DIESES SCHÖNE SCHEIßLEBEN
Benjamin und Sebastian Podruch
Christiane Tramitz
orell füssli Verlag
Für dich, Lenny, mein Kleiner
Sämtliche Namen von unseren Freunden, Bekannten und anderen Personen sind anonymisiert oder frei erfunden.
Etwaige Ähnlichkeiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
© 2017 Orell Füssli Verlag AG, Zürich
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Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-280-03986-1
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
W
enn ich dreißig Jahre alt bin, ist alles vorbei. Ich weiß nicht, ob ich dann tot bin, jedenfalls werde ich nicht mehr richtig leben. Denke ich mal. Ich bin dann einfach nicht mehr da. Diese Vorstellung habe ich im Kopf gehabt, als ich vierzehn war. Es würde mich, Benny, dann nicht mehr geben. Ich hätte niemals gedacht, dass ich überhaupt so alt werde, wie ich es jetzt bin. Dafür habe ich einfach zu schnell gelebt, zu viele Drogen genommen.
Heute bin ich achtundzwanzig Jahre alt.
Jetzt sag ich, ich könnte in etwa fünfundvierzig werden. Wenn ich weiter so lebe wie bisher.
Ich finde nicht, dass wir unser Leben versaut haben, weder mein Zwillingsbruder Basti noch ich.
Es kann gut sein, dass andere Menschen das komplett anders sehen. Heruntergekommen, gescheitert, keine Kohle – wirklich null und nix fürs Alter. Wir aber bereuen nichts von all dem, was wir getan und erlebt haben. Gewiss, manches war echt heftig, war auch nicht nötig, es waren halt unüberlegte Aktionen, Suffaktionen. Die waren überflüssig, wenn ich zurückblicke. Der Alk, der Schnaps insbesondere, und all die anderen Drogen, die haben uns einiges im Leben vermasselt. Aber dafür haben wir gelebt, viel erlebt.
Und, was die Hauptsache ist: Wir leben. Noch.
E
ines möchte ich gleich vorwegsagen: Ich bin ein Glückskind. Ich bin auf der Sonnenseite des Lebens geboren. Egal, was ich in diesem Buch schreiben werde. Ich denke immer noch so: Benny, Alter, du hattest verdammtes Glück.
Ich liege auf der Donauinsel in Wien. Links und rechts von mir strömt träge der Fluss. Ab und zu ziehen Schiffe an mir vorbei. Es ist Sommer. Ich liege in meinem Schlafsack und schaue in den Himmel. Die Vögel flattern über mir, und die Sonne scheint. Hab’s ja schon gesagt: Ich lebe auf der Sonnenseite. Mein Kopf ist noch ein wenig schummrig von gestern. Neben mir häufen sich Bierflaschen, alle leer selbstverständlich. Ich schließe noch mal die Augen und höre meinen Bruder laut schnarchen. Basti und Benny, die beiden Zwillingsbrüder sind wieder zusammen. Ein paar unserer Kumpels sind schon aufgestanden, sie haben Feuer gemacht und einen Kessel Wasser darüber gehängt. Es gibt Kaffee.
Drei Tage hängen wir schon hier auf der Insel ab, fünfzehn Leute insgesamt, alle Punks.
Wir genießen das Leben, so gut wir können.
Ich bin zum ersten Mal in Wien, eine tolle Stadt, wie ich finde. Ich kenne ja schon viele Städte in Europa, kein Wunder bei meiner Rastlosigkeit. Aber Wien hat sofort mein Herz erobert.
Ich setze mich auf und schaue zu Basti. Ich sehe nur seinen blauen Iro und seine Stirn. Mein Bro, der wichtigste Mensch in meinem Leben, sieht man von Lenny, meinem Kleinen, mal ab. Basti kennt mich wie kein anderer, und umgekehrt. Wir sind schließlich eineiige Zwillinge, sind gemeinsam in einer Fruchtblase aufgewachsen. Wir haben das gleiche Fruchtwasser gesoffen, wieder da reingepisst und es dann erneut gesoffen. Ich habe gehört, das machen die Kleinen, wenn sie noch im Mutterleib sind. Naja, ist lange her, auf jeden Fall habe ich die Pisse von meinem Bruder intus gehabt. Und umgekehrt natürlich.
