Alle Rechte vorbehalten
Copyright: Zytglogge Verlag, 2014
Lektorat: Hugo Ramseyer, Andreas Kälin
Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann
Coverfoto: Christoph Blocher diskutiert mit Helmut Hubacher in der Wandelhalle des Parlamentsgebäudes am 16. Juni 1987 in Bern. (KEYSTONE / Str)
Gestaltung/Satz: Zytglogge Verlag
ISBN 978-3-7296-0880-1
eISBN (ePUB) 978-3-7296-2020-9
eISBN (mobi) 978-3-7296-2021-6
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
www.zytglogge.ch
Verleumdungsarie und Kuhglocken
Die SP im Visier
Da bleibt kein guter Faden dran
Zuletzt noch der absolute Hammer
Der Bruch mit dem Kapitalismus
Die SP gab es schon vor Blocher
Ein Generalstreik hat genügt
Kein Bruch mit der Schweiz
Mit Blocher auf dem Podium im ‹Bären›
Wie politisches Rodeo
«Blocher will die ganze Schweiz»
Interview mit Peter Bichsel
Auf deine Gegner kannst du dich verlassen
Blocher spannt mit der SP zusammen
Die Sprache verrät den Brandstifter
Blocher erlaubt sich jede Bosheit
Wer steht noch zur Schweiz?
Blocher muss die Schweiz retten
Häme gegen Mandela und Arbeitslose
Pardon kennt Blocher nicht
Der Fall Hildebrand
Lieber mit China als mit der EU
Peking statt Brüssel
Hätte er sie auch noch umarmen sollen?
Blochers Wahl und Abwahl
Christoph Blochers Abwahl
Als Blocher Bundesrat wurde
Abstieg vom Berg ins Tal?
Maurer statt Blocher
Maurers Kehrtwende nach Schweden
Gripen-Nachwehen – Revolte gegen Maurer
Was hat Maurer in China verloren?
Das Jahr als Bundespräsident
Einer gegen alle: Warum gewinnt Blocher?
Oder: Was will er eigentlich?
Mogelpackung EWR
Blochers innen- und aussenpolitischer Alleingang
Der zweite grosse Sieg gegen alle anderen
Die Nachwehen
Vom Dichtestress und anderen Leiden der Gesellschaft
Anhang
Blochers ‹Basler Zeitung›
Stich ins rot-grüne Herz
Die ungeliebte Fusion
Wie Blocher sich selber sieht
Der Wirklichkeit verpflichtet
Blochers Replik auf ‹Blochers Schweiz› von Thomas Zaugg
Über das Buch
Über den Autor
Backcover
Meine Frau Gret ist von der Idee, über Christoph Blocher ein Buch zu schreiben, gar nicht angetan: «Mir hängt er zum Hals heraus.» Und unsere jüngere Tochter Uschi rief mich nach dem Ja zur SVP-Initiative ‹gegen die Masseneinwanderung› an und meinte: «Ich möchte am liebsten den Pass deponieren.»
So viel zur familiären Atmosphäre.
Gret hat schon bei Otto Stich so unerbittlich reagiert. Weil er und nicht die von der Partei nominierte Lilian Uchtenhagen zum Bundesrat gewählt wurde. Dass er die Wahl annahm, hat sie ihm nie verziehen, und wenn sie «dem Stich» im Coop-Gartencenter begegnete, demonstrierte sie grusslos ihr Missfallen. «Das musste sein», deckelte sie mich auf die Frage: «War das nötig?»
Partnerschaftlichen Zuspruch zu diesem Buch kann ich also nicht erwarten. Nur schleckt es halt keine Geiss weg: Dieser Blocher ist nun mal ein aussergewöhnlicher Politiker. Einer, der seit drei Jahrzehnten die politische Agenda massgeblich bestimmt.
