Wenn ich dich finde!
Es gibt viele Menschen in meinem Umfeld, denen ich sehr, sehr dankbar bin und die mich unglaublich unterstützen. Dazu zählen in erster Linie mein Mann Steffen Salow und meine Mutti Hildegard Grünes. Ein großes Dankeschön geht vor allem aber auch an Sylvia Bretschneider, Armin Tebben, Dirk Zapfe, Iris Steuding, Angela Hillenhagen, Simone Gladasch, Daniela See, Dieter Schulz, Birgit Klockow, Heidrun Lohse, Dirk Buchardt, Julia Hauenschild, Martin Reiners, Petra Heißen, Heike Mex, Laura Jakobi, Dr. Anja Dostert, Sabrina Panknin, Andre Harder, Cornelia Böttcher, Daniel Kruschinsky, Berthild und Frank Horn, Arno Pommerencke, Christian Noack, Mandy und Matthias Wittkat sowie ihre Lesergruppe »Bücher im Blut«.
Ganz herzlich möchte ich mich bei meinen Testlesern Dirk Zapfe, Angela Hillenhagen, Stefanie Roocks, Angela Diener, Anne und Karina Müller, Christine Gläser, Jörg Kapplusch, Martina und Axel Wiatr, Karola und Thomas Berger, Ralf Schultz, Petra Pundt, Marlit und Jörg Hillenberg, Helgrid Kühn, Cornelia Abbas und C. R. bedanken.
Herzlichst
Ihre Diana Salow
Danksagung
»Wenn ich dich finde« Kommissar Bergers vierter Fall
Kapitel 1: Das Mühlrad
Kapitel 2: Der vitruvianische Mensch
Kapitel 3: Überfall
Kapitel 4: Die Unbekannte
Kapitel 5: Schutzengel
Kapitel 6: Angst
Kapitel 7: Das Achteck
Kapitel 8: Hitzige Diskussion
Kapitel 9: »305«
Kapitel 10: Vergessene Überraschung
Kapitel 11: Identität
Kapitel 12: Einverstanden
Kapitel 13: Selbstbehauptung
Kapitel 14: Miss Marple
Kapitel 15: Überraschung
Kapitel 16: Falscher Duft
Kapitel 17: Der Morgen danach
Kapitel 18: Standpauke
Kapitel 19: Patientenverfügung
Kapitel 20: Das Recht zu leben
Kapitel 21: Der Alptraum
Kapitel 22: Die Stirn geboten
Kapitel 23: Mosaiksteinchen
Kapitel 24: Keine Fortschritte
Kapitel 25: Tod
Kapitel 26: »Kleiner Wurm«
Kapitel 27: Verschwiegen
Kapitel 28: Fahndung
Kapitel 29: Willi Berger
Kapitel 30: Veränderungen
Kapitel 31: Der Hinweis
Kapitel 32: Verschwunden
Kapitel 33: Eine heiße Spur
Kapitel 34: Die Verbindung
Kapitel 35: Theorien
Kapitel 36: Fluchtgefahr
Kapitel 37: Die Geiselnahme
Kapitel 38: Wo ist Lea Engel?
Kapitel 39: Verrat
Kapitel 40: Eine Bitte
Kapitel 41: Hoffnung
Kapitel 42: Rettung naht
Kapitel 43: Gefunden
Kapitel 44: Wie soll es weitergehen?
Kapitel 45: Diagnose
Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Gegebenheiten sind rein zufällig, nicht beabsichtigt und entsprangen meiner Fantasie.
Neun Kinder waren gerade dabei, Reißverschlüsse und Knöpfe ihrer Anoraks zu schließen. Sie standen im Vorraum der Kindertagesstätte Schlossgeister am Franzosenweg und zogen sich für ihren Morgenspaziergang an. Die Kinder, die den Vorteil von Klettverschlüssen an ihren Schuhen genossen, sprangen bereits aufgeregt herum, während die anderen sich noch im Schleifenbinden übten.
Allmählich wurde es Herbst. Nebelschwaden verdeckten die Sonne, deren Standort am Himmel nur zu erahnen war. Feuchte Luft ließ die Erzieherin frösteln und lud nicht gerade zum Spazierengehen ein. Den Kindern war das Wetter egal, sie freuten sich darauf.
