Jörg Kastner
Band 1: Der Geistermönch
Historischer Roman
nach den Aufzeichnungen des Armand Sauveur de Sablé
Victor Hugo und Walter Scott gewidmet – den Meistern.
Und meiner Frau Corinna – zum Dank für
Guernsey und Paris.
Wozu braucht ihr Priester,
wenn ihr Künstler unter euch habt?
Victor Hugo
Victor Hugo muss sehr zornig mit Gott gewesen sein,
als er »Notre-Dame de Paris« geschrieben hat.
Charles Laughton
Wer Sünde tut, der stammt vom Teufel;
denn der Teufel sündigt von Anfang an.
1. Johannes 3.8
Victor Hugo hat mit seinem Roman Notre-Dame de Paris (Der Glöckner von Notre-Dame) Generationen von Lesern und später auch von Kinogängern fasziniert. Zugleich mühten sich Heerscharen von Literaturwissenschaftlern und Historikern damit ab, viele kleine Fehler und Ungereimtheiten in dem Buch nachzuweisen. Zählt man die Unstimmigkeiten zusammen, kommt man zu einer beachtlichen Zahl, und es entsteht der Verdacht, Hugo habe die Geschichte um die Tänzerin Esmeralda, den Archidiakon Claude Frollo und den buckligen Glöckner Quasimodo absichtlich verändert, habe die Wahrheit über diese unsterblichen Gestalten verschwiegen. Die lange nach Hugos Tod in seinem Haus auf der Kanalinsel Guernsey entdeckten Aufzeichnungen des spätmittelalterlichen Schreibers Armand Sauveur de Sablé, unzweifelhaft die Grundlage für Hugos Roman, untermauern diesen Verdacht und decken zugleich das große Geheimnis auf, das Hugo nicht preiszugeben wagte. Hier wird Armand Sauveurs Bericht erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wird die wahre Geschichte von Quasimodo, Frollo und la Esmeralda erzählt. Und erhellendes Licht fällt auf die Schatten von Notre-Dame …
Liebe Leserin, lieber Leser,
willkommen im Schatten von Notre-Dame, jener mächtigen Kathedrale mitten in Paris, die Sie vielleicht schon einmal selbst staunend besichtigt haben, die Sie aber gewiss aus dem Roman von Victor Hugo oder einer der zahlreichen Hugo-Dramatisierungen kennen. Im späten Mittelalter, jener Zeit, in der Hugos Roman spielt, war Notre-Dame de Paris für die Menschen nicht nur ein Ehrfurcht gebietendes Bauwerk – für die größtenteils des Lesens unkundigen Menschen war die Kathedrale eine in Stein gehauene Verkörperung der Heiligen Schrift.
Der geeignete Schauplatz also für eine Geschichte voller Hoffnungen, Wünsche, Ängste, Zweifel und Leidenschaften, wie Hugo sie erzählt hat – und wie sie auch hier erzählt wird. Nicht nur die Kathedrale hat mein Roman mit dem von Victor Hugo gemeinsam, sondern auch etliche der auftretenden Personen. Der bucklige Glöckner Quasimodo, die schöne Tänzerin Esmeralda, der verschlagene Dom Frollo und viele andere mehr erleben auch hier ihre Abenteuer.
In meinem Roman lesen Sie die »Geschichte hinter der Geschichte«, erzählt von dem mittellosen Kopisten Armand Sauveur, der voller Hoffnungen nach Paris kommt und schon gleich zu Beginn Bekanntschaft mit dem »Geistermönch« macht, von dem schon Hugo berichtet. Der französische Dichterfürst verschwieg aber, was es mit dem geheimnisvollen Mönch auf sich hat. Gemeinsam mit Armand Sauveur werden Sie dem Geheimnis auf den Grund gehen, mannigfache Abenteuer bestehen und viele erstaunliche Entdeckungen machen in den engen, dunklen Gassen des alten Paris – im Schatten von Notre-Dame.
Ich wünsche Ihnen gute, spannende Unterhaltung bei Ihrer Reise ins späte Mittelalter!
Herzliche Grüße
Jörg Kastner
Sie wird sterben, und ich kann es nicht verhindern. Der große schwarze Vogel, Sendbote des Todes, hat seinen Horst auf dem Mondberg verlassen und ist unterwegs, um seine mächtigen Schwingen über sie zu breiten. Sie ahnt es schon lange, und jetzt, da sich das Verhängnis den alten Mauern von Notre-Dame nähert, fühle ich es auch. Ihr Entschluss, nicht zu fliehen, steht unverrückbar fest, und ich habe mein Schicksal an ihres gekettet. Doch kann ich nichts weiter tun, als auf die zu warten, die sie zu retten vorgeben und ihr doch den Tod bringen werden. Der schwarze Vogel wird kommen. Ich weiß es, nicht im Kopf, aber tief drinnen in meinem verzweifelten Herzen.
Dunkle Nacht, ewige Verbündete des Todesvogels, hat sich über Paris gesenkt, und die Häuser rund um die Kathedrale sind nur noch schemenhafte Wesen, kauernde Raubtiere, bereit zum Sprung. Die Seine ist eine riesige Schlange und ringelt sich, dem rätselhaften Ouroboros gleich, um die Insel, jeden Fluchtweg versperrend. Alles hat sich verschworen, um ihr das junge Leben zu rauben.
Um mich abzulenken von den düsteren Gedanken, bin ich in meine Zelle auf den Nordturm gegangen, habe die zweischnabelige Lampe auf dem Tisch entzündet, Papier, Tintenfass und Feder zurechtgerückt und beginne, meine Geschichte, die zugleich die ihre ist, aufzuschreiben. Ich weiß nicht, ob ich diese Aufzeichnungen werde beenden können, ob fremde Augen sie jemals lesen werden. Höre ich nicht schon ein dumpfes Dröhnen, die tausendfachen Schritte jener, die vom Wunderhof kommen und sich zu Vollstreckern des Verhängnisses aufschwingen, ohne zu ahnen, dass sie Satans Willen erfüllen? Vielleicht komme ich dennoch bis ans Ende, wird mein Bericht den Menschen eine Warnung sein, sich nicht die Rolle Gottes anzumaßen, indem sie unbändige, zerstörerische Kräfte entfesseln. Kräfte, die stärker sind als jeder Mensch.
Der Ort, an dem ich dies niederschreibe, die Kathedrale von Notre-Dame zu Paris, ist nur scheinbar ein friedlicher Platz der Besinnung und inneren Einkehr. Irgendwo in ihren unzähligen Kammern und Ecken, ihren Kapellen und Türmen birgt Unsere Liebe Frau ein Geheimnis, dessen Entschleierung über das Schicksal der Menschheit entscheidet. Und ich verfluche den Mann, der ausgerechnet mich dazu ausersehen hat, dieses Geheimnis zu lüften.
Belauern mich die finsteren Kreaturen der Kathedrale, das bucklige Ungetüm und sein gestrenger Meister? Auch sie suchen das Geheimnis von Notre-Dame zu ergründen. Ob es ihnen gelingen wird oder mir, weiß ich nicht. Nur eins scheint mir sicher: Mein Schicksal wird sich an diesem Ort, in dieser Stadt erfüllen.