Der linke Filmemacher Jean-Stéphane Bron drehte 2013 den Film ‹L’Expérience Blocher›. Er hat seinen Hauptdarsteller bei den Dreharbeiten live erlebt und durchschaut: «Blocher braucht einen Gegner. Ohne ihn ist er entwaffnet.»
Das erinnert mich an den ehemaligen Generalstabschef Heinz Häsler. Nach dem Ende des Kalten Kriegs zwischen Ost und West, zwischen der kommunistischen Sowjetunion und den USA als Grossmacht des freien Westens, war auf einmal die Bedrohung aus dem Osten weggefallen. «Es ist weit und breit kein Feind in Sicht», meinte Häsler verzweifelt. Auch eine Armee ist ohne Feind verloren.
Christoph Blocher hat sich einige Feindbilder zugelegt:
Dem Bundesrat wirft er seit langem vor, auf schleichendem Weg die Schweiz in die EU führen zu wollen. Er scheut nicht vor dem Vorwurf zurück, das sei Landesverrat.
Fremde Richter gehören zum Sortiment dazu.
Die Classe politique ebenso.
Die EU in Brüssel natürlich.
Als innenpolitischen Dauergegner aber hat er die SP im Visier. Und damit meint er auch die links von ihm liegende FDP und CVP.
Wie ist das zu verstehen?
Das Stichwort für unsere politische Kultur heisst Konkordanz – auch Zauberformel genannt. Gemeint ist unser Regierungssystem, bei dem die grösseren Parteien von links bis rechts im Bundesrat vertreten sind und sich gefälligst zu einem mehrheitsfähigen Kompromiss zusammenraufen sollen.
Willi Ritschard hat mir oftmals davon geschwärmt:
Damals, in den 1970er Jahren, stimmte offenbar die Chemie zwischen FDP-Bundesrat Fritz Honegger, Hans Hürlimann von der CVP und SP-Mann Ritschard. Aus meinen Gesprächsnotizen mit ihm zitiere ich: «Wir drei haben alle wichtigeren Geschäfte miteinander abgesprochen. Mal hat der eine, mal der andere nachgegeben. Nur so gelingt ein Kompromiss. Ein brauchbarer Kompromiss ist, wenn keiner alles bekommen oder alles verloren hat. Daraus entsteht eine mittlere (Un-)Zufriedenheit. Das Erreichte vertreten wir gemeinsam im Bundesrat, in der eigenen Fraktion und im Parlament.»
Genau diese Zusammenarbeit passt Blocher nun eben nicht. Für ihn gibts dabei zu viel Rot. Deshalb habe die Schweiz eine Mitte-links-Regierung der «Linken und Netten». Als ob die drei, SP, FDP, CVP, im gleichen politischen Lotterbett lägen. Mit den «Netten» meint er also die bürgerlichen Linken. Im religiösen Jargon wären es ungläubige Pseudobürgerliche.
Für Blocher ist folglich eines klar: Bürgerliche Politik macht nur noch die SVP. Deshalb «wählen Schweizer SVP». So der Slogan bei den Wahlen von 2011. Die «Netten» sind also auch keine richtigen Schweizer mehr. Und die SP müsste sich ihr Rouge wohl ganz abschminken – vielleicht, um so den Schweizer Pass zu rechtfertigen.
Was ist mit dem angeblichen Mitte-links-Bundesrat, dem nach Blochers Farbenlehre sechs rote Linke und Nette angehören? Mit dem letzten bürgerlichen Mohikaner Ueli Maurer?
Fest steht, dass Simonetta Sommaruga und Alain Berset waschechte Linke sind, beide vom rechten SP-Parteiflügel. Didier Burkhalter und Johann Schneider-Ammann vertreten eindeutig die FDP. Diese Partei fährt stramm auf der rechten Spur und zeigt nicht die geringste Lust zu einem Linksdrall. Auch Doris Leuthard von der CVP ist keine Linke; ihr steht der Papst näher als Karl Marx. Und Eveline Widmer-Schlumpf ist ein von der SVP ausgesetztes Verdingkind, das mit der BDP ein bürgerliches Heim gefunden hat. Und für Blocher eher keine Nette ist.
