Jan Schomburg
Das Licht und die Geräusche
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Jan Schomburg ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller. Er schrieb und inszenierte u. a. die vielfach preisgekrönten Kinofilme Über uns das All (2011) und Vergiss mein Ich (2013). Zu dem Film Vor der Morgenröte (2016) schrieb er gemeinsam mit Maria Schrader das Drehbuch. Das Licht und die Geräusche ist sein erster Roman.
Johanna versteht nicht, warum sie und Boris kein Paar sind. Klar, eigentlich ist Boris mit Ana-Clara zusammen, aber die ist weit weg in Portugal, während Johanna und Boris jede freie Minute miteinander verbringen. Johanna will auch verstehen, warum Marcel sich auf der Klassenfahrt nach Barcelona einen Mitschüler wie einen Knecht hält, warum Boris die ganze Zeit kichern muss, während ihn vier Typen auf der Tanzfläche eines Clubs zusammenschlagen wollen, und warum er nach dieser Nacht am See plötzlich verschwunden ist. Gemeinsam mit Ana-Clara und Boris’ Eltern sucht Johanna in Island nach Boris und findet heraus, dass viele Dinge ihr Wesen verändern, je länger man sie betrachtet. Und dass Ana-Claras Augen doch nicht so ausdruckslos sind, wie sie immer gedacht hat.
Pointiert und mit zartem Witz erzählt Jan Schomburg von drei jungen Menschen und ihren Versuchen zu erkennen, wie das überhaupt gehen soll: leben.
2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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ISBNder gedruckten Ausgabe 978-3-423-14672-2
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ISBN (epub) 9783423431897
Als wir die Bundesstraße erreichen, kann sich Boris kaum noch auf den Beinen halten. Ana-Clara und ich stützen ihn, sein Hemd ist weit geöffnet, darunter seine unbehaarte Brust, darüber wie ein abfälliger Kommentar über die Kälte ein dünner gestreifter Schal, einmal um den Hals gewickelt. Um diese Zeit kommen fast keine Autos mehr, und der letzte Bus ist vor drei Stunden gefahren.
Ana-Clara und ich halten abwechselnd den Daumen raus, Boris ist auf der Bank des hölzernen Bushäuschens eingeschlafen. Das vierte Auto hält. Ich wecke Boris, und als ich mit ihm aus dem Bushäuschen komme, glaube ich im Gesicht des Fahrers zu erkennen, dass er kurz darüber nachdenkt, einfach Gas zu geben und zu verschwinden.
Boris und Ana-Clara steigen hinten ein, ich setze mich vorne neben den Fahrer. Während das Auto losfährt, höre ich, wie Ana-Clara leise irgendwas auf Portugiesisch zu Boris sagt, worauf Boris nur einen ächzenden Laut von sich gibt und wieder einschläft.
Auch als wir schon eine Weile gefahren sind, scheint der Mann noch wütend zu sein, dass er jetzt nicht mit Ana-Clara und mir alleine im Auto sitzt. Er fährt zu schnell und zu ruckartig. Ich schätze, dass er ungefähr 50 ist, seine kurzen Haare sind größtenteils schon grau, und obwohl er sehr unregelmäßigen, löchrigen Bartwuchs hat, trägt er einen Dreitagebart. Ich weiß nicht genau warum, aber plötzlich bin ich mir sicher, dass er in einem Verlag für Schulbücher arbeitet. Seine Gesichtszüge sind nach unten gezogen, wie bei einem traurigen Hund.
»Nett, dass Sie uns mitnehmen.«
Er dreht seinen Kopf kurz nach hinten, wo Boris unruhig an Ana-Claras Schulter schläft, und ich stelle mir vor, wie Ana-Clara den Fahrer jetzt mit ihren ausdruckslosen Augen ansieht. Ich habe noch nie so ausdruckslose Augen gesehen wie die von Ana-Clara. Keine Ahnung, ob sie wenigstens Boris anders anschaut, wenn sie alleine sind. Der Fahrer guckt wieder auf die leere Straße vor ihm, aber dann wendet er plötzlich den Kopf zu mir und schaut mich so lange an, dass ich Angst bekomme, er könnte von der Straße abkommen. Ich lächle, um Ana-Claras Unhöflichkeit auszugleichen.
»Darf ich das Radio anmachen?«, frage ich.
Der Fahrer nickt, ich schalte das Radio ein, DLF sehe ich auf der rot leuchtenden digitalen Anzeige. Irgendein Klavierkonzert.
»Macht Ihnen das was aus?«, frage ich.
Der Fahrer zuckt mit den Schultern.
Eine Zeit lang fahren wir schweigend die verlassene Bundesstraße entlang, ab und zu kommt uns ein Auto entgegen, meistens mit Fernlicht. Bevor die Autos zu sehen sind, leuchten schon die Lichtkegel in die Nacht, bis die Fahrer auf unser Auto aufmerksam werden und abblenden.
»Wir können auch noch zu mir fahren«, sagt der Schulbuchredakteur nach einer längeren Pause. Ich drehe mich nach hinten zu Ana-Clara, die mich stumpf ansieht. Natürlich hat sie nicht verstanden, was er gesagt hat. Ihr Deutsch ist quasi nicht existent.