Doch ich greife vor, sollte besser am Anfang beginnen, ein halbes Jahr in der Zeit zurückeilen zu jenem Winter, als ich voller Hoffnungen nach Paris kam. Nicht ahnend, dass eine unbekannte Macht mich zu ihrem Spielball gemacht hatte, zu einem Bauern auf dem unüberschaubaren Schachbrett, dessen Felder die verwinkelten Pariser Gassen bilden. Der Weg, der mich zu Notre-Dame führte, war längst von fremder Hand vorgezeichnet. Hätte ich es geahnt, wäre ich wohl sogleich umgekehrt, hätte mich nicht auf dieses Spiel um Leben und Tod, um himmlisches Glück oder ewige Verdammnis eingelassen. – Zu spät.
Ich wollte in Paris ein neues Leben beginnen und nahm, als ich zwei Tage vor Weihnachten das Saint-Michel-Tor durchschritt, den lärmenden Trubel der großen Stadt begierig in mich auf. Nicht im Entferntesten erwartete ich, dass ich schon bald daran denken würde, meinem Leben ein Ende zu setzen, dass ich zum gesuchten Mörder werden sollte, dass eine finstere Gestalt mir auflauerte – der Geistermönch …
In der wolkendüsteren Nacht zum sechsten Januar Anno Domini 1483 verwünschte ich den Satan Johannes Gutenberg mitsamt seiner schwarzschmierigen Druckerpresse und beschloss zu sterben. Nur durch den Tod, so glaubte ich damals, konnte ich dem Würgegriff der verwünschten Druckerzunft mit ihren monströsen Teufelsmaschinen entkommen. Ganz Paris schien ihren gnadenlosen Händen ausgeliefert, umklammert von schmutzigen, ölüberzogenen Fingern. Waren es keine dichten Wolkenbänke, die den Nachthimmel zusätzlich verdunkelten, sondern schwarze Himmelsdämonen, Sendboten einer neuen düsteren Zeit, die gar nach diesem Deutschen, Gutenberg, sich einmal nennen würde? Mich schauderte bei diesem Gedanken, als mein Blick über das Gewirr der Dächer, Türme und Zinnen von Paris wanderte und sich in der grenzenlosen Finsternis verlor.
Schlimmer als die Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten, und die Verwirrung angesichts dessen, was Gutenbergs Jünger über den Erdkreis brachten, war nur die grobe Faust, die sich in meinem Magen zusammenballte, mir die Gedärme zuschnürte und mir zum Bewusstsein brachte, dass Gevatter Hunger sich anschickte, meinen Entschluss, freiwillig aus diesem nicht länger lebenswerten Leben zu scheiden, zunichte zu machen. Ich hatte auch nicht einen trockenen, schimmelpelzigen Brotkrümel im Magen und nicht einen Sol in der Börse, um diesem höchst misslichen Zustand abzuhelfen. Um aufrichtig zu sein: Ich besaß nicht einmal mehr eine Geldkatze. Das mit teurem Brokat besetzte Ledersäckchen, Erinnerung an eine bessere Zeit, hatte sich bei einem knauserigen Pfandleiher auf dem Pont-aux-Changeurs in den Gegenwert von einem Krug Aniswein, einem Laib Roggenbrot und einem guten Stück Brie verwandelt. Zwei Abende war das jetzt her, und von den Köstlichkeiten war nicht einmal mehr die Erinnerung an den Geschmack übrig.
Ich drehte mich um mich selbst wie ein vom Veitstanz Heimgesuchter, ohne dass mein suchender Blick Hilfe oder wenigstens Hoffnung fand. Düster und menschenleer erschien die Seine-Insel, umspült von den unermüdlichen Wassern des großen Stroms. Längst hatte die Angelusglocke drüben an der Sorbonne die Nachtruhe befohlen. Die Geräusche aus den Handwerkerstuben waren ebenso verhallt wie die Stimmen der in lilafarbener Pracht umherstolzierenden Ausrufer, welche die Festlichkeiten des morgigen Tages angekündigt hatten. Zu Ehren von Kaspar, Melchior und Balthasar sollten vor der Kapelle des Arnauld de Braque ein Maibaum aufgestellt, im Justizpalast ein Mysterienspiel des jungen Dichters Pierre Gringoire aufgeführt und auf der Place de Grève ein Freudenfeuer angezündet werden.
Vermaledeiter Grève-Platz! Nicht weit von mir lag er am rechten Flussufer, nichts als ein riesiger dunkler Fleck in der alles verschlingenden Schwärze. Sollten sie dort morgen die Heiligen Drei Könige und das Narrenfest feiern, mit tausend Feuern meinethalben. Mir war es einerlei, ich würde es nicht mehr erleben, würde keinen Fuß mehr auf diesen Platz der Schande setzen. Geh zur Place de Grève, hatten sie mir geraten, früh am Morgen, und ein paar ehrlich verdiente Sols werden dir sicher sein. Pah!
Ich stand mir in klirrender Morgenkälte die Beine in den Bauch, ohne auch nur ein einziges Mal Arbeit zu erhalten. Zu viele andere, die mit mir froren, wollten das Gleiche. Keine Erfahrung, taten die Baumeister mich hochmütig ab. Zu feine Hände hätte ich, eher zum Nähen und Sticken geeignet, spöttelten die Flussschiffer und die Fuhrleute. Und als Kopist zu arbeiten, in meinem angestammten Beruf, erwies sich erst recht als unmöglich. Gutenbergs teuflische Erfindung hatte viele Pariser Schreiber um ihre Anstellung gebracht, und die hielten zusammen, gönnten keinem Zugewanderten etwas. Geh doch zurück nach Sablé, sagten sie, doch das konnte ich nicht.
Das Unglück hatte mich kurz vor dem Weihnachtsfest in meiner Heimatstadt ereilt, als mein Dienstherr, der ehrenwerte Advokat Donatien Frondeur, zu früh von einer auswärtigen Angelegenheit heimkehrte und mich an dem einzigen Ort in seinem Haus vorfand, an dem ich seiner Meinung nach nichts zu suchen hatte. Aber wer will mir verübeln, dass die kecken Blicke und die frischen Rundungen seiner viel zu jungen, viel zu hübschen Gemahlin Etiennette mich in ihr großes, warmes Bett lockten?
Der alte Knaster Donatien war so aufgebracht, dass er sich wie ein Rasender auf mich stürzte. Um meine Gurgel vor seinen Klauen zu retten, schubste ich ihn weg, und er stieß sich den fast kahlen Schädel ein wenig unsanft an einer Kommode. Das bisschen Blut, viel war es wirklich nicht, versetzte ihn in noch größeren Zorn. Wenn ich Sablé nicht augenblicklich verließe, brüllte er mich an, würde er mich wegen versuchten Mordes an den Galgen bringen. Er hatte die Macht dazu und ich zu wenige einflussreiche Freunde. Also ließ ich die süße, um Verzeihung wimmernde Etiennette unter seinen strafenden Händen zurück und stapfte im ersten Morgendunst durch den Schnee davon, um rechtzeitig zum Fest des Herrn in Paris zu sein, wo ich neue Gunst zu finden hoffte. Welch trügerischer Schluss!
Hinter mir erhob sich die Königin der Insel, ja von ganz Paris: die Kathedrale von Notre-Dame. Unter ihren unzähligen nachtdunklen Augen, in die sich die tagsüber so bunt leuchtenden Fenster verwandelt hatten, kam ich mir klein und unwichtig vor. Stolz und mächtig reckten sich die beiden stumpfen Türme nach oben, wie um von himmlischer Macht ihre nie vollendeten Helme zu erflehen. Ein Gedanke, der meine Verzweiflung nährte. Wenn selbst Notre-Dame nur eine Bettlerin vor dem Herrn war, wie konnte dann ich, der arme, heimatlose Kopist Armand Sauveur de Sablé, Gnade erhoffen?