Links ist für Christoph Blocher offenbar ein Virus, das den Bundesrat befallen hat, und deshalb sieht er es als seine Aufgabe, die SP ideologisch bis aufs Messer zu bekämpfen.
Berührungsängste zu ihr hat er jedoch keine.
Im November 2013 gastierte er beim Business-Club in der Basler Nobelherberge ‹Drei Könige›. Für ihn als Verleger der ‹Basler Zeitung› war es eine Art Heimspiel. Jedenfalls kokettierte er lustvoll mit seinen «Basler Wurzeln»: Sein Urgrossvater und zwei Grossonkel hätten in Basel gelebt. Zwei davon seien «hochstehende Sozis gewesen, nicht solche wie heute, sondern Männer mit Format, deren einziger Fehler es war, Sozis zu sein». Dies servierte er dem dankbaren Publikum. Mehr Persönliches wolle er über sich nicht reden, «weil eine halbe Stunde nicht ausreicht».
Das ist typisch für Blocher: Ihn stört es überhaupt nicht, Sozis als Vorfahren zu haben. Er hat sich ja von ihrem roten Virus nicht anstecken lassen. Zudem waren es honorige Linke, «nicht so wie heute».
Bürgerliche haben schon immer besser gewusst, wie richtige Linke zu politisieren haben. Und mich hat stets amüsiert, wie Bürgerliche sich um uns Sorgen gemacht und uns bewertet haben. Die Notenskala ist dabei klar vorgegeben: Der amtierende SP-Präsident ist das Feindbild, der zurückgetretene ist der Vernünftige, und der verstorbene war der Beste.
Um den netten bürgerlichen FDP- und CVP-Leuten das Zusammengehen mit der SP zu verleiden, musste Blocher deshalb ein für alle Mal mit ihr deutlich abrechnen, und zwar dermassen unerbittlich, dass sich jeder Mensch schämen muss, mit dieser Partei und deren Wortführer überhaupt noch Beziehungen zu pflegen. Dass bei Blochers Abrechnung die SP nicht gut wegkommt, darf nicht überraschen. Wie und mit welchen Argumenten jedoch schon.
Am 2. April 2000 veröffentlichte Christoph Blocher seine Sozialismuskritik: ‹Freiheit statt Sozialismus – Aufruf an die Sozialisten in allen Parteien›. An die Linken und Netten also.
Das Pamphlet umfasst 24 Seiten. Ein paar Hunderttausend Exemplare wurden als Werbebeilage an die Haushalte verteilt. Gegen den Sozialismus ist nichts teuer genug. Der SVP-Stratege kann sich solche Massensendungen finanziell leisten. Ihm ist sehr wohl bewusst, dass die SP da nicht mithalten kann.
Vorweg eine Bemerkung: Die Kampfansage ‹Freiheit statt Sozialismus› ist ein politischer Ladenhüter. Schon Franz-Josef Strauss, der verstorbene CSU-Ministerpräsident von Bayern, hatte ihn gegen die SPD eingesetzt. Blocher hat ihn also lediglich wieder aufgewärmt.
Erster Irrtum: Blocher definiert den totalitären Kommunismus der nicht mehr existierenden Sowjetunion als Sozialismus. Das ist unfair. Da wird bewusst getan, als ob der demokratische Sozialismus, den die SP im Programm hat, identisch wäre.
Zweite Falschmeldung: In seiner Abrechnung mit dem Sozialismus lese ich: «Führende SP-Politiker huldigen teilweise wieder der totalitären Stossrichtung des Sozialismus. Sie bekennen sich stolz als Freunde von ehemaligen und gegenwärtigen totalitären Regimes in Kuba, Nordkorea, Kambodscha und Nicaragua.»
Auch diese Zeilen machen mich fassungslos. Wie kommt ein zivilisierter Mann wie Christoph Blocher dazu, derartige Diffamierungen hunderttausendfach in der ganzen Schweiz zu verteilen?
