommen zu werden; und zwar mit der gleichen Ernsthaftigkeit, wie sie den Werken von Marcel Proust oder James Joyce zuteil wird. Aber damals, 1966, war mir diese Vorstellung noch fremd. Und es machte mich ganz kribbelig, wenn ich daran dachte, dass Leute sich feierlich zu geheimen Sitzungen versammelten, bloß um die Wichtigkeit und Bedeutung meiner Geschichten über Kulte und Häresien im einundzwanzigsten Jahrhundert zu beraten. Darauf ein herzliches »Om tat sat Om«!
Robert Silverberg
Oakland, Kalifornien
Blaues Feuer
2077
DIE ELEKTROMAGNETISCHE LITANEI
Stationen des Spektrums
Und es existiert Licht, vor und hinter unserem Horizont, und dafür danken wir.
Und es existiert die Hitze, vor der wir demütig stehen.
Und es existiert die Energie, für die wir uns glücklich preisen.
Gepriesen sei Balmer, der uns die Wellenlängen gab. Gepriesen sei Bohr, der uns das Verstehen brachte. Gepriesen sei Lyman, der weiter als die Sicht sehen konnte.
Sag uns nun die Stationen des Spektrums.
Gesegnet seien die Langwellen, die langsam schwingen.
Gesegnet seien die Mittelwellen, für die wir Hertz danken.
Gesegnet seien die Kurzwellen, die die Menschheit zusammenhalten, und gesegnet seien die Mikrowellen.
Gesegnet seien die Infrarotstrahlen, die die nährende Wärme bringen.
Gesegnet seien die sichtbaren Lichtwellen, verherrlicht in Ångström. (Nur an hohen Feiertagen: Gesegnet sei das Rot, geheiligt von Doppier. Gesegnet sei das Orange. Gesegnet sei das Gelb, geweiht von Fraunhofers Blick. Gesegnet sei das Grün. Gesegnet sei das Blau für seine Wasserstofflinie. Gesegnet sei das Indigo. Gesegnet sei das Violett, das in der Energie gedeiht.)
Gesegnet sei das Ultraviolett mit der Reichhaltigkeit der Sonne.
Gesegnet seien die Röntgenstrahlen, geheiligt Röntgen, der sein Inneres sondierte.
Gesegnet seien die Gammastrahlen mit all ihrer Macht; gesegnet sei die höchste aller Frequenzen.
Wir danken Planck tausendmal. Wir danken Einstein tausendmal. Zehntausendmal danken wir Maxwell.
Mit der Kraft des Spektrums, der Quanten und des heiligen Ångström, Friede sei mit euch!
1
Chaos bedeckte das Antlitz der Erde, aber den Mann in der Nichts-Kammer kümmerte das nicht.
Zehn Milliarden Menschen – oder waren es mittlerweile zwölf Milliarden? – kämpften um ihren Platz an der Sonne. Wolkenkratzer schossen wie aufsprießende Bohnenranken in den Himmel. Die Marsianer machten Witze darüber. Die Venusier spuckten davor aus. Scharlatan-Kulte gediehen, und in tausend Zellen verbeugten sich die Vorster tief vor ihrem teuflischen blauen Leuchten. Aber all dies hatte im Moment wenig Bedeutung für Reynolds Kirby. Er hatte abgeschaltet. Er war der Mann in der Nichts-Kammer.
Der Ort seines inneren Friedens befand sich zwölfhundert Meter über den blauen Wassern der Karibik, lag in einem Apartment im hundertsten Stock in Tortola auf den Virgin Islands. Kirby hatte als hoher UN-Beamter das Recht auf Behaglichkeit und Schlummer. Ein recht beachtlicher Batzen seines Gehalts ermöglichte ihm diese oberirdische Fluchtburg. Das Gebäude war ein Turm aus glänzendem Glas, dessen Fundamente sich tief in das Herz der Insel hineinbohrten. Man konnte nicht auf jeder karibischen Insel einen solchen Wolkenkratzer errichten; die meisten von ihnen waren nur flache Scheiben aus abgestorbenen Korallen. Ihnen mangelte es an Substanz, um eine halbe Million Tonnen Gewicht tragen zu können. Bei Tortola war es anders: ein erloschener Vulkan, ein versunkener Berg. Hier konnte man bauen, und hier hatte man gebaut.
Reynolds Kirby schlief einen erholsamen Schlaf.