Den meisten Gebeutelten mochte die Kathedrale Trost spenden, wie ihre Erbauer es erhofft hatten, aber seltsam, auf mich übte sie eine ganz andere Wirkung aus. Nicht prächtig und verheißungsvoll wie das Paradies erschien sie mir, sondern finster, unheimlich und schreckenerregend. Die Schatten von Notre-Dame verwuchsen mit dem Dunkel der Nacht, verwoben sich mit ihm zu einem undurchschaubaren Geflecht von Verzweiflung und Verhängnis. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur nachträglich ein, jetzt, da ich um das Geheimnis von Notre-Dame weiß.
Aus welchen Gründen auch immer, in jener grimmen Januarnacht waren meine Hoffnung und mein Lebenswille erloschen. Der alte Pont Notre-Dame schob seine windschiefen Häuserreihen wenige Schritte vor mir zum rechten Ufer der Seine. Ich trat zum Brückenkopf, an einer Ecke, wo weder Häuser noch Mauern den Zugang zum Fluss versperrten. An dieser Stelle fiel das Ufer ungewöhnlich steil ab. Ein Schritt nur, ein kleiner Sprung, und der Fluss würde mich mit tröstenden Armen umfangen und meinen knurrenden, schmerzenden Magen mit seinem Wasser füllen.
War es der Herr im Himmel, der mich zurückhielt? Hatte er seine Engelsscharen gesandt, mich an Schultern, Armen und Beinen zu packen und von der Todsünde abzuhalten? Doch kaum erspähten meine Augen die zerlumpten, dreckstarrenden Gestalten, die wie Auswürfe der Finsternis aus dem Nichts aufgetaucht waren, wusste ich, dass es keine Engel waren. Eher das Gegenteil!
Hände, die mehr Klauen waren, zerrten und rissen an meinen abgewetzten Kleidern. Triefäugige Gesichter, bösartige Fratzen oder Masken des Elends, starten mich halb flehend, halb befehlend an. Immer mehr dieser menschgewordenen Ratten krochen aus ihren Verstecken, lösten sich aus den Schatten und scharten sich um mich wie räuberische Wölfe um ihre Beute.
»Gnade, Monsieur!« – »Herr, erbarme dich unser!« – »Einen Sol für einen Blinden!« – »Ein Stück Brot für einen Krüppel!« – »Eine milde Gabe für einen Lahmen, o Ehrwürdiger!« – »Der Allmächtige segne Eure Mildtätigkeit, Messire!«
Die gekreischten, gequiekten und gestammelten Ausrufe mochten noch so flehend, schmeichlerisch, drängend und erbärmlich sein, bei mir waren die teils traurigen, teils abscheuerregenden Kreaturen an den Falschen geraten. Vergeblich erhob ich meine Stimme, um dem Bettlervolk klarzumachen, dass ich eher einer der Ihren war denn einer, der sich Mildtätigkeit erlauben konnte. Mir gelang es kaum, das lärmende Flehen zu übertönen. Vielleicht wollten die kotigen, amputierten Gestalten jene Botschaft auch gar nicht hören. Meine Weigerung, wie sie es wohl sahen, stachelte sie erst recht an, verwandelte ihr Betteln in ein Fordern. Sie schienen gewillt, sich mit Gewalt zu holen, was ich ihnen verwehrte. Schon riss mein löchriger Mantel, zerfetzt unter den Bettlerhänden.
Und ich, der ich mich eben noch nach der Erlösung des Todes gesehnt hatte, bekam es mit der Angst zu tun. O Mensch, wie wankelmütig ist dein Geist, wie täuschend dein Selbstmitleid, wie stark der Lebensfunke!
Ich wollte davonrennen, vermochte aber nur einen Schritt zu tun. Ein garstiges Wesen, mehr Spinne als Mensch, schob sich vor meine Füße und brachte mich zu Fall. Mein Gesicht schlug in feuchten Moder, den die Nachtkälte noch nicht erhärtet hatte. Dicht vor mir das verhängnisvolle Wesen, das sich in grotesker Gewandtheit in meinen Weg geschwungen hatte, obgleich es weder Füße noch Beine besaß. Ein verhutzelter Kopf saß auf einem mageren Leib, der sich auf unverhältnismäßig kräftigen Händen und Armen fortbewegte, seit ein unbekanntes Schicksal ihm die Beine geraubt hatte. Mit fast zahnlosem Maul griente er mich an und verlangte als Wegzoll einen Sol von mir oder, besser noch, einen Gulden.
»Warum nicht gleich zwei Gulden oder zwanzig?«, grinste ich zurück und wusste selbst nicht, woher ich diese Frechheit nahm. Sie kam mich teuer zu stehen, als mir die Spinne einen schmerzhaften Schlag – oder sollte man es in diesem Fall Tritt nennen? – gegen den Schädel versetzte. Sie schwang sich auf mich wie ein Ritter auf sein Ross, und die Meute johlte beifällig.
»Recht so, Escarbot, zeig dem feinen Pinkel, wer in der Nacht das Regiment führt!« – »Reite den Stutzer zuschanden, braver Escarbot!« – »Nehmen wir uns, was er uns nicht geben will, beim Hermes!« – »Und beim Merkur, falls es ‘nen Unterschied macht!« – »Reißt dem Pinsel die Kleider vom Leib!« – »Die Zähne aus dem Maul!« – »Die Haut in Fetzen!« – »Die Knochen aus dem Körper!«
Mich derart aufgeteilt zu sehen, setzte ungeahnte Kräfte in mir frei. Ich bäumte mich auf und schüttelte die widerliche Spinne, die sie Escarbot (Käfer) nannten, ab. Das missgestaltete Wesen stauchte oder brach sich beim Aufprall einen Arm – oder ein Bein, wie man’s nimmt – und quiekte jämmerlich. Mich rührte das nicht, dachte ich doch vor allem an meine Knochen, meine Haut und meine Zähne. Doch kaum stand ich auf meinen Beinen, hing die Meute an mir wie eine Fuhre steinschwerer Kletten und riss mich erneut zu Boden.
Spitze Knochen und scharfe Fingernägel stachen in mein Fleisch. Schreie dröhnten mir in den Ohren. Speichel troff auf mich aus fauligen Mäulern. Knüffe, Püffe und Tritte ließen mich mit meinem Leben abschließen. Der Tod erschien mir beileibe nicht mehr so wünschenswert wie noch kurz zuvor, gleichwohl ebenso nahe wie unausweichlich.
Rasch erlahmten meine Kräfte unter der Vielzahl von Armen und Beinen, die mich traktierten und am Boden hielten. Eine erstaunliche Überzahl schmutziger Gliedmaßen, bedachte man die eben noch zur Schau gestellten Gebrechen. Manch ein Krüppel war plötzlich keiner mehr, hatte sein fehlendes Glied aus dem Nichts hervorgezaubert, um schmerzhaften Gebrauch davon zu machen.