»Ich hab noch Wein da.«
Ich spüre seinen Seitenblick auf mir, vermutlich versucht er, mein Alter einzuschätzen. Ob ich überhaupt schon Alkohol trinken darf und ob wir eigentlich volljährig sind oder nicht. Ich glaube, dass wir in einem Alter sind, wo Erwachsene das schwer einordnen können.
»Klar«, höre ich mich sagen, »warum nicht?«
Es ist drei Tage her, seit Boris und ich Ana-Clara vom Flughafen abgeholt haben.
»Ich kann sie nicht sehen«, sagt Boris, als die mattgrünen Milchglasscheiben auseinandergleiten. Eine Frau mit Kinderwagen kommt heraus, und wir können für kurze Zeit in die Halle mit den drei Gepäckbändern hineinsehen. Zwei stehen still, das dritte setzt sich gerade in Bewegung, und da stehen auch schon viele Passagiere, die auf ihr Gepäck warten, aber wir wissen ja noch nicht mal, ob das schon der Flug aus Lissabon ist.
»Sie wird schon kommen«, sage ich, und während sich die Türen wieder schließen, frage ich mich, wer wohl auf die Idee gekommen ist, für die Türen dieses grüne Milchglas zu benutzen. Als wäre die Gepäckabholung vom Band irgendwie ein intimer Vorgang, der mit Diskretion zu behandeln sei.
Ich drehe meinen Kopf zu Boris und sehe ihn an, und obwohl er das merkt, verzieht er keine Miene und starrt weiter abwechselnd auf das grüne Milchglas und sein Telefon, das stumm bleibt. Ich würde gerne Boris’ Gesicht sehen, wenn Ana-Clara zwischen den sich öffnenden Türen auftaucht: ob er dann lächelt.
Hinter Boris in einiger Entfernung sehe ich einen Mann stehen, er ist schwarz angezogen und sieht ein bisschen aus wie Boris in 35 Jahren. Er steht halb verborgen hinter einer Reklametafel, als wüsste er noch nicht genau, ob er gesehen werden will, und er hat eine rote Rose in der Hand, die er halbherzig hinter seinem Rücken verbirgt. Der Mann trägt spitze schwarze Lackschuhe und wippt von einem Bein auf das andere. Auch seine Haare sind sehr schwarz, unnatürlich schwarz, aus der Entfernung sehen sie gefärbt aus oder wie ein Toupet, aber das kann täuschen.
»Setzen Sie sich doch, Boris«, sagt meine Mutter zu Boris, mein Vater nickt zustimmend. Boris sieht mich fragend an, ich zucke mit den Schultern. Boris steht kurz da und setzt sich dann auf den schwarzen Ledersessel. Ich setze mich auf den Klavierhocker. Mit seiner rechten Hand berührt Boris die Lehne des Sessels, streicht darüber und nickt meinen Eltern ironisch anerkennend zu. Mein Vater legt seine Zeitung weg und hebt ebenso ironisch entschuldigend die Hände. Es ist das erste Mal, dass ein Junge, den ich mit nach Hause bringe, sich länger mit meinen Eltern unterhält.
Ich sehe der Unterhaltung zwischen Boris und meinen Eltern zu, von meinem Klavierhocker, und kann mich nicht gegen den Stolz darüber wehren, dass Boris von meinen Eltern ernst genommen wird, dass sie sich interessiert seine Ansichten anhören, über seine Witze lachen, auch wenn mir die heimlichen Blicke meiner Mutter, die Anerkennung ausdrücken sollen, auf die Nerven gehen. Ich tue so, als wüsste ich nicht, warum sie mich so anguckt.
Sie unterhalten sich über die Jugend, meine Eltern verstehen nicht, warum niemand mehr protestiert, wo die Missstände doch so offenkundig auf der Hand liegen, Globalisierung, ungerechte Verteilung, Überwachung, Rassismus. Keine Vision einer besseren Gesellschaft, keine Solidarität.
»Tja«, sagt Boris, »wir haben halt noch nie was Schlimmes erlebt, das uns irgendwie verbinden würde. Kein gemeinsames Trauma. Außer unsere Familien natürlich.«
Meine Mutter und mein Vater lachen und drehen sich dabei zu mir um. Ich möchte eigentlich nicht, kann aber nicht verhindern, dass ich lächeln muss.
Boris’ Vater ist Entwicklungsingenieur bei Siemens, er hat eine »Fertigungsstätte für nachrichtentechnische Erzeugnisse« in Portugal mit aufgebaut, in einer Stadt namens Evora. Boris sagt das irgendwie abfällig oder ironisch, »Fertigungsstätte für nachrichtentechnische Erzeugnisse«. Er war vier oder fünf, als seine Eltern mit ihm nach Portugal gezogen sind.
»Nachrichtentechnische Erzeugnisse? Was soll das sein? Spionagesachen oder was?«, frage ich.
