Titelbild

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-98338-9

März 2017

© 2006 Philip Carlo

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

"The Ice Man. Confessions of a Mafia Contract Killer",

St. Martin's Press, New York 2007

© der deutschsprachigen Erstausgabe:

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011

© dieser Ausgabe:

Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: frankie’s_shutterstock)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Dieses Werk ist meinem Agenten und guten Freund

Matt Bialer gewidmet, dafür, dass er immer da war, für seine Hilfe, Anleitung und seinen unerschütterlichen Rückhalt.

Das war eine lange, holprige Straße, Matt, eine qualvolle Reise,

die ich ohne Dich nicht hätte machen können …

»Mein Ehemann ist ein guter Mann, ein lieber Mann – ein toller Vater. Alle Freunde meiner Kinder sagen immer, sie wünschten sich, sie hätten einen Dad wie meinen Ehemann – wie Richard.«

Mrs. Barbara Kuklinski

am Tag von Richards Verhaftung

Vorwort

Dieses Buch basiert auf 240 Stunden persönlich von mir im Trenton-State-Gefängnis geführten Interviews mit Richard Kuklinski. Wann immer und soweit möglich wurden alle Verbrechen und Morde, über die ich mit Richard gesprochen habe, über geheime Mafia-Kontakte, Polizeiquellen, Dokumente, Tatortberichte und Fotos verifiziert. Wenn Richard und ich über sein Leben und die Verbrechen sprachen, die er in einer Zeitspanne von 43 Jahren begangen hat, hat er nie geprahlt oder angegeben. Tatsächlich musste der Großteil dessen, was in diesem Buch enthalten ist, gleichsam aus ihm herausgeschmeichelt werden. Meiner Einschätzung nach war Richard immer ehrlich, ernsthaft und extrem entgegenkommend.

Die Namen einzelner Personen, die mit dieser Geschichte in Verbindung stehen, wurden geändert.

Zuerst möchte ich meinem Lektor Charlie Spicer bei St. Martins Press danken, für seine herausragenden Ratschläge und seine Anleitung – und dafür, dass er vom ersten Moment an, als das Manuskript auf seinem Schreibtisch gelandet war, an das Buch geglaubt hat. Ebenfalls ein Danke geht an seine rechte Hand, Joe Cleeman, der mir auf mehreren Ebenen eine wertvolle Hilfe war. Vielen Dank auch an John Murphy und Gregg Sulivan für ihren Glauben an und ihre Unterstützung für dieses Buch. Gaby Monet bei HBO war eine unschätzbar wichtige Freundin und hat mir sehr dabei geholfen, die Komplexität dieser Geschichte zu begreifen. Herzlichen Dank an meinen loyalen Freund und Vertrauten Mike Kostrewa, für seine Expertise und sein Hintergrundwissen über Jersey City und die polnische Kultur. Außerdem möchte ich dem Trenton-State-Gefängnis dafür danken, dass mir in ihrer Anstalt der Zugang zu Richard Kuklinski gewährt wurde. Danke auch an Anna Bierhouse für ihre Vorschläge und an all die guten Menschen bei Sandford Greenburger, der besten Literaturagentur der Welt; dort behandelt man Schriftsteller immer noch wie sensible Künstler, und das ist heutzutage etwas Besonderes. Es wäre nachlässig von mir, würde ich nicht auch meinen Eltern, Dante und Nina Carlo, für ihre unerschütterliche Unterstützung danken. Meine Dankbarkeit gebührt auch Crystal Proenza für ihre gut gelaunte Geduld dabei, meine umfangreichen handschriftlichen Aufzeichnungen in fehlerlose Manuskripte zu verwandeln. Außerdem möchte ich mich bei Barbara, Merrick, Chris und Dwayne Kuklinski für ihre ehrlichen Worte und ihr freundliches Entgegenkommen bedanken.

Lieutenant Patrick Kane von der New Jersey State Police war eine unschätzbare Quelle von Details, Fakten, Gefühlen, zeitlichen Einordnungen und Orten. Und auch Sergeant Rob Anzalotti und sein Partner Detective Mark Bennul waren sehr hilfreich bei dem Versuch, Licht in das dunkle, gewalttätige Phänomen zu bringen, das Richard Leonard Kuklinskis Leben war.

Mafia-Struktur

Capo crimini / capo di tutti capi

Superboss / Boss der Bosse

Capo

Boss / Don

Consigliere

Volles Vertrauen genießender Ratgeber / Berater der Familie

Sotto capo / capo bastone

Niedriger gestellter Boss / stellvertretender Boss

Contabile

Finanzberater

Caporegime oder capodecina

Leutnant / Kapitän, führt gewöhnlich eine »Mannschaft« aus zehn oder mehr Soldaten

Sgarrista

Fußsoldat, erfüllt die täglichen Aufträge der Familie und ist ein »gemachter Mann«, ein offizielles Mitglied der Mafia

Picciotto

Soldat mit niedrigem Rang, Vollstrecker; auf der Straße auch als »Button Man« bekannt

Giovane d’honore

Partner der Mafia, typischerweise nicht sizilianischer oder nicht italienischer Herkunft

Prolog

Rattus Norvegicus

Zu Beginn fühlte sich Richard Kuklinski von den ausgedehnten Wäldern in Bucks County, Pennsylvania, angezogen, weil es dort still, einsam und friedlich war. Die Wälder erinnerten Richard an eine Kirche, einen der wenigen Orte, wo er in seinem Leben Trost gefunden hatte und ohne Ablenkung nachdenken konnte. Wie in einer Kirche war die Stimmung im Wald ruhig und friedlich.

Die Wälder von Bucks County waren auch ein guter Ort, um Leichen verschwinden zu lassen. Von Beruf war Richard Auftragsmörder, und er musste immer darüber nachdenken, wie man Leichen entsorgen konnte. Manchmal war es okay, die Opfer einfach liegen zu lassen, wo sie umgefallen waren, auf Straßen, auf Parkplätzen oder in Garagen. In anderen Fällen mussten sie verschwinden. Das wurde extra verlangt. Einmal bewahrte Richard ein Opfer fast zwei Jahre lang in einem eiskalten Schacht auf und konservierte so die Leiche – mit der Absicht, die Behörden in Hinsicht auf den genauen Todeszeitpunkt zu verwirren. So kam er schließlich zu seinem Spitznamen: »Ice Man.«

Richard achtete sorgfältig darauf, in diesen Wäldern niemals zwei Leichen zu nah beieinander zu verstecken, falls die Behörden misstrauisch werden sollten und ein gewisses Gebiet überwachten. Er arbeitete im Bereich Mord, und dafür war er besonders begabt. Er hatte Töten in eine Kunstform verwandelt. Kein Job war ihm zu schwierig. Er führte jeden Auftrag, den er je bekam, erfolgreich durch. Darauf war er stolz. In der Unterwelt der Mörder war Richard Kuklinski ein begehrter Spezialist – ein Superstar unter den Killern.