»Beeilt euch, Kinder!«, mahnte die Erzieherin und klatschte in die Hände. »Wir wollen rechtzeitig zurück sein und später ein neues Lied lernen.«
»Tante Ruth, singen ist langweilig. Können wir nicht basteln?«, fragte der sechsjährige Ben, dessen Wangen vor Aufregung schon leicht gerötet waren. »Wir sammeln Kastanien im Schlossgarten und basteln daraus lustige Tiere, ja?« Ben hatte Mühe, mit seinen kleinen Fingern eine Schleife an seinem rechten Turnschuh zu binden.
Ruth dachte einen Augenblick nach. »Warum nicht? Das ist eine gute Idee«, sagte sie schließlich. »Habt ihr gehört, was Ben vorgeschlagen hat? Wir basteln heute mit Kastanien und Laub.«
Die Kinder riefen laut durcheinander. Einige hatten schon genaue Vorstellungen, was sie benötigten, um daraus Eulen, Schlangen oder andere Tiere zu basteln.
»Theresa, fertig werden! Wir wollen los«, forderte Ben altklug das blonde Mädchen neben sich auf.
Sie war immer die Letzte. Die kleine Tagträumerin war noch dabei, die geflochtenen Zöpfe behutsam unter ihrer Strickmütze zu verstecken, als die Erzieherin sie vorsichtig aus der Tür schob.
»Wartet, Kinder! Stellt euch bitte immer zu zweit zusammen, bevor wir losgehen.«
»Guten Morgen, Ruth!«
»Morgen, Karin! Na, haben wir wieder mal verschlafen?«, fragte Ruth die junge Praktikantin, die gerade noch rechtzeitig ihr Fahrrad am Zaun angelehnt hatte und sich eilig der Gruppe anschloss.
»Nein, ich habe nicht verschlafen«, beeilte sich Karin zu erklären. »Meine Mutter wird heute operiert. Ich habe sie ins Klinikum gebracht und hole sie heute Nachmittag wieder ab.«
»Ach so.«
»Die Anmeldung hat ewig gedauert. Die Chipkarte konnte nicht eingelesen werden und dann fiel die Technik komplett aus«, begründete Karin ihr spätes Erscheinen.
Die beiden Erzieherinnen machten sich mit der Gruppe auf den Weg. Einige Kinder sangen und sammelten dabei entlang des Schleifmühlenwegs Kastanien und bunte Blätter. Sie stopften die nassen Kastanien in ihre Jackentaschen und hielten freudestrahlend glitschige Blätter in allen Farben in die Höhe.
Ben erzählte der Praktikantin von seinem Vater. »Mein Dad ist doch Acholoooge …«
»Archäologe heißt das, Ben«, verbesserte ihn Karin.
»Dann eben Archeeeeloge«, wiederholte Ben und rollte dabei genervt mit den Augen. »Er hat Schätze im Schloss ausgegraben. Da buddelt er gerade herum.«
»Ja? Was hat er denn gefunden?«, fragte ein anderer Junge mit neidvollem Blick.
»Alte Münzen aus Gold. Die sind total wertvoll!«
»Mein Papa ist Straßenbahnfahrer. Ich durfte sogar schon mal vorne mitfahren«, gab der Junge zurück und wollte damit beweisen, dass sein Vater auch einen wichtigen Job ausübte.
Die kleine Theresa weigerte sich, ein anderes Kind anzufassen. Sie ging lieber an der Hand von Karin. Da fühlte sie sich sicher. Der Wind wehte durch die alten Kastanienbäume und ließ das abgefallene Laub auf der Straße tanzen. Die Gruppe hatte gerade den Kreuzungsbereich an der Schleifmühle erreicht, als ein leichter Nieselregen einsetzte. »Kinder, wir drehen um! Zum Faulen See gehen wir ein anderes Mal. Und zum Jugendtempel schaffen wir es bei diesem ungemütlichen Wetter auch nicht.« Ruth breitete ihre Arme aus und hielt die Kinder vom Weitergehen ab.
»Ohhhh!«, riefen die Kinder wie im Chor und sammelten noch rasch Kastanien ein.
