Ebook Edition
Murt, der Ire
oder
Die Insel des Mondes
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ISBN 978-3-946778-03-5
© Verlag fifty-fifty, Frankfurt/Main 2017,
in Vertriebskooperation mit der Westend Verlag GmbH
Umschlaggestaltung: MXD, Westend Verlag
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Für Usch
Für Jens, Timm, Robin, Tom
Für Larry
Dirk Koch, Jahrgang 1943, war zwischen 1973 und 1997 Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros in Bonn. Er deckte 1981 die Flick-Spendenaffäre auf, in deren Folge Otto Graf Lambsdorff zurücktreten musste. Dirk Koch begleitete ab 1969 Helmut Schmidt auf seinen Reisen nach Moskau, der dort Wege einer Entspannungspolitik erkunden wollte, und fuhr 1970 mit Willy Brandt in dessen Sonderzug Richtung Erfurt, um der DDR den ersten Kanzlerbesuch abzustatten.
2016 erschien von ihm im Westend Verlag Der ambulante Schlachthof oder Wie man Politiker wieder das Fürchten lehrt.
Dirk Koch lebt in der Nähe von Bonn und in Irland.
Beim vierten Jameson in Mary Ann’s Bar an der steilen Straße hinab zum Hafen von Castletownshend beugte sich Larry am Tresen zu mir hin: »Also, ich bewundere dich.« Ich sei viel mutiger als er.
»Niemals«, sagte er und schwieg. Nippte am halbvollen Whiskeyglas, saugte paffend die Streichholzflamme in den schwarz gebrannten Pfeifenkopf. »Niemals«, wiederholte er, nie würde er einen Fuß in eine dieser höllischen Klapperkisten der Aer Lingus setzen oder gar darin fliegen. Ob ich das eigentlich wisse? Dass die Maschinen nur durch die Kraft der Gebete des mitreisenden Bodenpersonals des HERRN in der Luft gehalten würden?
Beim nächsten Landeanflug auf das irische Cork Anfang der 1970er sah ich hinter mich in den Passagierraum. Ja, es stimmte. In bald jeder zweiten Reihe saßen schwarz gekleidete Priester oder grau gewandete Nonnen, auf Heimatbesuch aus den USA oder auf dem Rückweg von den Besuchen ihrer ausgewanderten katholischen Schäfchen in der britischen Diaspora. Auch auf den Sitzen neben mir zwei Nonnen. Beruhigend, wie sie sanft die stumpfsilbrigen Perlen ihrer Rosenkränze durch die knochigen Finger der blau geäderten Hände gleiten ließen.
Der Kapitän meldete sich, dem Akzent nach Engländer, wie die Mehrzahl der Piloten der irischen Linie in jener Zeit. »Ladies and Gentlemen, bitte stellen Sie ihre Uhren zurück.« Pause. »Aber nicht um eine Stunde. Sondern um fünfzig Jahre«.
Kein schlechter Scherz. Man landete in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, immer noch geprägt, trotz der längst errungenen staatlichen Unabhängigkeit, von den Jahrhunderten bitterster Armut, brutaler Enteignung und Ausbeutung durch die englische Masterrace. Und von der anderen Herrschaft, dem strengen Regiment der katholischen Kirche über die Menschen dort bis in das tiefe Innere ihres Wesens.
Ernteausfall durch Kartoffelfäule, beim Hauptnahrungsmittel, in den Jahren 1845 bis 1847 hatte unzählige Tote gefordert, die Einwohnerzahl der Insel sank von sieben Millionen auf dreieinhalb Millionen; während die Iren verhungerten, Erkältungen erlagen, in zu kleinen Booten auf der Flucht nach Amerika dem Tod entgegen segelten, exportierten die britischen Landlords von ihren irischen Gütern Weizen, Schweine, Butter mit gutem Gewinn und kümmerten sich nicht groß um das Sterben und Elend in Europas Hinterhof. Suppe gab’s in Herrenhäusern, wenn die Hungernden dem katholischen Glauben abschworen und zur protestantischen Kirche übertraten.
Sigmund Freud befand, die Iren seien das einzige Volk der Erde, dem durch Psychoanalyse nicht zu helfen sei, sie seien voller Widersprüche und immun gegen rationale Denkprozesse. Ein ungerechtes Urteil. Aber vielleicht doch nicht ganz daneben, wenn der irische Umgang mit der geheimen deutschen Waffenhilfe für den Osteraufstand 1916 gegen die Briten ein wenig allgemeine Aussagekraft hat. 20 000 Karabiner, fünf Millionen Patronen, zehn schwere Maschinengewehre, 400 Kilogramm Sprengstoff hatte das Deutsche Kaiserreich in einem Frachter losgeschickt, das Schiff erreichte nach langer Schleichfahrt vorbei an Vorpostenschiffen der Briten, den Gegnern der Deutschen im Ersten Weltkrieg, die verabredete Übergabestelle in der Bucht von Tralee.
