Mrs U. liebt das Meer
Aus dem amerikanischen Englisch
von Friedhelm Rathjen
Crawford, Stanley: Mrs U. liebt das Meer
Erste Auflage 2017
Originalausgabe:
„Log of the S.S. – The Mrs Unguentine“
Zuerst erschienen bei Alfred A. Knopf, Inc., 1972
© 1972 Stanley Crawford
Deutsche Ausgabe:
© 2017 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH, München
Übersetzung: Friedhelm Rathjen
Lektorat: Inka Marter
Korrektorat: Ilona Buth
Umschlaggestaltung: CosmosMedia, Cornelius Schödl
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Printed in Germany
ISBN: 978-3-944153-37-7
www.louisoder-verlag.de
Für Rosemary
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Der Name lautet Mrs Unguentine. Damit geboren wurde nicht ich, er wurde es. Verheiratet wurden wir per Telefon, als das große Kabel am Meeresgrund verlegt wurde, lange bevor sich das Wetter dermaßen verschlechterte; so machte man das damals, wohl wahr, so machte man es. Irgendein Hohepriester machte uns per Konferenzschaltung zu Mann und Frau oder segnete jedenfalls die Telefonleitung, die Elektroden, oder was auch immer. Und sorgte dafür, dass ich alle meine Namen von mir abwarf, Mädchen- und Vor- und Mittelname, und heraus kam Mrs Unguentine.
Vor vierzig Jahren tat ich mich mit Unguentine zusammen, und wir liebten uns auf doppelrümpfigen Katamaranen, Segel prall gefüllt, glückselige See, aber Unguentine – dessen verflucht ereignisloses Leben inzwischen beendet ist – erwies sich als brutaler Bastard, der mich jedes Mal ums Haar zu Tode prügelte, sobald Land in Sicht kam, nicht meinetwegen, nicht des Landes wegen, sondern der Trunksucht wegen, dieser Neigung zum Alkohol, der er frönte bis zum allerletzten Moment, als seine grauen Lippen zum letzten Mal das blaue Meer berührten, dem Augenblick seines Todes. Selbstmord. Darum segelte ich also dieses Schiff, segelte es über jede Handbreit Wasser unserer Ehe hinweg.
Damit nicht genug. Als er über Bord ging, die Flasche am Hals und wahrscheinlich, ein Opfer seiner verrotteten Leber, schon tot, als er in die Gischt purzelte, was erblickte ich da in seiner Gesäßtasche? Der Tasche, die ein schwabbeliges Hinterteil bedeckte? Was erblickte ich da? Unsere gesammelten zusammengerollten Seekarten, die also mit ihm auf den Grund sanken, und da war ich nun, allein inmitten eines bösen Sturms weitab vom nächsten Land. Er hat mir noch ein letztes Mal einen versetzt, bevor er starb, wenn auch nur noch lahm. Ich hätte es wissen sollen. Kein Fitzelchen Land in Sicht. Und jetzt frag ich mich doch, warum ich mich überhaupt damit aufhalte, mit diesem dreitausendundsicherlichsoundsovielten Mal, das es wohl gewesen sein muss, wenn wir alles zählen, Unguentine, den brutalen Bastard, den Katamaran, den Alkohol, die glückselige See, den Selbstmord, die Segel, das Wie und das Wo, denn warum soll man irgendwas noch weiter multiplizieren und alles noch höher auftürmen, bis man drunter erstickt?
