Das unendliche Buch
Roman
Aus dem Französischen
von Ralf Pannowitsch
Originaltitel:
Noëlle Revaz: L’Infini livre
© Éditions Zoé, 11 rue des Moraines
CH-1227 Carouge-Genève, 2014
Die Übersetzung wurde gefördert
von der Stiftung Pro Helvetia.
Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2017
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
ISBN (Print) 978-3-8353-1870-0
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4107-4
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4108-1
Das dritte Buch der Romanautorin Jenna Fortuni war am 3. Januar erschienen. Die genaue Stunde seines Erscheinens war schwer zu bestimmen, denn wie gewöhnlich hatte der Verlag darauf bestanden, das Geheimnis so lange wie möglich zu hüten. Dann aber, irgendwann am Vormittag, schoss das Buch in den Schaufenstern plötzlich zu Tausenden empor. An den Supermarktkassen erblühte es in üppigen Kaskaden. Es prangte auf den Verkaufsständern. Trauben von Büchern türmten sich in den Freizeitabteilungen. Es wurde in den Läden gesichtet, und natürlich entdeckte man es bald in Bussen und Bahnen, wo es die Plastiktüten einer wachsenden Zahl von Käufern schmückte.
Dank seines fein ausgearbeiteten Umschlags, auf dem Rottöne vorherrschten, ließ sich das Buch auf den ersten Blick erkennen. Seine Oberfläche war ein Relief mit verschiedenen Höhenlagen, und der Finger konnte darauf herumwandern. Eine dieser Lagen wirkte wie Zinn oder Blei. Der eigentliche Untergrund des Umschlags war glatt. Rechterhand changierte das Rot in manchen Höhlungen zum Orangen hin. In anderen Vertiefungen wirkten winzige Silberseen wie Spiegel, in denen man seine Augen erblicken konnte. Das am deutlichsten erkennbare Motiv war eine Schlange mit kantigem Kopf, die sich waagerecht über zwei Drittel des Umschlags schob. Ihr Haupt war nur schemenhaft ausgearbeitet, aber das störte nicht, denn auf diese Weise erinnerte sie eindeutig an die Schlangen der Azteken oder Inkas. Über ihren Rücken lief ein Grat aus rechteckigen, ungleichen Zinnen, der an Kinderzeichnungen denken ließ. Manche Kritiker sprachen bereits von der Schlange der Erkenntnis, andere vom Baum des Lebens. Der Name der Autorin stand neben dem Verlagsnamen und war mit den Fingern zu ertasten. Allerdings konnte man diese beiden Namen gar nicht verwechseln, denn die Gewohnheiten und die Kenntnis des Buchmarkts waren derart ausgeprägt, dass die Käufer sie instinktiv auseinanderzuhalten wussten.
Wenn man das Buch um neunzig Grad drehte, bot es seinen Rücken dar. Er bildete eine Übergangszone zwischen dem Cover und der Rückseite. Auch er war sorgfältig durchgestylt, allerdings auf eine schlichtere Weise, die keinen Zweifel daran ließ, welche Seite man bewundern sollte. Von oben nach unten folgten vier stilisierte Motive aufeinander. Wenn man das Buch noch ein wenig drehte, gelangte man zum Umschlagrückseite. Sie war mit goldener Farbe überzogen und in Weiß, Grün, Purpur und Zinnoberrot illuminiert. Darauf die Worte Bezauberung, verblüffend, Buch, überwältigend und schön. Man spürte sofort, dass sie in den Mündern eine Menge Wasser zusammenlaufen lassen würden. Auch die Namen mehrerer bekannter Fernsehmoderatoren waren dort aufgeprägt. Diese Texte hatte man im oberen Teil der Seite platziert. Die beiden Drittel darunter waren leer. Eine goldfarbene Substanz, die glänzte und dennoch nicht blendete, bedeckte diese Fläche.
Der Buchschnitt schließlich wirkte kompakt und gedrängt. Das Buch hatte gewiss viele Seiten. Auch das Lesebändchen war goldfarben. Es ragte ungefähr vier Zentimeter aus dem Buch heraus und gabelte sich unten auf. Die Farbe des Lesebändchens wechselte mit jeder Auflage. Verfasst hatte das schöne Buch die Schriftstellerin JENNA FORTUNI.
Diese Romanautorin war von der Literaturkritik schon vor Langem entdeckt worden. Bereits in der Vergangenheit hatte sie gute Verkaufszahlen gehabt, und man durfte damit rechnen, dass ihr Erfolg noch wachsen würde.
Das Erscheinen des Buches wurde gefeiert. Die Buchpremiere übertrug man live im Fernsehen. Das Event fand im Museum der Buchbindekunst statt, dessen alte und reizende kleine Treppen man hinaufsteigen musste. Für das Fest hatte man einen der größten Ausstellungsräume reserviert. Es summte darin wie in einem Bienenstock. Die Romanautorin Jenna Fortuni schlenderte mit strahlendem Lächeln, ein Glas Sekt in der Hand, inmitten einer Gruppe von Freunden herum. Die Kameras zoomten die Szene heran. Sie erstatteten Bericht über den Erfolg.
Den Umschlag von Jenna Fortunis Buch hatte man kunstvoll auf die vier Wände projiziert. Auch auf den Tischen war das Buch präsent, in hunderten Exemplaren, die man zwischen den Blätterteigpastetchen des Buffets verteilt hatte. Die zahlreich erschienenen Freunde und Bewunderer griffen nach der Neuerscheinung. Sie ließen an den Bänden Fingerspuren zurück, die von zusätzlich angeheuerten Assistentinnen eilends abgewischt wurden.
Einer der Geladenen, ein etwa sechzigjähriger Herr mit Brille, begann plötzlich mit lauter Stimme zu erklären, dass ein so weit verbreitetes Objekt wie ein Buch schon an sich ein magischer Gegenstand sei. Es sei eins, und zugleich sei es Tausende. Es könne sowohl einzigartig sein als auch weltweit in den Läden existieren. Und das, bitteschön, im selben Moment. Ein Buch besaß die Gabe, sich zu vermehren. Es besaß jene Gabe der Allgegenwart, die die Menschen so oft herbeisehnten. Und zum Abschluss fragte der Herr: Wünschte der Mensch sich im Geheimen nicht, Buch zu sein?
Die Menge applaudierte wie ein Mann. Der Herr tat ein paar Schritte zur Seite, und nach und nach wurde den Zuschauern klar, dass das, was sie für eine spontane Wortmeldung gehalten hatten, die offizielle Festrede gewesen war, rezitiert von einem Schauspieler.