Wenn ich auf mein kurzes Leben zurückblicke, muss ich sagen, ohne meinen Bruder wäre ich nicht mehr auf der Welt. Wir haben alles nur gemeinsam durchgestanden, ohne einander wären wir jetzt oben im Himmel, meinetwegen auch in der Hölle. Das wäre auch egal, die Hölle haben wir beide hier auf Erden oft genug erlebt.
Ich habe Basti eine Zeit lang nicht gesehen, ich war in Spanien, er hier in Wien. Das waren verdammt sehnsuchtsvolle Zeiten. Aber jetzt ist alles wieder gut. Wir sind zusammen.
Ich krieche aus meinem Schlafsack und gehe ein paar Schritte zu unserem Kühlschrank. Der ist ein tiefes Loch, das wir nah neben einem hohen Baum in die Erde gegraben haben. Da wartet ganz unten am Boden mein Frühstück. Blechbrötchen, wie wir Dosenbier nennen. Für Kaffee bin ich nicht zu haben, noch dazu auf nüchternen Magen. Naja, wenn ich ehrlich bin, so ganz nüchtern bin ich nicht. Eigentlich nie, wenn ich es genau bedenke. Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr hat es das so gut wie nie gegeben. Nüchtern, auch wenn der Magen knurrte, das war ich wahrscheinlich zum letzten Mal, kurz bevor Basti und ich von unserem Stiefvater auf die Straße geworfen worden sind.
Ich fische eine Dose aus dem Erdkühlschrank und gehe damit an die Donau. Ich ziehe meine Stiefel aus, kremple die Hosenbeine hoch und halte meine Füße ins Wasser. Das Leben kann so schön sein, denke ich.
»Hey Alter, mach mal Platz«, sagt Basti, der inzwischen aufgewacht ist und sich ebenfalls mit Gerstenfrühstück neben mich setzt.
»Party in der Stadt heute«, sagt er und nimmt einen Schluck. »Ich weiß«, sage ich, »müssen bis dahin halbwegs fit bleiben.«
Basti grinst. »Schaffen wir, Prost, alter Sack!«
Eine Weile sitzen wir so da, vier Füße im Wasser. Wir schauen rüber auf die andere Seite des Flusses, wo heute ein paar Kumpels eingeladen haben.
Basti nimmt mich in den Arm. »Ach Benny«, sagt er, »geiles Leben, was?«
Ich halte ihm eine Schachtel Zigaretten hin. »Sagen wir mal so, wir haben das Beste daraus gemacht.«
Dann schweigen wir, trinken Blechbrötchen, und keiner von uns ahnt, dass es unser letzter Tag in Freiheit sein wird.
Dieser letzte Tag ist ein Traumtag. Wir baden in der Donau, schauen den Hunden beim Toben zu, ein paar Bierchen und gelegentlich kleine Rangeleien untereinander. Das passiert immer wieder mal zwischen uns Kumpels.
Die Sonne versinkt langsam hinter der Stadt. Als die Dämmerung hereinbricht, machen wir fünfzehn Punks uns auf zur Party. Basti barfuß. Seine Stiefel haben die Sohle verloren, löchrig waren sie ohnehin schon lange gewesen. Er hat sie ausgezogen und hoch auf einen Baum geschleudert, wo sie sich an einer Astgabel verfingen. »Ist ja Sommer, wozu Stiefel?«, sagte mein Bro.
Wir schlendern eine große Verkehrsstraße entlang, jeder von uns ein Bier in der Hand, so wie man es von uns Punks halt kennt.