Trotzdem dieser Gedanke, alles Elend meines Lebens mit Unguentine hätte ich mir womöglich selbst eingebrockt, also den Katamaran, die einsame See, den Ehestand, den ersten fatalen Schluck aus der Flasche und so weiter. Weil ich ihn anschrie über den Wind hinweg, während er sich an die Ruderpinne lehnte, Pfeife oder Zigarre oder Babyrassel zwischen die Zähne geklemmt, denn alles, was er wollte, waren das Meer und die Tiefen, während ich nach Gesellschaft heulte, nach meinen alten und lieben und so lange verlorenen Freunden, während ich ihm noch einen Drink einschenkte und er sich Traumbilder antrank vom ewigen Aufbruch über noch von keinem Menschen besudelte Ozeane hinweg, in denen Frauen Segel oder Netze oder Kleider flickten und sangen, nicht sprachen, mit dem Wind sangen und mit Bugen, die türkise Lasuren durchschlitzten. Unguentine war einer, dem an Land übel wurde, er konnte über keinen festen, unbeweglichen Boden gehen, ohne vor dem Gedanken zu erzittern, alles könne zersplittern und zu Fitzeln zerbröseln und mit dem Staub ausgeklopfter Matratzen in irgendeinem riesigen Loch verschwinden. Sein Landasthma. Wahrlich kein Wunder, denn was man damals Land nannte, dieser Saustall, war eine beklagenswerte Oberfläche, für nichts anderes geeignet als einen grauenhaften Verkehr. Ich aber hielt ihn an Land fest, ich zwang ihn zum Seilhüpfen. Er hüpfte. Unser letztes Schiff war ein Lastkahn, so ein Lastkahn, wie man ihn dazu benutzt, Müll aufs Meer zu karren. Auf andere Weise würde ich nie wieder auf See hinausfahren, sagte ich. Wir kriegten das Ding zu einem Spottpreis, inklusive Müll und was dazugehört, Fäulnis, Gestank und ein Schwarm zänkischer Möwen. Wir überdeckten den Müll mit Erde und pflanzten Bäume und Blumen, und wir hatten eine große Plane mit Messingbeschlägen, mit der wir alles gegen Wind und Wellen sicherten, und so setzten wir die Segel und schlugen einen Kurs ein, mit dem wir uns in den gemäßigten Zonen hielten, meiner Pflanzen wegen. Und häufig wurden wir von feindseligen Flotten gestoppt, die derlei noch nie zu Gesicht bekommen hatten; einmal wurden wir von einer verarmten Regierung aufgebracht, die die Gelegenheit ergriff, durch Beschlagnahme billig an eine Insel zu kommen. Während ich meine Pflanzen wässerte, trank Unguentine. An dem einen oder anderen Äquator ergänzte ich das Ganze um Hunde und eine Katze, die Fische fraßen und Fäkalien für meinen Garten beisteuerten, der so gut gedieh, dass er stellenweise undurchdringlich wurde, während rankenumschlungene, blättrige Zweige praktisch über dem ganzen Kahn hingen, so dass wir tagelang herumschweifen konnten, ohne einander zu sehen, ein jeder auf seinem jeweiligen Ende dem amüsierten Staunen über verblüffende Vögel hingegeben, die uns dort heimsuchten. Ich redete mir ein, er sei glücklich. War es denn nicht das Jahr, in dem er den Witz riss? Und es war sogar das Jahr, in dem er sagte, er würde lieber nicht so viel reden. Man vergesse nicht, dass ich die Katze und die Hunde hatte. Ich hörte ihm nicht sonderlich aufmerksam zu. Sein unglückliches Ende kam für mich daher zwei Tage darauf vollkommen überraschend, und sogleich nach dem Sturz ins Meer – dem selbigen, Flasche, graue Lippen, gischtige See –, sofort nach seinem Sturz flitzte ich ins Ruderhaus im Bestreben, den Kahn meiner Trauer zum Trotz auf dem richtigen Kurs zu halten und eine mögliche Versenkung zu verhindern. Ich war noch nie zuvor im Ruderhaus gewesen. So kann man sich meine Überraschung und Bestürzung wohl ausmalen, als ich die Tür aufriss und hineinstolperte und das Ruderrad ergriff und durch die Fenster sah nach vorn oder achtern oder backbord oder was auch immer, ewig verwirrt von diesen albernen nautischen Begriffen und voller Hass auf den haarigen Mann, der sich ihrer grinsend bediente. Naturgemäß aber war durch die Fenster gar nichts zu sehen, abgesehen von der dichten Vegetation des Gartens, was heißt, dass Unguentine diese ganzen Jahre hindurch steuerte, ohne die geringste Ahnung zu haben, wohin er steuerte; und so nun ich. Der Sinnspruch seines Todes hatte einen schlichten Wortlaut, zu lesen auf einer Visitenkarte, die vor dem Ruderrad zwischen Glas und Rahmen des Fensters klemmte: „Ausführung elementarer Schiffs- und Bootsreparaturen“. Das sah ihm vollkommen ähnlich, sah Unguentine ähnlich in seiner Bedächtigkeit, Überlegtheit und Zerstörungswut. Ich wusste es. Er musste diese Visitenkarte schon seit Jahren für genau diesen Augenblick aufbewahrt haben. Unser Kahn aber hatte ganz gewiss keinerlei Reparaturen nötig. Nicht eine einzige.