Nur die kleine Theresa hatte schon ganz kalte Hände und war froh, dass es zurück in den Kindergarten ging. Dort war es warm und außerdem warteten neue Spielsachen auf sie. Plötzlich löste sie ihre Hand aus der Hand der Praktikantin. »Tante Karin, schau mal!«
»Lass uns zurückgehen, Theresa! Sonst werden wir alle nass bis auf die Haut.« Karin nahm Theresas Hand und folgte der Gruppe, die sich aufgrund des stärker werdenden Regens immer schneller in Richtung Kindergarten zurück bewegte.
»Schau doch mal!« Theresa ließ nicht locker. »Da drüben – die große Puppe.« Sie befreite sich aus der Hand der Erzieherin und blieb stehen. »An der Mühle, Karin«, bat das Mädchen erneut. Sie schaute fasziniert auf das große Rad der historischen Schleifmühle.
»Oh, Gott!«, kam Karin über die Lippen, als sie entdeckte, worüber Theresa sprach, und ihrem Blick folgte. »Ruth, warte! Hast du ein Handy dabei?«
»Ja, habe ich«, antwortete Ruth, ohne ihren Blick von der Straße und den Kindern abzuwenden, die ausgelassen zurück in Richtung Kindergarten marschierten. Das Wetter machte ihnen nichts aus.
»Ruf bitte die 110!« Karin bemühte sich, keine Panik aufkommen zu lassen. Sie wählte absichtlich nicht das Wort Polizei. Sie wollte die Kleinen nicht beunruhigen. »Schau mal auf die Schleifmühle! Die große Puppe, die dort am Rad befestigt ist. Die wird ganz nass.«
Ruth warf einen Blick über die Schulter und an ihrem Gesicht konnte Karin ablesen, dass die Erzieherin den Ernst der Lage begriffen hatte. »Ja, du hast recht«, sagte Ruth. »Ich kümmere mich darum. Lauf mit den Kindern das letzte Stück zurück, damit sie nicht völlig nass werden.«
Mit energischen Worten sicherte Karin sich die Aufmerksamkeit der Kinder, versammelte sie in Zweierreihen und führte sie so schnell wie möglich zurück zum Kindergarten.
»Was ist denn mit der Puppe?«, fragte Theresa schnaufend, während sie sich bemühte, an Karins Hand mit ihr Schritt zu halten.
»Tante Ruth kümmert sich jetzt um die Puppe. Die darf nicht nass werden. So eine große Puppe mit so hübschen Sachen ist sehr teuer.«
Wenige Minuten später erreichten sie den Kindergarten gegenüber des Kavaliershauses. Die Kleinen kramten ihre Kastanien aus den Jackentaschen und verglichen lauthals ihre Schätze. Der übliche Lärmpegel setzte ein, den Karin jedoch nur wie durch einen Wattebausch wahrnahm. Sie musste sich erst einmal hinsetzen. Ihre Beine schlotterten in der engen Jeans und ihre Hände zitterten.
»Bist du krank, Tante Karin?«, fragte Theresa besorgt.
»Nein, mir ist nur kalt«, antwortete sie dem Mädchen, das sie mit großen Augen ansah. Es kostete sie alle Kraft, das Kind anzulächeln.
Theresa ergriff Karins Hand und rieb sie, so wie die Erwachsenen es auch bei ihr machten. »Das ist gleich vorbei, Tante Karin. Hier ist es doch schön warm.«
Ruth stand immer noch fassungslos an der Schleifmühle. Der Nieselregen hatte den Schulterbereich ihres Mantels durchnässt. Ihre Haare klebten im Gesicht. Ihr kalter Zeigefinger hatte den Notruf der Polizei auf dem Display ihres Handys eingegeben. Sofort meldete sich ein Polizist.
»Bitte kommen Sie schnell zur Schleifmühle! Am Rad der Schleifmühle ist eine Frau festgebunden. Ich glaube, sie ist tot.« Mehr brachte Ruth nicht über ihre Lippen. Sie hatte in der Aufregung vergessen, sich namentlich vorzustellen, und war nicht in der Lage gewesen, weitere Sätze zu formulieren. Sie steckte ihr Handy in die Manteltasche und hielt sich dann die Hand vor den geöffneten Mund, um nicht laut zu schreien. Mit schreckgeweiteten Augen suchte sie die Gegend rings um die Schleifmühle ab. Entsetzt starrte sie auf die Frau, die einen Minirock, hohe dunkle Stiefel sowie eine kurze sportliche Lederjacke trug und ausgestreckt wie ein großes X am Rad der Schleifmühle befestigt war.