Die Party findet am Rande eines kleinen Stadtparks statt. Es ist schon viel los, als wir ankommen, großes Feuer, großes Hallo, viel Musik und beste Stimmung. Es sind auch Punks aus Israel da, unter ihnen tolle, schöne, zarte Frauen mit dunklen Augen. Auf solche stehen mein Bruder und ich. Basti schaut sich gleich eine Braut aus, mit der er im Lauf des Abends für kurze Zeit verschwindet. Ich knutsche mit einer Sarah aus Tel Aviv rum. Sie ist schön und nett, viel reden können wir nicht miteinander, mein Englisch könnte besser sein. Im Lauf des Abends kommen wir uns noch näher, aber in meinem Bauch fehlt das Flattern, es läuft nur alles wieder auf Sex raus. Mehr nicht, nur vögeln. Ich habe mich schon lange nicht mehr verlieben können, ich meine, so richtig. Seit der Trennung von meiner großen Liebe Saska hatte ich zwar viele Affären, habe sie aber alle mit dieser Frau verglichen. Ich glaube, das war ein schwerer Fehler. Saska hat sich in mein Herz gegraben, und ich konnte sie in all den Jahren, seitdem sie fort ist, nicht von dort rausreißen. Immer wenn ich ein Mädel im Arm halte, küsse und alles Weitere mache, gibt es mindestens einen kurzen Augenblick, in dem ich mir wünsche, es wäre Saska. Auch heute, als ich mit Sarah auf der Wiese liege und sie küsse. Die Kumpels um uns rum sind alle schon ordentlich dicht, es ist ja inzwischen schon spät geworden. Man ist allgemein von Bier auf Hochprozentiges umgestiegen. Basti hält mir eine Pulle Schnaps vor die Nase. Krawallwasser, Hochprozentiges, das wir Zwillinge nicht vertragen. Wir werden dann leicht erregbar, besser gesagt, aggressiv. Ein schiefer Blick, ein falsches Wort – und wir sind auf hundertachtzig mit diesem Krawallwasser. Alle unsere Prügeleien entstanden aus dem Suff mit starkem Zeugs heraus. Ich hatte mir geschworen, die Pfoten davonzulassen, schließlich hatte ich in Spanien ein neues Leben begonnen, eines, mit dem ich gut leben konnte.
»Hey, Alter«, sagt Basti, »ein Schluck ist keiner.«
Ich schüttle den Kopf. »Hab doch gesagt, dass das vorbei ist«, sage ich.
Mein Bruder grinst. »Benny, auf unser Wiedersehen, ist doch ein Festtag.«
Das Bier hat mich im Schädel schon leicht schummrig gemacht. Ich bin vor Freude wie auf Drogen, voll im Glücksrausch. Ich küsse Sarah, greife ihr unter dem T-Shirt an den Busen. Er ist fest und prall. Alles in mir ist erregt, was für eine geile Nacht. Heute, denke ich, mit einem solchen Mädel an der Seite, kann mir doch alles egal sein, was soll schon passieren? Ohne weiter nachzudenken, nehme ich meinen ersten Schluck, gleich den zweiten hinterher und weil es so gut flutscht den dritten. Meine Stimmung steigt in den Himmel. Ich fange an zu lachen und knutsche Sarah in Grund und Boden, bis ich auf meinem Kopf eine Hand spüre. Sie streichelt über mein Haar. Maxe ist schon ganz hinüber, Maxe, der Irre aus München, von dem wir alle wissen, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist. Er redet immer von Jesus, wenn er zu viel getrunken hat. Er breitet dann die Arme aus und predigt was vom Jüngsten Gericht, Untergang und Gottesstrafe. Alle zehn Sekunden bekreuzigt er sich oder legt einem der Kumpel die Hand auf den Kopf. »Ich heile dich von allem Übel«, sagt er dann. Maxe ist in unserem Alter, gute dreißig Jahre alt. Trotzdem hat er ein Gesicht wie ein unschuldiges Kind, breite Wangenknochen, große Augen, die immer leuchten, wenn es was zu heilen gibt. Maxe ist lange in der Klapse gewesen, wo sie ihm Tabletten gegen die Stimmen gegeben haben. Und immer, wenn man ihn entlassen hat, hat er die Medikamente ins Klo geworfen. Ich kann das verstehen, kann selbst ein Lied von diesen Psychopillen singen. Mein Bro und ich mussten sie jahrelang ebenfalls essen. Nicht, weil uns Stimmen sagten, wir wären Jesus. Das hätten wir eh nicht geglaubt, zwei Jesusse auf einmal. Da wäre einer zu viel auf der Welt.