Als meine Pein alles andere auslöschen wollte, als ein würgender Griff um meine Kehle mir in einem nahezu gnädigen Akt den Atem zu rauben drohte, ließ der Druck der unzähligen Leiber unvermittelt nach. Ein Spiel, das die Lumpenkerle trieben, um mein Leid und ihren Spaß daran zu verlängern?
Doch sie wichen vor mir zurück wie vor einem Aussätzigen, Erschrecken und Furcht in den eben noch höhnischen Fratzen. Wie ein Haufen Herbstlaub, der von einem Windstoß durcheinandergewirbelt wird.
Es war ein schwarzer Wind, ein Nachtschatten, der unter das Bettelpack gefahren war. Ein seltsam unbeweglicher Wind, der nichts weiter tat, als starr dazustehen und in befehlender Geste einen Arm auszustrecken, der in die Finsternis wies. Doch das genügte.
Die Schnorrer und Halsabschneider erbleichten, bekreuzigten sich und riefen den Herrgott an, dessen Gebote sie eben noch sehr großzügig ausgelegt hatten. Fast erleichtert folgten sie dem stummen Befehl des Nachtschwarzen und ergriffen die Flucht, in solch wilder Angst, dass sie über ihre – vorhandenen wie nicht vorhandenen – Beine stolperten. Nur wenige Augenblicke nachdem ich mich als lebloser Fleischklumpen in der Seine hatte treiben sehen, war der letzte meiner Peiniger in den engen, düsteren Gassen verschwunden.
Nur der Schwarze stand noch da, halb verschmolzen mit den Schatten, gehüllt in eine dunkle Kutte, deren weit vorgezogene Kapuze sein Gesicht in einem finsteren Loch verbarg. Ich lag am Boden, eine zerschundene Kreatur; wie ein geprügelter Hund, der ergeben zu seinem Herrn aufschaut.
Seltsamerweise empfand ich kaum Erleichterung, geschweige denn Freude über meine wundersame Errettung. Das Gaunerpack war ein Schrecken gewesen. War dann die starre Gestalt, der Schrecken eines Schreckens, nicht eine noch größere Bedrohung? Von den würgenden Händen befreit, atmete ich durch, aufatmen konnte ich nicht. Zu ungewiss erschien mir, was diese unheimliche Nacht im Herzen von Paris noch für mich bereithielt.
Der Schwarze trat auf mich zu, und mir war, als wehe plötzlich ein eiskalter Wind über die Ile de la Cité. Doch die Apfelbäume am Uferstreifen standen unbewegt, und das Wasser kräuselte sich nicht. Die Wolken verharrten am Himmel. Ich aber erschauerte und spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken sträubten.
Unheimlich, fast tonlos, drang ein flüsternder Singsang an mein Ohr: »Sucht Eure Sachen zusammen, die Nacht wird kalt.«
Wem sagte er das! Verwirrt über die Besorgnis, die der Schwarze meiner Gesundheit angedeihen ließ, befolgte ich seinen Rat. Oder sollte ich sagen, seinen Befehl? Während ich so am Ufer herumkroch, warf ich dem Unheimlichen scheue Blicke zu, in der Hoffnung, unter der Kapuze sein Antlitz zu erspähen. Vergeblich. Entweder hielt er sich zu geschickt im Schatten, oder er besaß gar kein Gesicht.
War er einer der Dämonen, die, wie jeder weiß, in der Nacht zum Dreikönigstag über die Erde spuken? Diese letzte Rauhnacht und der folgende Tag vermögen Wunder zu vollbringen, Wasser mit Heilkräften und Tiere mit der menschlichen Sprache zu segnen. Aber auch die Dämonen kommen zu den Menschen, versunkene Glocken läuten aus unirdischen Tiefen, und der Teufel zieht mit seinem Heer auf Seelenfang aus. Nicht wahr?
»So zerlumpt und zerschunden werdet Ihr nie eine ehrbare Anstellung finden«, stellte der Dämon fest und bedurfte dazu keines besonderen Scharfsinns; mein von den Bettlern zerschlissener Mantel ließ mich wie eine Vogelscheuche aussehen. Mein Magen knurrte zur Bejahung seiner Worte wie ein in die Ecke getriebener Straßenköter. »Und Hunger habt Ihr auch, keine Frage. Esst Euch satt und richtet Euch her, dann soll Euch auch ein guter Posten zufallen.«
Zunächst allerdings fiel mit leisem Klirren ein kleines Ledersäckchen vor mir ins zertretene Ufergras. Ich ahnte, was es enthielt, wagte aber nicht, es anzurühren.
»Geht morgen in den Justizpalast. Die hohen Herren werden dort sein, um dem Mysterienspiel im Großen Saal beizuwohnen. Fragt nach Dom Claude Frollo, dem Archidiakon von Notre-Dame. Er sucht einen verlässlichen Kopisten. Stellt Euch geschickt an, und Euer täglich Brot ist Euch sicher, Armand Sauveur!«
Die Stimme sprach so leise, dass sie vom Rauschen der Seine verschluckt zu werden drohte. Mein Name war kaum zu verstehen, und der Schwarze verschwand, bevor seine Worte ganz verklungen waren. Ein Dämon, fürwahr, aber ein mir gutgesinnter offenbar. Wenn er kein Geisterwesen war, woher hätte der Schwarze meinen Namen kennen, woher meine Geldkatze haben sollen?
Denn der hingeworfene Beutel war, ohne Zweifel, das Geschenk meiner Angebeteten zu einem längst vergangenen Weihnachtsfest. Andächtig tasteten meine Finger über die Brokatstreifen, die Etiennettes zarte Hände auf das Leder geheftet hatten, und für die viel zu kurzen Augenblicke einer zärtlichen Erinnerung lag ich wieder in den weichen Armen der Geliebten.
Meine Gedanken kehrten in die raue, kalte Wirklichkeit zurück, als meine Finger unter Brokat und Leder etwas Hartes ertasteten, und hastig lockerte ich die Schnur, um den Inhalt der Börse in meine Hand zu schütten. Die Wolken rissen ein wenig auf, und das Licht der Gestirne ließ blankes Kupfer glänzen und zwischen den Sols sogar das hübsche Silber von drei Turnoser Groschen. Der schwarze Dreikönigsdämon erwies sich als wahrer Wohltäter! Die Rückkehr der Lumpen befürchtend, ließ ich den unerwarteten Geldsegen hastig wieder in meiner Börse verschwinden, verbarg diese unter Wams und Hemd und sah zu, dass ich von diesem unseligen Ort fortkam.
In den Gasthäusern der Seine-Insel wurde, wie in allen Spelunken der Stadt, ausgelassen die Dreikönigsnacht gefeiert. Völlerei war heute nicht nur erlaubt, sondern geboten. Strafe über den, der zu wenig aß! Sofern er Geld hatte, seinen Magen zu füllen, wie ich Glücklicher. Zum Hirschen hieß die nächste Schenke, deren windschiefes Eingangsschild ein verwittertes Abbild seines Namenstieres zeigte.
Von Vorfreude ergriffen drückte ich die knarrende Tür auf und taumelte im Rausch vollkommenen Glücks in den dichten Dunst aus Wein- und Biergeruch, Schweiß und Bratenduft. Der nächste freie Tisch, und ich winkte eine offenherzige Magd heran, die in eindeutiger Absicht alles anbot, was ich nur wünschte. Nur flüchtig streifte ich die feisten, teigigen Knödel, die nahezu aus ihrem Ausschnitt fielen. Das war nicht das Fleisch, auf das ich aus war, nicht jetzt. Ich bestellte einen Krug Burgunder und einen Laib Weizenbrot und ein Stück Brie und eine große Portion von dem Lamm, das von einem Jungen über dem Feuer gedreht wurde und den Raum mit dem verlockenden Duft seiner Füllung schwängerte: Äpfel, Birnen, Zwiebeln und Speck roch ich heraus.