Meint Blocher mit der erwähnten totalitären Stossrichtung des Sozialismus, zu der sich angeblich gewisse SP-Politiker bekennen, den Stalinismus? Des sowjetischen Diktators Josef Stalin, der Millionen Andersdenkende hinrichten oder in sibirischen Arbeitslagern verrecken liess? Pardon. Es gibt kein SP-Dokument, das Blochers Ungeheuerlichkeit bestätigen könnte.
In meinem Bekanntenkreis musste ich ihn ja oft – auch contre coeur – verteidigen: «Nein, Blocher ist kein Faschist. Eher ein Überzeugungstäter aus Irrtum.» Aber wenn er hier der SP unterstellt, «stolz» auf Nordkorea zu sein, dann bin ich empört und natürlich beleidigt.
Schweizerischen Sozialdemokraten zu unterschieben, sie seien «Freunde» von Nordkorea? Diesem abscheulichen Regime? Sogar «stolze Freunde»? Wäre das so, hätte Willi Ritschard ausgerufen: «Ihr seid ja krank im Gring!» Und die SP wäre bei Wahlen weggefegt worden wie politisches Lumpenpack.
Und nun sollen wir auch noch «stolze Freunde» des totalitären Regimes in Kambodscha gewesen sein.
In Kambodscha, wo die kommunistischen Roten Khmer und ihr Führer Pol Pot zwei Millionen Menschen umbringen liessen, praktisch die gesamte Intelligenzia! Das glaubt Blocher ja selber nicht. Ich denke nicht daran, die SP dagegen verteidigen zu müssen. Wir leben doch nicht in Absurdistan.
Nicaragua hingegen hat eine andere Qualität. Nachdem dort Präsident Somoza 45 Jahre lang eine Rechtsdiktatur anführte, wurde er 1979 von der Sandinistischen Befreiungsfront gestürzt. Elf Jahre später wurden die Sandinisten von gemässigten Liberalen abgelöst. Heute ist wieder ein Sandinist Staatspräsident. Nicaragua ist demokratischer geworden und hat sich von der US-Vorherrschaft befreit. Aber es wird nie eine Demokratie Modell Schweiz werden. Im Gegensatz zu Blocher hatte ich den Sturz der Somoza-Diktatur begrüsst.
Die Situation in Kuba ist nochmals anders. Fidel Castro lehnte sich erst an Moskau an, als ihn die US-Regierung vor die Türe gesetzt hatte. 1958 war der Statthalter Washingtons und Diktator Batista verjagt worden, durch Fidel Castro. Nachdem dieser mit seiner Alleinherrschaft die Revolution verraten hat, versucht nun sein Bruder Raoul, die marode Planwirtschaft durch das chinesische Modell abzulösen: durch kommunistische Marktwirtschaft. Kubas Bildungs- und Gesundheitssystem gilt seit jeher für Südamerika als vorbildlich. Kuba versorgt einige Entwicklungsländer mit Ärzten und kann weder mit dem Pol-Pot-Kambodscha noch mit Nordkorea verglichen oder gar gleichgestellt werden.
Es gilt zu bedenken, dass Südamerika während Jahrzehnten als Hinterhof der USA galt. Wer deren Regierung nicht genehm war, wurde abserviert. Nur zwei Beispiele: In Guatemala haben amerikanische Bomber für das Ende des ersten demokratischen Präsidenten Jacobo Árbenz Guzmán gesorgt. (Der Name verrät die schweizerische Herkunft.) Und in Chile ist 1979 der Linksdemokrat Salvador Allende nach einem von Washington inszenierten Putsch im Sarg aus dem Regierungsgebäude hinausgetragen worden. Als neuer Machthaber wurde General Pinochet eingesetzt. Der Faschist errichtete eine Diktatur und liess Zehntausende Regimegegner hinrichten. Von Pinochet stammt das Zitat: «Die Demokratie ist die beste Brutstätte für den Marxismus. Darum wird sie von den Linken auch so hartnäckig verteidigt.»