Richard war einzigartig, weil er Mordaufträge für alle fünf New Yorker Familien ausführte, für die zwei Mob-Familien von New Jersey ebenso wie für die Pontis und die berüchtigten De Cavalcantes.

Es war Mitte August 1972, und die Wälder waren grün und lebendig. Richard wanderte mit einer doppelläufigen Browning-Schrotflinte mit aufwendiger Gravur auf dem Schaft durch die ruhigen Schatten von Ulmen, Ahornbäumen, Kiefern und großen, eleganten Pappeln. Die Waffe erschien in Richards riesigen Händen wie das Spielzeug eines Kindes.

Richard genoss das von ihm erfundene Katz-und-Maus-Spiel sehr, bei dem er sich an ahnungslose Tiere heranschlich und sie erschoss, bevor sie auch nur ahnten, dass er da war. Er war ein sehr großer Mann, beinahe einen Meter neunzig groß. Obwohl er gute 145 Kilo reine Muskelmasse auf die Waage brachte, hatte er die unheimliche Fähigkeit, sich fast lautlos im Verborgenen zu bewegen. Er war einfach plötzlich da, und so gelang es ihm, ahnungslose Eichhörnchen, Waldmurmeltiere, Stinktiere und Hirsche zu erschießen. All das war eine gute Übung für die Tätigkeit, in der Richard sich hervortat, seiner einzigen Leidenschaft im Leben: Menschen zu verfolgen, zu jagen und umzubringen.

Wissen Sie, das Töten selbst macht mir keinen besonderen Spaß; ich genieße die Pirsch, die Planung und die Jagd mehr, erklärte Richard.

Auf einem dieser »Trainingsausflüge« ins Bucks County entdeckte Richard etwas: eine große, nagetierartige Kreatur, die neben einer riesigen Eiche stand. Er schlich sich an das Tier an, das er zuerst für ein Waldmurmeltier hielt. Es war still, bis auf das Rascheln der Blätter in einer leisen Brise. Er bewegte sich nur auf den Fersen seiner großen Füße und benutzte Bäume und Büsche als Deckung, um sich nah genug an das Tier anzuschleichen und ein klares Schussfeld zu haben. Für Richard war es wichtig, dass er mit dem ersten Schuss tötete. Es gelang ihm, das Tier zu täuschen, indem er sich gegen den Wind anschlich. Als er eine gute Position hatte, zielte er und schoss.

Er traf das Tier, aber es lebte noch, und seine Hinterbeine traten hilflos in die warme Augustluft. Als Richard näher kam, erkannte er, dass es in Wahrheit eine riesige braune Ratte war – Rattus norvegicus. Sie fauchte ihn an und enthüllte dabei zwei große Schneidezähne. Zäher Bursche, dachte Richard.

Er hatte kein Interesse daran, die Kreatur leiden zu lassen, und tötete sie schnell. Als er gerade gehen wollte, entdeckte er hinter einem dichten Maulbeerbusch am Fuß eines steilen, mit grünem Moos überzogenen Granithangs eine Höhle.

Stets neugierig bahnte sich Richard seinen Weg durch die Büsche und ging in die Höhle. Sofort roch er Ratten und entdeckte auch ihre Kötel, sah sie aber nicht. Die Höhle reichte tief in den Granit hinein und wurde schnell zu dunkel, als dass man noch etwas erkennen konnte. Richard hatte eine kleine Taschenlampe dabei und benutzte sie. Nirgendwo Ratten, aber er spürte sie, konnte sie riechen. Nicht nur hatte Richard fast übermenschliche Stärke, er besaß auch ein sehr feines Gehör und einen ebenso feinen Geruchssinn. Seine Sinne ähnelten denen eines Raubtieres – einer Kreatur, die regelmäßig jagt, um von dem Fleisch zu leben.

Er verließ die Höhle und ging langsam zurück zu seinem Wagen. Während er über die große braune Ratte nachdachte, kam ihm eine teuflische Idee. Er schob die Schrotflinte in ihre filzgefütterte Ledertasche und legte sie in den Kofferraum. Er wollte nicht, dass seine Frau oder seine Kinder sie sahen. Richard achtete immer sorgfältig darauf, dass seine Familie nicht wusste, was er wirklich tat, und niemals auch nur eines aus seiner riesigen Sammlung von Tötungswerkzeugen sah. Sie beinhaltete rasierklingenscharfe Messer, alle Sorten von Pistolen, manche mit Schalldämpfern, mehrere Würgeschlingen, verschiedene Gifte (sein Lieblingsgift war Zyanid), stachelbesetzte Schläger, Handgranaten, eine Armbrust, Eispickel, Seile, Drähte, Sprengstoffe und Plastiktüten, um nur ein paar aufzuzählen. Besonders mochte er Pistolen vom Kaliber 22, weil die Kugel, wie er wusste, nach dem Eindringen in den Schädel dort gern noch eine Weile herumflog und so massive Hirnschäden verursachte. Mit Vorliebe verwendete er auch Derringer vom Kaliber 38; sie waren klein, konnten leicht versteckt werden und waren im Nahbereich, wenn sie mit Dum-Dum-Geschossen geladen waren, ziemlich tödlich. Sie konnten ein Pferd zu Fall bringen. Gewöhnlich trug Richard bei der Arbeit zwei Derringer mit sich, ein Messer und eine großkalibrige Automatikpistole.

Einige Tage später kehrte Richard in die Höhle im Bucks County zurück. Es nieselte. Das tiefe Grün der Augustwälder leuchtete jetzt noch intensiver. Richard hatte wieder seine Schrotflinte dabei. Außerdem trug er eine braune Papiertüte mit einem Kilo Hackfleisch. Als er den dunklen Höhleneingang erreichte, sah er auf der feuchten Erde Hunderte Pfotenabdrücke von Ratten. Nach ungefähr fünfzehn Schritten in die Höhle hinein stieg ihm der moschusartige, üble Gestank von Ratten in die Nase. Er legte das Fleisch ab und ging.

Als Richard am nächsten Tag zurückkam, war das gesamte Fleisch verschwunden. Er lächelte. Da er wusste, dass Ratten Aasfresser sind und so ziemlich alles fressen, fragte er sich, ob sie nicht auch einen Menschen fressen würden. Er dachte darüber nach, ob er sie zu unfreiwilligen Komplizen für Folter und Mord machen konnte.