»Zuvor eine fette Hühnersuppe für den Herrn?«, fragte die dralle Magd, und ich nickte gierig.
Kurz darauf stand die Suppe vor mir, so heiß, dass sie Blasen warf. Dazu kamen Brot und Käse und Wein, den das Mädchen aus einem Tonkrug in einen abgegriffenen Zinnbecher goss. Ich wollte nach dem Burgunder greifen, doch eine haarige Pranke, der eines Bären ähnlich, nagelte meine eher schmale Hand auf der abgewetzten Tischplatte fest.
»Kann der feine Herr denn auch bezahlen?«
Die Frage entströmte, zusammen mit dem beißenden Geruch von Zwiebeln und Knoblauch, dem vor Fett triefenden Maul des wohlbeleibten Gastwirts. Seine zwischen Fleischwülsten fast verschwindenden Äuglein musterten mich misstrauisch, und der feste Griff der Bärentatze tat mir allmählich weh. Gleichwohl verstand ich sein Zögern, einem so abgerissenen, verdreckten Kerl ein opulentes Mahl zu servieren. Ich befreite meine Hand von der Last aus Fleisch und Knochen und hielt meine geöffnete Geldkatze unter die Schweinsäuglein. Die leuchteten auf, und der fettige Mund lächelte geschäftsmäßig freundlich.
»Nur das Beste für Messire!«, wies er die Magd an und wollte zu seinem Ausschank zurückkehren.
Eine klapprige Gestalt schob sich ihm in den Weg und deutete mit dürrem Arm auf mich. »Nehmt das Geld nur, Gevatter Chabert, und lasst damit Eure Beerdigung bezahlen, falls nach dieser Nacht von Euch noch etwas übrigbleibt, das den Weg zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein lohnt.«
»Was soll ich auf dem Friedhof, Gevatter Chiart?«
»Euch begraben lassen, wenn Ihr das Totengeld nehmt«, krächzte der Dürre und bedachte mich mit einem stechenden Blick, in dem sich Angst und Abscheu mischten. »Ich war in der Nähe der Notre-Dame-Brücke, als ich sah, wie dieser Strolch das Geld vom Geistermönch erhielt, um Seelen für die Dämonen der Dreikönigsnacht zu kaufen.«
Er sprach laut genug, um Gesang, Gelächter und Gelärm zu übertönen. Alles verstummte, erstarrte und blickte mich entsetzt an. Ich kannte das bereits vom Fluss, wo die Bettler sich beim Erscheinen des Schwarzen ähnlich verhalten hatten. Ein Wort machte die Runde, nur verhalten ausgestoßen, mit Andacht und mit Angst: »Der Geistermönch!«
Als der Wirt mich aus seinem Haus werfen wollte, versuchte ich ihm zu verdeutlichen, dass Geister kein Geld verschenken. »Sind ganz gewöhnliche Münzen hier drin, so gut oder so schlecht wie jeder andere Sol und Turnoser!«
»Und woher hast du sie?«
»Ein Mann am Floß schenkte sie mir.«
»Ein Wohltäter, was? Wie sah er aus?«
Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Wie sieht einer aus, der eine dunkle Kutte trägt und eine Kapuze über dem Kopf? Fragt Ihr nach dem Aussehen eines Mannes, der Euch einen hübschen Batzen Geld vermacht? Mag er aussehen wie Apollo oder wie Hephaistos!«
»Aber nicht wie der Geistermönch!«, kreischte der Wirt, packte mich am Kragen und schleuderte mich vor die Tür. »Verschwinde, sofort, Teufelsbündler, oder ich spreche mit dem Feuerhaken zu dir!«
So brachte mir der Besuch im Hirschen statt der erhofften Sättigung die Erkenntnis, dass eine gefüllte Börse nicht mit einem gefüllten Magen gleichzusetzen ist. Um diese wenig tröstliche Weisheit reicher, wankte ich ziellos durch die dunkle Gasse, als ich hinter mir Schritte und ein leises Rufen hörte.
Ich fuhr herum, drückte mich in die Vertiefung eines Hauseingangs und wollte nach meinem Dolch greifen, bis mir bewusst wurde, dass ich den am Tag nach Weihnachten für Brot und Braten versetzt hatte. Wie es aussah, war eine Waffe auch gar nicht vonnöten. Die offenherzige Magd aus dem Hirschen klapperte mir auf hölzernen Schuhen, die sie vor dem Straßendreck schützten, entgegen und presste etwas gegen ihren wogenden Busen, wie eine junge Mutter, die ihr Kind hält.
»Was wollt Ihr?«, fragte ich barsch, eine neuerliche Schmähung witternd. »Soll ich den Wein bezahlen, den ich nicht getrunken, und die Suppe, die ich nicht gegessen habe? Bedenkt, es ist Dämonengeld!«
Keuchend blieb sie zwei Schritte vor mir stehen, scheu, wie sie es in der Schenke nicht gewesen war, und streckte mir etwas entgegen: das Weizenbrot. »Man sieht Euch an, wie Ihr hungert, Herr. Nehmt!«
»Die Nacht ist voller Barmherzigkeit, doch leider hält diese Tugend der Garstigkeit nicht die Waage«, grunzte ich, nahm das Brot und gab ihr einen Sol. Ihre Finger schlossen sich zögernd um das Kupfer, die Geisterangst erlag der Gewinnsucht.
»Zu essen habe ich jetzt, wenn auch nicht Lamm, Brie und Suppe. Sei’s drum, auch Weizenbrot ist gut und teuer und wird meinen Magen füllen. Was mir nun noch fehlt, ist ein warmes Bett für die Nacht. Gilt Euer Angebot noch, Aphrodite?«
»Ihr irrt, Herr, ich heiße Marianne.«
Sie verriet mir ihren Namen, aber nicht den Weg in ihr Bett. Der war nur mit Geld zu erkaufen, worauf Gevatter Chabert achtete. Aber nicht mit Geld vom Geistermönch, worauf der fette Wirt ebenfalls achtgab.
»Verfluchter Geistermönch!«, entfuhr es mir. »Was hat es mit ihm auf sich?«
»Ihr seid wohl nicht aus Paris, Herr?«
»Wahrlich nicht. Und hätte ich geahnt, wie es mir hier ergeht, wäre ich niemals hergekommen.«
»Seit Jahr und Tag, vielleicht auch schon länger, spukt des Nachts der Geistermönch herum.«
»Was tut er denn?«
»Er bringt den Leuten Unglück.«
»Woher weiß man das?«
»Weil er der Geistermönch ist.«
Wer will sich anmaßen, zu widerlegen, was ein schlichtes Gemüt für Logik hält? Ich tat es nicht und fragte Marianne stattdessen nach einem Schlafplatz.
