Timothy Snyder
ÜBER TYRANNEI
Zwanzig Lektionen
für den Widerstand
Aus dem Amerikanischen von
Andreas Wirthensohn
C.H.Beck
«Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam.» So lautet die erste von zwanzig Lektionen für den Widerstand, mit denen Timothy Snyder die Bürger der Vereinigten Staaten auf das vorbereitet, was gestern noch unvorstellbar zu sein schien: einen Präsidenten, der das Gesicht der Demokratie verstümmelt und eine rechtsradikale Tyrannei errichtet.
Doch nicht nur in den USA sind Populismus und autoritäres Führertum auf dem Vormarsch. Auch in Europa rückt die Gefahr von rechts immer näher – als ob es das 20. Jahrhundert und seine blutigen Lehren niemals gegeben hätte. Snyders Lektionen, die international Aufsehen erregt haben, sind Wachmacher und ein Leitfaden für alle, die nicht erst handeln wollen, wenn es zu spät ist. «Setze ein Zeichen.» Dieses Buch tut es. Tun Sie es auch.
Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University. Seine Bücher «Bloodlands» und «Black Earth» wurden in viele Sprachen übersetzt. Snyder wurde für seine Arbeiten u.a. mit dem Hannah-Arendt-Preis und dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet. Er ist einer der wichtigsten amerikanischen Kritiker der rechten Tea Party-Bewegung und der Regierung von Präsident Donald Trump.
Prolog: Geschichte und Tyrannei
1: Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam.
2: Verteidige Institutionen.
3: Hüte dich vor dem Einparteienstaat.
4: Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt.
5: Denk an deine Berufsehre.
6: Nimm dich in Acht vor Paramilitärs.
7: Sei bedächtig, wenn du eine Waffe tragen darfst.
8: Setze ein Zeichen.
9: Sei freundlich zu unserer Sprache.
10: Glaube an die Wahrheit.
11: Frage nach und überprüfe.
12: Nimm Blickkontakt auf und unterhalte dich mit anderen.
13: Praktiziere physische Politik.
14: Führe ein Privatleben.
15: Engagiere dich für einen guten Zweck.
16: Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern.
17: Achte auf gefährliche Wörter.
18: Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintritt.
19: Sei patriotisch.
20: Sei so mutig wie möglich.
Epilog: Geschichte und Freiheit
Nachweise
«Getäuscht worden zu sein
ist in der Politik keine Ausrede.»
Leszek Kołakowski
Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen. Als die Gründerväter über die amerikanische Verfassung diskutierten, zogen sie Lehren aus der ihnen bekannten Geschichte. Aus Sorge, die demokratische Republik, die sie im Sinn hatten, könnte zusammenbrechen, sahen sie sich genau an, wie antike Demokratien und Republiken zu Oligarchien und Imperien verkommen waren. Wie sie sehr wohl wussten, hatte Aristoteles davor gewarnt, dass Ungleichheit zu Instabilität führe, während Platon der Überzeugung war, dass Demagogen die Meinungsfreiheit missbrauchten, um sich zu Tyrannen aufzuschwingen. Indem sie das Recht zum Grundpfeiler der demokratischen Republik machten und ein System der checks and balances installierten, wollten die Gründerväter das Übel vermeiden, das sie, wie die antiken Philosophen, als Tyrannei bezeichneten. Sie dachten dabei an die Machtübernahme durch eine Einzelperson oder eine Gruppe oder daran, dass die Regierenden das Gesetz zum eigenen Vorteil umgingen. In den politischen Debatten in den Vereinigten Staaten ging es danach häufig um das Problem der Tyrannei innerhalb der amerikanischen Gesellschaft: der Tyrannei gegen Sklaven oder Frauen zum Beispiel.