Neugierig ging Richard zurück zu seinem Lincoln und fuhr wieder nach New Jersey. Er lebte mit seiner Frau Barbara und ihren drei Kindern in einem Haus mit Terrasse in Dumont an der Sunset Street, Nummer 169. Die Nachbarschaft war angenehm – gehobene Mittelklasse. Ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Hier kannte jeder seine Nachbarn. Die Leute begrüßten sich mit Guten Morgen und Guten Abend und meinten es auch so.

Barbara war eine große, attraktive Frau italienischer Abstammung. Sie strahlte von Natur her Stil und Eleganz aus. Selbst in alten Jeans und einem sackartigen Sweatshirt wirkte Barbara sorgfältig gekleidet und zufrieden mit sich selbst. Sie hatte sehr lange Beine, war dünn und hatte an den richtigen Stellen Kurven. Man sah ihr nicht an, dass sie drei Kinder geboren hatte – zwei Mädchen, Merrick und Chris, die jetzt acht und sieben waren und einen Sohn, den dreijährigen Dwayne. Barbara hatte zwei Kinder schon in der Schwangerschaft verloren, weil Richard sie mit seinen riesigen Händen misshandelt hatte. Dazu erklärte Barbara vor Kurzem: Wenn Richard die Beherrschung verlor, war er wie ein Elefant im Porzellanladen – alles ging kaputt; alles verlor seine Bedeutung. Er konnte im einen Moment der netteste, rücksichtsvollste Mann sein und im nächsten der bösartigste Hurensohn auf Gottes Erde, dessen Grausamkeit keine Grenzen kennt.

Als Richard an diesem Tag nach Hause kam, bereitete Barbara gerade das Abendessen vor. Sie wusste nie, in welcher Stimmung er zurückkommen würde, und begrüßte ihn immer mit wachsamer Anspannung. Sie lächelte nicht, bis er lächelte. Jetzt lächelte er und küsste sie und die Kinder zur Begrüßung. Sofort wusste sie, dass er nicht in schlechter Stimmung war.

Barbara war mit zwei verschiedenen Männern verheiratet, dem guten Richard und dem bösen Richard, zumindest dachte sie so darüber. Nach dem Abspülen baute Richard für Dwayne ein Feuerwehrauto zusammen und saß geduldig mit seinem Sohn und einem Schraubenzieher auf dem Boden.

Barbara bemühte sich nach Kräften, Dwayne vor dem bösen Richard zu schützen. Sie schickte ihn fast jedes Wochenende ins Haus ihrer Mutter, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen und beeilte sich, Dwayne aus dem Haus zu schaffen, wann immer sie bemerkte, dass Richards Laune umschlug, er seine Lippen aufeinanderpresste und sein Gesicht bleich wurde. Wenn Richard ein klickendes Geräusch mit dem linken Mundwinkel erzeugte, wussten alle, dass es Zeit war wegzurennen. Dieses Geräusch war wie eine Sirene, die vor einem Bombenangriff warnt.

Richards Tochter Merrick war sein Liebling. Sie hatte seit ihrer frühesten Kindheit eine kaputte Niere, musste oft ins Krankenhaus und hatte bereits mehrere Operationen hinter sich. Richard war immer für sie da, er saß neben ihrem Bett, hielt ihre Hand, streichelte ihren Kopf. Er hätte nicht aufmerksamer und mitfühlender sein können, sagte Barbara.

Merrick machte ihren Vater nie für irgendetwas verantwortlich, was er tat. Die Schläge, die er auf Barbara niederregnen ließ, die Möbel, die er zerbrach, die Spielzeuge, die er zerstörte, die Tassen und Erinnerungstücke, die seinetwegen in Scherben zersprangen, alles wurde vergeben. Nichts davon war sein Fehler. Er konnte nicht anders. Er konnte seine Wut einfach nicht kontrollieren, das hatte er Merrick erklärt – nur Merrick –, und sie glaubte ihm. Er war ihr Daddy. Sie würde ihn immer von Herzen lieben, egal, was geschah.

Seine Tochter Chris allerdings erinnerte sich an die Ausbrüche ihres Vaters und nahm sie ihm übel, besonders die Art und Weise, wie er ihre Mutter misshandelte. Chris liebte ihren Vater ebenfalls; er war der einzige Dad, den sie je gekannt hatte, und wenn er nett war, war er wirklich wunderbar. Aber sie hasste den Mann, zu dem ihr Vater wurde, wenn er sich in einen seiner irrationalen Wutanfälle hineinsteigerte. Gleichgültig wie wütend Richard wurde, nie schlug er eine seiner Töchter oder Dwayne.

Wenn er, erklärte Barbara, auch nur einmal Hand an eines meiner Kinder gelegt hätte, hätte ich einen Weg gefunden, um ihn umzubringen, und das wusste er.

Was Barbara nicht einkalkulierte oder einfach nicht akzeptierte, war, welchen psychologischen Schaden Richards Anfälle tief in ihren Mädchen anrichteten. Sowohl Chris als auch Merrick hatten goldblondes Haar und süße, herzförmige Gesichter – die bestmögliche Mischung aus ihren Eltern. Sie waren beide sehr attraktiv, mit Richards breiten, slawischen Wangenknochen und der hellen Haut des polnischen Erbes. Sie ähnelten sich so sehr, dass die Leute sie oft irrtümlich für Zwillinge hielten. Barbara kaufte ihnen auch gern gleiche Kleidung. Auf den meisten Familienfotos tragen beide Mädchen das Gleiche. Eine deutlich erkennbare Traurigkeit versteckt sich hinter dem Lächeln für die Kamera. Die Mädchen gingen auf eine kirchliche Schule und waren scheu und höflich, die perfekten kleinen Damen. Warmherzig, großzügig und leicht zu einem Lächeln bereit, fanden sie schnell Freunde.

Chris und Merrick halfen jetzt ihrer Mutter dabei, den Tisch zu decken. Bald setzte sich die Familie zum Abendessen – gegrilltes Hähnchen und Kartoffeln, eines von Richards Lieblingsgerichten. Für einen Außenstehenden schienen sie eine normale, angepasste, glückliche Familie zu sein. In Wirklichkeit war der Mann am Kopfende des Tisches, der geduldig das Hähnchen zerschnitt und liebevoll die besten Stücke verteilte, Amerikas meistgefragter Auftragsmörder.

Der Auftrag kam in der ersten Septemberwoche. Die Zielperson sollte leiden. So lautete die Anweisung. Wenn das Opfer litt, würde die Bezahlung verdoppelt, sagte der Klient, von zehntausend auf zwanzigtausend Dollar in bar. Die Zielperson lebte in Nutley, New Jersey, in einem noblen Haus mit einer kurvigen Einfahrt und eleganten weißen Säulen auf beiden Seiten der großen Mahagonitür. Richard wusste nichts über die Zielperson, außer dass der Mann leiden musste, bevor er starb. Richard war es so lieber. Je weniger er über das Opfer wusste, desto besser.