»Jedes Gasthaus ist bis auf den letzten Winkel gefüllt. Von der ganzen Ile de France sind sie gekommen, um in Paris den Dreikönigstag zu feiern. Versucht es doch bei Notre-Dame, Herr. Dort seid Ihr wenigstens sicher vor bösen Geistern.«
Wie unrecht sie damit hatte, konnte Marianne nicht wissen. Und ebenso wenig ich, der ich ihren Rat befolgte und mit kauendem Mundwerk auf die große Kathedrale an der Ostspitze der Insel zuhielt. Wie soll der Mensch ahnen, dass Gottes Haus den größten aller Dämonen beherbergt? Hätte ich es geahnt, ich hätte Paris wohl noch in jener Nacht verlassen. Doch damals erschien mir Notre-Dame de Paris als ein Ort der Zuflucht, nicht des Grauens.
Voller Gottvertrauen schritt ich durch die Rue Saint-Christophe, geradewegs auf die vor mir in den Himmel wachsende Kathedrale zu. Notre-Dame ragte majestätisch aus dem Gewirr schmaler Gassen und enger Häuser auf, die sich beinahe ängstlich in den Schatten des Gotteshauses drückten. In seiner Gewaltigkeit erinnerte es an den Turm zu Babel. Ein erhabenes, verwirrendes Konglomerat aus Blei und Glas, Mörtel und Stein.
Doch war die Kathedrale nicht leblos, wie der Stein es verhieß. Als ich über den düsteren Vorplatz schritt, vernahm ich ein vielfältiges Atmen und Schnarchen, als hätten sich sämtliche Teufel der Hölle hier zur Ruhe niedergelassen. In jedem Winkel, unter jedem Mauervorsprung lag oder kauerte eine zerlumpte Gestalt. Die Erinnerung an den nächtlichen Überfall kehrte zurück, und ich drückte die auf so wundersame Weise wiedergewonnene Geldkatze fest an meinen Leib.
Zu meinem Erstaunen fand ich das Hauptportal verschlossen und in seinem Schatten eine Vielzahl Schlafender. Bei meinem ungeschickten Versuch, die Treppe zu erklimmen und zum Tor zu gelangen, trat ich auf eine Hand und erntete einen gotteslästerlichen Fluch mit heftiger Beschimpfung: »Pass doch auf, du Blödian! Gehörst wohl zur Gilde der Blinden, dass du die Schläfer nicht siehst!«
»Komm morgen wieder.«
»Ich will nur in die Kirche.«
»Komm morgen wieder.«
»Nachts schlafe ich lieber als bei Tag.«
»Aber nicht in Notre-Dame.«
»Es ist in Frankreich allgemeiner Brauch, dass die Kirchen den Obdachlosen eine Ruhestätte bieten.«
»Aber nicht Notre-Dame.«
»Warum nicht?«
»Frag nicht mich, Bruder, sondern Frollo.«
»Dom Claude Frollo?«
»Ja«, hauchte der Bettler unter mir und bekreuzigte sich ungelenk. Ein bärtiges, schorfiges Gesicht reckte sich mir entgegen. »Bist wohl nicht aus Paris? Merk dir, der Archidiakon von Notre-Dame hält nichts von uns Krippenreitern. Mag uns fast so wenig wie die Ägypter und hält sein großes Gotteshaus vor uns verschlossen. Deshalb liegen wir vor dem Portal und nicht drinnen.«
»Wer sind die Ägypter?«
»Die Zigeuner.«
»Weshalb nennst du sie Ägypter?«
»Tu ich nicht, kommt von Frollo.«
Ich hörte die Worte, doch ich begriff sie nicht und zeigte auf die beiden Seitenportale. »Warum liegt hier in jeder Ecke ein Schläfer, dort aber ist niemand?«
»Weil die Seitenportale verflucht sind, noch verfluchter als dieses ganze Bauwerk«, grunzte der Bärtige und drehte sich auf die Seite, um weiterzuschlafen.
Ich fühlte mich so zerschunden und müde, dass jeder Fluch mir gleichgültig war. Was sollte mir schon zustoßen, nachdem ich eine Begegnung mit dem gefürchteten Geistermönch nicht nur unbeschadet, sondern gar auf höchst vorteilhafte Weise überstanden hatte! Also steuerte ich unbekümmert das südliche Seitenportal an, das von den Mauern des Hôtel-Dieu flankiert wurde.
Ein harter Griff an meine Schulter, und ich wurde zurück gerissen. »Bist du des Teufels, Bruder?«, schnaubte der Bärtige, der sein Nachtlager verlassen hatte und nun mit geweiteten Augen vor mir stand; sie glühten in dem Bartgestrüpp wie Kohlen, die jemand in dorniges Buschwerk geworfen hat. »Warum hörst du nicht auf den alten Colin?« Er zerrte an meinem Arm. »Komm schon, Bruder. Ich mach mich eng, dann hast du ein Plätzchen im Hauptportal. Dort bist du vor dem Satan sicher.«
Ich wollte nur noch schlafen, folgte dem Alten willig und kauerte mich neben ihn. Mir träumte von Gutenberg, der mich in einer schmutzigen Druckerstube auf seine teuflische Erfindung gespannt hatte wie auf eine Folterbank. Daneben stand eine vermummte, finstere Gestalt, das Gesicht von einer Kapuze verhüllt. Ich dachte an den Geistermönch, der mir schon einmal geholfen hatte. Doch diesmal rührte sich der Schwarze nicht, erhörte nicht mein lautes Flehen. Der Drucktiegel senkte sich auf mich nieder, als sei ich ein Blatt Papier. Ich wollte von der Presse springen, aber Gutenberg hatte mich festgeschnallt. Zur Strafe für mein Aufbegehren versetzte er mir einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht.
Ich schrie und wand mich, um weiteren Schlägen zu entgehen. Kräftige Arme hielten mich gepackt, und jemand blickte mich tadelnd an. Nicht jene strenge, grausame Fratze, die mein Traum dem teuflischen Erfinder aus Mainz zugeschrieben hatte. Auch nicht der gesichtslose Schatten des Geistermönchs. Es war ein volles, rosiges Antlitz, das im rötlichen Licht der hinter Notre-Dame aufsteigenden Sonne gesund und gutmütig glänzte. Der dickliche Mann dazu trug das Gewand eines Zölestineroblaten und machte den zufriedenen, abgerundeten Eindruck eines O.
Die Angewohnheit, Menschen mit Buchstaben zu vergleichen, mag mit meinem Handwerk zusammenhängen, jedoch fand ich darin schon häufig eine tiefere Wahrheit. Sind Buchstaben nicht Zeichen, die aus Bildern entstanden? Und wenn Buchstaben auf dem Papier alle Dinge ausdrücken, den Menschen eingeschlossen, müssen dann Menschen und alle Dinge unserer Welt nicht auch Buchstaben verkörpern?
»Seid nicht zu grob zu ihm, ihr Mesner!«, ermahnte der Zölestiner die beiden Kirchendiener, die mich in ihrem festen Griff hielten. »Er hat nur verschlafen, der arme Tropf. Wer schläft, der sündigt nicht.«
»Ihr habt gut reden, Maître Philippot Avrillot«, schimpfte der Mesner zu meiner Linken so laut, dass mein Ohr schmerzte. »Ihr müsst nicht jeden Morgen das Bettelpack von Eurer Schwelle fegen!«
»Auch die Ärmsten sind Geschöpfe des Herrn, mein Freund.« Philippot Avrillot lächelte sanftmütig. »Beherzigt es, und bedenkt in Eurer Gnade, dass dieser Mann einfach nur verschlafen hat. Euer plötzlicher Zugriff hat ihn erschreckt, und er wehrte sich noch halb im Schlaf. Doch den hat Eure saftige Ohrfeige sicher vertrieben.«
Der Laienbruder hatte recht. Meine Wange schmerzte, meine Glieder nicht minder. Mochten die Pariser beim Bau von Notre-Dame auch nur den besten Stein verwendet haben, als Lager für einen gesunden Schlaf waren die elf Treppenstufen vor dem Portal gleichwohl nicht geschaffen.