Unguentine, Selbstmord, die Visitenkarte, der Kahn, Sprung des Alkoholikers ins Meer, Flasche, graue Lippen, in die Strömung hängende Zweige. Das ist die Reihenfolge, die schreckliche Kette, und inmitten meiner Verzweiflung, nicht mehr zu wissen, wie oft ich das schon erzählt habe und ob ich es je einmal gut und ordentlich zu Ende erzählen werde, kommen mir doch Zweifel betreffs jener Visitenkarte, Ausführung elementarer Schiffs- und Bootsreparaturen, und was wohl wäre, sollte die doch nichts mit seinem Tod zu tun haben. Zufall? Die Visitenkarte also hineingesteckt in diesen kleinen Gummispalt zwischen dem Glas und dem lackierten Holzrahmen des Ruderhausfensters unseres Kahns hoch zur See, beiläufig hineingesteckt im sommerlichen subäquatorialen Januar elf Monate vor seinem Tod, im November nämlich, ohne den geringsten Zusammenhang? Möglich? Falls dem so ist, heißt das nämlich, dass mein Unguentine mit seinem wallenden weißen Haar und seinem gelben Bart, der sich um seinen Mund legte wie eine Wolke am späten Nachmittag, es heißt, dass er mich ganz ohne Botschaft zurückgelassen hat, ohne letzte Worte, ohne Schlussnote, abgesehen von dem Akt des Verschwindens als solchem. Kann ich sagen, dass er ganz ohne persönliche Note gestorben ist? Nicht nur kein Sturz über Bord mit der Flasche am Hals und den Seekarten in der Gesäßtasche? Vielleicht gäb’s dann überhaupt nichts zu erzählen, keine in Wasser geschriebene Interpunktion seines ereignislosen Lebens, kein Lärm, kein Fehler; nur sein Schweigen.
Manchmal, wenn ich es leid bin, die Dinge auf diese flache, dreidimensionale Weise zu sehen, mit der man einstmals so prahlte, zwei plus zwei, und der ganze Rest, dann scheint es keinen genau zu benennenden Augenblick mehr zu geben, in dem der alte Unguentine aus meinem Leben verschwand, vielmehr scheint es fast ein sukzessiver Prozess gewesen zu sein, der sich über viele Jahre erstreckte und Teil eines größeren Rhythmus war, so als folge auf sein Verschwinden im Zuge irgendeines sanften Naturgesetzes sein sukzessives Wiederauftauchen, dass er also zurückkommen werde und so weiter und so fort. Und tatsächlich wusste ich, als ich mich in das Ruderhaus vorwagte an dem Tag, da ich wusste, er war dahin, dass meine Hände auf dem Ruderrad genau das tun würden, was sie tun müssten, dass all diese achtlos mitgehörten Bemerkungen über Seekarten und Sterne und Seezeichen und Leuchttürme, Anker, Piers, Wellen, Dünungen und so weiter, dass all dies sich schließlich zu einer Ordnung fügen würde, und dann würde ich unseren Kahn zuversichtlich den leuchtenden braunen Wolken einer üblen und doch prächtigen Stadt entgegensteuern, um dort dann all dieser Wanderungen ledig zu werden. Aber wie ich schon sagte, waren da auf dem ganzen Kahn nirgendwo irgendwelche Seekarten zu finden, weswegen ich eben vermute, er hat sie mitgenommen, falls er denn jemals zum Steuern auf solche Hilfsmittel zurückgegriffen haben sollte – wobei ich an diesem Punkt aber doch annehme, wenn man irgendwo außer Sichtweite des Landes segelt, muss man Karten dabeihaben. Wobei der springende Punkt ist, da nun einmal keine Seekarten vorhanden waren, sollte ich zumindest auf den Garten verzichten, der mir den Blick aus dem Ruderhaus komplett verstellte und jedes Steuern unmöglich machte – und hier nun trifft mich wie ein Schlag die praktisch unerträgliche Wahrheit, dass meine erste Reaktion auf Unguentines Tod darin bestand, den Garten abzuholzen. Und so muss ich mich nunmehr, so viele Jahre später, so weit entfernt vom Schauplatz, doch fragen: wessen Garten? Hier die liebeserfüllte Trauer, die die geschätzten Besitztümer der Toten auf den Scheiterhaufen wirft? Hier das reine Entzücken über den schlussendlich nun schutzlosen Garten? Hack? Hack?