Eine halbe Stunde in der Nichts-Kammer brachte einem die Vitalität wieder. Sie zog das Gift der Erschöpfung aus Körper und Geist. Drei Stunden in der Kammer machten einen schlaff und willenlos. Ein vierundzwanzigstündiger Aufenthalt konnte aus einem Menschen eine seelenlose Puppe machen. Kirby lag in einem warmen Nährbad, mit Stöpseln in den Ohren und Klappen auf den Augen. Transportleitungen versorgten seine Lunge mit Luft. Dieses Zurückkriechen in den Mutterschoss auf Zeit ließ sich mit nichts anderem vergleichen, wenn einem die Welt wieder einmal über war.
Zehn Minuten vertickten. Kirby dachte nicht an die Vorster. Kirby dachte auch nicht an Nat Weiner, den Marsianer. Und Kirby dachte auch nicht an das Esper-Mädchen, das sich auf der Folterbank gewunden hatte und das er letzte Woche in Kioto gesehen hatte. Kirby dachte überhaupt nicht.
Eine Stimme schnurrte: »Sind Sie soweit, Freier Bürger Kirby?«
Kirby war noch nicht soweit. Wer war das schon? Jeder musste von einem Engel mit flammendem Schwert aus der Nichts-Kammer getrieben werden. Das Nährbad floss blubbernd aus dem Tank. Gummiüberzogene Metallfinger schälten die Klappen von den Augäpfeln. Die Ohren wurden von den Stöpseln befreit. Zitternd lag Kirby einen Moment lang da, ausgestoßen vom Mutterschoss wehrte er sich dagegen, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Der Zyklus der Kammer war abgeschlossen; vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden konnte sie nicht mehr angestellt werden; und das war auch gut so.
»Haben Sie gut geruht, Freier Bürger Kirby?«
Kirby räusperte sich kräftig und rappelte sich auf. Er schwankte und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Aber der Robotdiener stand schon bereit, ihn zu stützen. Kirby griff nach einem polierten Arm und hielt sich daran fest, bis der Schwindelanfall vorüber war.
»Ich habe ganz ausgezeichnet geruht«, erklärte er dem Metallwesen. »Die Rückkehr ist jedes Mal ein Jammer.«
»Das können Sie nicht ernsthaft meinen, Freier Bürger. Sie wissen, dass das einzige wirkliche Vergnügen in einer Begegnung mit dem Leben besteht. Das haben Sie mir selbst gesagt, Freier Bürger Kirby.«
»Wahrscheinlich habe ich das«, gab Kirby herb zu. Die ganze fromme Philosophie des Roboters setzte sich aus Aussprüchen Kirbys zusammen. Er nahm von dem quadratischen, flachgesichtigen Ding eine Robe entgegen und zog sie sich über die Schultern. Wieder zitterte er. Kirby war ein dürrer Mann, zu aufgeschossen für sein Gewicht. Arme und Beine waren faserig und wie Stricke, das graue Haar war sehr kurz geschnitten, die grünen Augen lagen tief in den Höhlen. Er war vierzig, sah aus wie fünfzig, und bevor er heute in die Nichts-Kammer gestiegen war, hatte er sich wie siebzig gefühlt.
»Wann kommt der Marsianer an?«, fragte er.
»Um siebzehn Uhr. Augenblicklich hält er sich auf einem Bankett in San Juan auf, aber er wird bald hier sein.«
»Ich habe nicht genügend Zeit, um lange zu warten«, sagte Kirby. Mürrisch ging er zum nächsten Fenster und depolarisierte es. Er blickte hinunter, den ganzen Weg hinab, wo das träge Wasser an den Strand schlug. Er konnte die dunkle Linie des Korallenriffs sehen: diesseits grünes Wasser jenseits blaues. Das Riff war natürlich tot. Die empfindlichen Korallentierchen, die es gebaut hatten, konnten nur eine bestimmte Menge Benzin in ihrem Lebensraum ertragen – und die Toleranzschwelle war schon vor einiger Zeit überschritten worden. Die Wasserfahrzeuge zogen brummend von Insel zu Insel und ließen eine tödliche Schmutzspur hinter sich zurück.
Der UN-Beamte schloss die Augen. Rasch öffnete er sie wieder, denn als er sie gesenkt hatte, war vor seinem geistigen Auge wieder das Bild von dem Esper-Mädchen erschienen, wie es sich wand, schrie und sich in die Knöchel biss; die gelbe Haut war mit glänzenden Schweißperlen gesprenkelt. Der Vorster-Mann stand daneben, verbreitete den verfluchten blauen Schein und murmelte: »Friede, mein Kind, Friede, bald stehst du in Harmonie mit dem Kosmos.«
Das war letzten Donnerstag geschehen. Heute war der darauffolgende Mittwoch. Mittlerweile stand sie bestimmt in Harmonie mit dem Kosmos, dachte Kirby, und eine unersetzliche Ansammlung von Genen war in alle vier Winde zerstreut worden. Oder in alle sieben Winde. Kirby hatte in diesen Tagen Schwierigkeiten, seine Phrasen in die Reihe zu bekommen.