Jenna konnte nichts davon hören. Sie war auch nicht in der Lage, die Fragen ihrer treuen Käufer zu beantworten. Man hatte sie gebeten, vor einem Objektiv stehen zu bleiben, und nun war sie einer Fernsehsendung in Kanada live zugeschaltet. Die geladenen Gäste hinter ihr bildeten die perfekte Kulisse. Das Diskussionsthema wurde erst zu Beginn der Sendung festgelegt. Jenna hatte an diesem Abend kein Glück; es sollte um wildlebende Biber gehen, und darüber wusste Jenna überhaupt nicht Bescheid. Auch ihren Bildschirm konnte sie nicht zurate ziehen, denn sie hatte das Gerät in ihrer Handtasche vergessen. Also sprach Jenna über Ahornsirup und hoffte, dass die Wörter hinter ihrer Maske unbemerkt durchrutschen würden.
Schließlich ging die Sendung zu Ende. Eine Assistentin nahm Jenna das Ansteckmikrofon ab, und dann brachte man sie mit dem Auto in ein Fernsehstudio, wo sie zu einer Sendung stieß, die bereits begonnen hatte. Jennas Auftritt hatte etwas Improvisiertes. Die Talkmaster empfingen sie mit lauten Ausrufen und taten so, als würden sie mit ihr schimpfen. Trotzdem dankte man ihr fürs Kommen.
Jenna ließ sich auf dem ihr zugewiesenen Platz nieder und nahm die anderen Gäste unter die Lupe. In dieser Sendung saßen Schriftsteller und mehrere Stars auf dem Podium. Wie gewöhnlich waren es allesamt in die Falle gegangene Stars. Jenna Fortuni sagte sich, dass man inzwischen nur noch selten auf einen Star traf, der nicht in die Falle gegangen war. Und war das nicht auch völlig normal? In die Falle zu gehen war für einen Star so etwas wie eine Bestätigung: die Gewissheit, wirklich ein Star zu sein.
Einer der anwesenden Stars war erstaunlicherweise noch nicht eingefangen worden. Es handelte sich um einen ganz jungen Schauspieler mit heller Haut. Die beiden Talkmaster waren ihm gegenüber besonders eifrig und beflissen. Sie fragten ihn, wie es sein könne, dass er niemals in die Falle gegangen war. Dieser junge Mann trat seit fast zwei Jahren in den Kreisläufen in Erscheinung. Man konnte ihn häufig in Talkrunden sehen, und doch hatte niemand auch nur den geringsten Beweis ausfindig machen können, der belegt hätte, dass er schon einmal in eine Falle getappt war. Die Talkmasterin fragte den jungen Schauspieler, ob er etwa versuchen wolle, ein Star zu sein, ohne den wahren Preis dafür zu zahlen. Ihr Kollege sagte die Zukunft voraus: Der junge und hübsche Schauspieler werde sich nicht so einfach aus der Affäre ziehen können. Sämtliche Stars waren in die Falle gegangen, selbst die legendärsten. Es gab sogar welche, die man posthum reingelegt hatte, indem man Jugendbilder von ihnen hervorgezaubert hatte, auf denen ein beträchtlicher Teil ihres Wesens offengelegt wurde – und das natürlich in unvorteilhafter Perspektive.
Jenna beteiligte sich an diesem Wortwechsel nicht. Als Romanautorin brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Romanautorinnen wurden nicht in die Falle gelockt. Jenna glaubte, dass es an den Büchern lag, die so etwas wie Wandschirme waren. Schauspieler hingegen standen mit ihren Körpern und Gesichtern sofort an vorderster Front. Freilich, in letzter Zeit waren auch ein, zwei Romanautorinnen reingelegt worden. Verwechslungen waren unvermeidlich; Moderatoren und Fernsehzuschauer mischten so schnell alles durcheinander, und es konnte vorkommen, dass man einen Schauspieler für einen Maler hielt, einen Maler für einen Schriftsteller oder einen Schriftsteller für einen Experten. Im Grunde änderte sich dadurch nicht viel. Es waren immer noch liebenswürdige und gut gekleidete Leute, und jeder Zuschauer kannte ihre Gesichter, ihre Namen, ihre heimlichen Wunden und ihre bevorzugten Urlaubsorte.
Als Jenna gerade über diese Dinge nachdachte, wurde sie vom Talkmaster angesprochen. Er fragte sie, wann ihr nächstes Buch erscheinen werde. Jenna wusste die Antwort: Ihr nächstes Buch war für heute in achtzehn Monaten programmiert. Der Talkmaster ließ nicht locker: Durfte man denn auch schon die Stunde erfahren? Jenna sagte, dies müsse wie üblich geheim gehalten werden. Die Talkmasterin schaltete sich ein und erlaubte es sich, noch einmal nachzubohren: Konnte Jenna es ihren treuen Fernsehzuschauern denn wirklich nicht verraten? Leicht genervt gab Jenna nach. Sie enthüllte, dass das Buch mitten am Vormittag herauskommen werde, und zwar fünfzehn Minuten nach einer vollen Stunde. Die Talkmaster jubelten und sprachen ihr Schlusswort, und dann lief auch schon der Abspann.
Da man den Erfolg vorausgesehen hatte, war dem dritten Buch von Jenna Fortuni eine gewisse Anzahl von Fernsehsendungen gewidmet. Derweil das Buch von den Moderatoren in die Kameras gehalten oder auf den niedrigen Tischen des Podiums zur Schau gestellt wurde und Jenna es sich angelegen sein ließ, auch noch die trivialsten Fragen zu beantworten, wurden ihr erstes und zweites Buch in Spätherbstfarben und fünffacher Vergrößerung an die Rückwand des Studios projiziert. Auch sie waren erfolgreich gewesen.
Jennas erstes Buch zeigte eine strenge Oberfläche, die mit Samt gepolstert und mit kleinen Perlen bestückt war. Das zweite war ganz in Orangetönen gehalten und wies eine gewisse Verwandtschaft mit dem dritten auf. Daher waren die Kommentatoren auch nicht überrascht gewesen, als das dritte Buch angekündigt worden war und die Exemplare dann in den Schaufenstern wie Pilze aus dem Boden schossen.
Die Romanautorin Jenna Fortuni wandelte von einem Podium zum nächsten. Wenn sie sich müde fühlte, schottete sie sich einfach für eine Weile ab und verschwand in ihrer Wohnung, wo sie sich, wie es in den Zeitungen hieß, gemeinsam mit ihrem Mann entspannte. Am nächsten Tag oder auch nur ein paar Stunden später konnte man sie schon wieder in den Fernsehmagazinen erleben.
Im tiefsten Herzen hätte Jenna es gern gesehen, wenn ihr die Moderatoren manchmal auch andere Fragen gestellt hätten. Sie fand es in Ordnung, präsentiert zu werden und einem jeden ihr Gesicht zu zeigen, auf das bisweilen der Umschlag ihres Buches projiziert wurde, was dann wie Rouge aussah. Aber manchmal verspürte sie so etwas wie den Wunsch, die Sendung kippen zu lassen, indem sie beispielsweise eigenmächtig das Wort ergriff und womöglich Dinge sagte, die nicht auf dem Buch standen. Die Moderatoren waren geduldig. Sie regten sich nicht auf, wenn Jenna die Antwort nicht fand. Sie stellten ihre Frage dann noch einmal. Da sie sonst keine Sendungen guckten, waren sie in Sachen Fernsehen jungfräulich und frei.
