François Loeb
Moritat in 13 7/5 Bildern
© 2017 François Loeb
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-7345-9970-5 |
Hardcover: | 978-3-7345-9971-2 |
e-Book: | 978-3-7345-9972-9 |
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Doktor Max Kallmann, Schauspieldirektor der Städtischen Bühnen in Wiesenthal, erhob sich vor wenigen Minuten aus seinem Bett. Heute, am 13. Dezember des Jahres 2000. Eines besonderen Jahres, wie Kallmann unter der Dusche stehend rückblickend feststellte. Eines Jahres, das einem Jahrtausendwechsel durchaus entspricht. Es herrschte Chaos. Ein Chaos, das er, Max Kallmann, erwartet hatte. Des Jahrtausendwechsels wegen. Vorausgesagt hatte er dieses Chaos. Gestützt in seiner Meinung von Kolleginnen und Kollegen. Etwas wie Erleichterung verspürte Max, als die Zeichen sich verdichteten. Die Zeichen der Zeit, wie er sich im trauten Zwiegespräch mit sich selbst stets wieder versicherte. Er, Kallmann, der erfolgreiche Schauspieldirektor und begnadete Programmgestalter der Städtischen Bühnen Wiesenthals, erlebte Besucherschwund. Statt Schlangen an den Kassen, rote Zahlen in den Büchern. Statt sich in den Logen sonnende Stadtverordnete, kleine, schriftlich eingereichte Anfragen im kommunalen Parlament. Die Zukunft betreffend. Die Zukunft seines Hauses. In das Max Kallmann seine Seele legte. Die Inbrunst seiner Seele. Selbst das Kindermärchen, einst hoch gefeiert als geniale Hinführung der Jugend zu Kallmanns heiligen Hallen, spielte vor mehr leeren als besetzten Rängen sich jetzt ab. Das Ende von Max Kallmanns Leitung bahnte sich geräuschvoll an, auf alle Fälle in den Kultur-Ressorts der städtischen Gazetten. Denn leere Sitze fielen auf, und auch der spärliche Applaus. Unzufriedenheit griff um sich im Ensemble. Medeas Kopf blieb zwar Gesprächsstoff bei den Maskenbildnern, doch die gesamte Truppe forderte nun laut und immer lauter den Kopf von Max.
Max sass in der Falle. Keinen Ausweg schien es mehr zu geben. Selbst die besten Freunde wandten sich von ihm ab, oder legten ihm mindestens den raschen Rücktritt nahe, sozusagen - wie sie dies beschrieben - als Befreiungsschlag. Doch Max, der noch nie verlieren konnte, blieb hart, verkündete mit Galgenstolz, er harre aus. Und wenn schon sei er zu entfernen, er gebe nicht das kleinste Jota nach, sei doch das Publikum im Fehler und nicht er, der Hochbegabte, Missverstandene. Das Opfer bringe schliesslich er, indem er bleibe und damit die Werte der Kultur vertrete und nicht das in Bürgerstuben verbreitete Banausentum, das ihn umgebe, schon immer ihn zu verschlucken drohte, ihn am Verzehren sei. Er, Max, spüre bereits die staatlichen Verdauungskräfte, welche ihn zu zerstören suchten.
Max Kallmann hatte mit seiner Laufbahn innerlich bereits abgeschlossen, wohl wissend, dass eine Freistellung von diesem seinem Posten unweigerlich in die berufliche Leere führen musste. Denn keine Bühne - auch nicht die kleinste - würde es des staatlichen Geldzuflussunterstützungssegens wegen wagen, eine Niete, einen gestürzten Theater-Cäsar anzustellen, geschweige denn, mit ihm auch nur ein unverbindliches Gespräch zu führen. Voller Ängste wurde Maxens morgendlicher Gang zum Hausbriefkasten. Bereits das Zeitungseinwurfsklappern riss Kallmann unsanft aus dem Schlaf. Der Briefeinwurf des Postboten erreichte als Donnergrollen des nahenden Untergangs sein auf Unheilvolles gespitztes Ohr.