Sieben Meere, dachte er, und vier Winde.
Der Schatten eines Hubschraubers streifte sein Sichtfeld.
»Ihr Gast kommt«, erklärte der Robot.
»Großartig«, sagte Kirby säuerlich.
Die Nachricht von der bevorstehenden Ankunft des Marsianers ließ Kirby sich verkrampfen. Er war ausgewählt worden, dem Besucher aus der Mars-Kolonie als Fremdenführer, Berater und Wachhund zur Seite zu stehen. Dem Erhalt der freundschaftlichen Beziehungen zum Mars wurde eine enorme Bedeutung zugemessen, denn dort befanden sich lebenswichtige Märkte für die irdische Wirtschaft. Außerdem repräsentierten die Marsianer Tatkraft und Entschlossenheit, Eigenschaften, die momentan auf der Erde immer seltener wurden.
Es war alles andere als einfach, mit den Kolonisten zu verkehren; sie waren schnell beleidigt, unbeständig und unberechenbar. Kirby wusste, dass er eine äußerst delikate Aufgabe übernommen hatte. Er musste den Marsianer vor allen Unbilden bewahren, ihn umgarnen und ihn verhätscheln; dabei durfte er jedoch nie den Eindruck erwecken, allzu beschützend oder besorgt zu sein. Und wenn Kirby Mist baute – nun, dann würde das die Erde teuer zu stehen kommen und fatal für Kirbys weitere Karriere sein.
Er verdunkelte das Fenster wieder und eilte ins Schlafzimmer, um dort seine Staatsrobe anzuziehen: eine eng anliegende, graue Tunika, ein grüner Gürtel, Stiefel aus blauem Leder und glänzend goldene Netzhandschuhe – von Kopf bis Fuß wirkte er wie ein wichtiger irdischer Beamter, als der Anmelder ihn blechern darüber informierte, dass Nathaniel Weiner vom Mars ihn aufsuchen wolle.
»Führe ihn herein«, sagte Kirby.
Die Tür tat sich auf, und der Marsianer trat behände hindurch. Er war ein kleiner, kompakt gebauter Mann in den frühen Dreißigern, mit unnatürlich breiten Schultern, schmalen Lippen, hervorstehenden Wangenknochen und dunklen, kleinen Augen. Er wirkte körperlich sehr kräftig, so als hätte er sein Leben damit verbracht, in der mörderischen Schwerkraft des Jupiters zu überleben und nicht in der luftigen Leichtigkeit des Mars herumzutollen. Seine Haut war tief gebräunt, und ein feines Faltennetzwerk breitete sich von den Augenwinkeln aus. Er sah aggressiv und arrogant aus, dachte Kirby.
»Freier Bürger Kirby – schön, Sie zu sehen«, sagte der Marsianer mit einer tiefen, raspelnden Stimme.
»Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite, Freier Bürger Weiner.«
»Gestatten Sie«, sagte Weiner. Er zog seine Laserpistole. Kirbys Roboter rauschte mit einem Samtkissen auf ihn zu. Der Marsianer legte die Waffe vorsichtig auf den Plüschhaufen. Der Roboter glitt über den Boden, um Kirby die Pistole zu bringen.
»Nennen Sie mich Nat«, sagte der Marsianer.
Kirby lächelte dünn. Er nahm die Waffe und widerstand der widersinnigen Versuchung, den Marsianer auf der Stelle in ein Aschehäufchen zu verwandeln. Kirby betrachtete die Pistole kurz. Dann legte er sie auf das Kissen zurück und schnipste mit den Fingern dem Robot zu, der die Waffe zu ihrem Eigentümer zurücktrug.