Was Jenna an den Moderatoren am meisten mochte, war ihre Fähigkeit, einfach alles zu schlucken. Auf ihren Stirnen stand die ganze Zeit geschrieben: Tief bewegt. Was Jenna an den Moderatoren weniger gefiel: Sie waren nie zufrieden. Immer wollten sie mehr. Sie waren bereit, einen völlig ausbluten zu lassen. Wenn man erst einmal begann, einem Fernsehmoderator zu antworten, kam man nie irgendwo an.
Wenn sich Jenna mit ihrem Mann unterhielt, sprach sie manchmal von dem Moment, an dem sie eine endgültige Antwort finden würde. Sie wusste nicht, was geschähe, wenn sie diese Antwort eines Tages formulieren würde. Sicher käme ein unendliches Schweigen auf. Der Moderator würde wahrscheinlich vom Stuhl fallen. Der Regisseur wäre wie vom Blitz getroffen. Auf jeden Fall, sagte Jenna zu ihrem Mann, war diese Antwort noch nie ausgesprochen worden, denn würde es sonst überhaupt noch solche Fernsehsendungen geben?
Jennas Mann nickte. Er war derselben Meinung. Auch er war ein Erfolgsautor. Er hatte Bücher veröffentlicht. Inzwischen war das nicht mehr nötig. Die Welt fraß ihm aus der Hand, und wenn ihm danach war, konnte er zu jeder Sekunde den Fuß auf ein beliebiges Fernsehpodium setzen. Sein Name konnte nicht ausgesprochen werden, ohne Wirkung zu erzeugen. Jennas Ehemann hieß ÉDEN FELS.
Die Wohnung, in der Jenna und ihr Mann lebten, war ganz und gar cremefarben gestrichen. Entlang der Innentreppe, die kein Geländer hatte, folgten den Stufen an der Wand kleine vergoldete Bilderrahmen. Die Küche hatte farbige Gipswände. Auf den Flechtstühlen des Wintergartens lagen kleine Kissen, darunter ein türkisfarbenes. An den Fenstern gab es einfarbige Rollos, die ein schönes japanisches Licht in die Wohnung dringen ließen. Das Badezimmer war ein weiträumiger Hafen des Lichts. Das Bett im Schlafzimmer des Ehepaars schien genau wie das im Gästezimmer noch keine einzige Nacht benutzt worden zu sein. Die Tagesdecke war schön glatt gestrichen. Wenn man sie sah, verließ einen der Mut bei dem Gedanken an all die Mühe, die bei jedem Zubettgehen und Aufstehen aufgewendet werden musste, um das feinsinnige Arrangement aus Kissen, Blumensträußen und Stoffen fortzuräumen oder wiederherzustellen. Der Fußboden der Wohnung war nicht richtig zu erkennen. Die Reportage endete damit, dass man die Bodenfliesen aus unbehandeltem Tuffstein (praktisch und nicht so schnell verschmutzend) mit den Alpakateppichböden verglich, die überall sonst in Mode waren.
Die zweite Etage von Jennas und Édens Wohnung wurde in den Reportagen nicht gezeigt. Natürlich erwähnte man sie an der entsprechenden Stelle, aber man sprach von ihr wie von einem unzugänglichen Ort. Man fügte stets hinzu, dass sich in jenem Stockwerk die gemeinsamen Arbeitszimmer der beiden Schriftsteller befanden. Auch erklärte man, dass sich die Bewohner einen kleinen Teil von dem bewahren wollten, was man ihre Privatsphäre nannte.
Die meisten Moderatoren und Fernsehzuschauer respektierten diese Entscheidung. Eine solche Zurückhaltung war nicht allzu bedenklich, da man sicher sein durfte, dass es ein Fotoapparat oder eine Filmkamera irgendwann doch einmal schaffen würde, in jenen Bereich hineinzuspähen.
»Wie viel wiegt Ihr Buch eigentlich?«, fragte eine alte Frau, von der jeder wusste, dass sie nicht intelligent war; aus gutem Grund, sie war Schauspielerin. Sie hatte eine Hasenscharte aus Plastik. Der Talkmaster wandte sich amüsiert dem Publikum zu und wiederholte mit einem Augenzwinkern: »Na, wie viel wiegt es wohl, das neue Buch von Jenna Fortuni?« Das Publikum applaudierte und rief im Chor: »1850 Gramm.« Das war ungefähr das Gewicht eines Frühchens von sechs Monaten.
Jenna gab über ihr Buch Auskunft. Außer ihr und der alten Schauspielerin waren noch zwei Schriftsteller eingeladen. Jenna sah schon mit Verdruss den Moment nahen, wo der Talkmaster ihr die unvermeidliche Fragen nach den Werken der beiden Kollegen stellen würde. So lief es nämlich, kein Autor konnte dem entrinnen, und dennoch fielen weder den einen noch den anderen jemals große Kommentare zu den fremden Büchern ein. Jedenfalls war Jenna nie einem Schriftsteller begegnet, dem die Sache leichtzufallen schien. Es lag nicht nur an mangelndem Interesse, sondern auch daran, dass es so eine heikle Aufgabe war. Mehr als einen exzellenten Satz zu finden war wirklich große Kunst.
Zum Glück waren die Talkmaster gut eingearbeitet; sie brillierten in dieser Praxis. Eine ihrer bevorzugten Figuren war der Vergleich. Die Talkmaster waren der Meinung, dass kein Autor ganz für sich dargestellt werden durfte, und daher setzten sie ihre volle Kraft ins Verringern der Unterschiede. Sie ebneten die Besonderheiten so sehr ein, dass sie es schafften, zwei Bücher einander ähnlich werden zu lassen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein hatten. Das sollte vor allem dem Publikum dienen, denn eine zu große Vielfalt konnten die Fernsehzuschauer als bedrohlich empfinden.
Der Talkmaster fragte Jenna, welches Gefühl sie bei dem Buch ihres Nachbarn zur Rechten habe. Dieser Nachbar war bekannt, aber Jenna hatte sich für seine Werke nie interessiert. Jenna sagte, dass das neue Buch ihres Nachbarn, das gerade erst am Vormittag erschienen war, schnörkellos sei, ohne dabei simpel zu wirken. Dem Prinzip des Vergleichens treu, hakte der Talkmaster nach: Glaubte Jenna, dass auch sie dieses Buch hätte schreiben können? Er führte seine Merkmale an. Glaubte Jenna nicht, dass ein Buch mit solchen Merkmalen auch aus ihrem Geist hätte hervorsprühen können? Jenna zog sich aus der Affäre, indem sie mit dem Kinn eine Geste machte, die man als Ja oder als Nein deuten konnte. Sie sagte, sie wolle darüber nachdenken.