Es ist somit gute Tradition, dass wir Amerikaner einen Blick in die Geschichte werfen, wenn unsere politische Ordnung bedroht scheint. Wenn wir heute in Sorge sind, das amerikanische Experiment könnte durch eine Tyrannei gefährdet sein, können wir dem Beispiel der Gründerväter folgen und die Geschichte anderer Demokratien und Republiken betrachten. Die gute Nachricht dabei ist, dass wir uns nicht auf das antike Griechenland oder das alte Rom beziehen müssen, sondern über Beispiele verfügen, die jüngeren Datums und von größerer Relevanz sind. Die schlechte Nachricht ist, dass die Geschichte der modernen Demokratie eine des Verfalls und des Untergangs ist. Seit die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit gegenüber der britischen Monarchie erklärten, die den Gründervätern «tyrannisch» erschien, hat die europäische Geschichte drei große demokratische Momente erlebt: nach dem Ersten Weltkrieg 1918, nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 und nach dem Ende des Kommunismus 1989. Viele der Demokratien, die an diesen Wegmarken begründet wurden, sind gescheitert, und zwar unter Umständen, die in mancherlei Hinsicht den unseren ähneln.
Geschichte macht uns vertrauter, und sie kann eine Warnung sein. Am Ende des 19. Jahrhunderts, genauso wie am Ende des 20. Jahrhunderts, weckte die Ausweitung des Welthandels Fortschrittshoffnungen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, genauso wie am Anfang des 21. Jahrhunderts, wurden diese Hoffnungen durch neue Vorstellungen von Massenpolitik in Frage gestellt, in denen eine Person oder eine Partei für sich in Anspruch nahm, den Willen des Volkes unmittelbar zu repräsentieren. Die europäischen Demokratien brachen in den 1920er und 1930er Jahren zusammen und mündeten in rechten Autoritarismus und Faschismus. Die 1922 gegründete kommunistische Sowjetunion dehnte ihr Modell in den 1940er Jahren auf Europa aus. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt uns, dass Gesellschaften zerfallen, Demokratien untergehen, moralische Werte zusammenbrechen und ganz gewöhnliche Menschen plötzlich mit einer Schusswaffe in der Hand an Todesgruben stehen können. Es wäre für uns Heutige ganz gut, wenn wir verstehen würden, warum das so war.
Der Faschismus wie der Kommunismus waren Reaktionen auf die Globalisierung: auf die tatsächlichen und vermeintlichen Ungleichheiten, die sie schuf, und auf die offenkundige Hilflosigkeit der Demokratien, etwas dagegen zu tun. Die Faschisten lehnten die Vernunft im Namen des Willens ab und sie leugneten die objektive Wahrheit zugunsten eines glorreichen Mythos, der von politischen Führern beschworen wurde, welche behaupteten, dem Volk eine Stimme zu geben. Sie gaben der Globalisierung ein Gesicht, indem sie behaupteten, deren komplexe Herausforderungen seien Folge einer Verschwörung gegen die Nation. Die Faschisten regierten ein oder zwei Jahrzehnte lang und hinterließen ein intaktes geistiges Vermächtnis, das heute mit jedem Tag an Relevanz gewinnt. Die Kommunisten herrschten länger, fast siebzig Jahre in der Sowjetunion und mehr als vierzig Jahre in einem Großteil Osteuropas. Ihr Herrschaftsmodell war das einer disziplinierten Parteielite mit einem Monopol auf die Vernunft, welche die Gesellschaft gemäß angeblich feststehender historischer Gesetzmäßigkeiten in eine sichere Zukunft führen würde.
Wir könnten versucht sein zu glauben, unser demokratisches Erbe schütze uns Amerikaner automatisch vor solchen Gefahren. Doch dieser Reflex ist fehl am Platze. Vielmehr müssen wir dem Beispiel der Gründerväter folgen und die Geschichte in den Blick nehmen, um die tieferen Ursachen der Tyrannei zu begreifen und angemessene Antworten darauf zu finden. Wir Amerikaner sind heute nicht klüger als die Europäer, die im 20. Jahrhundert erleben mussten, wie die Demokratie dem Faschismus, dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus wich. Unser einziger Vorteil ist der, dass wir aus ihrer Erfahrung lernen können. Dafür ist es jetzt an der Zeit.
Dieses Buch präsentiert zwanzig Lehren aus dem 20. Jahrhundert, angewendet auf die heutige Situation.