»Meine Freunde nennen mich Ron«, sagte Kirby. »Reynolds ist ja wirklich ein zu furchtbarer Vorname.«
»Schön Sie kennenzulernen, Ron. Was gibt's zu trinken?«
Kirby wurde unangenehm von diesem Etikettebruch berührt, aber er behielt den gleichbleibenden diplomatischen Gesichtsausdruck bei. Der Marsianer hatte sich schon mit seinem Waffenritual steif genug benommen, aber das erwartete man ja von Kolonisten; damit war aber nicht gesagt, dass seine Manieren nicht über dieses Niveau hinausragen konnten. Freundlich sagte Kirby: »Was immer Sie möchten, Nat. Synthetisches, Echtes – Sie brauchen es nur auszusprechen, und schon ist es da. Wie wär's mit einem gefilterten Rum?«
»Ich habe schon so viel Rum getrunken, dass er mir zu den Nasenlöchern hinausquillt, Ron. Diese Karibs in San Juan kippen ihn wie Wasser. Wie wär's mit einem anständigen Whisky?«
»Tippen Sie's ein«, sagte Kirby mit einer einladenden Handbewegung. Der Roboter nahm die Konsole von der Bar und brachte sie dem Marsianer. Weiner starrte die Knöpfe erst suchend an und drückte dann zweimal auf zwei randnahe Knöpfe.
»Ich bestelle Ihnen einen doppelten Rye«, kündigte Weiner an. »Und für mich einen doppelten Bourbon.«
Kirby fand das amüsant. Der grobe Kolonist suchte sich nicht nur den eigenen Drink aus, sondern auch einen für seinen Gastgeber. Einen doppelten Rye, na bitte! Kirby verbarg sein Augenzwinkern vor Nat und trank. Weiner machte es sich in einem Webschaum-Sitzkorb bequem. Kirby ließ sich ebenfalls nieder.
»Wie gefällt Ihnen Ihr Besuch auf der Erde?«, fragte Kirby.
»Nicht schlecht, nicht übel. Es ist nur zum Kotzen, wie Ihre Leute hier zusammengepfercht sind.«
»So ist nun einmal das Leben.«
»Auf dem Mars nicht. Und auch nicht auf der Venus.«
»Warten Sie's ab«, sagte Kirby.
»Das bezweifle ich. Wir wissen dort oben, wie wir die Bevölkerungszahl unter Kontrolle halten können.«
»Das wissen wir auch. Es hat nur seine Zeit gedauert, das jedermann klarzumachen, und bis dahin waren wir auf zehn Milliarden angewachsen. Wir hoffen, die Zuwachsrate möglichst niedrig zu halten.«
»Wissen Sie was?«, sagte Weiner. »Sie sollten einfach jeden Zehnten packen und ihn in die Konverter stecken. Aus all dem Fleisch können Sie eine hübsche Menge Energie gewinnen. Und über Nacht hätten Sie eine Milliarde weniger.« Er kicherte. »War natürlich nicht ernst gemeint. Es wäre unmoralisch. War halt nur'n flauer Scherz.«
Kirby lächelte. »Sie sind nicht der erste, der so etwas vorgeschlagen hat, Nat. Und einige haben es ziemlich ernst gemeint.«
»Disziplin – das ist die Antwort auf alle menschlichen Probleme. Disziplin und noch mehr Selbstdisziplin. Verzicht. Planung. – Der Whisky ist verdammt gut, Ron. Wie steht's mit einem weiteren Gläschen?«
»Bedienen Sie sich.«
Weiner kam der Aufforderung nach – sehr großzügig sogar.
»Verdammt gutes Gesöff«, murmelte er. »Auf dem Mars kriegen wir solche tollen Sachen nicht. Das muss ich schon zugeben, Ron. So zusammengepresst und stinkig dieser Planet auch sein mag, er hat auch seine Vorteile. Leben möchte ich hier nicht, das sage ich Ihnen, aber ich bin doch froh, hierhergekommen zu sein. Die Frauen – hmm! Die Drinks! Und all die Aufregungen!«
»Sie sind seit zwei Tagen hier?«, fragte Kirby.