Der Talkmaster rief den dritten Schriftsteller zu Hilfe: Hätte denn er genau dieses Buch erschaffen können? Dieser Schriftsteller war kooperativer und antwortete, er könne es sich durchaus vorstellen. Übrigens habe er wirklich schon fast daran gedacht, denn solche schlichten und schnörkellosen Bücher waren genau das, was er mochte. Er fügte hinzu, er spüre eine tief gehende Verwandtschaft zwischen sich selbst und dem ersten Schriftsteller, dessen Buch, er wolle das noch einmal betonen, genau die Art von Werk sei, wie er sie selbst gern geschaffen hätte. Der erste Schriftsteller nickte dazu. Sein Werk sei schlicht und schnörkellos, und ihm selbst falle eine gewisse Verwandtschaft mit der Schöpfung seines Nachbarn auf. In diesem Augenblick wurden im Hintergrund Bilder von ihren beiden Büchern projiziert: Auf dem grauen Umschlag des ersten waren nur die Namen des Autors und, fettgedruckt, seines Verlages zu sehen. Dieses Buch war etwa 15 Zentimeter hoch. Das andere Buch war wassergrün. Die Namen waren in den Umschlag punziert, aber eine Illustration sah man auch hier nicht. Dieses Buch war deutlich dicker. Sein Rücken war ungefähr fünf oder sechs Zentimeter breit. Die Projektionen der beiden Umschläge wurden übereinandergeblendet und verschmolzen miteinander, bis sie nur noch ein einziges Buch bildeten.
Der Talkmaster war immer noch nicht zufrieden: Jenna Fortunis Buch blieb für sich stehen, und das war für die Zuschauer nicht angenehm. Er versuchte es noch einmal: Welche Ähnlichkeiten konnte Jenna zwischen ihrem Buch und denen ihrer Kollegen finden? Jenna, die heute widerspenstig und wohl auch müde war, brachte eine schlechte Antwort hervor. Sie sagte, sie sehe keine Ähnlichkeiten. Das führte die Sendung auf einen falschen Pfad. Mit einem Engelslächeln schnitt ihr der Talkmaster das Wort ab und spielte den Ball zu einem ihrer beiden Kollegen zurück. Der sagte, dass Jennas Buch außergewöhnlich sei. Und unter gewissen, unter ganz bestimmten Gesichtspunkten könne man es mit seinem eigenen Buch in Verbindung bringen.
Dann ergriff der Talkmaster wieder das Wort: Was denn Jenna von dieser Analyse halte? War es nicht schmeichelhaft, dass ihr Werk mit dem eines großen Schriftstellers in Verbindung gebracht werden konnte (einem Werk, das immer noch auf dem Bildschirm zu sehen war) – und all das über mehr als achthunderttausend Seiten hinweg?
Jenna musste es einräumen: Der Vergleich war schmeichelhaft. Sie spürte, dass ihr daraus bereits Interesse zuwuchs. Und doch müsse sie, falls der Talkmaster es erlauben wolle, auch zugeben, dass sie nicht so richtig sah, unter welchem Blickwinkel sich die beiden Bücher ähneln sollten. Ihr Buch war kunstvoll ausgearbeitet, während das des ersten Schriftstellers schlicht und schnörkellos war. Der erste Schriftsteller erhob lautstark Einspruch: Gewiss sei sein Buch schlicht und schnörkellos, aber die Ähnlichkeit im Format bewirke, dass sich beide Bücher gut miteinander vergleichen ließen. Und wenn man sie halb aufgeschlagen hatte, konnte man sie sogar verwechseln.
Nun übernahm der Talkmaster wieder das Kommando. Es war gewagt und bedenklich, davon zu reden, ein Buch halb aufzuschlagen – erst recht in einer Livesendung. Er fragte die alte Schauspielerin in ihrer Ecke, was sie von den drei Büchern halte. Die Schauspielerin sagte, alle drei seien gleichermaßen gut und schön. Der Talkmaster wollte das überprüfen: Wenn sie auf eine menschenleere Insel reisen müsste, welches der drei Bücher würde sie dann mitnehmen? Die alte Schauspielerin zögerte; eine Entscheidung schien ihr nicht möglich. Letztendlich würde alles von der Größe ihrer Handtasche abhängen. Bei einer kleinen wäre es wohl besser, das schlichte und schnörkellose Buch mitzunehmen. In eine mittelgroße würde auch Jennas Buch passen oder das des dritten Autors. Der Talkmaster schlug der Schauspielerin daraufhin die Lösung vor, doch einen Koffer mitzunehmen und auf diese Weise alle drei Bücher einpacken zu können.
Die Schauspielerin fügte noch einen Satz hinzu, aber der Talkmaster schnitt ihr das Wort ab und bat sie, noch einmal die Anekdote von den Dreharbeiten zu jenem Meisterwerk der siebten Kunst zu erzählen, in dem sie vor fünfzig oder sechzig Jahren die Titelrolle gespielt hatte. Dann erwähnte man ihre späteren siebenundzwanzig Filme, um klarzumachen, dass kein einziger von ihnen etwas zählte, wenn man ihn mit der Rolle verglich, welche die Schauspielerin als Zweiundzwanzigjährige in ihrem Debütfilm verkörpert hatte. Um den Nagel vollends einzuschlagen, erinnerte der Talkmaster die Schauspielerin daran, dass sie damals überwältigend gewesen sei und dass es nicht einfach sein müsse, ständig als Darstellerin einer einzigen Rolle betrachtet zu werden. Die Schauspielerin erstarrte; sie musste zugeben, dass er recht hatte, fügte aber auch hinzu, dass all ihre Erinnerungen schön seien und sie sich nicht beklagen könne und man das Leben einfach segnen und preisen müsse. Der Talkmaster beschloss die Sendung, indem er die Zuschauer zur nächsten Folge einlud, die kurz darauf beginnen sollte, gleich nach dem Abspann.
Ein junger Talkmaster, dem es wirklich noch sehr an Erfahrung mangelte, formulierte eine Frage: Was gab es eigentlich genau auf Seite 3 des Buches?
Jenna schlug verlegen den Blick nieder und schaute auf ihre Hände. Es war schon peinlich genug, wenn sie mit anhören musste, wie eine Seitenzahl genannt wurde. Aber in ihrer Gegenwart über das Innere ihres Buches zu sprechen, war schlichtweg unanständig.