Richard hatte Zugang zu der Kamera, weil er Pornos für den Verkauf im ganzen Land produzierte. Sein Partner, der Mann, der ihm das Geld geliehen hatte, um die Produktionsfirma zu starten, war der berüchtigte Roy DeMeo – ein psychopathischer Soldat im Anhang der Gambino-Familie. DeMeo war ein hervorragender Geldverdiener. Er handelte mit gestohlenen Autos, Drogen, Krediten, verkaufte Pornografie und arbeitete als Auftragskiller. Er war der Anführer der brutalsten, am meisten gefürchteten Bande von Killern, die im organisierten Verbrechen je existierte hatte. Sie war verantwortlich für Hunderte von Morden. Sein Boss, sein Captain, war Nino Gaggi, der direkt an Paul Castellano berichtete, den frisch ernannten Kopf der Gambino-Familie, der größten, erfolgreichsten Mafia-Familie in New Yorks wilder Geschichte. Castellano hatte das Amt von einer echten Legende des organisierten Verbrechens geerbt: von keinem anderen als seinem Schwager Carlo Gambino.

Die Kamera, das graue Klebeband und die Handschellen, die Richard für seinen Plan benötigte, lagen im Kofferraum. Er wusste, dass das Opfer jeden Morgen um zehn Uhr zur Arbeit fuhr. Er hatte sorgfältig die Route des Opfers ausgespäht und hatte vor, es an einer einsamen Ecke an einem Stoppschild zu schnappen, an dem es anhalten musste, um abzubiegen. Richard arbeitete gewöhnlich lieber nicht im grellen Tageslicht, aber er tat, was auch immer der Job verlangte; und er wusste auch, dass die Leute tagsüber oft weniger vorsichtig sind, eine Tatsache, die er sich immer wieder zunutze machte.

Als das Opfer die Straße entlang auf das Stoppschild zufuhr, war Richard schon da. Er stand unschuldig neben seinem Wagen, Motorhaube und Kofferraum geöffnet, die Warnblinkanlage angeschaltet, ein freundliches Lächeln auf seinem gut aussehenden Gesicht. Er hielt eine 357er Magnum in der Hand, versteckt in der Jackentasche. Richard winkte dem Mann zu. Als das Opfer die Ecke erreichte, achtete er darauf, sich von der Fahrerseite zu nähern. Etwas genervt kurbelte das Zielobjekt sein Fenster herunter. »Ja?«, verlangte der Mann.

»Danke fürs Anhalten, Kumpel«, setzte Richard an, und im nächsten Moment, einen Wimpernschlag später, presste er die dicke blauschwarze 357er an den Kopf des Mannes, während er sich mit der anderen Hand die Schlüssel aus der Zündung schnappte, so schnell, als wäre es ein Zaubertrick.

»Was zur Hölle?«, rief der Mann. Er war ein großer, breitgebauter Typ mit einem riesigen, runden Gesicht, mehreren Doppelkinnen und einer Glatze. Richard öffnete die Tür, zog ihn heraus und zwang ihn eilig, die Pistole in seine Seite gepresst, in den offenen Kofferraum seines Wagens zu steigen.

»Ich werde Ihnen mehr zahlen – ich gebe Ihnen …«

»Halt die Klappe!« Richard brachte ihn zum Schweigen, fesselte seine Hände mit den Handschellen auf den Rücken und klebte ihm den Mund zu.

»Nur einen Laut und ich bringe dich um!«, sagte Richard mit einer vielgeübten Betonung, die furchtbar klang, wie das Knurren eines hungrigen Löwen. Er schloss Kofferraum und Motorhaube, stieg ein und fuhr langsam an. In Sekunden hatte er sich das Opfer geschnappt, ohne dass irgendwer ihn gesehen hatte. Der erste Punkt des Jobs war erledigt.

Inzwischen leuchteten die Wälder in Bucks County in bunten Farben – in strahlendem Rot, heißem Orange, gleißendem Gelb. Langsam fallende Blätter wirkten wie vielfarbige Schmetterlinge im Frühling. Richard parkte seinen Wagen an einem abgelegenen Platz. Er zog das Opfer aus dem Kofferraum, führte es zu der Höhle, die er entdeckt hatte, und fand den Platz, an dem er das Fleisch ausgelegt hatte. Er zwang das Opfer, sich auf den Boden zu legen und umwickelte dessen Knöchel, Beine und Arme gründlich mit Klebeband, fesselte ihn so sorgfältig, wie eine Spinne ihre Beute einwickelt. Die Augen des Mannes quollen vor Panik fast aus ihren Höhlen. Er bemühte sich verzweifelt zu reden, Richard all sein Geld anzubieten, alles, was er wollte, aber das graue Klebeband hielt, und nur grunzendes Gemurmel ertönte. Was er sagen wollte, hatte Richard schon unzählige Male gehört. Es waren Worte, für die er taub geworden war. Richard kannte keine Reue, hatte kein Gewissen, kein Mitgefühl. Er erledigte einen Job, und keines dieser Gefühle spielte dabei auch nur ansatzweise eine Rolle. Ruhig ging Richard zu seinem Wagen zurück. Er holte die Kamera mit ihrem Stativ, ein Licht und einen Bewegungsmelder, der sowohl das Licht als auch die Kamera anschalten würde, sobald die Ratten sich zeigten. Sorgfältig stellte Richard die Kamera und das Zubehör auf. Befriedigt schnitt er dem Mann die Kleider vom Leib – er hatte sich selbst beschmutzt – und ließ ihn so dort liegen.

Als Richard den Hügel hinunter zu seinem Wagen ging, war er neugierig darauf, was passieren würde; würden die Ratten tatsächlich einen Mann fressen, der noch lebte? Richard interessierte sich auch für seine eigenen Reaktionen auf das, was geschah. Er fragte sich oft, warum er so kaltblütig war. War er so geboren worden, oder wurde er später zu dem, was er war – war es Veranlagung oder Erziehung, die ihn zu diesem gefühllosen Monster machte? Das war eine Frage, die er sich schon stellte, seit er ein kleiner Junge gewesen war.

An diesem Tag hatte Richard versprochen, seine Töchter Merrick und Chris zu Lobels zu fahren, einem Laden für Schuluniformen. Barbara fühlte sich nicht gut und ging nicht mit. Beide Mädchen liebten es, mit ihrem Dad shoppen zu gehen, weil er ihnen alles kaufte, was sie haben wollten. Es genügte, dass sie etwas anschauten, und schon gehörte es ihnen. Richard war in extremer Armut aufgewachsen und hatte sich als Junge in Jersey City Essen stehlen müssen. Seinen eigenen Kindern sollte es niemals an etwas mangeln.