»Ja«, sagt Boris, »Abhörgeräte, Kugelschreiber mit Kameras, Wanzen, so Zeugs. Aber häng das nicht an die große Glocke. Mein Vater kann richtig Ärger kriegen, wenn das rauskommt. Das ist eigentlich alles geheim.«
Später erklärt mein Vater mir, dass Nachrichtentechnik nichts mit Nachrichtendiensten und Spionage zu tun hat, sondern ungefähr das Gleiche ist wie Kommunikationstechnik. Manchmal redet mein Vater wie ein Lexikon.
»Nachrichtentechnik umfasst alles, was mit der Übertragung und Verarbeitung von Informationen zu tun hat.«
Der Mann, der uns mitgenommen hat in seinem Auto, ist gar kein Schulbuchredakteur. Er exportiert Garagentore nach Russland, im Sommer per Lastwagen, im Winter »auf der Schiene«, weil dann kein Lastwagen mehr über den Ural kommt.
»So was habe ich ja noch nie gehört«, sage ich.
Boris ist schon wieder eingeschlafen, auf einem beigefarbenen Ledersofa, er kriegt nichts mehr mit. Ana-Clara sitzt neben ihm auf der vorderen Kante des Sofas, auch jetzt kein Zeichen von irgendeiner Anteilnahme in ihrem Gesicht, nur Gleichgültigkeit. Den Wein vor ihr auf dem gläsernen Couchtisch hat sie noch nicht angerührt. Um sie zu ärgern, schlendere ich mit meinem Weinglas in der kleinen Dachwohnung umher und gucke mir interessiert Dinge an, die mich nicht interessieren. Der Garagentorexporteur sammelt kleine Autos aus Blech.
»Immer auf Termin«, sagt er, »immer auf Termin. Bestechung habe ich nicht nötig. Weil ich immer auf Termin liefere. Egal, was passiert, ich liefere immer auf Termin, immer. Einmal habe ich ein Garagentor per Luftfracht verschickt, da hatten die bei der Montage Mist gebaut, was mit der Steuerung. Tja, LKW war weg, hätte auch nicht mehr rechtzeitig hingehauen. Klar, die Luftfracht war teurer als das Tor selbst, das Tor etwa 300, die Luftfracht zweieinhalb, dazu noch Importzoll und Gebühren, aber es war pünktlich da, das Tor. Immer auf Termin.«
»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich.
»Das kennen die in Russland gar nicht«, sagt er. Und nach einer kurzen Pause:
»Frank.«
Ich deute auf die schwarze Stereoanlage, die verstaubt in einer Ecke steht.
»Hast du Musik?«
»Ich muss morgen früh raus«, sagt er.
»Müssen wir doch alle«, sage ich und lächle ihn an.
In den letzten Sommerferien haben Boris und ich eine Radtour gemacht, an die Nordsee. Eine Woche lang haben wir in einem Zelt übernachtet. Und wir haben uns so gut verstanden, dass ich die ganze Zeit dachte, dass das doch alles gar nicht sein kann. So verhalten sich keine Freunde, dachte ich, es kann ja nicht sein, dass Boris das nicht merkt. Ich meine, natürlich wusste ich, dass er eine Freundin hat in Portugal, aber ich konnte das nicht so richtig ernst nehmen, weil er später nie mehr von ihr erzählt hat und die ja auch noch gar nicht so lange zusammen waren. Sie war in seiner Klasse in Portugal, aber während Boris noch in Portugal wohnte, war da wohl nichts. Erst als Boris in den Herbstferien nach dem Umzug noch mal für zehn Tage in Portugal Urlaub gemacht hat, waren sie zusammen auf einer Party am Strand, und da ist es dann irgendwie passiert. Aber Boris hat mir auch nie ein Foto gezeigt oder so, und irgendwann hatte ich sie dann quasi vergessen.
Am letzten Abend lagen wir zusammen im Zelt, und plötzlich haben sich zufällig unsere Hände berührt. Dann haben sie sich noch mal berührt, und wir haben angefangen, unsere Hände zu streicheln. Vielleicht habe ich nicht gezittert, aber ich hatte das Gefühl, ich würde zittern, und dachte, dass das irgendwie peinlich ist, wenn Boris merkt, dass ich zittere, und habe mich ganz darauf konzentriert, nicht zu zittern. Ich glaube, das hat auch funktioniert, aber ganz sicher bin ich mir natürlich nicht. Und dann irgendwann, ich weiß gar nicht mehr, wie das genau kam, lagen wir beide auf der Seite, und unsere Gesichter waren so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte. Der Atem von Boris roch leicht nach Bier, was ich aber nicht unangenehm fand. Unsere Nasenspitzen haben sich berührt, und vor Schreck hätte ich beinahe gezuckt, aber ich habe mich zusammengerissen. Und ich dachte, wenn wir uns jetzt nicht küssen, dann weiß ich auch nicht mehr.