Der Talkmaster ließ nicht locker. Zum Glück aber kam Jenna ein Kollege zu Hilfe geeilt, ein alter Schriftsteller mit strahlendem Blick. Über seine Bücher ging das Gerücht um, sie wären eigentlich nur Pappschachteln. Mit einem breiten Lächeln erklärte er, dass es gar nichts bringe, eine Seite aus einem Buch zu erwähnen. Man müsse vielmehr das große Ganze betrachten. Und was ihn selbst betreffe, so halte er das Buch der Romanautorin Jenna Fortuni für rundum gelungen.
Gerade in diesem idealen Augenblick wurde Jennas Buch im Hintergrund eingeblendet. Sein Umschlag zeigte immer noch schönste Wirkung, obgleich manche Käufer, wie zahlreiche Nachrichten verrieten, bereits begonnen hatten, sich daran zu gewöhnen.
Die übrigen anwesenden Autoren räusperten sich voller Unbehagen; sie tätschelten die Bücher, die sich noch immer treu an ihrer Seite hielten, oder schoben sie auf der Tischplatte zurecht. Die Schriftsteller traten stets in Begleitung ihres letzten Buches auf, das gemeinhin auf dem niedrigen Tisch neben ihnen lag. Es waren immer Couchtische, damit man die Beine übereinanderschlagen und wieder entflechten konnte und damit auch die unteren Körperpartien von Zeit zu Zeit flüchtig ins Bild gelangten.
Ein Schriftsteller war einfach so erschienen, ohne sein Buch. Ihm musste ein Missgeschick widerfahren sein. Er wirkte gezwungen und nervös, und Jenna hatte den Eindruck, dass sein Körper schmaler als üblich war. Ohne Buch war ein Schriftsteller nicht viel. Wenn sein Buch nicht zugegen war, begann sich der Autor aufzuräufeln und verlor den Großteil seiner Substanz. Aber auch ein Buch ohne Schriftsteller war nicht mehr groß was. Es wurde zu einem Block aus Seiten, der dem Schredder entgegenrutschte. Jenna war sich dessen bewusst: Am Ende starb der Schriftsteller, und dutzende Bücher standen auf der Stelle als unbrauchbare Waisen da, oder man schob sie höchstens noch unter wackelnde Tische oder, was nur ein kleines bisschen besser war, man quetschte sie zusammen und ließ sie als Hintergrunddekoration für die Fernsehsendungen verbleichen.
Bei alledem durfte man aber nicht glauben, dass das Buch wichtig war. Das war ein lachhafter Irrtum. Dieser Fehler konnte einigen Moderatoren passieren, die noch der alten Schule anhingen, oder einem unhöflichen Literaturkritiker, aber alles in allem wussten die meisten Leute vom Fach, worum es sich handelte: Das Buch war ein Podest. Das Buch war eine simple Trittleiter, auf die man sich so lange stellte, wie man brauchte, um Fragen zu beantworten, die das Etikett »Für Schriftsteller« trugen. Danach ging es erst richtig los. Das Buch war der Zugangspass, mit dessen Hilfe man Interviews in Gang halten und Fernsehsendungen besuchen konnte, indem man auf Fragen aller Art antwortete: nach Zeit, Dauer, Umständen, Augenblick oder Ort seiner Erschaffung; nach Situation, Standpunkt, Bedingungen, Modalitäten oder Klima seiner Erschaffung; nach Besonderheiten, Disposition, Instrumenten oder Überraschungen bei seiner Erschaffung; nach Vorbildern, Ereignissen und Anekdoten bei seiner Erschaffung. Und auf alle möglichen anderen Fragen, die es einem erlaubten, auf Sendung zu bleiben. Die höchste Frage war natürlich die nach der Botschaft. Aber nicht jedem Autor wurde diese Frage gestellt.
Die Sendung nahm ihren Fortgang, und der debütierende Talkmaster brachte den Schriftsteller, der ohne sein Buch erschienen war, ordentlich in Bedrängnis. Der eine wie der andere verlor zunehmend den Boden unter den Füßen. Das Buch war nicht zugegen, und als wie schwierig erwies es sich doch, ohne seinen Beistand ins Leere zu treten! Der Talkmaster unternahm große Anstrengungen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das Wesen, welches dort vor ihm saß, tatsächlich ein Schriftsteller war. Nichtsdestotrotz sah man, wie sein Blick immer skeptischer wurde und so oft wie möglich an den Büchern haften blieb, die in der Sendung anwesend waren.
Der Schriftsteller wiederum sah unglücklich aus. Wie er erklärte, war sein Buch zu Hause geblieben, was jedoch nicht weiter schlimm sei, weil er ja alles im Kopf habe. Das stimmte aber offensichtlich nicht. Der Zweifel breitete sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Einer der eingeladenen Autoren, der sich immer sehr für die anderen aufopferte, entschloss sich endlich, die Frage zu formulieren: War ein Schriftsteller ohne sein Buch überhaupt geeignet für das Podium? Wie konnte man sich dessen, was man da sah, noch sicher sein? Der debütierende Talkmaster erging sich in Entschuldigungen.
Das ganze Podium hielt den Atem an. Es war wirklich so etwas von gefährlich, sich ohne sein Buch zu präsentieren. Ein Versäumnis dieses Schlages, und eine ganze Karriere konnte im Eimer sein. Jenna lief es kalt den Rücken hinunter. Sie erinnerte sich an die Grundregeln: Man musste sein Buch in den Händen haben oder wenigstens in Reichweite. Musste häufig an ihm herumfingern, sodass die Kameras gleichzeitig Hand und Buch einfingen. Man musste regelmäßig lächeln. Auf die Existenz des eigenen Werkes hinweisen. Verdammt noch mal, das war wirklich anstrengend! Manchmal hatte auch Jenna einen blitzartig kurzen Moment lang Lust, sich ohne jedes Buch zu zeigen. Einfach nur, um zu spüren, was das bewirkte. Aber als sie sah, wie der Talkmaster und sogar die anderen Gäste auf den armen Schriftsteller losgingen, begriff sie, wie halsbrecherisch es sein konnte, sich ganz allein zu präsentieren. Das Buch signalisierte den Schriftsteller. Wenn es fern war, gab es keine Sicherheiten mehr, und genau daran lag es auch, dass dieser Gegenstand regelmäßig aufs Podium projiziert wurde, auf alle verfügbaren Unterlagen.
Es gab natürlich auch widerborstige Leute. Manche Schriftsteller hatten versucht, von den Moderatoren zu erreichen, dass sie über ihr Buch diskutierten, ohne dass die Autoren selbst anwesend waren. Diese Schriftsteller hatten sinngemäß gesagt: Wir kommen nicht zu Ihnen, aber Sie haben trotzdem das Recht, über unsere Bücher zu sprechen.