Zum gewaltmässigen Umsturz in Guatemala und Chile hat sich Blocher nie geäussert. Nie dagegen protestiert. Er, der uns Sozialdemokraten totalitäre Allüren andichtet.
Aus ‹Freiheit statt Sozialismus› sei weiter zitiert: «Mit den zunehmenden militärischen Erfolgen der Alliierten seit 1942 stieg innerhalb der Schweizer Linken die Sympathie für Stalins Regime. Kommunisten und linke Sozialdemokraten gründeten Ende 1944 die ‹Partei der Arbeit› und erhofften sich vom Vormarsch der Roten Armee eine neue Chance für den Sozialismus.»
Da ist Dichtung mit Wahrheit verwechselt worden. Fakt ist doch: Hitlers Wehrmacht hatte in einem Rekordtempo fast ganz Europa besetzt und unterjocht. Mit dem Angriff 1943 gegen die Sowjetunion erzielte sie am Anfang ähnlich schnelle Erfolge. Bis sich die Rote Armee dank amerikanischer Waffenhilfe erholte und Hitlers Wehrmacht vor Stalingrad und Leningrad, heute St. Petersburg, verbluten und im kalten Winter erfrieren liess. Da waren alle dankbar. Nicht nur Linke. (Die Sympathie galt im Übrigen nicht dem Stalin-Regime, sondern den Soldaten der Roten Armee.) Von allen Beteiligten im Kampf gegen Nazi-Deutschland hatte die Sowjetunion mit 20 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg den höchsten Blutzoll bezahlt.
Natürlich gab es auch bei uns aus purer Dankbarkeit dafür eine Sympathiewelle. Natürlich profitierte davon auch die PdA, die Partei der Arbeit, die als Nachfolgepartei der im Krieg verbotenen KP, der Kommunistischen Partei Schweiz, auf die politische Bühne trat. Und zum Beispiel 1947 mit 31 Gewählten in den Basler Grossen Rat einziehen konnte. (Zum Vergleich: Die SP bekam 32 Mandate.) Gegründet wurde die PdA von Kommunisten, nicht von Sozialdemokraten. (Bloss einige vom linken SP-Parteiflügel hatten nach noch weiter links gewechselt.)
Der schöne PdA-Frühling dauerte jedoch nur gerade neun Jahre. 1956 hatten die Reformkommunisten Imre Nagy und Pál Maléter in Budapest einen Volksaufstand gegen das stalinistische Regime organisiert. Die Moskauer Führung liess sich das nicht gefallen und walzte den Aufstand mit Panzern nieder. Die Schweizer PdA-Führung solidarisierte sich nun nicht etwa mit den Aufständischen, sondern mit den Stalinisten. Damit diskreditierte sie sich als Vasall von Moskau, und auf einmal war sie die ‹Partei des Auslands›. In Basel, dem stärksten PdA-Ableger in der Deutschschweiz, verlor sie auf einen ‹Chlapf› fast ihre gesamte Führungselite, wovon sie sich nie mehr erholte. Heute gibt es die PdA in der Deutschschweiz bloss noch als Erinnerung. Ihre stärkste Wählerbasis hatte sie ohnehin in der Romandie. Dort ist sie, wenn auch marginal, nach wie vor aktiv.
Ein Wort noch zum Gegensatz Kommunismus – Sozialdemokratie.
Nach der Russischen Revolution kam es zur Spaltung. Die Sozialdemokratie entschied sich für den evolutionären Weg der demokratischen Reformen, für den demokratischen Sozialismus. Und die ‹Komintern› in Moskau, die Kommunistische Internationale, prangerte das als Verrat an: «Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten.»
Im Basler Grossen Rat – das zur Illustration – hatten sich in den 1930er Jahren Kommunisten und Sozialdemokraten sogar verprügelt. Bekanntlich sind die Familienkräche am schlimmsten.