Aufgeregt saßen die zwei Mädchen neben ihrem Dad auf dem Vordersitz. Sie wussten beide, dass ihr Vater sich oft mit anderen Leuten über ihren Fahrstil stritt, und hofften, dass heute nichts Derartiges passieren werde. Es war eine Art Ritual, das sie hatten – fest zu hoffen, dass ihr Vater nicht explodieren werde, während er fuhr.

Barbara erklärte: Richard war wie ein Streifenpolizist. Er konnte einfach nicht sehen, dass jemand etwas Falsches tat, zum Beispiel abbog, ohne zu blinken, ohne dass er etwas dazu sagte. Ich meine, Sie wissen schon, etwas Unfreundliches.

Jedes der Mädchen brauchte vier Blusen und zwei Röcke für das Schuljahr. In dem Laden kaufte Richard ihnen fünf graukarierte Röcke, fünfzehn Blusen, zwei Dutzend Paar Kniestrümpfe, zwei blaue Blazer, fünf Westen und ein halbes Dutzend Sport-Outfits. Mit Dad Shoppen zu gehen war wie Weihnachten.

Froh, dass seine Mädchen glücklich waren, zahlte Richard in bar und weiter ging es. Sie würden jetzt noch in Grand Union anhalten, um ein paar Lebensmittel einzukaufen, und dann nach Hause fahren. Zwei Blocks vom Laden entfernt schnitt eine Frau in einem Kombi Richard den Weg ab. Erbost hielt er an der nächsten Ampel neben ihr, kurbelte sein Fenster herunter und beschimpfte sie, weil sie ihn geschnitten hatte. Auf der Rückbank des Wagens saßen mehrere Kinder.

»Daddy – Daddy, werd’ nicht wütend«, flehte Merrick. »Bitte, Daddy.« Aber die Frau bedachte Richard mit einem herablassenden, bösartigen Blick und ignorierte ihn, als sei er verrückt. Ein Narr. Im nächsten Moment war Richard schon aus seinem Auto gesprungen. Schnell ging er zu dem Kombi, öffnete die Tür und riss sie mit zwei Bewegungen aus den Angeln.

Verängstigt starrte die Frau ihn an.

Zufrieden stieg er wieder in sein Auto und fuhr weiter.

»Bitte, Daddy, bitte, beruhige dich«, bettelte jetzt Chris.

»Ruhe!«, verlangte er, und das schien mehr ein Knurren zu sein als ein Wort.

Vier Tage später kehrte Richard in die Höhle zurück. Die Ratten hatten den Mann bei lebendigem Leib aufgefressen. Das gesamte Fleisch war verschwunden. Im fahlen gelblichen Lichtstrahl der Taschenlampe war das Opfer jetzt nur noch eine Ansammlung verstreuter Knochen – ein unsäglicher Anblick.

Neugierig starrte Richard auf sein Werk, dieses Monster, das er erschaffen hatte. Er stellte sicher, dass die Kamera aufgezeichnet hatte, was geschehen war …, wie die riesigen Ratten sich dem un-glücklichen Mann erst vorsichtig genähert hatten, während er verzweifelt darum kämpfte, sich zu befreien; wie die Ratten dann, immer mutiger, anfingen, ihn anzunagen – erst die Ohren, dann seine Augen. Brutale kleine Monster, dachte Richard.

Richard sammelte seine Ausrüstung ein und ging. Sanfter Schneefall hatte den Wald in eine saubere Decke gehüllt. Alles war weiß, sauber und schön wie in einem Märchen. Ein feierliches Schweigen lag über der Landschaft. Er wusste, dass frischer Schnee seine Fußabdrücke verbergen werde.

Richard brachte das Videoband zu dem Mann, der ihm den Auftrag gegeben hatte.

»Hat er gelitten?«, fragte der Mann mit mürrischer Stimme. Sein Auftreten war grob, und seine Augen waren tot, wie zwei Einschusslöcher.

»Oh ja, er hat richtig gelitten«, antwortete Richard.

»Richtig?«, fragte der Mann.

»Richtig«, sagte Richard und gab ihm das Band. Zusammen sahen sie es sich an. Hocherfreut und zugleich ein wenig abgestoßen von Richard, der nicht nur an so etwas gedacht, sondern es tatsächlich getan hatte, gab der Mann ihm zehntausend Dollar für den erledigten Auftrag und weitere zehn für das unglaubliche Leiden, welches das Opfer durchlitten hatte.

»Das hast du gut gemacht«, sagte er. Richard machte seine Kunden gern glücklich; auf diese Art war sein Geschäft über die Jahre immer mehr gewachsen. Er wusste nicht, was das Opfer getan hatte, um so ein Schicksal zu verdienen. Es war ihm egal. Nichts davon ging ihn etwas an. Je weniger er wusste, desto besser.

Nachdem der Job gut erledigt war, fuhr Richard nach Hause und dachte wieder darüber nach, warum solche Dinge ihm nichts ausmachten, wie er so kalt geworden war, so völlig ohne menschliche Gefühle. Er dachte an seine Kindheit, seine Kiefermuskeln verkrampften sich, und er erzeugte dieses leise klickende Geräusch aus dem linken Mundwinkel seines Mundes. Er atmete einmal tief durch, schaltete das Radio an und suchte einen Countrymusic-Sender. Richard mochte Countrymusic. Die einfachen Texte und die vielen Wiederholungen beruhigten ihn.

Er parkte vor seinem Haus und saß dort noch eine Weile, während er darüber nachgrübelte, wieso er sich so völlig anders entwickelt hatte als andere Leute. Mit diesen Gedanken in seinem riesigen Kopf stieg Richard langsam aus dem Auto und ging ins Haus. Er bewegte sich ruhig und katzenartig, wie ein Schwergewichtsboxer auf der Höhe seiner Kraft.

Teil I

Geburt des Sensenmannes

1

Todsünde

Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war der Geburtsort von Richard Kuklinski, Jersey City, New Jersey, eine lebendige polnische Enklave. Wegen der vielen polnisch-katholischen Kirchen und einem großen Angebot einfacher Arbeit strömten polnische Immigranten scharenweise in die Stadt.

Die Eisenbahngesellschaften Lackawanna, Erie, Pennsylvania und Central hatten alle Niederlassungen in Jersey City. Züge aus den gesamten Vereinigten Staaten brachten allerlei Produkte an die Ostküste von Amerika, und hier war die Endstation. Verschiebebahnhöfe breiteten sich endlos vor der Stadt aus. Schienen liefen durch fast alle Straßen. Mitten durch die Hauptverkehrsstraße von Jersey City, die Railroad Avenue, zog sich eine große Eisenbahnbrücke. Mächtige schwarze Lokomotiven, die lange, rostfarbene Anhängerketten an die Küste schleppten, gehörten zum Alltag, das laute Tsch-tsch und die hohen Pfiffe der Dampflokomotiven erklangen aus allen Richtungen, tagsüber und nachts, sieben Tage die Woche.