Was für eine Dreistigkeit das im Grunde war! Glaubten diese Schriftsteller denn, man würde sich die Mühe machen, ihre Bücher zu zeigen und zu präsentieren, ohne dass sie selbst sichtbar waren? Und was würden sie vielleicht als Nächstes fordern? Dass man in ihrer Abwesenheit über ihre Person sprach? Dass man Diskussionsrunden über sie ins Leben rief, ohne dass sie daran mitarbeiteten? Dass man ihre Bücher bewahrte? Dass man sie zergliederte?
Solche Schriftsteller waren verpönt. Für das Podium existierten sie nicht. Ohnehin gingen ihre Verkaufszahlen gegen Null.
Eine Schriftstellerin war dafür bekannt, dass sie nie ohne ihre Bücher aus dem Haus ging, Taschenbuchausgaben und Übersetzungen in zwanzig Sprachen inbegriffen. Auf dem Podium breitete sie sie zu ihren Füßen aus. Diese Büchermengen hatten ihren Ruf begründet und ihr gleichzeitig Gewicht und Konsistenz verliehen. Die Moderatoren, wegen der quietschbunten Umschläge zunächst nicht so richtig überzeugt, waren durch diese Zurschaustellung allmählich erobert worden.
Ohne ihre Bücher konnte die Schriftstellerin gar nicht mehr eingeladen werden. Es war eine Bürde, denn sie hatte schon zweihundertdreißig. Einmal war es geschehen, dass sie geglaubt hatte, sich bei einer Sendung ohne Bücher präsentieren zu können. Die Sendung war ein Fiasko geworden. Die Zuschauer fanden sich nicht mehr zurecht, und den Moderatoren gingen sehr bald die Fragen aus. Sie hatten beinahe wortlos dagesessen, und daraufhin hatten zwei Schauspielerinnen die ganze Aufmerksamkeit an sich gerissen, indem sie berichteten, wie sie es anstellten, den Anschein zu erwecken, sie würden sich alle Tage ein neues Kleid kaufen.
Das Thema war als nicht literarisch genug bewertet worden, und die Leitung hatte zwei der vier Moderatoren entlassen. An der Schriftstellerin war der Ruf einer Kopfabschneiderin hängen geblieben. Immerhin war sie nie wieder ohne ihre Bücher erschienen.
Die Kleiderfrage mochte erst einmal nichtig klingen, und doch hatte sie nichts Belangloses. Durch die Wiederholung der Bilder konnten die Schauspielerinnen den Anschein erwecken, in ein und derselben Minute auf dem gesamten Erdball präsent zu sein. Durch ihre Kleider wurde die Abfolge der Tage stofflich fassbar. Sie markierten das Verstreichen der Zeit, die ohne sie so etwas wie ein über alle Bildschirme breitgezogenes Marshmallow geblieben wäre. Hatte ein aufmüpfiger Schriftsteller nicht auf einem Podium geäußert, Schauspielerinnen seien heute für den Fernsehbildschirm, was für den Kalender einst die Heiligen gewesen waren? Man musste dazu aber sagen, dass dieser Autor nie großen Eindruck hinterlassen hatte. Selbst seine Bücher ähnelten Wracks.
Als Schriftstellerin konnte Jenna Fortuni es sich erlauben, auf dem Bildschirm zwei- oder dreimal dieselbe Bluse zu tragen. Danach schien die Bluse von ganz allein dahinzuwelken und altmodisch zu werden. Bei den Schauspielerinnen, die an Jennas Seite saßen und in gewisser Weise ihre Kolleginnen waren, verhielt es sich ganz anders. Jenna wusste nicht, was sie mit ihren alten Schuhen machten, die sie nur einen Tag getragen hatten. Vielleicht warfen sie sie in den Müll, oder sie gaben sie ihren jüngeren Schwestern. Oder vielleicht trugen sie sie zu Hause beim Kochen. Wie kummervoll es doch sein musste, neue Sachen so rasch wieder abzulegen! Jenna beglückwünschte sich oft dazu, keine Schauspielerin geworden zu sein. Im Prinzip hätte sie nichts daran gehindert, aber sie war besonnen genug gewesen, diesen Weg nicht einzuschlagen.
Eigentlich war es überhaupt nicht schwer, über Bücher zu sprechen. Es lag für niemanden außer Reichweite. Es genügte schon, wenn man ein paar Standardsprüche über zumindest einen sehr bekannten Autor draufhatte – Wu-Li-Ha-Lem beispielsweise oder Annie Bariole. Dann konnte man alle übrigen Bücher mit denen dieses Autors vergleichen. Genauso verhielt es sich mit mythischen Figuren, die so reichen Stoff lieferten, dass man im Grunde auf gut Glück hineingreifen konnte. Die im Repertoire am häufigsten wiederkehrenden Namen waren: A) Lorito und A 1) Der Fürst von Motte Crusto.
Wenn man auf dem Podium einen Namen zitierte, gewann man damit in jedem Fall die Oberhand. Wer auch immer es schaffte, sein Zitat als Erster anzubringen – er konnte dabei zuschauen, wie seine Nachbarn auf ihren Sesseln zusammenschrumpften. Jenna hatte es einmal mit dem Mädchennamen ihrer Mutter versucht. Er hatte wie ein Dolch gewirkt. Die anwesenden Stars und Künstler hatten sich gekrümmt und mit dem Kinn gezuckt. Ein Einziger hatte sich wie ein Hahn aufgerichtet und allen Kameras zum Trotz direkt nachgefragt: Von wem sprach Jenna Fortuni da eigentlich? Jenna hatte erwidert, es handle sich um eine kaum bekannte Dichterin aus einer nördlichen Weltgegend. Als die Sendung zu Ende war, hatte sie sich mit dem jungen Mann angefreundet.
Dieser junge Mann hieß LARSEN FROL. Man lud ihn genau wegen dieser Haltung, alles infrage zu stellen, in die Fernsehstudios ein. Eine solche Haltung war gefürchtet, denn sie war gefährlich und konnte die Sendungen in einen Abgrund kippen lassen. Aber gleichzeitig war sie für Moderatoren, die logischerweise keinen kritischen Verstand besaßen, ein kostbares Himmelsgeschenk.
In einem Gespräch über Bücher gab es riskante Stellen. So war es eine gefährliche Situation, wenn man ein Buch an der Seite seines Schöpfers zeigte, ohne dass irgendwelche Vergleiche möglich schienen. Das hieß ja, dass niemand wusste, womit man es hier zu schaffen hatte. Dieses schreckliche Unbekannte ließ eine Bedrohung im Raum schweben. In solchen Fällen hätten die Kameras am liebsten eine Kehrtwendung vollführt, und beinahe hätte man den Regisseur in seiner Kabine beim Nägelkauen zu sehen bekommen.
Aus diesem Grund stiegen, wenn überhaupt kein spontaner Vergleich möglich schien, die Gäste der Talkshow alle gemeinsam auf die Barrikaden und halfen dem Talkmaster mit vereinten Kräften, wieder einen Orientierungspunkt zu finden. Jeder von ihnen brachte einen Namen ins Spiel, und dann versuchte man, das frei umherschwebende Buch an einem dieser Namen festzunageln.