Bis heute verstehe ich nicht, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns nicht geküsst haben. Da fehlten wahrscheinlich nur drei Zentimeter oder so. Und ich dachte die ganze Zeit, dass ich ihn jetzt küssen muss, aber ich habe es nicht gemacht, und Boris hat es auch nicht gemacht, und irgendwann haben sich unsere Nasenspitzen dann nicht mehr berührt. Ich glaube, dass ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe. Ich lag da mit aufgerissenen Augen, habe immer wieder den Kopf geschüttelt und mich von oben angeguckt, wie ich da unten liege und den Kopf schüttle. Da ist man so kurz vor dem Ziel, und dann vermasselt man das noch.
Wenn ich Ana-Clara lieben kann, wenn ich etwas Liebenswertes an ihr entdecken kann, dann kann ich Boris weiter lieben. Wenn ich nichts finde, was sich lieben lässt, kann ich Boris nicht mehr lieben. So einfach ist das, sage ich mir.
Ana-Clara nervt aber. Es ist mir schleierhaft, was Boris an ihr findet, und ich strenge mich wirklich an, sie zu mögen. Wenn sie sich nur ein bisschen bemühen würde, könnte sie mich sofort für sich einnehmen, aber es scheint da bei ihr überhaupt kein Interesse zu geben. Dabei müsste es doch auch für sie von Bedeutung sein, dass die beste Freundin von Boris sie gut findet. Ich habe mich zum Beispiel ein bisschen vorbereitet und ein paar Artikel über Portugal gelesen, damit Ana-Clara nicht das Gefühl bekommt, ich würde mich nicht für sie interessieren.
Sie spricht kein Wort Deutsch, und sie versucht es auch gar nicht erst. Ich verstehe das nicht. Wenn man in einem fremden Land ist, dann gebietet es doch die Höflichkeit, dass man wenigstens »Bitte«, »Danke«, »Guten Tag« und so was lernt, das freut die Einheimischen; wenn sie merken, dass man sich ein bisschen Mühe gibt. Wenn man dann noch einen kuriosen Satz kann, noch besser. Ich kannte zum Beispiel mal einen Ungarn, der hatte als Junge am Plattensee an einer Wasserrutsche kassiert und konnte dadurch einige Sätze wie »Schau mal, Papa, eine riesige Wasserrutsche« oder »Einmal rutschen, bitte«. Die hatte er von den deutschen Touristen aufgeschnappt.
Ana-Clara? Wenn man sie etwas fragen will, muss Boris das übersetzen, und dann antwortet sie so leise, dass nur Boris es versteht, oder sie antwortet gar nicht und sieht Boris, der zum Beispiel gerade meine Frage übersetzt hat, ob in Portugal noch die Folgen der Salazar-Diktatur zu spüren seien, nur mit großen Augen an.
»Ana-Clara interessiert sich nicht so für Politik«, sagt Boris. Ich frage mich, ob sie sich überhaupt für irgendwas interessiert.
Das führt nirgendwohin, denke ich mir. Und der Garagenmann denkt sich das auch, das kann ich spüren. Er will was von Ana-Clara und sieht sie immer so an, aus den Augenwinkeln, aber er weiß auch, dass es vollkommen unmöglich ist, dass da was läuft, und das nervt ihn. Der schlafende Boris nervt ihn, und ich nerve ihn auch. Ich frage mich, wie das wohl ist, wenn man fünfzig ist. Und wie um alles in der Welt man sich für diese stumpfen Augen von Ana-Clara interessieren kann.
»Was hörst du denn so?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern.
»Keine Ahnung. So quer durch den Garten.«
Widerwillig geht er zur Anlage und schiebt eine CD rein. Das ist eine von diesen Anlagen, die teuer tun, aber billig sind, denke ich. Wahrscheinlich hat er sie irgendwo bestellt. Oder bei Tchibo gekauft. Während wir warten, dass die CD gelesen wird, frage ich mich, ob ihn der Kauf der Anlage wohl gefreut hat, ob er euphorisch war, als er sie aufgebaut und angeschlossen hat, und ob er dann zufrieden davorstand. Das stelle ich mir irgendwie traurig vor, wie er alleine vor seiner Anlage steht und bei ihm stellt sich nicht dieses Gefühl ein, das er sich erhofft hat. Er steht davor und denkt sich: Und jetzt?
Aus den Lautsprechern ist etwas zu hören, was sich wie Madonna anhört, aber das Lied kenne ich nicht, auch wenn es mir irgendwie bekannt vorkommt. Wenn mir Ana-Clara nicht so auf die Nerven gehen würde, müsste ich jetzt gar nicht anfangen zu tanzen zu dieser dämlichen Musik.
Das Schlafzimmer von dem Garagenmann sieht aus, als würde da überhaupt niemand drin wohnen. Vielleicht sollte ich ihn in meinem Kopf nicht immer nur der Garagenmann nennen. Frank heißt er. Und er kann ja auch nichts dafür, dass wir vor dem gemachten Bett stehen und den Nachttischen, auf denen kein einziger Gegenstand liegt. Kein Buch, keine Flasche Wasser, kein Krams. Und im ganzen restlichen Zimmer liegt auch nichts. Keine Klamotten, kein T-Shirt, das er zum Schlafen anhatte, keine Schuhe.