Jersey City lag am nordöstlichen Ende des Staates New Jersey und in unmittelbarer Nähe zu der lebendigen Metropole Manhattan. Von hier aus wurden alle möglichen Waren die Ostküste hinauf und hinunter verschifft. Am südlichsten Ende lag Jersey City gerade eine Dreiviertelmeile über den Hudson River von Manhattan entfernt – dem Mittelpunkt der Welt –, und Fähren transportierten ohne Unterlass Güter zu den Piers im geschäftigen Hafengebiet von Manhattan. An einem klaren Tag schien es, als könne man ohne Probleme einen Stein von Jersey City nach Manhattan werfen, so nah war die Metropole – nur den sprichwörtlichen Steinwurf entfernt.

Tatsächlich unterschied sich Jersey City von New York City, als läge es auf einem anderen Planeten. In Jersey City lebten die armen Arbeiter, diejenigen, die darum kämpfen mussten, über die Runden zu kommen, das notwendige Essen auf dem Tisch zu haben. Ja, in Jersey City gab es viel Arbeit, aber es war schwere körperliche Arbeit, und die Löhne waren erbärmlich niedrig. Im Sommer war es fast unerträglich heiß und feucht. Wegen der noch nicht erschlossenen Sümpfe in der Nähe füllten wirbelnde schwarze Moskitowolken die nächtliche Luft. Im Winter war Jersey City schrecklich kalt, ständig belagert von heftigen Winden, die den Hudson River entlangbliesen und die Kälte des nahegelegenen Atlantiks mit sich brachten. In diesen Monaten schien die Stadt im Norden Sibiriens zu liegen.

Jersey City, das direkt neben Hoboken, der Geburtsstadt von Frank Sinatra lag, war eine wilde Stadt, gefüllt mit abgebrühten Arbeitern und ihren Kindern. Es war ein Ort, an dem ein Kind schnell lernen musste, sich zu verteidigen, oder es wurde schikaniert und gemobbt. Die Starken wurden respektiert und kamen voran. Die Schwachen wurden an den Rand gedrängt und ausgenutzt.

Richard Kuklinskis Mutter, Anna McNally, wuchs im Herz-Jesu-Waisenhaus an der Ecke Erie und Ninth Street auf. Ihre Eltern waren 1904 aus Dublin emigriert und ließen sich in Jersey City nieder, das zu dieser Zeit die zehntgrößte Stadt in Amerika war. Anna hatte zwei ältere Brüder, Micky und Sean. Kurz nachdem die Familie in Jersey City angekommen war, starb Annas Vater an einer Lungenentzündung, und ihre Mutter wurde an der Tenth Street von einem Lastwagen überfahren. Anna und ihre Brüder landeten im Waisenhaus. Obwohl unterernährt, war Anna ein gutaussehendes Kind mit dunklen, mandelförmigen Augen und einer makellosen cremefarbenen Haut.

Im Herz-Jesu-Waisenhaus wurde den Kindern die Religion aufgezwungen, und sadistische Nonnen prügelten in Anna die Angst vor Gott, der Hölle und der Verdammnis hinein. Die Nonnen behandelten ihre Schützlinge, als seien sie eine Mischung aus Bediensteten und Prügelknaben. Bevor Anna zehn Jahre alt war, wurde sie von einem Priester sexuell missbraucht. Sie verlor ihre Jungfräulichkeit und einen Teil ihrer Menschlichkeit und wuchs zu einer harten, kalten Frau heran, die selten lächelte und das Leben durch starre, gefühllose Augen betrachtete.

Als Anna mit achtzehn gezwungen war, das Waisenhaus zu verlassen, wechselte sie in ein katholisches Nonnenkloster. Sie wollte selbst Nonne werden. Sie hatte keine anderen Begabungen und keinen Ort, an den sie gehen konnte. Aber Anna war nicht für das Klosterleben geboren. Bei einem von der Kirche veranstalteten Tanzabend traf sie bald Stanley Kuklinski und damit war ihr Schicksal besiegelt.

Stanley Kuklinski war in Warschau zur Welt gekommen und später mit Mutter, Vater und zwei Brüdern nach Jersey City emigriert. Mit sechsundzwanzig, als Stanley Anna zum ersten Mal traf, war er ein gutaussehender Mann, der ein wenig Rudolph Valentino ähnelte. Er trug einen Mittelscheitel und kämmte seine Haare mit Gel nach hinten, wie es zu der Zeit modern war. Stanley war von Anna bezaubert und umwarb sie hartnäckig. Ungefähr drei Monate, nachdem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, ging Anna auf Stanleys Werben ein. Sie heirateten im Juli 1925. Die Hochzeitsbilder zeigen ein sehr attraktives Paar, das gut zusammenzupassen schien. Anna hatte sich zu einer wirklich schönen Frau ausgewachsen. Sie ähnelte Olivia de Havilland in Vom Winde verweht.

Stanley hatte einen relativ guten Job als Bremser für die Lackawanna Railroad Company. Es war nicht wirklich harte Arbeit, auch wenn er immer im Freien war und sowohl unter der Sommerhitze als auch unter der eisigen Kälte des Winters zu leiden hatte. Zu Anfang schien die hastig geschlossene Ehe zwischen Stanley und Anna eine gute zu sein. Sie mieteten sich in einem zweistöckigen Backsteinhaus an der Third Street eine Wohnung ohne Heizung, gerade einen Block von der Kirche St. Mary’s entfernt. Aber Stanley trank gern, und wenn er trank, wurde er reizbar und bösartig. Bald war Anna klar, dass sie einen eifersüchtigen, besitzergreifenden Tyrannen geheiratet hatte, der sie bei der leisesten Provokation schlug, als sei sie ein Mann. Weil Anna in der Hochzeitsnacht keine Jungfrau mehr war – sie brachte es niemals über sich, ihrem Ehemann zu erzählen, dass sie wieder und wieder von einem Priester vergewaltigt worden war –, beschuldigte Stanley sie, ein Flittchen zu sein, eine Hure. Sie hasste diese verbalen Misshandlungen, ertrug sie aber stoisch. Doch Stanley wurde sehr oft auch gewalttätig. Er war kein großer Mann, aber stark wie ein Bulle. Anna war in Versuchung, ihrem Bruder Micky von den Misshandlungen zu erzählen, aber sie wollte eine schlimme Situation nicht noch schlimmer machen, und zu dieser Zeit war Scheidung nicht einmal eine Möglichkeit. Anna war immer noch hochreligiös, und gute irisch-katholische Frauen ließen sich nicht scheiden. Punkt.