»Ganz genau. Eine Nacht in New York – Zeremonien, ein Bankett, all der Krampf eben; die Kolonialgesellschaft hat alles finanziert. Dann runter nach Washington, um den Präsidenten zu treffen. Liebenswürdiger alter Knabe. Allerdings mit etwas Bauchansatz. Könnte wohl etwas Bewegung vertragen. Dann diese idiotische Veranstaltung in San Juan, den ganzen Tag lang von einer Festlichkeit zur nächsten, hab' dort die Kollegen aus Puerto Rico getroffen und all so 'nen Käse. Und jetzt bin ich hier. Was steht hier auf dem Programm, Ron?«
»Nun, wir könnten zuerst unten schwimmen gehen ...«
»Ich kann auf dem Mars soviel schwimmen, wie ich Lust habe. Ich will die Zivilisation sehen, nicht das Wasser. Die ganze Verflochtenheit.« Weiners Augen leuchteten. Kirby begriff urplötzlich, dass der Mann schon betrunken gewesen war, noch bevor er durch die Tür getreten war, und die zwei mehrstöckigen Bourbons hatten ihn endgültig volltrunken gemacht. »Wissen Sie, was ich will, Kirby? Ich möchte raus und etwas im Dreck wühlen. Ich will in die Opiumhöhlen. Ich möchte Esper im ekstatischen Zustand sehen. Ich will an einer Vorster-Sitzung teilnehmen. Ich möchte mein Leben leben, Ron. Ich will die Erde kennenlernen – mit ihrem Schmutz und allem anderen!«
2
Die Vorster-Halle war ein heruntergekommenes, fast unerträglich schäbiges Gebäude in Zentral-Manhattan. Es lag einen Steinwurf vom UN-Komplex entfernt. Kirby fühlte sich unbehaglich, er hatte nie wirklich seinen Ekel vor Schmutz überwinden können, auch heutzutage nicht, wo fast die ganze Welt ein riesiges, wucherndes Slum-Gebiet war. Aber Nat Weiner wollte es so. Kirby hatte ihn hierhergeführt, weil dies die einzige Vorster-Stätte war, die er vorher schon einmal besucht hatte. Daher kam er sich hier zwischen den Gläubigen auch nicht völlig fehl am Platz vor.
Ein Schild über der Tür verkündete mit glänzenden, aber fleckigen Buchstaben:
BRUDERSCHAFT DER IMMANENTEN STRAHLUNG
JEDERMANN IST WILLKOMMEN
TÄGLICH ANDACHTEN
GESUNDEN SIE IHR HERZ
ERLANGEN SIE HARMONIE MIT DEM KOSMOS
Weiner musste über das Schild kichern. »Seh'n Sie sich das an! Gesunden Sie Ihr Herz! Wie steht's denn mit Ihrem Herzen, Kirby?«
»Ist an etlichen Stellen punktiert. Sollen wir hineingehen?«
»Da können Sie einen drauf lassen«, sagte Weiner.
Der Marsianer war völlig betrunken. Aber er hielt sich noch wacker, musste Kirby zugeben. Obwohl Kirby an diesem langen Abend gar nicht erst versucht hatte, es mit dem marsianischen Gesandten aufzunehmen, der einen Drink nach dem anderen in sich hineingeschüttet hatte, fühlte er sich jetzt benebelt und zu warm. Seine Nasenspitze prickelte. Er sehnte sich danach, den Marsianer abzuschütteln und in seine Nichts-Kammer zu kriechen, um all das Gift in seinem Körper loszuwerden.
Aber Weiner wollte über die Stränge schlagen, und man konnte ihm daraus kaum einen Vorwurf machen. Der Mars war ein raues Fleckchen, wo es wenig Gelegenheit gab, um sich mal richtig gehenzulassen. Die Terranisierung eines Planeten bedeutete immer eine außerordentliche Anstrengung. Jetzt war diese Aufgabe nahezu bewältigt, nachdem zwei Generationen hart daran gearbeitet hatten. Die Luft des Mars war jetzt gut und sauber, aber Zeit zum Ausruhen hatte man dort noch immer nicht. Weiner war gekommen, um ein Handelsabkommen abzuschließen, gleichzeitig war es seine erste Chance, den Härten des Marslebens zu entfliehen. Das Sparta des Weltraums wurde der Mars genannt. Und jetzt befand er sich in Athen.
Sie betraten die Vorster-Halle.
Sie war ein langgezogener, enger, rechtwinkliger und kistenartiger Raum. Ein Dutzend Reihen von unlackierten Holzbänken breitete sich von einer Seite zur anderen aus. Eine schmale Schneise befand sich an einer Seite. Am anderen Ende stand der Altar und glühte in der unvermeidlichen blauen Strahlung. Dahinter befand sich ein großer, spindeldürrer Mann mit Glatze und einem Bart.
»Ist das der Priester?«, flüsterte Weiner rau.
»Ich glaube nicht, dass sie Priester genannt werden«, sagte Kirby. »Aber er tut hier Dienst.«
»Gibt es hier keine Kommunion?«
»Lassen Sie uns einfach erst mal zusehen«, schlug Kirby vor.
»Sehen Sie sich bloß all diese verdammten Schwachsinnigen an«, sagte der Marsianer.