Im Halbschlaf malte Kallmann sich - im Rüschchen-Lehnstuhl sitzend - seine desolate Zukunft aus. Er sah sich bereits als Komparse in einer Theaterschmiere dritter Klasse vor leeren, rauhen Bänken Beifall heischen und erntete einzig ein heiseres Bellen des Kettenhundes vom nahen Bauernhof.
Als bis Heiligabend noch kein blauer Brief eingetroffen war, beschloss Max Kallmann, selbst zu handeln. An den theaterfreien Feiertagen zog er sich in sein Refugium, eine einsame Holzarbeiterhütte, umgeben von unwegsamem Sumpf zurück, um den Plan der Rettung seiner Haut in die Tat dort umzusetzen. Er begann, sich mit wahnverbreitenden Prionen zu befassen.
Januar ist in Wiesenthal Theaterflauten-Zeit. Meist weht kein auch noch so geringes Theaterkassenklingel-Lüftchen. Die Theatersegel hängen schlaff im bestbekannten Januarloch. Selbst der Bühnenvorhang bewegt sich kaum. Im Januar. In der Regel. Doch im Januar des Jahres 2001 geschieht Verwunderliches.
Das Weihnachtsmärchen, verlängert in die tote Zeit, ist überfüllt. Der Ballettabend platzt aus allen Nähten. Selbst der Flohboden ist besetzt. Die Feuerwehr setzt einen zweiten Posten ein. So will es die Vorschrift bei übervollem Haus. Die Vorstellungen der Woche sind ausverkauft. Die Nachfrage nach Schauspiel - selbst die griechische Tragödie, mit Klageweibern zweiter Wahl bestückt - ist voll besetzt. Ein Theaterwunder bahnt sich an. Karten für die dritte Januarwoche werden zu Schwarzmarktpreisen bereits gehandelt. Vor dem Eingang des Musentempels spielen sich üble Szenen ab. Eintrittskartendiebstahl gehört zum Alltagsleben, die Polizei setzt Fahnder ein, bildet ein Theaterdezernat. Max Kallmann ist gerettet, so denkt er. Die Briefkastenklappe wird zur himmlischen Musik, bereits der Zeitungsjunge bringt frohste Kunde an Kallmanns Frühstückstisch. "Theatersensation" titelt frohlockend die sonst so kritische Kulturredaktion. Lobt des Direktors Gabe, das Publikum zu begeistern, und selbst im Stadtrat verstummen jetzt die Stimmen, welche Steuergeldverschleuderung noch im Dezember stets auf ihren Lippen trugen. Der Proberaum im zweiten Keller wird hastig umgebaut. In ihm eröffnet Max das kleine Haus, um neue Stücke vorzuführen, deren Inhaltsleere noch vor drei Wochen zu Nullfrequenz geführt und deshalb von Kallmanns Bannstrahl getroffen - nach Premiere vor leeren Rängen - in der Versenkung damals sich verloren.
Doch nun bestand Nachfrage. Im Januar. In Wiesenthal. Höchstnachfrage gar. Erstaunliches geschah. Menschen jeden Alters drängten zu den Brettern. Den Brettern, die endlich die Welt bedeuteten. Endlich, endlich fand Kultur die ihr zustehende Erkennung, was sich auch darin zeigte, dass die für Notabeln der Politik stets freigehaltenen Fauteuils - diese gelangten aus Geldflussgeberachtung niemals in das allgemeine Angebot - nicht mehr durch Beamte vierter Klasse, sondern durch die Amtsinhaber selbst zur Abendzierde wurden.
Denn bei solchem Andrang war es politisch unklug, sich nicht zu zeigen. Die Referendare für das "Public Image" zogen berechtigt den Vergleich mit dem Pokalendspiel im Fussballstadion des vergangenen Jahres.