Um Maxes Hals baumeln fette Kreuze, und auf die Handflächen hat er sich dunkelrote Wundmale tätowieren lassen, als hätte man ihn weiß Gott wohin genagelt. Maxe kann einem mit seinem Heilen und Handauflegen ganz schön auf die Nerven gehen.
»Ey, Maxe, lass das, du nervst«, sage ich und streiche seine Hand von meinem Kopf. Maxe murrt und schleicht sich. Er setzt sich neben Cora, die etwas abseits mit ihrem Kaninchen spielt. Maxe, das habe ich sofort gesehen, hat ein Auge auf Cora geworfen. Cora kenne ich schon lange, sie folgt uns wie ein Schatten, von Stadt zu Stadt. Sie ist in unserem Leben, seit wir damals am Bahnhof Zoo gelandet sind. Mich wundert es nicht, dass Maxe auf Cora steht. Sie hat was Hilfloses an sich, ist scheu, spricht kaum was. Sie ist ein zartes, zerbrechliches, nein, besser gesagt, zerbrochenes Wesen und muss beschützt werden. Sie ist trotz ihrer inzwischen vierundzwanzig Jahre ein Mädchen, keine Frau. Ich glaube, ich habe Cora noch nie lachen sehen, sie weiß nicht, wie das geht. »Hey, Mundwinkel auseinanderziehen und haha machen.« Wir haben am Bahnhof Zoo immer Wetten abgeschlossen. Wer Cora ein Lachen entlockt, kriegt eine Schachtel Kippen spendiert. Geschafft hat das niemand. Cora ist traurig, sie hat bereits drei Selbstmordversuche hinter sich, deswegen trägt sie um ihre Pulsadern auch immer ein schwarzes Lederband. Ich wundere mich oft, wie lange sie bis jetzt durchgehalten hat. Basti und ich hatten mit ihr mal was laufen, aber nur kurz. Es war so, als würdest du ein Skelett ficken, das daliegt und alles über sich ergehen lässt. Kein Laut, lebloser Mund, kein Zucken, von nem Orgasmus ganz zu schweigen. Sie ist ein Mädchen in Schockstarre. Bis heute ist sie auf irgendwelchen Drogen, sitzt meistens irgendwo rum und stiert vor sich hin. Manchmal springt sie auf, tanzt wie wild und zieht dabei ihr Oberteil hoch, so dass man ihre flachen Titten sehen kann. Anfassen will sie aber keiner mehr, es sind ohnehin schon fast alle über sie drüber gerutscht. Cora ist die einzige Frau, die ich kenne, die ihr Geld auch auf dem Strich verdient. Ich glaube fast, es macht ihr nichts mehr aus, wenn alte Knacker sie abfingern oder in ihr rumstochern. Mich wundert es nicht, dass Maxe sie klasse findet. Wenn es jemanden zu heilen gibt, dann sie. Cora ist genau die Richtige für Maxe.
Basti kommt zurück, seine Hand um die Braut gelegt. Er hatscht etwas. »Das kann ja gut werden, so ohne Schuhe«, sagt er und hebt seine wundgelaufenen Füße in die Höhe.
»Ich befreie dich …«, Maxe ist begeistert, endlich mal eine satte Wundheilung.
»Klappe, Maxe!«, sagt Basti. »Du bist zwar ganz okay, aber Jesus bist du nicht.« Maxe schaut meinen Bruder an, als wäre der nicht ganz dicht im Kopf.
Irgendwann beschließen wir, die Party zu verlassen und irgendwohin in die Stadt aufzubrechen. Das machen wir immer, rastlos, wie wir sind, wir bleiben nie lange an einem Fleck.