»Diese Religion ist sehr populär.«
»Das kapier' ich nicht.«
»Schauen Sie einfach hin und hören Sie zu.«
»Die knien nieder – und kriechen vor diesem Schmalspur-Reaktor ...«
Einige Köpfe wandten sich in ihre Richtung. Kirby seufzte. Er brachte für die Vorster oder ihre Religion keine Sympathie auf, aber er war empört über diese ungestüme Entweihung ihres Heiligtums. Höchst undiplomatisch packte er Weiners Arm, führte den Marsianer in die nächste Bank und zog ihn hinunter, damit er sich hinkniete. Kirby ließ sich neben ihm nieder. Der Marsianer warf ihm einen bösen Blick zu. Kolonisten mochten es nicht, wenn ihr Körper von Fremden berührt wurde. Ein Venusier hätte Kirby für eine solche Tat mit seinem Dolch niedergestochen. Aber andererseits wäre ein Venusier auch gar nicht erst auf die Erde gekommen, um sich in eine Vorster-Halle zu verirren und dort Unfug anzustellen.
Dumpf hielt sich Weiner an der Leiste fest, lehnte sich nach vorne und beobachtete den Ablauf der Andacht. Kirby blinzelte durch das Halbdunkel nach dem Mann hinter dem Altar.
Der Reaktor war eingeschaltet und glühte – ein Würfel aus Kobalt-60, von Wasser umgeben, um die gefährlichen Strahlen abzufangen, bevor sie das menschliche Fleisch durchdringen konnten. Im Halbdunkel bemerkte Kirby ein schwaches blaues Leuchten, das langsam immer heller und intensiver wurde. Jetzt war das ganze Gitterwerk des kleinen Reaktors in weißblaues Licht getaucht, und darum herum wirbelte ein unheimliches, grünblaues Leuchten, das in seinem Kern nahezu purpurn war. Es war das Blaue Feuer, das unheimliche kalte Licht der Zerenkow-Strahlung; es breitete sich immer weiter nach draußen aus, bis es den ganzen Raum umschlossen hatte.
Darin lag nichts Metaphysisches, das wusste Kirby. Elektronen brandeten gegen den Wassertank und drangen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit in dieses Medium ein. Und während sie sich bewegten, schleuderten sie einen Photonenstrom aus. Es gab einige hübsche Gleichungen, um die Quelle des Blauen Lichts zu erklären. Eines musste man den Vorstern zugute halten: Sie behaupteten nie, es handle sich dabei um etwas Übernatürliches. Dennoch war das blaue Licht ein hübsches Symbolinstrument, ein Fokus für religiöse Empfindungen, der weit farbiger war als das Kreuz, weit spannender als die Zehn Gebote.
Ruhig sagte vorn der Vorster: »Es gibt eine Harmonie, von der alles Leben abstammt. Die Bewegungen der Elektronen haben uns die grenzenlose Vielfalt des Universums geschenkt. Die Atome treffen sich; ihre Partikel umschlingen sich. Elektronen springen von Orbit zu Orbit, und chemische Prozesse entstehen.«
»Hör sich einer mal dieses fromme Arschloch an«, schnaubte Weiner. »Mehr als einen Chemiekurs für Anfänger hat er nicht zu bieten!«
Wütend biss sich Kirby auf die Lippen. Ein Mädchen in der Reihe vor ihnen drehte sich herum und sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: »Bitte. Bitte hören Sie doch erst einmal zu.«
Sie war so ein lähmender Anblick, dass selbst Weiner zum ersten Mal die Worte fehlten. Schockiert keuchte der Marsianer. Kirby, obwohl schon früher mit chirurgisch veränderten Frauen konfrontiert gewesen, war ebenfalls zu kaum einer Bewegung fähig. Schillernde Schalen bedeckten die Öffnungen, an denen sich einst die Ohren befunden hatten. Ein Opal war in ihre Stirnplatte eingelassen, und ihre Lider bestanden aus glänzenden Metallplättchen. Die Chirurgen hatten auch mit ihren Nasenlöchern und Lippen etwas angestellt. Vielleicht war sie Opfer eines schrecklichen Unfalls gewesen. Aber höchstwahrscheinlich hatte sie sich freiwillig, aus kosmetischen Gründen, »behandeln« lassen. Wahnsinn. Der blanke Wahnsinn.
Der Vorster sagte: »Die Energie der Sonne ... das grüne Leben, das in den Pflanzen aufwallt ... das ständig neue Wunder des Wachstums – das alles verdanken wir dem Elektron. Die Fermente unseres Körpers ... die blitzenden Synapsen unseres Gehirns ... das Schlagen unseres Herzens – das alles verdanken wir dem Elektron. Treibstoff und Lebensmittel, Licht und Hitze, Wärme und Nahrung, jedes und alles entsteht aus der Harmonie, die aus der Immanenten Strahlung kommt ...«
Eine Litanei, bemerkte Kirby. Überall um ihn herum wiegten sich die Leute im Rhythmus der halb gesungenen Worte, nickten und weinten sogar teilweise. Das Blaue Feuer loderte immer weiter auf und erreichte schließlich die herabhängende Decke. Der Mann am Altar hob seine langen, spinnenartigen Arme wie zur Segnung hoch.