»Au … au … höhen!«, bat Hauptkommissar Berger mit weit geöffnetem Mund.
Seine Zahnärztin nahm sofort den Bohrer aus seiner Mundhöhle und sah ihn aufmunternd an. »Wir sind doch gleich fertig, Herr Berger«, ermutigte sie den Hauptkommissar und steckte den Bohrer in die Halterung zurück.
»Mein Handy vibriert in der Hosentasche. Es muss dringend sein.«
»Bärbel, bitte bereiten Sie die Füllung vor«, bat Frau Dr. Rossberg ihre zahnmedizinische Assistentin.
Währenddessen setzte Berger mit seiner linken Hand einen Plastikbecher mit Wasser zum Spülen an seine Lippen und kramte mit der anderen Hand sein Handy aus der Hosentasche. »Na, was gibt es Dringendes?«, fragte er, nachdem er ausgespuckt hatte.
»Kennst du den vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci?«, antwortete Lars Paulsen.
»Sag mal, hast du was genommen? Fass dich kurz und komm auf den Punkt! Ich liege gerade auf dem Behandlungsstuhl meiner bezaubernden Zahnärztin und warte auf eine Füllung.«
Die Ärztin schmunzelte ihrer Mitarbeiterin zu und freute sich insgeheim über das Kompliment.
»Na, die Skizze von da Vinci, wo ein nackter Mann mit gestreckten Armen und Beinen in einem Kreis dargestellt ist.«
»Ja, die kenne ich. … ist auch auf meiner Chipkarte der Krankenkasse drauf.«
»Richtig! So musst du dir unsere Leiche vorstellen. Wir sind gerade an der Schleifmühle und machen Fotos von einer Frau, die am Rad der Mühle so gefesselt hängt.«
»Ach du Scheiße!«, rutschte es Berger heraus. »Ich komme gleich. Von der Moritz-Wiggers-Straße brauche ich nur ein paar Minuten.«
»Schon wieder ein Mord?«, fragte die Ärztin nach, hielt den Bohrer startbereit in der Hand und schob sich mit dem Handrücken ihre Schutzbrille auf der Nase in die richtige Position. »Ich weiß, Sie haben Schweigepflicht.«
»Ja, wir haben eine tote Frau und ich muss schnellstens los. – Die genauen Details können Sie morgen in der Zeitung lesen.«
»Eine Minute, Herr Berger, einmal bohren und die Füllung, dann haben Sie wieder ein halbes Jahr Ruhe vor mir.«
Berger schaute in die grünen Augen seiner Zahnärztin, grinste ein wenig und gab nach. Sie lächelte und der Bohrer setzte pfeifend seine Arbeit am rechten Backenzahn fort.
Nachdem Berger seine Füllung erhalten hatte, verabschiedete er sich von der Ärztin und nahm seine Jacke vom Garderobenständer. »Bis zum nächsten Mal, Frau Dr. Rossberg!«
»Ja, beehren Sie mich bald wieder!«
›Hoffentlich nicht allzu bald‹, dachte Berger und nickte ihr freundlich zu. Dann lief er die Moritz-Wiggers-Straße hoch in Richtung Paulskirche und entriegelte schon von Weitem per Funkbedienung seinen Wagen, stieg ein und startete das Auto. Von einer Sekunde zur anderen war der Flirt mit seiner Zahnärztin vergessen. Er stellte sich gedanklich auf den Fundort der Frauenleiche ein. Auf der Fahrt kramte er seine Chipkarte aus der Jacke und schaute auf das Da-Vinci-Motiv mit dem Kreis, das links neben der weißen Aufschrift ›AOK‹ platziert war. Ein Mann, schlank, mit lockigem Haar, der mit vier Armen und vier Beinen in idealisierten Proportionen dargestellt war. Berger googelte auf seinem Smartphone, während er am Schloss vorbeifuhr, nach der Skizze von da Vinci. An der Ampel am Burgsee überflog er den Text: ausgestreckte Extremitäten, überlagerte Positionen, Fingerspitzen und Fußsohlen berühren einen Kreis und ein Quadrat. Der Hauptkommissar stellte sich vor seinem inneren Auge nun eine Frau in der gleichen Position vor. Er begann zu frösteln. Langsam ließ die Betäubung, die er sich vorsorglich hatte spritzen lassen, in seiner rechten Wange nach.