Wir sind gut drauf, als wir losziehen. Maxe, Enno, Cora, ich, Sarah neben mir, Basti ebenfalls mit Zubehör, die Hunde der Kumpels und die Kumpels selbst. Wir gehen ein paar Straßen durch die Gegend, singen und, ich gebe es zu, pöbeln auch ein wenig rum, wenn Passanten uns blöde angaffen.
»Glotz nicht so dämlich«, brülle ich einen jungen Krawattenträger an.
Ich spüre in mir die gewohnte Wut, wenn mir was nicht passt. Das Krawallwasser wirkt.
Auf einmal sind sie da. Sie kommen uns entgegen, zuerst auf der anderen Straßenseite. Als sie uns sehen, wechseln sie rüber auf unseren Gehweg: ein Glatzentrupp.
»Oh shit«, sagt Cora.
Sie kommen näher, ich spüre Adrenalin in mir. Solche Begegnungen gehen selten gut aus. Faschos und Punks geben eine explosive Mischung ab.
Es ist schon spät, diese Ecke der Stadt dunkel, außer uns ist niemand auf der Straße. Unser Schritttempo beschleunigt sich fast automatisch, als wollten wir zeigen: Hey, verpisst euch, legt euch bloß nicht mit uns an. Unsicherheit oder gar Angst zu zeigen, wäre fehl am Platz. Ich weiß auch nicht, ob einer vor uns Angst hat. Angst ist ein Gefühl, das ich im Krawallwasser, das ich intus habe, ertränkt habe. Mein Herz fängt zu rasen an.
»Die sind in der Überzahl«, zischt Basti. Er geht links neben mir. Wir sind in solchen Situationen immer zusammen, passen auf uns auf. Rücken an Rücken gegen den Rest der Welt. So haben wir bisher noch alle Schlägereien überlebt. Die Typen vor uns in ihren Bomberjacken sehen wie eine Horde Ochsen aus: Stiernacken, brutale Visagen. Sie haben Schlagstöcke, die Feiglinge, trauen sich ohne nicht auf die Straße.
»Na und?«, antworte ich. Ich schiebe Sarah hinter mich.
»What’s going on here?«, fragt sie.
»Nothing, just Nazis«, sage ich lässig, als begegneten wir gerade ein paar Muttis mit ihren Kinderwägen. Unsere Mädels aus allem raushalten, ist unsere Devise. Sarah klammert sich an meinen Arm.
»Go back«, zische ich ihr zu.
Die Faschos bleiben fünf Meter vor uns stehen, nehmen dabei den ganzen Gehweg ein. Wir gehen weiter auf sie zu. Ich denke an Bastis nackte Füße, es wäre besser, er hätte jetzt Stiefel an. Mit ihnen zuzutreten, ist eine wichtige Waffe, vor allem, wenn Stahlkappen drinnen sind. Einen Meter vor der lebenden Fleischmauer bleiben wir stehen.
»Na, ihr Zecken, aus dem Weg! Rüber da«, sagt einer der Glatzen und zeigt mit seinem Schlagstock auf die andere Straßenseite. Maxe, unser Jesus, Heiland des Friedens, sieht seine Chance. Er nimmt eines seiner Kreuze in die Hand und hält es dem Typen hin. »Ich befreie dich …«
Weiter kommt er nicht, zum Handauflegen erst recht nicht. Maxe kriegt einen Schlag ins Gesicht, dass er rückwärts torkelt und zu Boden sinkt. Die Truppe Faschos stürzt sich mit Gebrüll auf ihn. Dann geht alles sehr schnell, wir befinden uns mitten in einer heftigen Keilerei. Maxe bleibt regungslos liegen und kriegt noch einige Tritte ins Gesicht und in die Magengrube, so schnell können wir gar nicht reagieren. Die Mädchen schreien, wir brüllen und schlagen um uns. Einer tritt Basti mit den Stiefeln auf den nackten Fuß, ein lautes Knacken ist daraufhin zu hören. Basti jault auf. Ich kriege einen Schlag ins Gesicht, spüre aber keine Schmerzen, sehe dafür nur noch rot. Ich vergesse alles, schlage wild um mich, es ist wie im Rausch. Maxe heult und krümmt sich. Die Mädchen rennen, so schnell sie können, weg. Der Feistnackige drischt Maxe den Schlagstock über den Schädel, immer wieder. Ich weiß, dass Maxes Kopf das nicht mehr lange mitmacht, so blutüberlaufen wie der schon ist. Ich stürze mich auf das Glatzenschwein und fühle, wie meine Fäuste ein Eigenleben bekommen. Sie schlagen zu, schlagen zu und hören nicht mehr auf, bis dem Typen die rote Soße über das Gesicht rinnt und seine Nase schiefhängt. Volltreffer!, denke ich. Während ich auf ihn einschlage, flüstert mir irgendwo im hintersten Eck meines Kopfes eine Stimme zu: Aufhören, sonst schlägst du den tot.