»Kommt her«, rief er. »Kniet nieder und vereinigt euch im Gebet! Verschließt die Arme, senkt die Köpfe und dankt der fundamentalen Einheit aller Dinge!«
Die Vorster begannen auf den Altar zuzuströmen. In Kirby erwachten dadurch Erinnerungen an seine anglikanische Kindheit: Man ging nach vorn, um die heilige Kommunion entgegenzunehmen, die Hostie auf der Zunge, der kurze Schluck Messwein, der Geruch von Weihrauch, das Rascheln der Priestersoutane. Seit fünfundzwanzig Jahren war Kirby nicht mehr in einer Messe gewesen. Viel musste geschehen sein, um von der gewölbten Großartigkeit der Dome zu der schäbigen Hässlichkeit dieser improvisierten Monstranz zu gelangen. Doch einen kurzen Moment lang fühlte Kirby ein religiöses Bedürfnis aufflackern; ganz schwach spürte er den Drang, mit den anderen nach vorn zu strömen und vor dem glühenden Reaktor niederzuknien.
Der Gedanke betäubte und erschreckte ihn.
Wie hatte es ihn übermannen können? Das hier war doch keine Religion. Dies war ein Kult, eine Bewegung, die wie ein Buschfeuer aufflackerte, die neueste Marotte, heute in aller Munde und morgen vergessen. Zehn Millionen Konvertierungen über Nacht? Na und? Morgen oder übermorgen würde der nächste Prophet auf den Plan treten, der die Gläubigen dazu ermahnte, die Hände gemeinsam in das funkelnde Bad eines Springbrunnens zu stecken; dann würde die Vorster-Halle vergessen und verlassen sein. Dies hier war nicht der Fels, auf den die Kirche gebaut werden sollte, dies hier war Treibsand.
Und dennoch hatte ihn kurz dieser Drang gefesselt ...
Kirby presste die Lippen zusammen. Es lag sicher an dem Stress, dachte er, diesen ungezügelten Marsianer den ganzen Abend lang herumzuführen. Diese erhabene Harmonie war ihm schnurzegal. Die fundamentale Einheit aller Dinge tangierte ihn wenig. Dies war ein Ort für die Müden, die Neurotiker, die Süchtigen nach allem Neuen, für die Typen, die mit Freuden gutes Geld dafür bezahlten, die Ohren ab- und die Nasenlöcher aufgeschnitten zu bekommen. Und es war nur ein allzu deutliches Zeichen seiner eigenen Erschöpfung, wenn er fast dazu bereit gewesen war, sich mit den Kommunizierenden am Altar zusammenzutun.
Er entspannte sich.
Und im gleichen Moment sprang Nat Weiner auf die Füße und stürmte blindlings den Seitengang hinunter.
»Knie mit uns nieder, Bruder«, sagte der Vorster-Priester sanft.
»Ich bin ein Sünder!«, heulte Weiner. »Ich stecke voller Schnaps und Korruption! Ich muss errettet werden! Ich verehre das Elektron! Ich will mich ihm schenken!«
Kirby eilte ihm auf dem Seitengang nach. Meinte Weiner das ernst? Die Marsianer waren sprichwörtlich dafür bekannt, sich gegen jede Art von Religion zur Wehr zu setzen, selbst gegen die etablierten und gesetzlich anerkannten Kirchen. War er irgendwie vor diesem teuflischen blauen Glühen weich geworden?
»Ergreift die Hände eurer Brüder«, murmelte der Priester. »Senkt den Kopf und lasst euch vom Glühen umschließen.«
Weiner sah nach links. Das Mädchen mit den chirurgischen Veränderungen kniete neben ihm. Sie streckte ihre Hand aus. Vier Finger waren aus Fleisch, einer bestand aus einem türkisfarbenen Metall.
»Ein Monster!«, kreischte Weiner. »Nehmt es weg! Ich will nicht, dass es mich aufschlitzt!«
»Beruhige dich, Bruder ...«
»Ihr seid ein Haufen Irrer! Irre! Irre! Irre! Nichts als ein Pack von ...«
Kirby erreichte ihn. Er presste eine Fingerspitzen so in die hervortretenden Muskeln auf Weiners Rücken, dass der Marsianer ihn bemerken musste, selbst in seinem volltrunkenen Zustand.