»Wohnst du überhaupt hier?«, höre ich mich fragen, während mein Blick über das Bett wandert, und als ich ihn ansehe, merke ich, dass ihn die Frage beleidigt oder nervt.
»Ich bin eben ein ordentlicher Typ. Ich mag das nicht, wenn Sachen rumliegen.«
Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass er mich gleich küssen könnte, ich sehe schon, wie er mit sich kämpft und versucht, sich zu überwinden. Ich stelle mir vor, dass er sich ein bisschen unter Druck fühlt. Man kann ja nicht ins Schlafzimmer gehen, und dann passiert nichts, da muss man ja schön blöd sein. Das ist so eine Situation, die gewisse Anforderungen stellt. Wenn man da so lange steht, ohne dass was passiert, und irgendwann geht man dann einfach wortlos zurück ins Wohnzimmer, dann kann man sich das zwar irgendwie schönreden, von wegen, dass man das sowieso nicht wollte oder so, aber deprimierend ist es natürlich trotzdem.
Es kommt ja auch immer ein bisschen darauf an, wie man aufgewachsen ist und an was man gewöhnt ist. Auch wenn man versucht, unvoreingenommen zu sein, kann man doch nicht verhindern, dass da was zurückbleibt. Meine Eltern zum Beispiel sind eigentlich echt sehr unordentlich. Irgendwas liegt immer irgendwo rum. Einmal in der Woche kommt Natalja aus der Ukraine, davor müssen wir alle aufräumen. Meine Mutter putzt immer mit, weil sie es nicht ertragen kann, dass jemand anderes für sie putzt, auch wenn mein Vater sagt, dass das Quatsch ist und er ja auch nicht mit am Auto rumschraubt, wenn er es reparieren lässt. Meine Mutter macht immer Kaffee für Natalja und kauft teure Plätzchen und unterhält sich mit ihr, bevor sie irgendwann anfangen zu putzen. Das fällt meiner Mutter leichter, wenn sie so tut, als wäre Natalja eine Freundin, die mal vorbeikommt und ihr ein bisschen hilft. Mein Vater hat damit viel weniger Probleme, aber zu Weihnachten verkleidet er sich immer als Weihnachtsmann und geht zu der Familie von Natalja und gibt da die Geschenke ab, die meine Mutter gekauft hat. Ich glaube aber, das hat weniger mit schlechtem Gewissen zu tun. Ich glaube, mein Vater verkleidet sich einfach gerne.
Immerhin: Als ich vorher noch im Wohnzimmer anfange, mit Frank zu tanzen, als ich mich an ihn schmiege und seine Hand auf meinem Rücken spüre und die Hand dann anfängt, meinen Rücken zu streicheln, und bei jeder Abwärtsbewegung ein winziges Stück tiefer rutscht, als sollte ich nicht merken, dass diese Hand jetzt meinen Po berührt oder zumindest den Übergang zwischen Rücken und Po, und ich dann unauffällig zu Ana-Clara sehe, da kann ich etwas in ihrem Gesicht sehen, was vorher noch nicht da war. Sie kratzt sich die ganze Zeit an ihrem Knöchel, und dabei guckt sie uns zu, wie wir tanzen, und dann kurz zu Boris, der immer noch schläft, und ich merke, dass sie nicht versteht, was hier gerade passiert und wie sie das finden soll. Dann spüre ich die Hand von Frank, wie sie schließlich einfach auf meinem Po liegen bleibt, und ich muss an den Frosch denken, der nicht reagiert, wenn man das Wasser in dem Topf, in dem er sitzt, langsam erhitzt. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Erregung, die mich überkommt, an dem Mann liegt, der mein Becken an sein Becken gedrückt hat, oder daran, dass ich weiß, dass Ana-Clara das beobachtet.
Ich habe diesen Blick von Ana-Clara schon einmal gesehen. Dieses Interesse, das sonst nicht sichtbar ist. Das war vorgestern. Meine Eltern haben Boris und Ana-Clara zum Essen eingeladen. Die beiden sitzen an der Ecke des Tisches, bei dem ich gemeinsam mit meinem Vater das zusätzliche Mittelteil eingesetzt habe.
»Sicher ist es furchtbar für dich, jetzt hier in die Kälte zu kommen. In Lissabon sollen es gerade 24 Grad sein«, sagt meine Mutter zu Ana-Clara, und Boris übersetzt ihre Frage für sie. Ana-Clara fragt Boris irgendwas auf Portugiesisch zurück, und ich verstehe nicht, wieso sie die ganze Zeit nur ihn anschaut und nicht meine Mutter, mit der sie ja eigentlich spricht. Boris lacht über Ana-Claras Rückfrage; ich habe das Gefühl, dass das Lachen gegen meine Familie oder gegen mich oder gegen das Essen gerichtet ist.
»Hab keinen Hunger mehr«, sagt Matthis. Matthis ist mein kleiner Bruder, und seit ich mich erinnern kann, gibt es mit ihm immer Probleme mit dem Essen. Mein Vater zieht die Augenbrauen hoch.