Frauenärztin Lea Engel nahm sich Mittwochnachmittag immer Zeit für persönliche Erledigungen. Gerade hatte sie sich nach der letzten Patientin einen Tee gekocht und Hilde, ihrer Sprechstundenhilfe, Unterlagen übergeben, die diese sorgfältig in die Hängeregistratur einsortierte. »Ich will heute auf den Friedhof und das Grab meiner Oma winterfest machen«, erzählte sie Hilde.
»Ja, der Totensonntag steht bevor. Ich habe auch schon ein Gesteck aus Tannengrün gekauft«, antwortete sie und hob eine Patientenakte auf, die ihr aus der Hand gerutscht war.
»Die fertigen Gestecke sind mir viel zu teuer. Ich habe schöne Blautannen im Garten. Die Zeit, um ein liebevolles Gesteck herzustellen, nehme ich mir. Ich finde es persönlicher als so ein gekauftes Ding«, erwiderte Lea.
»Das stimmt allerdings. 20 Euro für ein bisschen Tannengrün ist ganz schön heftig«, gab Hilde ihr recht.
»Ich kann dir gern nächstes Jahr ein paar Zweige mitbringen, wenn du mich rechtzeitig erinnerst«, bot Lea an.
»Das wäre schön. Ich hole sie mir dann bei dir in Wittenförden bei Gelegenheit ab.«
Lea zog den Arztkittel und die weiße Hose aus. Sie schlüpfte in ihre Jeans, einen dunklen Rolli und freute sich bei dem nasskalten Wetter auf ihre neue Daunenjacke. Das schicke taillierte Stück hatte sie vor ein paar Tagen zum Geburtstag von ihrem Freund bekommen, der es nicht länger ertragen konnte, sie ständig in einem schon etwas älteren Mantel frieren zu sehen. »Tschüss, bis morgen und einen schönen Feierabend!«, rief sie laut durch den Wartebereich der Praxis und zog den Reißverschluss hoch.
»Danke, dir auch«, antwortete Hilde ihrer Chefin und fuhr bereits ihren Computer herunter.
Lea ging zügigen Schrittes von der Mecklenburgstraße zum Parkhaus gegenüber der Burgsee-Galerie. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schrieb eine SMS an ihren Freund: ›Fahre kurz zum Friedhof und freue mich heute Abend auf dich! Ich mache uns den Kamin an und erwarte dich!‹ Sie setzte noch zwei rote Herzchen hinter die Sätze und schickte die Nachricht ab.
Wenige Minuten später erhielt sie die Antwort: ›Warte nicht auf mich, kann spät werden, wir haben eine Tote. Bin in Eile!‹
›Schade‹, dachte Lea, ›aber so ist es nun einmal, wenn man mit einem Kommissar zusammen ist.‹ Sie setzte sich in ihren Wagen und fuhr aus dem Parkhaus in Richtung Waldfriedhof. Dort parkte sie ihr Auto wie gewohnt vor dem Steinmetz-Geschäft und holte die Tannenzweige vorsichtig aus dem Kofferraum. Ihre Handtasche legte sie unter eine Decke, sodass diese nicht gleich zu sehen war, wenn man durch die Heckscheibe ihres Wagens blickte.
Auf dem Weg zur Grabstelle ihrer Oma sah sie kaum Leute. Nur ein älteres Ehepaar kam ihr entgegen. Er trug eine Harke und eine Gießkanne. Sie humpelte leicht und schob einen Rollator langsam vor sich her. Ansonsten hatte sich bei dem schmuddeligen Wetter niemand auf das große Friedhofsgelände verirrt. Lea hätte auch einen anderen Tag hinfahren können. Aber ihr Leitspruch »Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen« war ein fester Bestandteil in ihrem geordneten Leben und hatte sich schon oft bewährt. Sie hatte sich den heutigen Tag für die Friedhofsarbeit ausgesucht und so sollte es dann auch sein.