Dann ging alles schief, was schiefgehen konnte. Das Anlanden der Waffen scheiterte, weil kein irischer Lotse zur Stelle war. Offiziere der Aufständischen kippten in ihrem Auto ins Hafenbecken und ertranken. Das Waffenschiff wurde von der britischen Navy aufgebracht. Es versenkte sich selbst samt Fracht in der Hafeneinfahrt von Cork, wo es immer noch auf dem Meeresgrund liegt; die als Norweger verkleideten deutschen Matrosen, immerhin, konnten sich retten, landeten aber in britischen Gefangenenlagern. Ein irischer Anführer der Rebellion, in einem deutschen U-Boot zum Strand von Tralee gebracht, wurde gleich anderntags gefangengenommen und wenig später von den Briten gehenkt.
Die staatliche Unabhängigkeit erlangten die Iren nach blutigen Kämpfen, die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Briten blieb und damit die allgemeine Armut. Wer drei Kühe besaß, galt auch in den 1960er Jahren noch unter seinesgleichen als reich. Wer nicht auswandern musste und mit Geschwistern die kleine Farm erbte, konnte oft nicht heiraten; das wenige Land ernährte nicht zwei oder gar drei Familien. Zwei Brüder, die gemeinsam die wenigen acres bewirtschafteten – keine Ausnahme.
Kaum hatte sich der Griff der Briten gelockert, schloss sich die Hand der Kirche umso fester über das Land. Die Priester bestimmten, was gut und was böse war, die Kinder ohne Zahl hatten sie von klein an in den Schulen in ihrer Gewalt. Nachbarin Bridge MacCarthy erzählte von den Nöten. Da sie als braves Kind bei der allwöchentlich fälligen Beichte nichts zu beichten hatte, stahl sie auf dem Weg zur Kirche einen Apfel oder einige Kirschen. Nur, um dem Priester etwas ins Ohr flüstern zu können. Noch vertrackter war ihre Lage als Ehefrau: Bekam man kein Kind, verstieß man gegen das biblische Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu mehren; bekam man ein Kind, war das auch nicht in Ordnung, weil man »es« gemacht und Sünde auf sich geladen hatte. Verhütung, Scheidung – kein Denken dran, alles verboten.
Die Priester eine Plage, die Räusche gewaltig, Armut und Tod allgegenwärtig, trotz alldem, es war ein gutes Miteinander in den alten Tagen. Des Iren Traum:
»A pensionable job«, am besten bei einem der staatlichen Unternehmen für Elektrizität oder Straßenbau. Mit 45 Jahren dann, wie üblich Krankheiten der Art »being nervous« vorgeschoben, in Rente und danach in Ruhe hinterm Cottage drei, vier Kälber im Jahr für ein kleines Zubrot auf dem Viehmarkt hochziehen.
Es war trotz allem ein gutes Leben: Weil alle nicht viel hatten und nicht das Geld für den Rang maßgebend war. Andere Vorzüge zählten. Wechselseitige Hilfsbereitschaft war selbstverständlich. Wer konnte im Pub, dem eigentlichen Mittelpunkt der Gemeinde, am besten singen, am besten Geige oder Flöte spielen, am besten tanzen, am besten Geschichten erzählen? Es kam darauf an, dass einer ein netter Kerl war, nicht darauf, ob er sich schon wieder ein neues Auto leisten konnte.
Das alte Irland verschwand, als landesweit das Fernsehen eingeführt wurde und man zu Hause blieb, als das Land der EU beitrat und wohlhabend wurde. Die Pubs, die wichtigsten Treffpunkte der ländlichen Gemeinschaft, machten zu, weil man sich daheim mit Bier und Whiskey vom Discounter beträchtlich billiger ein paar Glas genehmigen konnte, weil das Rauchen in der Kneipe verboten wurde, weil die Garda, die Polizei, bei ihren Alkoholkontrollen im Straßenverkehr nur ein Pint of Guinness erlaubte und sich dafür die Fahrt zum Pub von den im Land verstreuten Farmen nicht lohnte.
»Murt, der Ire« berichtet aus jenem alten Irland, will helfen, es vor dem Vergessen zu bewahren. Alle geschilderten Begebenheiten sind, auch wenn es schwer zu glauben ist, im Kern wahr.