1
Einen Großteil seiner Macht erhält der Autoritarismus aus freien Stücken. In Zeiten wie diesen denken Individuen im Voraus darüber nach, was eine repressivere Regierung möglicherweise will, und dienen sich ihr anschließend an, ohne gefragt worden zu sein. Ein Bürger, der sich auf diese Weise anpasst, lehrt die Macht, wie weit sie gehen kann.
Vorauseilender Gehorsam ist eine politische Tragödie. Vielleicht wussten Herrscher zunächst gar nicht, dass Bürger bereit waren, diesen Wert oder jenen Grundsatz zu verraten. Vielleicht verfügte ein neues Regime anfangs gar nicht über die direkten Mittel, um die Bürger auf die eine oder andere Weise zu beeinflussen. Nach den Wahlen in Deutschland 1932, welche die Voraussetzungen für die «Machtergreifung» der Nationalsozialisten schufen, oder den tschechoslowakischen Wahlen im Jahr 1946, aus denen die Kommunisten siegreich hervorgingen, war der nächste entscheidende Schritt vorauseilender Gehorsam. Weil sich in beiden Fällen genügend Menschen freiwillig in den Dienst der neuen Führung stellten, merkten Nazis und Kommunisten gleichermaßen, dass sie rasch einen vollständigen Regimewechsel in Angriff nehmen konnten. Die ersten leichtfertigen Akte der Anpassung ließen sich dann nicht mehr rückgängig machen.
Anfang 1938 hatte Adolf Hitler seine Macht in Deutschland ausreichend gefestigt und drohte nun damit, das benachbarte Österreich zu annektieren. Nachdem sich der österreichische Kanzler Hitlers Druck gebeugt hatte, war es der vorauseilende Gehorsam der Österreicher, der über das Schicksal der österreichischen Juden entschied. Lokale österreichische Nationalsozialisten schnappten sich Juden und zwangen sie, die Straßen auf Knien zu schrubben und von den Symbolen des unabhängigen Österreichs zu befreien. Entscheidend aber war: Menschen, die keine Nazis waren, sahen diesem Treiben mit Interesse und Belustigung zu. Nazis, die Listen über jüdischen Besitz geführt hatten, raubten, was sie nur konnten. Entscheidend aber war: Andere, die keine Nazis waren, machten bei diesem Diebstahl mit. Die Philosophin Hannah Arendt erinnerte sich: «Aber als die Deutschen ins Land einmarschierten und die nichtjüdischen Nachbarn mit Überfällen auf jüdische Wohnungen anfingen, da begannen österreichische Juden Selbstmord zu verüben.»
Der vorauseilende Gehorsam der Österreicher im März 1938 lehrte die oberste NS-Führung, was möglich war. Daraufhin richtete Adolf Eichmann im August 1938 die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien ein. Im November 1938 organisierten die deutschen Nazis nach dem österreichischen Vorbild vom März das landesweite Pogrom, das als «Reichskristallnacht» in die Geschichte einging.
Als die Deutschen 1941 in die Sowjetunion einmarschierten, entwickelte die SS aus eigener Initiative Techniken des Massenmords, ohne konkrete Befehle dazu erhalten zu haben. Die SS-Männer glaubten zu wissen, was ihre Vorgesetzten wollten, und führten vor Augen, was möglich war. Und das war weit mehr, als Hitler gedacht hatte.
Ganz am Anfang bedeutet vorauseilender Gehorsam, sich instinktiv, ohne groß darüber nachzudenken, an eine neue Situation anzupassen. Tun so etwas nur Deutsche? Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram, der sich mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten beschäftigte, wollte zeigen, dass es eine spezifische autoritäre Persönlichkeit gab, die erklärte, warum sich die Deutschen so verhalten hatten. Er entwickelte ein Experiment, um seine These zu überprüfen, erhielt jedoch keine Erlaubnis, es in Deutschland auszuführen. So führte er es stattdessen 1961 in einem Gebäude der Universität Yale durch – also etwa zur gleichen Zeit, als Adolf Eichmann in Jerusalem wegen seiner Beteiligung an der Judenvernichtung vor Gericht stand.