Filmriss.
V
ielleicht begann unser Desaster in der Nacht, in der unser Vater mit unserer Mutter Sex hatte und wir entstanden sind. Nur einmal Vergnügen, am Ende gar im Suff, und schon nahm alles seinen Lauf. Ich habe keine Ahnung, ob wir so was wie Wunschkinder waren. Jetzt sind wir es auf jeden Fall nicht mehr.
Wir schlitterten unschuldig in diese Welt, Basti drei Minuten vor mir. Dann kam ich. Das war vor achtundzwanzig Jahren, im Jenaer Krankenhaus. Ein kalter, hässlicher Bau, kein schöner Start ins Leben.
Erst mal waren wir normal, zumindest nicht auffällig, sagt Mutti. Babys halt, die ab und zu schrien. Aber wir waren Babys, denen der Vater davongelaufen war. Ich kenne ihn nicht. Weiß von ihm nur, dass er einen silbernen Ford hatte und ein Glasauge im Gesicht – am liebsten würde ich Visage sagen. Und dass er mich später, nachdem er abgehauen war, nur noch ein einziges Mal in seinem Leben gesehen hat. Ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Wir waren damals noch so klein, konnten nichts dafür, dass er ging. Wir waren doch erst drei, hörten immerhin langsam auf, in die Hose zu scheißen, standen auf zwei Beinen, konnten ganz gut sprechen. Wir waren damals normale Kleine. Wenn Mutti über unsere Kindheit spricht, glaube ich, dass sie uns irgendwie schon gemocht hat. Wir reisten mit ihr an die Ostsee, plantschten wie all die anderen Kleinen im Meer und spielten im Sand. Wir gingen sonntags in den Zoo oder fuhren irgendwohin aufs Land. Wenn ich mir das Fotoalbum von früher anschaue, Mutti hat da so eines im Regal, mit grünem, lackiertem Einband. Da sind lauter Heile-Welt-Kinderfotos drinnen. Wenn ich mir das angucke, muss ich sagen: Basti und ich waren auch nicht übel anzuschauen, sahen eigentlich ganz gut aus. Süße Kerle mit weichen Gesichtern und lieben Augen. Solche Kinder, noch dazu Zwillinge, so dachte ich immer, müsste man doch lieben. Unser, sagen wir mal, gutes Aussehen sollte später unser Glück im Pech werden. Wir waren und sind, egal, was uns auch immer passiert ist – Faustschläge ins Gesicht, Abfackelungen, Hunger, Dreck und Drogen bis zum Abwinken –, rein optisch ganz okay, sogar ziemlich okay. Finden auch die Frauen. Was will man mehr?
Mutti fand schnell einen anderen Mann, unseren jetzigen Vater, wir nennen ihn »Stief«. Er war es, der uns dann davonjagte, raus aus der Wohnung und irgendwie auch aus dem normalen Leben. Dazu aber später.