»Ana-Clara mag Deutschland nicht so besonders«, sagt Boris, »sie friert die ganze Zeit. Sie kommt mit der Kälte nicht klar und auch mit dem grauen Licht. Das macht sie depressiv.«
»Es gibt heute keine Diskussion. Du isst deinen Teller leer und damit basta. Wir haben Gäste«, sagt mein Vater zu Matthis.
»Die hat ihren Teller ja auch nicht leer gegessen«, wendet Matthis ein. Ich gucke Ana-Clara an, die ihr Besteck nach zwei Bissen zur Seite gelegt hat. Den Lammbraten hat sie nicht mal probiert, nur ein paar Bohnen hat sie lustlos auf ihre Gabel gespießt, die sie dazu irgendwie eigentümlich in der Hand hält.
»Schmeckt es ihr nicht? Sollen wir ihr vielleicht etwas anderes machen?«, fragt meine Mutter Boris. Boris übersetzt die Frage für Ana-Clara, und Ana-Clara sagt etwas auf Portugiesisch.
»Es schmeckt ihr gut. Sie hat nur gerade nicht so viel Hunger«, sagt Boris.
»Ich dachte immer, dass man sich gerade als Gast besonders gut benehmen muss und es unhöflich ist, bei anderen Leuten nicht aufzuessen«, sagt Matthis.
»Jetzt ist aber gut«, sagt mein Vater.
»Muss ich sonst ohne Abendbrot ins Bett, oder was?«, fragt Matthis.
Während mein Vater langsam den Stuhl nach hinten rückt, aufsteht und um den Tisch herumgeht, wird mir klar, dass Matthis gerade zum ersten Mal etwas gesagt hat, was mich beeindruckt hat. Wie mechanisch miteinander verbunden bewegen sich unsere Köpfe mit den Schritten meines Vaters mit, und niemandem ist klar, was jetzt als Nächstes passiert. Hinter Matthis bleibt mein Vater stehen, und scheinbar weiß er gerade selber nicht, was er da eigentlich tut. Mein Vater hat Matthis, soweit ich weiß, schon ewig keine mehr runtergehauen, es gab da mal eine Ohrfeige, aber da war Matthis noch viel kleiner. Matthis sitzt verwirrt durch die plötzliche körperliche Nähe vor meinem Vater und weiß nicht, ob er sich umdrehen soll oder stolz den Kopf nach vorne richten.
Ich sehe alles zugleich: die nervösen Blicke meiner Mutter, die auf die Reaktionen der anderen konzentriert sind, die Ratlosigkeit meines Vaters, wie er da jetzt wieder rauskommt, die verunsicherten Kopfbewegungen von Matthis, die hochgezogenen Augenbrauen von Boris. Und Ana-Clara, die zum ersten Mal, seit ich sie kennengelernt habe, ein gewisses Interesse in ihrem Blick zeigt, auch noch, als mein Vater mit einem schiefen Grinsen versucht, so zu tun, als hätte er gar nicht vorgehabt, Matthis eine runterzuhauen, und der sich dann trotzdem entscheidet, seinen Teller leer zu essen.
Boris ist von seinem Wesen her ganz anders als Ana-Clara. Man sagt ja, dass Gegensätze sich anziehen, aber eigentlich ist das Quatsch, glaube ich. Die Sommerferien waren schon seit zwei Wochen vorbei, als Frau Doktor Frei mit ihm in die Klasse kam. Boris hatte die ganze Zeit so ein ironisches Lächeln im Gesicht, als sie ihn auf Englisch vorstellte und erzählte, dass er zehn Jahre in Portugal gelebt hätte. Sie sagte auch, dass er sie Doctor Free nennen sollte, weil es im Englischunterricht nicht erlaubt sei, deutsch zu sprechen.
In der ersten Pause saß er alleine auf der Treppe vor dem Schulgebäude, und ich weiß noch, dass ich beeindruckt davon war, dass ihm das nichts auszumachen schien. Bis dahin hatte ich immer darauf geachtet, in der Pause nicht irgendwo alleine zu landen, weil es immer ein Problem ist, wenn die anderen einen irgendwo alleine sitzen sehen. Dann denken sie, dass man einsam ist und keine Freunde hat, und wollen nichts mit einem zu tun haben, wodurch man dann wirklich einsam wird und keine Freunde mehr hat. Besser mit Babette und Theresa dastehen und sich irgendeinen Quatsch anhören als irgendwo allein rumsitzen, dachte ich immer, aber bei Boris war das anders, bei ihm wirkte das lässig. Es ist trotzdem keiner zu ihm hingegangen in der ersten Pause, aber es war klar, dass Boris auch die anderen beeindruckte, denn alle schielten während ihrer Gespräche immer mal zu ihm rüber und lachten ein bisschen zu laut, so als wollten sie, dass er es hört.
Aber jetzt mit einem 50-jährigen Garagentorexporteur zu schlafen, nur um Ana-Clara zu ärgern, das wäre echt auch ein bisschen dämlich. Ich denke kurz darüber nach, dass das jetzt auch nicht so schlimm wäre, weil ich das Gefühl habe, dass Frank das sehr gerne möchte und es mir nicht viel ausmachen würde. Das Einzige ist, dass er ein bisschen komisch riecht, ich weiß nicht genau, was das ist, aber er riecht wie ein Reinigungsmittel, und ich muss plötzlich an Natalja denken, weil immer, wenn sie da war, hat das ganze Haus einen bestimmten Geruch, und ich weiß immer nicht, ob der eigentlich von dem Reinigungsmittel kommt oder von Natalja.