Im Frühling 1929 gebar Anna einen Jungen, eines von vier Kindern, die sie mit Stanley bekommen würde, bis die Ehe schließlich schiefging und endete. Sie nannten ihn nach Stanleys Vater Florian. Anna hatte kaum Erinnerungen an ihre eigenen Eltern; die einzigen Erinnerungen, die sie an ihre Kindheit hatte, waren schlechte – an Schläge und Misshandlungen.

Anna hoffte, dass Stanley mit einem Kind im Haus sanfter würde, aber genau das Gegenteil trat ein. Wann immer er trank, beschuldigte er Anna der Untreue, behauptete sogar, dass Florian nicht sein Sohn sei, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen habe, während er bei der Arbeit war.

Manchmal war Stanley nett zu dem kleinen Florian, aber größtenteils schien ihm das Kind egal zu sein, und es dauerte nicht lange, bis Stanley auch Florian schlug. Wenn Florian schrie, wurde er geschlagen, wenn Florian ins Bett machte, wurde er geschlagen, und Anna konnte nichts dagegen unternehmen. Ihre Reaktion war, dass sie in die Kirche ging, Kerzen anzündete und betete. Anna konnte nirgendwo anders hin, und sie fing an, Stanley zu hassen. Oft dachte sie darüber nach, ihn zu verlassen, ja sogar ihn zu töten, aber nichts davon setzte sie je in die Tat um.

Immer noch hatte Stanley regelmäßig Sex mit Anna, ob sie wollte oder nicht. Er hielt sich selbst für einen echten Weiberheld und rollte sich oft ohne Warnung oder Vorspiel auf Anna: Zack, bumm, vorbei.

Anna wurde zum zweiten Mal schwanger und gebar am 11. April 1935 einen zweiten Jungen, den sie Richard nannten. Er wog knappe fünf Pfund und hatte dichtes Haar, das so blond war, dass es fast weiß erschien.

Mit steigenden Rechnungen und einem weiteren Kind, das essen wollte, wurde Stanley immer bösartiger und unnahbarer. Wenn er am Freitag nach Hause kam, war er immer betrunken, und oft roch er nach anderen Frauen und hatte Lippenstift am Kragen. Aber Anna konnte kaum etwas tun, denn Stanley prügelte sie, ohne zu zögern. Er betrachtete sie als sein persönliches Eigentum und missbrauchte sie auf jede Art, die ihm einfiel. Noch schlimmer, er gewöhnte sich an, sowohl Florian als auch Richard für echte und eingebildete Vergehen zu schlagen. Beide Jungs lernten, ihren Vater zu fürchten und zu hassen, und sie entwickelten sich zu zurückhaltenden, fast krankhaft scheuen Kindern. Stanley trug einen breiten Ledergürtel, und wann immer es ihm einfiel, zog er ihn aus der Hose und peitschte damit gnadenlos seine Söhne. Wenn Anna versuchte, dazwischenzutreten, wurde auch sie geschlagen. Gewalt schien Stanleys sexuellen Appetit anzuregen – oft wollte er Sex, nachdem er seine Frau und seine kleinen Söhne geschlagen hatte, und bevor Anna wusste, wie ihr geschah, zwang er sich ihr schon auf.

Richard erinnerte sich an keine Zeit, zu der sein Vater ihn nicht geschlagen hätte. Er erzählte: Wenn mein Vater – Vater, das ist ein Witz – nach Hause kam und ich »Hallo« sagte, begrüßte er mich mit einem Schlag ins Gesicht.

Stanley trank starken Whisky und anschließend Bier. Wenn er trank, wurde er noch bösartiger, und seine Gewalttätigkeit stieg ins Unendliche. Er gewöhnte sich an, sich den Gürtel um seine Faust zu wickeln und seine Söhne damit zu prügeln. Es war, als werde man von einem Kantholz getroffen. Mit Vorliebe schlug er sie mit seiner so umwickelten Faust gegen den Kopf, und oft schlug er sowohl Florian als auch Richard bewusstlos. Richard entwickelte eine solch tiefe Angst vor seinem Vater, dass er sich oft in die Hosen machte, sobald er ihn sah oder seine Stimme hörte, was nur dazu führte, dass Stanley wütend wurde und den Jungen schlug, weil er sich nass gemacht hatte. Nach und nach prügelte Stanley so essenzielle menschliche Gefühle wie Mitgefühl und Einfühlungsvermögen aus seinem Zweitgeborenen hinaus und legte damit den Weg fest, den Richards Leben letztendlich nehmen würde.

Schließlich tat Stanley Kuklinski das Unaussprechliche – er tötete seinen Sohn Florian bei einer seiner Prügelattacken. Er schlug den zerbrechlichen Jungen so auf den Hinterkopf, dass das Kind zu Boden fiel und nie wieder aufstand. Stanley zwang Anna, Familie und Freunden sowie den Behörden zu sagen, dass Florian gestorben war, weil er sich bei einem Sturz auf der Treppe den Kopf angeschlagen hatte. Niemand hinterfragte diese Geschichte, und Florian Kuklinski wurde im Wohnzimmer aufgebahrt, nur einen Block von der Kirche St. Mary entfernt, wo seine ungleichen Eltern geheiratet hatten.

Richard war gerade fünf Jahre alt, als sein Bruder von Stanley umgebracht wurde. Anna erzählte Richard, Florian sei von einem Auto angefahren worden »und gestorben«. Richard hatte keine Vorstellung davon, was der Tod wirklich war. Er wusste nur, dass Florian in einem billigen Holzsarg im Wohnzimmer lag, als würde er schlafen, aber nicht mehr aufwachen. Seine Mutter und andere Verwandte weinten, beteten, zündeten Kerzen an, hielten glänzende Rosenkränze in den Händen, dennoch wachte Florian nicht auf. Der fünfjährige Richard starrte auf seinen unheimlich blassen, toten Bruder, den einzigen Freund, den er je gekannt hatte, und fragte sich, warum er nicht aufstand. Bis jetzt war er immer wieder aufgestanden …

Wach auf, Florian, wach auf, bettelte er stumm. Lass mich nicht  Bitte, lass mich hier nicht allein. Florian  Florian, bitte wach auf.

Florian wachte niemals wieder auf.