Fast an der Grabstelle ihrer Oma angekommen, bedauerte sie, nicht wenigstens ihr Handy eingesteckt zu haben. Ihr war etwas mulmig auf dem großen Friedhof. Sie verdrängte den Gedanken, als sie plötzlich auf dem Weg ein Eichhörnchen erblickte, das ein paar Meter vor ihr sitzen blieb. ›Wie niedlich‹, dachte sie. Und schon war es in Windeseile den Stamm einer morschen Eiche hochgespurtet und wieder verschwunden.
Am Grab angekommen, begrüßte sie ihre Großmutter. Sie zog ein Teelicht in einem kleinen Glas aus der einen Jackentasche. Es war seit dem Tod ihrer Oma ein Ritual von Lea, erst einmal kurz mit ihr zu sprechen. Sie war froh, dass selten jemand in der Nähe war, der ihre Selbstgespräche hören und sie für verrückt halten konnte. Langsam ging sie in die Hocke und stellte das angezündete Teelicht dicht am Grabstein ab, sodass der Wind es nicht so leicht auslöschen konnte. Liebevoll erzählte Lea Neuigkeiten über ihre Tochter und ihre neue Liebe. Dann beteuerte sie ihrer Oma wie immer, dass sie ihr sehr fehlte. Lea wurde wehmütig, als sie den Namen in den goldenen, eingemeißelten Buchstaben auf dem dunklen, polierten Granitstein las. Sie entfernte ein paar alte Chrysanthemenbüsche und harkte sorgfältig nasses Laub zusammen, das sich von den umliegenden Pappeln angesammelt hatte. An die Gummihandschuhe, die sie sonst immer dabeihatte, um ihre Hände zu schonen, hatte sie diesmal nicht gedacht. Sie schob die alten Pflanzen und das Laub mit den Händen zu einem kleinen Häufchen zusammen, das sie später zu einer Laubtonne wegbrachte. Als sie die Arbeit beendet hatte, sagte sie: »So, mein Schatz, das war es für heute.« Sie rückte das kleine Teelichtglas im Tannengrün in eine feste Position, sodass es nicht umkippen konnte. Dabei bemerkte sie ihre schmutzigen Hände. Vorsichtig zog sie mit zwei Fingern ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und bemühte sich, dabei keinen Schmutz an ihre Kleidung zu schmieren. Sie verabschiedete sich von ihrer toten Großmutter und versprach, bald wiederzukommen.
Lea wählte einen kleinen Umweg an hohen Büschen vorbei, um an das große Becken zu kommen, aus dem sie sonst abgestandenes Regenwasser für Blumengefäße schöpfte. Als sie sich hinunterbeugte, um wenigstens grob ihre Hände zu reinigen, hörte sie plötzlich hinter sich ein Rascheln. Als sie sich umdrehen wollte, packte sie jemand von hinten. Vor Schreck schrie sie laut auf und versuchte instinktiv, sich aus der Umklammerung zu befreien. Sie konnte sich nicht wehren, da ihr der nasse Boden keinen Halt gab. Sie schrie, so laut sie konnte. Der Schrei verhallte auf dem großen Friedhofsgelände, als sich eine Hand in ihrem Haar festkrallte und ihren Kopf in das Wasserbecken tauchte. Das Wasser schwappte mit einer Welle über den Rand. Leas verzerrtes Gesicht wurde ins Becken gedrückt. Ihr Mund, vom Schreien noch geöffnet, nahm das schmutzige Regenwasser auf, das in ihren Hals und ihre Lungen gelangte. Sie verschluckte sich. Dann war es plötzlich still.
»Wissen wir schon, wer sie ist?«, fragte Berger die Kollegen der Spurensicherung. Das Gelände um die Schleifmühle war großräumig abgesperrt. Das rot-weiße Trassierband flatterte im Wind. Der Regen wurde kräftiger.