Zwillinge, vor allem wenn sie eineiig sind wie Basti und ich, lieben sich eigentlich, können nicht ohne einander. Sagen und denken viele Leute. Sie haben recht, ohne Basti geht nichts bei mir. Wenn er nicht da ist, fühle ich, dass etwas fehlt, eine andere Körperhälfte, ein anderer Teil in meinem Kopf. Oder eine zweite Seele, ich weiß auch nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Ich empfinde genauso wie mein Bro und umgekehrt. Ich spüre, wenn es ihm schlecht geht, dazu muss ich ihn gar nicht sehen. Das ist bei Zwillingen, wie wir welche sind, einfach so. Hätten wir einander nicht, wären wir wohl beide eingegangen. Wie die Primeln.
Trotzdem haben wir uns andauernd geprügelt, waren aggro drauf, das gehörte halt von klein an zu unserem Leben. In der Kita schon waren wir komplett daneben, knallten uns und den anderen Kindern die Spielsachen an die Köpfe.
Wir sind erst mit sieben Jahren eingeschult worden, mit sechs, sagte man, seien wir noch nicht reif fürs Lernen gewesen. Obwohl wir älter als unsere Mitschüler gewesen sind, man möchte meinen, auch ein wenig reifer, hat es von Anfang an mit der Schule nicht so richtig klappen wollen.
Die erste Klasse, die ja sonst jeder Idiot schafft, wie unser Stief immer sagte, haben wir beide wiederholen müssen. Man muss sich dafür mal den Grund vorstellen: Lispeln. Ein Erbe der DDR halt, da galt das nämlich als ein Mordsfehler, dieses Lispeln. Wir lernten im ersten Schuljahr bei so einer abgelegten Lehrerin nichts außer: »Die-Zunge-quetscht-sich-beim-S-nicht-zwischen-die-Zähne!« Jedes Mal hat die Alte irgendein Buch vor sich liegen gehabt, hat irgendwelche Sätze daraus vorgelesen und irgendwelche Bilder gezeigt, und dann sollten wir uns selber Geschichten einfallen lassen mit möglichst vielen S-en drinnen, ohne dabei zu lispeln. Ganz komische Scheiße, wenn ich daran zurückdenke.
Danach ging es in der Schule nicht besonders prickelnd weiter. War ja klar, dass wir von Anfang an nicht dahin passten mit Stillsitzen, Artigsein und Aufpassen. Wir kibbelten mit den Stühlen, konnten unsere Klappe nicht halten. Die Lehrer laberten immer wieder das Gleiche, stinklangweiliges Zeug, und spätestens nach der zweiten Stunde war es mit der Konzentration vorbei bei uns, abgeschaltet, Kopf ausgeknipst. So richtig gut im Lernen waren wir deswegen nicht, wir waren beschissen, um es genauer zu sagen.
Die Lehrer wurden wahnsinnig mit uns, und wir mit ihnen.
Die einzige Ausnahme: Kunst und so was, wozu wir Fantasie brauchten. Das konnten wir.
Es gab wohl keine Woche, in der Mutti nicht in die Schule reinbeordert wurde, um sich von den Lehrern anzuhören, wie schlimm wir seien. Nicht stillsitzen können, immer am Kippeln, Zappeln, null, aber auch null Konzentration. Und dauernd den Unterricht stören. Wir waren so richtige Krawallmacher.
»Die sind ein bisschen auffällig«, haben die Lehrer zu Mutti irgendwann gesagt, da waren wir noch keine sechs Monate in der Schule. Wir mussten zum Arzt, und ab da gab es Ritalin, das Teufelszeug in diesen gelbweißen Packungen. Hat aber nicht wirklich viel gebracht. Die Wirkung hielt nie lange an, ein paar Stunden vielleicht. Dann machte es plötzlich in den Ohren »plopp«, so, als hätte man die Stöpsel rausgezogen, und wir waren wieder da in der Welt. Cool.
Man kann sich vorstellen, wie unser Stiefvater unser Verhalten fand: ziemlich übel. Das hat er uns auch von klein an gezeigt, da setzte es immer ordentlich was, auf uns mit Gebrüll. Ja, es gab heftige Schläge, ich würde fast sagen, richtige Prügelorgien. Der Stief hat sicher gedacht, das wäre zu unserem Besten, er ist ja selbst durch eine harte Schule des Gehorchens gegangen, wie er immer sagte. Auch wenn wir inzwischen zu BRD-Bürgern geworden waren, als wir in die Schule gekommen sind, war da trotzdem noch der Einfluss der miefigen vergangenen Jahrzehnte zu spüren. Die Lehrer sind dieselben geblieben, und deren Ansichten und Erziehungsmethoden wehten ja nicht mit dem Mauerfall weg.