Außerdem habe ich wenig Lust darauf, dass Boris reinkommt, während der Garagenmann auf mir liegt; das würde ich nicht wollen, dass Boris das sieht. Und Boris würde mich bestimmt auch direkt durchschauen, warum ich das alles mache, und dann wäre es mir so peinlich, dass ich sofort aufhören müsste, und dann würde der Garagenmann denken, das hat mit ihm zu tun, obwohl es ja einfach mal gar nichts mit ihm zu tun hat, und dann würde er vielleicht aggressiv werden oder, noch schlimmer, er würde anfangen zu weinen.
Es ist gut, dass Boris da ist, auch wenn er schläft und kaum noch was mitkriegt. Wenn Boris nicht da wäre und nur Ana-Clara, dann müsste ich ja geradezu mit dem Garagenmann schlafen. Dann könnte ich nicht mehr zurück, glaube ich, auch wenn es komisch klingt. Sowieso frage ich mich, was Ana-Clara jetzt wohl macht, wie sie da sitzt, ganz alleine in dem Wohnzimmer neben dem schlafenden Boris. Irgendwie glaube ich nicht, dass sie ihn aufweckt, und auch das finde ich echt seltsam. Wenn ich mir vorstelle, dass ich in Portugal wäre bei meinem portugiesischen Freund und dessen beste Freundin würde mit einem 50-jährigen Garagentorexporteur, der seine Hand auf ihrem Hintern hat, in sein Schlafzimmer verschwinden, da würde ich doch sofort meinen Freund wecken und ihm erzählen, was hier gerade los ist und ob man da nicht irgendwie einschreiten muss. Was in Ana-Clara vorgeht, ist mir ein Rätsel, wirklich ein totales Rätsel. Vielleicht sitzt die jetzt wirklich nur auf dem Sofa und glotzt einfach so in die Gegend.
Als sein Telefon klingelt, während er auf mir liegt und mit seinem Knie meine Beine auseinanderdrückt und seinen halbsteifen Penis durch seine Hose an meinem Oberschenkel reibt und dabei mein Kleid weiter nach oben schiebt, bin ich doch ziemlich erleichtert. Er hält inne in seinen Bewegungen und schaut auf seine Armbanduhr, die ein bisschen zu groß ist für sein Handgelenk. Seine Handgelenke sehen aus wie von einer Frau, denke ich, während er sich aufrichtet und sich umschaut, als wäre er gerade aus irgendwas aufgewacht. Er schwitzt ein bisschen, sein Haaransatz ist feucht.
Es verändert sich etwas durch dieses Telefonklingeln, aber ich weiß auch gar nicht so genau: ob ich das schon in dem Moment denke oder es mir erst im Nachhinein dazudichte. Aber als das Telefon klingelt, kommt es mir so vor, als würden sich durch das Klingeln die Geräusche verändern. Als ob jemand an einem Regler gedreht hätte, und es wäre einem erst dann klar geworden, dass die ganze Zeit die Bässe rausgedreht waren. Mein Telefon ist in meiner Jacke im Wohnzimmer und ich will Frank auch nicht fragen, wie spät es ist, aber ich denke mir, es muss wohl so gegen drei, halb vier sein.
Ich glaube, dass viele Leute die wirklich schlimmen Nachrichten am Telefon kriegen. Da klingelt zum Beispiel das Telefon, und da ist die Sprechstundenhilfe einer Arztpraxis dran, und die sagt, dass man besser mal vorbeikommen soll, und wenn man nachfragt, ob was nicht in Ordnung ist, wiederholt sie einfach, dass man besser mal vorbeikommen soll, und dann weiß man schon, dass was nicht stimmt mit den Testergebnissen.
Oder es ruft einen jemand aus der Familie an, und man hört schon am heftigen Atmen oder am Schluchzen, dass was Schlimmes passiert ist. Und die Person am anderen Ende kann vielleicht gar nicht reden und weint plötzlich so heftig, dass sie überhaupt kein Wort mehr rausbringt, und irgendwann hört man nur was, das so klingt wie »Onkel Manfred«, und dann weiß man, dass Onkel Manfred wahrscheinlich tot ist oder im Koma liegt oder querschnittsgelähmt ist oder was auch immer, dass aber eben auf jeden Fall was Schlimmes passiert ist.
Als der Garagenmann aufgelegt hat, hat er irgendwie einen leeren Blick. Der guckt mich gar nicht richtig an, sondern eher so zufällig, als wäre ich auch nichts anderes als der Schrank oder das Bett oder der Nachttisch.
»Ihr geht jetzt besser mal«, sagt er, während er mich anguckt wie einen Gegenstand und sich anscheinend bemüht, dass seine Stimme nicht so zittrig rüberkommt, was ihm aber nicht gelingt.