Mit leiser, intensiver Stimme sagte Kirby. »Lassen Sie uns gehen, Nat. Wir müssen hier raus.«
»Nimm deine stinkigen Flossen von mir, Erdling!«
»Nat, bitte – dies ist ein Haus der Andacht ...«
»Dies ist ein Irrenhaus! Verrückt! Übergeschnappt! Plemm-plemm! Sehen Sie sich die bloß mal an! Liegen auf den Knien wie gottserbärmliche Mondsüchtige!« Weiner rappelte sich auf. Seine brüllende Stimme schien die Wände zerschmettern zu wollen. »Ich bin ein freier Bürger des Mars! Mit diesen Händen wühle ich die Wüste um! Ich habe gesehen, wie die Ozeane sich mit Wasser füllten! Was habt ihr schon getan? Ihr schneidet euch die Lider ab und wälzt euch im Dreck! Und du – du scheinheiliger Priester, du knöpfst ihnen ihr Geld ab und hast deinen Spaß daran!«
Der Marsianer stützte sich auf die Altarabsperrung und schwang sich hinüber. Er kam dem glühenden Reaktor gefährlich nahe und verkrallte sich in dem emporragenden, bärtigen Vorster.
Ganz ruhig streckte der Priester einen langen Arm in das wirbelnde Chaos von Weiners aufgebrachten Gliedern hinein. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten seine Fingerspitzen die Kehle des Marsianers.
Weiner stürzte wie tot zu Boden.
3
»Geht es Ihnen jetzt wieder besser?«, fragte Kirby mit trockener Kehle.
Weiner rührte sich. »Wo ist das Mädchen?«
»Die mit den chirurgischen Veränderungen?«
»Nein«, krächzte er. »Die Esperin. Ich möchte sie gerne wieder in meiner Nähe haben.«
Kirby warf dem schlanken, blauhaarigen Mädchen einen Blick zu. Sie nickte fest und ergriff Weiners Hand. Das Gesicht des Marsianers glänzte vor Schweiß, und seine Augen waren noch immer wirr. Er lag auf dem Rücken. Der Kopf ruhte auf Kissen, und die Wangen waren eingefallen.
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Vorster-Halle, lag ein Sniffer-Laden. Kirby hatte den Marsianer allein aus der Kultstätte hinaustragen müssen; er hatte ihn sich über die Schulter geworfen. Die Vorster erlaubten keinen Sanitätsrobotern den Eintritt. Der Sniffer-Laden war ihm genauso gut wie jeder andere Ort erschienen.
Das Esper-Mädchen war zu den beiden gekommen, als Kirby schwankend den Laden betreten hatte. Sie war ebenfalls ein Vorster – das blaue Haar wies darauf hin – aber anscheinend hatte sie für diesen Tag ihre Andacht beendet und beschloss nun ihren Tag mit einer schnellen Sniff-Inhalation. Sofort war ihr Mitleid erwacht, und sie hatte sich hinabgebeugt, um Weiners errötetes, schweißbedecktes Gesicht zu begutachten. Sie hatte Kirby gefragt, ob sein Freund einen Schlaganfall erlitten habe.
»Ich weiß auch nicht genau, was mit ihm geschehen ist«, sagte Kirby. »Er war betrunken und hat in der Vorster-Halle randaliert. Der Andachtsleiter hat seine Kehle berührt.«
Das Mädchen lächelte. Sie wirkte verwahrlost und zerbrechlich und schien höchstens achtzehn oder neunzehn zu sein. Ihre Begabung hatte allzu deutliche Spuren hinterlassen. Sie schloss die Augen, ergriff Weiners Hand und presste so lange auf das Gelenk, bis der Marsianer wieder zum Leben erwachte. Kirby konnte sich nicht erklären, wie sie das angestellt hatte. Das alles war ein Mysterium für ihn.
Und jetzt strömte zusehends die Kraft in seinen Körper zurück. Weiner versuchte, sich aufzurichten. Er suchte die Hand des Mädchens und hielt sie. Die Esperin machte keinen Versuch, sich davon zu befreien.
Er sagte: »Womit haben sie mich geschlagen?«
»Es war eine momentane Veränderung ihres elektrischen Ladungszustands«, erklärte ihm das Mädchen. »Für eine tausendstel Sekunde hat er Ihr Herz und Ihr Gehirn abgeschaltet. Aber daraus erwächst kein dauerhafter Schaden.«
»Wie hat er das gemacht? Er hat mich doch nur mit den Fingern berührt.«
»Es gibt da eine bestimmte Technik. Aber mit Ihnen ist nun alles in Ordnung.«