Zu Schmerz und Gliedersteifheit gesellte sich Verwirrung. Ich hörte Musik und Geschrei und blickte auf. Am Rande des Domplatzes zog eine Gruppe Maskierter – Teufel, Hexen und Dämonen – mit obszönen Verrenkungen vorüber und verschwand, die entblößten Hinterteile in Richtung der Kathedrale schwenkend, in der Rue Neuve. Das Fest der Narren hatte begonnen. Und die Bettler, mit denen ich das Nachtlager geteilt hatte, waren längst verschwunden. Auch der alte Colin.
Der gutmütige Zölestiner erlöste mich von den beiden Kirchendienern, indem er den Arm um mich legte und mich mit sich fortzog. »Hast wohl gestern zu gute Geschäfte gemacht und die Münzen der Mildtätigkeit aus lauter Mitleid mit einem armen Wirt gleich in Wein umgesetzt, was? Und heute bist du müde wie ein Bauer nach dem Pflügen.«
Ohrenbetäubendes Geläut mischte sich in seine letzten Worte. Maître Avrillot wandte den Kopf und blickte hinauf zu den Türmen von Notre-Dame. »Ein hübsches Gebimmel, das der Teufelssohn von Glöckner da veranstaltet. Bei allen wahrhaft Tauben unter den Bettlern von Paris, der gute Quasimodo ist heute ordentlich in Fahrt!«
Ich verstand den Sinn seiner letzten Worte nicht so ganz, das Gerede vom Teufelssohn und von den tauben Bettlern. Deshalb ging ich lieber auf den ersten Teil seiner Rede ein und versuchte ihm zu erklären, dass ich kein Bettelsack und nur durch widrige Umstände auf die Stufen von Notre-Dame gelangt sei.
»Aha, du bist also nicht arm, sondern hast nur kein Geld.« Der Laienbruder schmunzelte. »Na, die Geschichte nenn ich nicht neu, aber zum Narrenfest soll dein Magen nicht knurren. Einen Sol hat der alte Philippot Avrillot für dich übrig.«
Ich hielt seine Hand fest, die unter das Gewand zur Börse langte. Der Mann gefiel mir, und ich wollte seine Güte nicht ausnutzen. »Haltet ein, Maître. Ich habe Geld, fand nur kein Quartier für die Nacht.«
Er starrte mich ungläubig an und wollte etwas erwidern, doch sein Blick wurde abgelenkt, glitt zur Seite und verharrte auf einer schmalen, dunklen Gasse am Hôtel-Dieu. »Schön, wenn du ohne meine Hilfe auskommst. Ich habe soeben einen Bekannten erspäht«, murmelte er geistesabwesend und fügte einen Abschiedsgruß an. Dann verschwand er in der krummen Gasse, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Bevor die Schatten der eng zusammenstehenden Häuser ihn verschluckten, glaubte ich eine zweite Gestalt zu sehen, Maître Philippots Bekannten. Dass dieser, nur ein dunkler Umriss im Zwielicht, mich an den geheimnisvollen Geistermönch erinnerte, war sicher nicht mehr als ein Zufall, ein naheliegender Eindruck nach den Erlebnissen der vergangenen Nacht.
Mit einem Mal standen diese seltsamen Ereignisse wieder vor mir, so lebhaft und gleichzeitig unwirklich wie ein schweißtreibender Alptraum. Von plötzlicher Angst ergriffen, fasste ich unter meinen zerfledderten Mantel – und atmete auf, als ich meine Börse fühlte. Also doch nicht nur ein Traum! Fast liebevoll zog ich den Lederbeutel hervor.
Doch was war das? Das Band war geöffnet, die Geldkatze leer! Ungläubig starrte ich in das schlaffe Säckchen. War ich unvorsichtig gewesen und hatte die Börse nicht richtig verschlossen?
Ich eilte zurück zum Hauptportal der Kathedrale, wo ich unter dem misstrauischen Blick eines der beiden Mesner hastig meinen Schlafplatz absuchte. Da lag nicht ein Sol, von einem Turnoser ganz zu schweigen.
Und dann packte mich die Erkenntnis: Der Lump Colin hatte nicht aus brüderlichem Mitleid meine Nähe gesucht, er musste mich im Schlaf beraubt haben. Eigentlich hätte ich gewarnt sein müssen, doch die Müdigkeit hatte mich betäubt. Der Bettler war mir gleich wie ein typischer S-Mensch erschienen: gewunden, verschlungen, mit Haken und Schnörkeln, doch aufgrund seiner gerundeten Bögen schwer zu fassen.
Ich wünschte den Dieb zur Hölle, auf einen besonders heißen Platz gleich neben Gutenberg, und eilte auf die Gebäude des Hôtel-Dieu zu, von der Hoffnung getrieben, der Zölestiner möge sich noch in seiner mildtätigen Stimmung befinden. Aber ich fand ihn nicht, weder in der engen Gasse, die ich bis zu ihrem Ende entlangging, noch auf den angrenzenden Höfen. Als habe er sich mitsamt seinem Bekannten in Luft aufgelöst.
Jetzt konnte mir nur noch der Rat des Unbekannten helfen, den sie Geistermönch nannten. Auch ohne meinen äußeren Adam aufzuputzen, musste es mir gelingen, eine Anstellung zu erhalten. Also, auf zum Justizpalast!
Während ich das Hôtel-Dieu verließ, meldete sich mein Magen mit einem veritablen Knurren, und zugleich zerrte, wie schon so häufig in den letzten Tagen, die Faust des Hungers an meinen Eingeweiden. Wie um mich zu verspotten, gerade jetzt, da ich abermals ohne einen Sol war. Halblaut verfluchte ich meinen Hunger und achtete nicht auf das, was um mich her geschah. Ein warnender Zuruf, der schrille Schrei einer Frau, rettete mich in letzter Sekunde.
Ein Reiter, der aus den Winkeln des Hôtel aufgetaucht war, sprengte direkt auf mich zu, wohl in der Erwartung, ein zerlumpter Bettler werde schon zurückweichen. Dank der Warnung tat ich es mit einem weiten Satz, verlor dabei das Gleichgewicht und landete in einem Dreckhaufen.
Dicht vor mir jagte ein kräftiger Apfelschimmel in leichtem Galopp vorüber. Der Reiter war ein kantiger, grimmig dreinschauender Mann in der Tracht eines wohlhabenden Bürgers. Rücksichtslos bahnte er sich einen Weg durch die zusehends voller werdende Rue Neuve. Dass er fast einen Menschen getötet hätte, schien ihm entweder entgangen oder vollkommen gleichgültig zu sein.