Jenna Fortunis Bücher hatten schon dutzende Male solche Vergleiche miterlebt. Jedes der drei war bei seinem Erscheinen auf ein anderes Buch zurückgeführt worden, das man seinerseits mit einem anderen Buch in Verbindung gebracht hatte. Jennas Bücher waren davon in jeder Sendung ein wenig zerquetscht worden. Aber man konnte eindeutig erkennen, dass es für alle Welt einfacher und beruhigender war, sich auf diese Weise zurechtzufinden.
Auch als Person gab Jenna zu Vergleichen Anlass. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hatte sich die Romanautorin Jenna Fortuni daran gewöhnen müssen, dass ihr Name automatisch neben den einer anderen jungen Romanautorin von einigem Talent gerückt wurde. Ihre Namen waren sozusagen aneinandergekoppelt.
Es gab dafür viele Gründe. Zunächst einmal hieß die andere junge und talentierte Romanautorin Joanna Fortaggi. Ihre Familiennamen ähnelten sich, da schien ein Vergleich legitim zu sein. Zweitens brachten Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi Bücher heraus, die ganz deutlich dieselben Farben und Formate aufwiesen. Auch das war verwirrend. Drittens schließlich waren sie beide Frauen, hatten braunes Haar, wollten schöne und praktische Bücher präsentieren und verfolgten in den Sendungen ungefähr den gleichen Kurs.
Diese zusätzlichen Gemeinsamkeiten ergaben eine hübsche Gesamtsumme. Jenna Fortuni hatte sich manchmal gefragt, ob es überhaupt noch nötig war, dass jede von ihnen ein Buch veröffentlichte. Sie hatte bereits darüber nachgedacht, sich mit Joanna Fortaggi zusammenzutun. Auf diese Weise hätte es weniger Verwirrung gegeben. Die Moderatoren hätten sich nicht mehr so sehr den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie sie es anstellen sollten mit zwei jungen Romanautorinnen von einigem Talent, die das gleiche Buch veröffentlichten und in derselben Sendung saßen.
Das einzige Problem dabei war in Jennas Augen, dass Joanna Fortaggi und sie es aus einem Mangel an Sympathie nie geschafft hatten, miteinander zu reden oder die Adressen auszutauschen.
Das Leben der Romanautorin Jenna Fortuni spielte sich nicht nur in Fernsehstudios ab. Jenna stieg vom Podium hinab, um zu diversen Tages- oder Nachtzeiten zu ihrem Mann heimzukehren, der schon seit Langem kaum noch sichtbar war.
Von Jennas Mann hieß es, er habe etwas in Vorbereitung, ohne dass man mit Sicherheit hätte sagen können, was es eigentlich war. Aber wenn der Abstand zwischen zwei Veröffentlichungen das gewohnte Maß überschritt, wenn er immer größer wurde, wenn er erst zwei Jahre betrug und dann einfach nur noch »Jahre«, wenn er eine unendlich elastische Qualität annahm, dann konnten sich Bücherkäufer und Literaturfreunde einfach nicht täuschen: Dieses Intervall war ein Zeichen dafür, dass ein Schriftsteller etwas Großes vorbereitete. Natürlich gab es immer zwei oder drei Kritiker, die unterstellten, dass der Schriftsteller in diesem Zeitraum gar nicht in seinem Arbeitszimmer saß, sondern zum Angeln in Finnland war. Man versuchte, Indizien dafür zu finden, dass der Autor im Alkohol oder im Drogengenuss dahindämmerte – oder besser noch: in Selbstzweifeln und Depressionen. Besonders eingehend untersucht wurden berühmte Schriftsteller, die schon alle möglichen Erfolge zu verzeichnen hatten. Bei diesen fragte man sich, wovon sie noch träumen konnten und was das Leben ihnen noch zu versprechen vermochte. Der Ehemann der Romanautorin Jenna Fortuni machte in dieser Hinsicht neugierig. Er hatte zahlreiche Bücher veröffentlicht. Er hatte sie vor den Augen aller Moderatoren von Podiumstisch zu Podiumstisch herumgeführt. Gewiss, es gab eine ganze Menge Autoren. Und dennoch war den Kritikern allmählich aufgefallen, dass dieser eine Schriftsteller sich seltener präsentierte als zuvor. Die Kritiker hatten Nachforschungen angestellt, in deren Folge man hatte verkünden dürfen, dass Jennas Ehemann irgendetwas Großes vorbereitete.
Was genau Jennas Mann vorbereitete, war nicht bekannt. Er stieg die geländerlose Treppe hoch und schloss sich im zweiten Stockwerk im gemeinsamen Arbeitszimmer ein. Jenna verbrachte den Abend bisweilen mit Larsen Frol. Meistens machten sie dann gar nichts. Sie saßen im Wohnzimmer herum und ließen die Finger über ihre Bildschirme wandern. Oder aber sie redeten miteinander. Oder sie fuhren mit dem Auto in das geräumige Atelier, in dem Larsen Frol malte.
Larsen Frol war zwar kein Mickey Lanceolo, aber wenn es etwas gab, das ihn begeisterte, dann eindeutig seine Arbeit als Maler. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ihr Larsen seine Texte geopfert. Aber glücklicherweise war es nicht nötig, und Larsen Frol konnte die Malerei und seine Schriftstellerkarriere unter einen Hut bringen. Zum Maler fühlte er sich erst seit Kurzem berufen, während die Literatur, die in seinem Blut aufgekeimt und gewachsen war, für ihn etwas so Natürliches und Einfaches war wie das Leben.
Larsen Frol stieg aus seinem Auto und strebte, ohne auf Jenna zu warten, mit großen Schritten seinem Atelier entgegen. Dann blieb er in der Mitte des großzügigen Raumes stehen, in passender Distanz zu den Gemälden und Glasarbeiten. Die Glasarbeiten sahen schwarz aus, was angesichts der späten Stunde nicht verwunderlich war. Larsen hatte nur im Vorraum das Licht eingeschaltet. Im übrigen Atelier gab es keine Lampen. Jenna hatte keine Lust, weiter hineinzugehen. In Larsens Atelier war es immer kalt. Sie wusste nicht, wo sie hinsollte. Nirgendwo gab es etwas zum Sitzen. Larsen blickte zu seinen Bildern hinüber. Nachdem er eine Weile in schweigender Reflexion dagestanden hatte, sagte er, es sei schade, dass Jenna nicht am Tag vorbeigekommen sei. Jenna erwiderte, sie wolle sich in ihrem Terminkalender ein Feld anstreichen, um Larsens Bilder bei hellem Tageslicht betrachten zu können.