»Nein, sie hat nichts an Papieren dabei. An diesem Ort wurde sie vermutlich nicht getötet«, ließ ihn der Rechtsmediziner wissen und unterbrach kurz seine Untersuchungen. »Dem ersten Anschein nach kein Sexualverbrechen. Nach der Leichenstarre zu urteilen, liegt der Todeszeitpunkt ungefähr sechs Stunden zurück.«
»Okay, ich muss mir den Fundort genau anschauen, und dann könnt ihr sie in die Rechtsmedizin mitnehmen.« Berger schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch. Er ging mit den Händen in den Jackentaschen um die Schleifmühle herum. »Beeilt euch, Jungs, der Regen wird heftiger! Bald haben wir keine Spuren mehr«, trieb er seine Kollegen an.
»Wir haben eine Autospur sichern können. Fußabdrücke im Gras konnten wir nicht feststellen. Ein Suchhund hat die Fährte bis zu den Reifenabdrücken aufgenommen. Dort ist Schluss«, sagte ein Beamter der Spurensicherung.
Berger kroch die Kälte langsam von den Füßen über die Beine den Rücken hinauf. Er holte sein Handy aus der Jackentasche und schoss ein paar Fotos. Er hatte sich angewöhnt, selbst einige Fotos mit dem Smartphone aus verschiedenen Perspektiven für weitere Ermittlungen zu machen.
Die Bilder vom Tatort zeigten eine zierliche Frau. Er schätzte ihr Alter auf etwa zwanzig Jahre. An ihrem Hals waren eindeutig Würgemale zu erkennen. ›Armes Ding‹, dachte Berger, ›jung, vermutlich erwürgt und auf makabre Weise vom Täter oder der Täterin entsorgt. Wer beseitigt auf diese Art eine Leiche?‹ Er oder sie hätte die Frau simpler verschwinden lassen können. Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht und die Leiche an das Rad einer Mühle gefesselt? Jederzeit hätten Anwohner des Schleifmühlenweges etwas bemerken können. ›Absolut riskant‹, stellte Berger fest.
»Sag mal, Gerlinde, wo ist deine Handtasche?«, fragte Herbert kurz vor dem Blumenladen am Waldfriedhof und suchte den Rollator seiner Frau ab.
»Oh Gott, die habe ich liegen lassen. Lauf, Herbert! Hoffentlich hat sie keiner geklaut.« Gerlinde zitterte vor Aufregung und ärgerte sich über ihre Vergesslichkeit. In den vergangenen Tagen spürte sie, dass sie häufiger Gegenstände verlegte oder Dinge vergaß. Tränen rollten ihr über das Gesicht, nachdem ihr Mann sie am Friedhofseingang mit dem Rollator stehengelassen hatte. Sie blickte ihm hinterher und hoffte, dass er die Tasche finden würde. Autoschlüssel, Geldbörse und Handy waren darin verstaut.
Herbert war erleichtert, als er in der Ferne schon Gerlindes Tasche am Grab seiner Eltern stehen sah. Er verlangsamte schnaufend sein Schritttempo. »Mannomann, da haben wir noch einmal Glück gehabt!«, murmelte er vor sich hin, als er die Handtasche aufhob. Er warf gleich noch einen Blick hinein und konnte beruhigt feststellen, dass offenbar nichts darin fehlte. Er klopfte den Boden der Tasche mit seiner Hand ab, als er plötzlich Hilferufe hörte. Der alte Mann hielt den Atem an und lauschte, um sicherzugehen, sich nicht getäuscht zu haben. Tatsächlich, jemand rief laut um Hilfe. Er blickte sich um und suchte das Areal um die naheliegenden Grabstellen ab.
»Hilfe! Hilfe!« Lea kroch in ihrer nassen Kleidung auf dem feuchten Boden entlang.
Herbert sah die Frau ungefähr zwanzig Meter von sich entfernt auf sich zu robben und rannte ihr sofort entgegen. »Oh Gott, sind Sie verletzt? Was ist mit Ihnen?« Herbert zitterte und ließ die Tasche seiner Frau fallen.
»Ich bin überfallen worden. Es ging alles so schnell. Bitte rufen Sie die Polizei!«, forderte Lea den älteren Mann auf. Sie war froh, dass sie nicht mehr allein war. Sie fror und das nasse Haar klebte an ihrem Kopf.