Ächzend rappelte ich mich auf und suchte nach meiner Retterin. Dabei fingen meine Augen einen Blick auf, nur für einen halben Atemzug. Zu kurz, um das Gesicht der Fremden zu erfassen. War es schmal oder breit, von blonden oder von schwarzen Locken umrahmt, jugendlich straff oder schon von den Falten des Alters durchzogen? Ich konnte es nicht sagen, zu schnell verschwand die Unbekannte hinter einem Pulk krakeelender Bauern, die in westlicher Richtung marschierten, zum Justizpalast. Aber seltsam, obwohl ich die Augen nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, erschienen sie mir vertraut.
Nun war ich nicht nur abgerissen und hungrig, sondern stank auch noch zum Himmel gleich einem ganzen Sündenpfuhl. Konnte es ungeeignetere Voraussetzungen geben, um eine ehrbare Anstellung zu erlangen? In dieser trübseligen Verfassung ließ ich mich von der Menge mitreißen, dem alten Königspalast entgegen. Das turmbewehrte Gebäude unterhalb der Wechsler- und der Müllerbrücke wurde trotz der frühen Stunde von Vergnügungssüchtigen und Schaulustigen in unübersehbarer Zahl belagert.
»So viel Publikum?«, wunderte ich mich. »Dann hat das Mysterienspiel sicher schon begonnen.«
»I wo«, meckerte ein kleiner blonder Kerl, dessen schmaler Kopf zu Ehren des Tages von Teufelshörnern geschmückt wurde. »Die Aufführung ist erst für die Mittagsstunde angesetzt, wenn die flämische Gesandtschaft hier eintrifft.«
»Wozu dann jetzt schon das Gedränge?«
»Alles Gaffer«, wieherte der kleine Teufel, der sich über jedes seiner eigenen Worte zu amüsieren schien. Er erschien mir wie ein T, das mit ständig rudernden Armen versucht, die mangelnde Standfestigkeit seines kleinen Fußes auszugleichen.
»Und was begaffen sie?«, fragte ich.
»Andere Gaffer. Reicht das nicht? Zudem gilt es, sich rechtzeitig einen guten Platz zu sichern. Das Feuer auf dem Grève-Platz mag einen in diesen kalten Tagen erwärmen, aber mehr Vorteile hat’s nicht. Und der Maibaum, das prophezei’ ich Euch, wird auf dem Friedhof der Braque-Kapelle schneller verfaulen als die Verbuddelten. Nein, glaubt mir, zerlumpter Freund, hier im Palast schlägt heut das Herz von Paris. Hier gibt’s hohe Herren und schlechte Komödianten zu bestaunen. Haltet Euch nur an mich, Meister Bettelrock, und Ihr sollt eine gute Aussicht genießen!«
Ob das Angebot ernst gemeint war oder nicht, ich nahm es an. Zu meiner Verwunderung gelang es dem blonden Dämon, sich mittels allerlei Verrenkungen und Schabernacks immer weiter nach vorn zu drängen, bis er schließlich, gefolgt von einem Schatten namens Armand Sauveur, in das alte Gemäuer eindrang und demselben Ort zustrebte wie alle andern auch: dem Großen Saal.
Hier, wo sonst über die Auslegung der Gesetze verhandelt und Recht gesprochen wurde, feierte heute das Volk von Paris, hohe Bürger und niederes Gesindel. Zielstrebig kämpfte sich mein Dämon zu einem großen Fenster vor, dessen Verglasung von ein paar jungen Burschen eingedrückt worden war. Sie hatten sich auf dem Sims niedergelassen, um von diesem erhöhten Aussichtspunkt die Festlichkeiten zu beobachten und mit reichlich Spott zu kommentieren. Flink wie eine Eidechse hangelte sich das blonde Teufelchen am reich verzierten Mauerwerk zu den vorlauten Studenten hinauf, ich hinterdrein.
Noch war ich damit beschäftigt, mir auf dem dicht besetzten Sims einen halbwegs sicheren Platz zu suchen, da horchte ich auf, als einer der Studenten meinen blonden Führer begrüßte:
»Bei meiner Seele, da seid Ihr endlich, Jehan Frollo de Molendino! Schon von weitem sah ich Eure flinken Arme und Beine wie Windmühlenflügel die Menge zerteilen. Zu Recht nennt man Euch Joannes von der Mühle! Wir hatten alle Mühe, Euch einen Ehrenplatz freizuhalten. Und jetzt schleppt Ihr auch noch einen stinkenden Bettler an. Hat die Festtagsstimmung Euch vergessen lassen, dass Ihr Euch Mildtätigkeit nicht leisten könnt?«
»Der eine ist arm und stinkt von außen, der andere ist reich und tut’s von innen!«, krähte mein blonder Bekannter. »Nur am Narrentag sind wir alle gleich, die Nasen fest verschlossen von einem Schnupfen, den weder Medicus noch Bader heilen kann, sondern allein der Schenkenwirt.«
Erregt über den eben gehörten Namen beschloss ich großmütig, der Reden über meine angegriffene körperliche Erscheinung nicht zu achten und fragte meinen neuen Bekannten: »Ihr heißt wirklich Frollo?«
»So sagte man mir, seit ich aufwuchs. Missfällt Euch der Name? Dann nennt mich Jehan du Moulin nach dem Ort, wo ich die Muttermilch genoss, wenn’s auch die einer fremden Müllerin war.«
»O nein, Euer Name gefällt mir sehr.«
Der Teufel griente. »Mit wie wenig eine arme Seele doch zu beglücken ist!«
»Ich suche nämlich einen Frollo«, erklärte ich.
»Ihr habt ihn gefunden.«
»Wohl kaum. Für den Erzdiakon von Notre-Dame erscheint Ihr mir reichlich jung und, mit Verlaub, ein wenig zu ausgelassen.«
Jehan Frollo, den man auch Jehan oder Joannes du Moulin nannte, wurde von einem Lachkrampf gepackt und so arg geschüttelt, dass er vom Fenstersims in die Menge unter uns gefallen wäre, hätten nicht seine Freunde und ich im letzten Augenblick sein abgeschabtes Wams gepackt »Ihr seid köstlich, mein Freund, einfach köstlich!«, kicherte er und schüttelte die Tränen seiner unbegreiflichen Erheiterung auf meinen Mantel.
»Wieso?«
»Weil ich mir gerade einen ausgelassenen Dom Claude Frollo vorgestellt habe. Das ist so, als denke man sich ein eckiges Rad, einen reißenden Strom ohne Wasser oder ein verführerisches Weib ohne dralle Rundungen.« Erneut verfiel Jehan du Moulin in hysterisches Gekicher. »O hätte mein Bruder doch nur Euren Scherz gehört – vielleicht hätte er dann einmal in seinem traurigen, ernsten Leben gelacht!«
»Der Archidiakon ist Euer Bruder?«
»So sagte man mir, seit ich aufwuchs. Missfällt Euch das?«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte ich, stellte mich vor und erklärte, weshalb ich den Archidiakon suchte. Allerdings ließ ich den Geistermönch unerwähnt, um nicht womöglich unsanft vom Fenstersims gestoßen zu werden.
»Ihr habt recht, Monsieur Armand, mein Bruder sucht tatsächlich einen neuen Schreiber, seit Pierre Gringoire wieder unter die Dichter gegangen ist. Aber dass Ihr mein staubtrockenes Bruderherz hier findet, halte ich für fraglich. Bei Notre-Dame solltet Ihr Euch umtun!«
»Dort verbrachte ich schon eine wenig angenehme Nacht«, knurrte ich und bat den Blonden, mir seinen Bruder zu zeigen, falls er doch in den Justizpalast käme.