Nachmittags gingen wir in den Hort, so wie all die anderen Kinder auch. Das war in der DDR so üblich. Und es gab diese DDR ja noch, als wir klein waren. In der Kita lernte man von klein an fürs Leben im System, wir sollten ja so was wie eine sozialistische Persönlichkeit entfalten und so einen Scheiß. Wir mussten fleißig sein, gehorchen, Ordnung halten, durften keine Widerworte geben und nicht auffallen, sollten so sein wie alle anderen. Solche Leute brauchten die. Ha, da waren wir geradezu die Idealbesetzung eines sozialistischen Bürgers! Nichts passte perfekter zu uns. Idealbürger zu sein, war uns in die Wiege gelegt worden. Vor allem die Ordnung, haha. Und wir mussten solche schwachsinnigen Lieder singen wie Der Volkspolizist.
Und wenn ich mal groß bin,
damit Ihr es wisst,
dann werde ich auch so ein Volkspolizist,
Der Volkspolizist, der es gut mit uns meint,
… er ist unser Freund.
Trallala …
Der hätte mal unser Kinderzimmer sehen sollen, der Volkspolizist. Chaos pur. Ordnung passte auch nicht zu uns, damals schon nicht und heute erst recht nicht. Ebenso wenig wie Gehorsam, nein, sich beugen, brav sein, war nicht unser Ding. Keine Ahnung, wieso nicht. Andere Kinder konnten es ja auch. Aber wir waren ja solche Zappelmonster, konnten keine Ruhe geben, ADHS nennt man das, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyper-Irgendwas.
Es war wirklich unser Glück, dass es kurz nach unserem vierten Geburtstag mit der Mauer und dem ganzen Sozialismuskram vorbei war. Nix wurde es mit der Volkspolizei und all dem Käse, den man uns eintrichtern wollte.
Nach der Grundschule hat man meinen Bro und mich voneinander getrennt. Wir tun uns gegenseitig nicht gut, hat man damals gedacht. Immer diese Prügeleien. Ich kann nicht sagen, warum wir uns dauernd gekloppt haben. Vielleicht hat man uns das so in die Wiege gelegt. Die Trennung war für uns verdammt hart, schließlich waren wir ja zusammen, seitdem mein Vater meine Mutter geschwängert hat, zusammen in einer Eizelle, im Bauch, immer eigentlich. Das prägt schon verdammt stark, so ein Zusammensein.
Sehr viel mehr kann ich über die Zeit meiner Kindheit nicht erzählen. Ich habe sie irgendwie verdrängt, aber insgesamt glaube ich: Unterm Strich war sie eine Scheißzeit. Da hilft eben nur verdrängen.
Ich will auch nicht lange über diese Zeit reden, ich will Frieden mit ihr schließen, denn jetzt bin ich erwachsen und selbst für mein Leben verantwortlich. Nur noch eines: Rückblickend kann ich Mutti, teilweise sogar meinen Stief, verstehen und das, was die beiden mit uns gemacht haben. Wer weiß, ob Mutti uns Aggros irgendwann überhaupt noch mögen konnte. Es ist ja nicht einfach mit der Liebe, wenn man bedenkt, wie wir drauf waren. Solche wilden Kinder kann man einfach nicht lieben. Es gibt Tage, an denen ich denke: Mutti ist ja eines Tages tot. Da kommen mir fast, egal, was ich mit ihr erleben musste, die Tränen, denn um ehrlich zu sein: Ich habe sie schon sehr lieb.
Deswegen quält mich auch immer wieder die Frage, ob wir Mutti überhaupt jemals ans Herz gewachsen sind …
Ach, lassen wir das Thema.