Larsen stand da, im Zentrum des Raumes, und hatte manches zu sagen, anders als Jenna, die in Nachdenken versunken war. Nach Larsens Worten machte es einen Unterschied, ob er seine Bilder allein betrachtete oder in Jennas Gegenwart. Tagsüber, so erzählte er ihr, klebe er buchstäblich an seinen Leinwänden, er stecke sozusagen in seinen Bildern.
Larsens Bilder waren monumental. Jenna konnte sie von Weitem erahnen. Auf dem Boden stand eine Hebebühne für Fensterputzer, die er für seine Arbeit bestieg. Ein paar Mal hatte Larsen zur Fernbedienung gegriffen und auf irgendwelche Knöpfe gedrückt. Die leere Hebebühne war im Dunkeln nach oben gefahren und hatte sich wieder gesenkt. Bei diesem Aufstieg hatte Jenna befürchtet, gleich ein Geräusch von splitterndem Glas zu hören. Larsen hatte Jenna niemals angeboten, mit ihr nach oben zu fahren. Auf der Hebebühne war nur Platz für eine Person. Weil Larsen großgewachsen war, konnte sich Jenna nur schlecht vorstellen, wie er auf der Hebebühne stand. Der obere Rand des Geländers reichte wahrscheinlich nicht einmal bis zu einem Drittel seiner Körperhöhe hinauf. Es musste für Larsen gefährlich sein, sich in der Hebebühne nach vorn zu beugen. Er konnte dabei das Gleichgewicht verlieren.
Aufgrund ihrer Dimensionen ließen sich Larsens Bilder schwer transportieren. Er stellte sehr wenig aus. Jenna hatte den Verdacht, dass er diese Formate gewählt hatte, um keine Gedanken an Galeristen und Kataloge verschwenden zu müssen. Sie hatte ihn zu seiner ersten Vernissage begleitet. Im Hangar Sacreux hatte man seine Werke gezeigt. Er war berühmt für seine kathedralengleiche Raumhöhe. Larsens Bilder machten einen stolzen Eindruck. Das hatten jedenfalls die Leute um Jenna herum gesagt. Jenna selbst hatte eine schlechte Sicht gehabt. Die Farben hatte sie sehr gut erkennen können, aber was die Formen betraf, so war sie nicht nahe genug herangekommen. Es waren einfach zu viele Leute da gewesen. Die Bilder hatten sich in den Höhen verloren, und der Blick hatte sie nicht umfangen können. Jenna setzte ihre Brille nur selten auf. Schriftstellerinnen wurde davon ausdrücklich abgeraten. Schlimmstenfalls konnte man sie sonst für Spaßverderberinnen halten, bestenfalls für graue Bibliotheksmäuse.
Larsen war quirlig und redselig. Seit Jenna ihn kannte, hatte sie sich schon dutzende Male angehört, wie seine Karriere verlaufen war, aber noch immer lauschte sie seinen Worten gern. Es gab jedes Mal neue Details.
Larsens Liebschaften waren von einem Geheimnis umgeben. Man wusste, dass er einst geliebt hatte, und zu manchen Zeiten wusste man sogar, dass er liebte und gerade jetzt auch geliebt wurde. Jenna selbst wusste über diese flüchtigen Episoden nicht Bescheid. So ausführlich sich Larsen über das Leben im Allgemeinen erging, so schweigsam war er in allen Dingen, die ihn wirklich berührten.
Larsen verschwand in regelmäßigen Abständen, aber meist nur, um danach auf spektakuläre Weise wieder aufzutauchen: mit einer neuen Erfindung, einem neuen Kunstwerk, einem neuen Buch, mit einem Künstler, den er entdeckt hatte, oder einem neuen Projekt für sein Leben. Manchmal war er aber auch vollständig und umfassend von der Bildfläche verschwunden, was bedeutete, dass er sich an einen ruhigen Ort, gleichsam in tiefsten Waldesgrund, zurückgezogen hatte, um dort eine Liebe zu leben. Und das Geheimnis um jede neue Liebe von Larsen war so undurchdringlich, dass sich Jenna ausmalte, er sei zu jenen Zeiten von einer vierfachen Hecke aus Brombeerranken und wilden Rosen umgeben.
Larsen Frols Karriere hatte begonnen wie drei herabfallende Wassertropfen. Er hatte ein Buch veröffentlicht. Dieses Buch war ein Gegenstand, wie ihn heutzutage niemand mehr herstellte, ein makelloses Bändchen, auf das eine einzigartige Kombination von Buchstaben gedruckt war: Gedichte. Bücher dieser Art hatten sich, soweit sich die Moderatoren erinnern konnten, noch nie auf ein Fernsehpodium emporgeschwungen.
Aber Larsen Frol war blond und hatte engelsgleiches Haar. Wenn er das Wort ergriff, bildeten seine Haare um den Kopf herum einen verrückten Glorienschein. Sein Verleger war sich dessen bewusst und hatte alles getan, damit auch die Fernsehproduzenten diese Tatsache ausreichend zur Kenntnis nahmen und den Autor in Talkshows einluden.
Larsen Frols erstes Podium war spärlich beleuchtet. Alles in allem war das ideal für ein Buch mit hellem Umschlag. Und doch leckten die Kameras, was ganz ungewöhnlich war, gar nicht so sehr an seinem Buch herum. Das Schicksal war von einer anderen Seite herangetreten. Larsen hatte das Glück gehabt, mit zwei Weltstars auf dem Podium zu sitzen, von denen man Fotos gesehen hatte, die sie ohne Bikini im Schwimmbad zeigten. Dazu kam noch, dass Larsen ein weißes Hemd trug. Der Larsen Frol von damals war ein junger Unbekannter, der dazu bestimmt war, gleich nach dem Abspann wieder in seine Unbekanntheit zurückzufallen. Die Gefahr, die er für die beiden Stars bildete, war gleich Null. Und so hatten sie sich auf ihn gestürzt und ihn als Instrument zur Selbstdarstellung benutzt. Sie hatten ihn ganz offen geneckt und sich um ihn gestritten.
Dies hatte Larsen Frol sofort den Ruf eines Frauenschwarms eingetragen. Künftig wurde sein Name immer mit dem Wort »Herzensbrecher« gekoppelt, obgleich niemand mehr in der Lage war, diesen altertümlichen Ausdruck zu erklären. Und als Herzensbrecher wurde Larsen logischerweise erneut in eine Sendung eingeladen.
Dann war ein weiteres Buch von Larsen Frol erschienen. Es hatte etwas mehr Aufsehen erregt, denn inzwischen war Larsen über die Hierarchie der literarischen Genres aufgeklärt worden. Auf dem Umschlag fand sich das Wort ROMAN. Er ließ die Talkmaster erröten, die sich darin gefielen, mit der rituellen Formel einzusteigen: »Dieses Buch, das Ihr erster Roman ist …«