Ersteres. Denn bei dem Garten auf unserem Kahn handelte es sich um nichts anderes als jene berühmten Unguentinischen Gärten, die mehr als dreißig Jahre lang in überschäumender Freude von den Feuerlöschbooten sämtlicher Anlaufhäfen, in denen es solche gab, gewässert wurden. Wie habe ich mir anmaßen können, diese Gärten jemals als meine zu bezeichnen, die großartigen Unguentinischen Gärten, cherchez la femme? Wohl wahr, Eifersucht ist mir nicht fremd gewesen. Ich habe es mit angesehen, wie die Gärten sich aus winzigen Sämlingen und schlaffen Ablegern zu überhängenden Blütenmeeren von solcher Pracht entwickelten, dass Ozeanriesen von ihren penibel einzuhaltenden Routenplänen abwichen, nur um einen Blick aus der Nähe zu erhaschen und aus einer Meile Abstand den Düften ihren Beifall zu spenden; und zu Bäumen, die Ehrenpreise von Gremien honoriger Männer einheimsten, die es gewohnt waren, im Zuge jener blutverschmierten Großsäugerverschwörung, von der ich damals so viel hörte, keinem Gegenstand ihre Aufmerksamkeit zu schenken, der weniger beweglich ist als dahinschnellende Pferde und dahindonnernde Elefanten. Die großartigen Unguentinischen Gärten, ja, wer hatte nicht von ihnen gehört in ihrer Blütezeit vor langen Jahren, als das Wetter noch so viel besser war als heute, ja heute, wo die Gärten gefällt und dahin sind, dahin zudem auf eine solche Weise, dass die Zeit es mir nicht erlauben wird, ihre Geschichte, ihre lächerliche Geschichte zu erzählen; die Dinge wachsen, die Dinge sterben, so sieht’s aus. Und Unguentine war derjenige, der vor vierzig Jahren die Bäume in meinem Blumengarten auf dem Kahn pflanzte, auf einem besonders sonnigen Breitengrad, auf seine stille Art und Weise, vor dem Frühstück, zu jener Dämmerstunde, da die meisten von uns ihre Gliedmaßen sortieren und ihre Körper nach den Wucherungen und Verheerungen absuchen, von denen wir überzeugt sind, dass ein bösartiger Schlaf sie uns zugefügt hat, einfach so, im Handumdrehen, pflanzte er zwischen dem Anwerfen des mächtigen Dampfmotors und dem Lichten des Ankers schnell mal eben zwanzig Setzlinge, flickte nebenbei sogar noch ein Loch in der Flagge. Er war durchaus imstande, schnell zu arbeiten. Und was wuchsen sie aber auch, seine Bäume, unter der subtilen Regie seiner trefflichen navigatorischen Fähigkeiten, die im Verlauf eines Jahres vier Frühlinge, vier Sommer, vier Herbste und vier Winter ausfindig machten in mehr als sechzehn Meeren und Ozeanen und Buchten und Meeresarmen im Norden wie im Süden, und dies auf eine Weise, dass seine Bäume viermal schneller wuchsen als irgendwas an Land, während unser Kahn auf der Karte einem Kurs folgte, um den ihn ein geflügeltes Insekt bei seinen geschickten Ausweich- und Fluchtmanövern unter Schwalben beneidet hätte. Ihre Stämme kräftig und prall und wohlgeformt auf diese spezielle Weise, wie man sie nur im Hochseeanbau erzielt; ihre Blätter gefärbt in vielfältige Grüntöne, schillernd und changierend, geprägt durch die fremdartigen Reifeprozesse in Frühlingen und Herbsten vielfältigster Breitengrade. Aber während die Bäume geordnet in die Höhe sprossen und ihre Blätter austrieben, dann wieder abwarfen, stand es weit weniger gut um mich und meine Blumen, die wir den permanenten Klimawechseln weit weniger widerstandsfähig begegneten. Monatelang blieb ich ganze Nächte auf. Man kann es sich vorstellen. Einige der zarteren Arten, die ich schon seit Jahren züchtete, absolvierten Knospung, Blüte und Samenwurf innerhalb von anderthalb Stunden in Reaktion auf die Photosynthesekrise, während wir von übereilten Frühlingen in plötzliche Sommer hinüberglitten und noch um Mitternacht vierzig Grad hatten. Mit Rechen und Hacke und Gartenschere hastete ich umher, um in der einen Minute verwelkte Blumen auszurupfen, in der nächsten neue zu pflanzen und dabei ständig zu meinem riesigen Komposthaufen und zurück zu laufen, dem offensichtlichen Endprodukt der ganzen hektischen Generationenfolge, gewässert mit meinen Tränen, meinem Schweiß, die Arme ständig am Rudern nach den Schwärmen fremdländischer Insekten, die oftmals so dicht waren, dass sogar die Möwen Abstand hielten, bis zum Morgengrauen und darüber hinaus, bis ich mich beim Aufwachen dabei ertappte, noch Mittags mit einer Taschenlampe in unserem Kahngarten umherzutappen, das Werkzeug bei irgendeiner Notbestäubung in der vorausgegangenen Nacht.
Mrs Unguentine