2

Lektionen der Straße

Nach dem Mord an Florian ließ Stanley kurze Zeit von Richard ab, aber bald schon fiel er wieder in alte Gewohnheiten zurück. Die Misshandlungen wurden sogar noch brutaler und häufiger. Stanley schien Richard für alle Ungerechtigkeiten verantwortlich zu machen, die ihm jemals widerfahren waren, und prügelte seinen Sohn regelmäßig und rücksichtslos. Annas Antwort darauf war immer noch, in die Kirche zu gehen und still Gott um Hilfe zu bitten – sogar nachdem Stanley Florian umgebracht hatte. Sie gewöhnte sich an, das Gesicht zur Wand zu drehen und inbrünstig zu beten, während Stanley den jungen Richard schlug. Oft ging Richard mit Schmerzen und Verletzungen ins Bett; manchmal war sein ganzer Körper mit auberginefarbenen Flecken übersät, und die Prellungen waren so schmerzhaft, dass er nicht einmal auf die Straße oder in die Schule gehen konnte.

Richard wuchs – wenig überraschend – zu einem extrem scheuen, verlegenen Kind heran, das wenig Selbstvertrauen hatte. Er sah die Welt als einen brutalen, gewalttätigen Ort voller Schmerz und Aufruhr. Oft fragte er sich, wo sein Bruder Florian wohl war, konnte es aber niemals herausfinden. Seine Mutter erklärte ihm, er sei »im Himmel«, aber er hatte keine Ahnung, wie man dort hinkam. Richard hatte Florian sehr nahegestanden, hatte sich an ihm festgeklammert, wenn ihr Vater ihre Mutter schlug und das Wenige zerstörte, das die Familie besaß. Und jetzt war Florian fort, und Richard musste sich seinem Vater allein stellen. Er war ein dünner, zerbrechlicher Junge, und es dauerte nicht lange, bis die Jungs der Nachbarschaft anfingen, auf ihm herumzuhacken. Das verstärkte Richards Gefühl der Isoliertheit. Seine Feindseligkeit und seine Ängste wuchsen weiter.

Zwei irische Brüder, die im selben Wohnblock lebten, lauerten Richard regelmäßig auf. An einem Samstagmorgen verpassten sie ihm eine besonders heftige Tracht Prügel. Richard gelang es fortzulaufen. Stanley war an diesem Tag zu Hause und hatte durch das Fenster beobachtet, was passiert war. Als Richard in der Wohnung ankam, zog Stanley seinen Gürtel aus den Schlaufen und schlug den Jungen, während er verlangte, dass Richard nach unten ging und gegen die Brüder kämpfte. »Keines meiner Kinder wird ein Feigling!«, brüllte er und schlug Richard mit dem Gürtel ins Gesicht.

Verwirrt, mit brennendem Gesicht, in dem sich ein Striemen abzeichnete, eilte Richard wieder nach unten. »Schnapp sie dir«, befahl Stanley vom Fenster aus, und Richard tat, was man ihm gesagt hatte. Mit neugewonnener Wildheit und aufgestautem Hass stürzte er sich auf die Brüder, erwischte sie in einem unvorbereiteten Moment und verpasste ihnen eine heftige Tracht Prügel. Ihr Vater, ein großer, schlaksiger Ire namens O’Brian, kam aus dem Haus und schubste Richard grob zur Seite.

Überrascht beobachtete Richard, wie Stanley plötzlich aus dem Fenster im ersten Stock sprang, auf seinen Füßen landete, über die Third Street stürmte und O’Brian schlug. Er sagte: »Als deine Kinder meinen Jungen verprügelt haben, hast du zugeschaut und nichts unternommen. Wenn mein Junge sich wehrt, mischst du dich ein.« Dann schlug er so hart zu, dass O’Brian vor allen Zuschauern bewusstlos auf den Gehweg fiel.

Richard wollte zu seinem Vater laufen, ihn umarmen und ihm dafür danken, dass er alles in Ordnung gebracht hatte. Doch er wusste, dass er das niemals konnte. Offene Zuneigung zu seinem Vater zu zeigen war verboten. Richard lernte an diesem Samstagmorgen, dass Macht vor Recht kommt. Er fragte sich oft, warum sein Vater und seine Mutter ihn nicht mochten, was er getan hatte, um dieses Desinteresse und all die Gewalt zu verdienen. Er zog sich tiefer und tiefer in sich selbst zurück, war immer allein, schien keine Freunde zu finden; und langsam wuchs eine brodelnde, heiße Wut in dem kleinen Jungen heran.

Da Stanley den Großteil des Geldes an den Wochenenden in den Bars von Jersey City und Hoboken mit Saufen und Herumhuren verschleuderte, hatte die Familie nur wenig, und es gab nie genug zu essen oder warme Kleidung. Alle Kleider, die Richard besaß, waren zerrissen und dreckig. Seine Schulkameraden fingen an, ihn als »dummen Polacken« oder wegen seiner schlaksigen Arme und Beine auch als »dürre Vogelscheuche« zu verspotten. Richard entwickelte schnell einen Minderwertigkeitskomplex, der ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde. Zwischen den polnischen, italienischen und irischen Kindern gab es heftige Fehden, und Richard wurde zum Ziel der Bösartigkeit der irischen und italienischen Kinder. Sie zogen ihn wegen der Löcher in seinen Kleidern auf und wegen seiner zerschlissenen Schuhe. Anna schien kein Interesse an Richards Aussehen zu haben; ihre einzige Sorge galt der Kirche, dem Beten des Rosenkranzes und dem Anzünden von Kerzen – wovon nichts ihrem Sohn half.

Bald war Anna wieder schwanger und gebar, zu früh, ein Mädchen, das sie Roberta tauften. Dann wurde sie erneut schwanger, und die Kuklinskis hatten ein viertes Kind, einen Jungen, den sie Joseph nannten. Er sollte, wie sein älterer Bruder Richard, zu einem unbarmherzigen Killer werden – einem Psychopathen.

Dass er drei kleine Kinder ernähren und kleiden musste, machte Stanley noch bösartiger. Er gewöhnte sich an, Huren, die er in Bars aufgegabelt hatte, mit nach Hause zu bringen und in der Wohnung mit ihnen zu schlafen, wann immer es ihm gefiel. Wenn Anna sich beschwerte, schlug er sie mit dem Gürtel, seinen Fäusten und seinen Füßen. Er war der König im Haus und würde tun, was auch immer er wollte. Einmal versuchte Richard, seiner Mutter zu Hilfe zu eilen, und Stanley schlug ihn so hart auf den Kopf, dass Richard die halbe Nacht bewusstlos war. Als er wieder zu sich kam, hatte er eine Beule von der Größe einer Zitrone am Kopf und konnte sich stundenlang nicht mal an seinen eigenen Namen erinnern. Richard lernte, seinen Vater zu hassen, und malte sich oft aus, wie es wäre, ihn umzubringen.

Schließlich ließ Stanley sich mit einer Polin ein und kam, zur großen Erleichterung aller, immer seltener nach Hause. Anna hatte jetzt zwei Jobs: Tagsüber arbeitete sie in einer Fleischverpackungsfirma und abends als Putzfrau in St. Mary’s.