Ich habe mir mein Kleid runtergezogen, während er telefoniert hat und ich schon gemerkt habe, dass da irgendwas nicht stimmt. Der Garagenmann hat das auch schon geahnt, das habe ich an seinem Blick gesehen, als er zum Telefon gegangen ist.
Ich komme mir jetzt vor, als hätte ich absichtlich Unordnung in sein Leben gebracht und als wäre es total unpassend, dass ich noch auf seinem Bett liege, dass mein Körpergewicht die Matratze eindrückt, dass ich Falten mache auf der Bettdecke und vielleicht ein paar Haare verliere, die noch da sind, wenn ich schon weg bin und dann später von Frank gefunden werden.
»Was ist los? Ist was?«, frage ich ihn, während ich schnell aus dem Bett aufstehe und mir dabei meinen Pferdeschwanz wieder enger ziehe, der sich gelockert hat, während wir auf dem Bett lagen. Frank geht schon aus dem Zimmer, ich glaube, er will wirklich, dass wir schnell gehen, denn er wiederholt noch mal, was er eben schon gesagt hat:
»Ihr geht jetzt besser mal.«
Im Wohnzimmer läuft immer noch diese Musik, die sich wie Madonna anhört, aber nicht Madonna ist. Frank steht einfach nur da und wartet darauf, dass ich was tue, als wäre ich so eine Art Verantwortliche für Ana-Clara und Boris, was ja auch irgendwie stimmt, denn Ana-Clara kriegt nichts mit, weil sie kein Deutsch kann, und Boris kriegt nichts mit, weil er zu viele von diesen kleinen Schnäpsen getrunken hat.
»What happen?«, fragt Ana-Clara, und dass sie jetzt nicht mal ein vernünftiges Präteritum im Englischen hinkriegt, nervt mich so sehr, dass ich sie beinahe verbessere, aber dann denke ich, mir doch egal, soll sie doch falsch reden oder gar nicht, das ist nicht mein Problem.
»I don’t know. We have to leave.«
Ich rüttle Boris an der Schulter, aber er ist wirklich voll, und es dauert ganz schön lange, bis er endlich richtig aufwacht und die Augen öffnet, und dann ist er plötzlich von einem Moment zum anderen so überwach und sieht sich mit aufgerissenen Augen um, wobei er aber irgendwie noch halb in einem Traum ist.
»Was ist los? Geht’s jetzt ums Ganze?«
»Wir müssen los. Lass uns mal gehen«, sage ich, und als ich mich zum Garagenmann umdrehe, sehe ich, wie er immer noch an derselben Stelle steht und ihm nun die Tränen über das Gesicht laufen. Ich helfe Boris hoch, er schwankt ein bisschen, kann aber wenigstens ohne Hilfe auf den Beinen bleiben. Wir gehen an dem Garagenmann vorbei in den Flur, aber vielleicht kann man den jetzt nicht alleine hierlassen, denke ich, vielleicht braucht der Hilfe oder so, und geh noch mal zurück. Als ich wieder vor ihm stehe und höre, wie Ana-Clara und Boris schon die Wohnungstür aufmachen und rausgehen, habe ich plötzlich das Bedürfnis, ihn zu umarmen, aber dann denke ich, dass das jetzt auch ein bisschen peinlich ist, weil ich den ja gar nicht kenne und auch nicht weiß, was überhaupt passiert ist.
»Sollen wir … können wir … sollen wir irgendwas tun? Brauchen Sie was? Oder … soll ich hierbleiben?«
Der Garagenmann schüttelt weinend den Kopf und heult immer stärker.
»Ihr geht jetzt besser mal«, kriegt er gerade noch raus, und ich denke, wenn er das jetzt schon das dritte Mal gesagt hat, dann ist es vielleicht wirklich besser zu gehen.
»Alles Gute«, sage ich noch leise, und als ich das gesagt habe, muss ich plötzlich auch fast weinen.
Ich komme dann aus dem Haus, Ana-Clara und Boris warten auf mich, und ich bin überrascht, wie hell es plötzlich schon ist, weil ich das in der Wohnung gar nicht wahrgenommen habe. Überhaupt ist es eigenartig, dass man manche Sachen erst wahrnimmt, wenn man darauf achtet. Wie laut die Vögel sind zum Beispiel, das hört man überhaupt nicht, minutenlang, und dann plötzlich achtet man darauf, und man fragt sich, wie man das so lange überhören konnte.
»Was war denn mit dem los? Wer war das?«, fragt Boris mich. Er scheint jetzt durch die frische Luft doch wieder einigermaßen nüchtern zu sein.
»Ich weiß nicht«, sage ich, »der exportiert Garagentore nach Russland. Über den Ural. Im Sommer mit Lastwagen, im Winter auf der Schiene. Wegen des Schnees kommen die Lastwagen da nicht mehr rüber.«
Boris sieht mich mit gerunzelter Stirn an und fragt sich wohl, ob ihm das jetzt reicht oder nicht.
»Na, gut«, sagt er schließlich. »Oder auch nicht. Egal.«