Blochers Vorwurf, die SP habe Sympathien zur Stalin-Diktatur gehabt, entbehrt also jeglicher historischen Wahrheit. Das schliesst nicht aus, dass es Abweichler gegeben hat. Wie das übrigens in jeder Partei vorkommt. Aber Blocher nimmt nicht diese, sondern die ganze SP in Geiselhaft.
Selbstverständlich fehlt in seiner Anklageschrift die Informationsreise einer SP-Delegation in die DDR nicht: Sie datiert vom Juli 1982 und wird mir heute noch vorgehalten. Als ob wir eine Art Pilgerfahrt gemacht hätten! Womöglich auf den Knien. Aber wir haben dieses kolossale Missverständnis unterschätzt. Obschon wir glaubten, uns genügend abgesichert zu haben.
Zwei Mitglieder der Delegation hatten ‹lebenslängliches Einreiseverbot›, das vorerst aufgehoben werden musste. Als der DDR-Unterhändler dies ablehnte, teilte ich mit: «Gut, dann kommen wir nicht!» Auf Anordnung von höchster Stelle wurde die Einreisesperre dann aufgehoben.
Willy Brandt, damals SPD-Vorsitzender, hatte uns zu dieser Informationsreise geraten und dazu auch eine Aussprache mit DDR-Dissidenten organisiert.
Bei unserer Ankunft in Ost-Berlin war das vereinbarte Treffen im Besuchsprogramm nicht mehr aufgeführt. Worauf ich erklärte: «Dann fliegen wir sofort zurück in die Schweiz.» Man entschuldigte sich, das sei ein Fehler der Sekretärin.
Christoph Blocher muss uns heimlich begleitet haben, denn er will wissen, was ich bei der Aussprache mit dem Partei- und Staatschef Erich Honecker gesagt haben soll: «Gleich zu Beginn erklärte SP-Präsident Hubacher stolz, dass Lenin Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war.»
Komisch daran ist, dass ich das gar nicht wusste und mir dies bis heute von keinem Historiker restlos sicher dokumentiert worden ist. Und was ich nicht weiss, sage ich in der Regel auch nicht. Auch weshalb ich «stolz» hätte sein sollen, bleibt Blochers Geheimnis. Nein, mein Herr, das habe ich nicht gesagt.
Auch eine andere Behauptung stimmt nicht.
Hermann Axen war als Stellvertreter von Honecker der zweite Mann in der DDR-Hierarchie. Er wollte mir ein Dossier aushändigen, mit der Bitte, beim Schweizerischen Bankverein und beim schweizerischen Finanzminister ein gutes Wort für die DDR einzulegen. Es ging um die damals verhängte Kreditsperre gegen die DDR.
In solchen Fällen kann ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen. Meine innere Stimme meldete sich: «Wenn du als Briefträger für die DDR mitmachst, bist du zuhause als Politiker erledigt.» Ich lehnte das Ansinnen höflich und bestimmt ab.
Christoph Blocher weiss das angeblich besser: «Er versprach, mit SP-Finanzminister Ritschard und mit den Präsidenten der Schweizer Grossbanken zu sprechen. Später wollte sich Hubacher an eine solche Vereinbarung nicht mehr erinnern und verweigerte die Einsicht in die seine Person betreffenden Akten.»
Da wird ungeniert verdächtigt, werden fehlende Fakten erfunden, wird behauptet, aber nie bewiesen. Hermann Axen sprach nicht von «Schweizer Grossbanken», wie Blocher schreibt, sondern nur vom damals noch existierenden Schweizerischen Bankverein.
Fakt ist: Ich hatte nicht versprochen, mit Finanzminister Ritschard zu reden, sondern lehnte diesen Wunsch ab. Und auch Blochers Vorwurf, auf einmal wolle ich mich nicht mehr «an eine solche Vereinbarung erinnert haben», trifft daneben. Es gab nie eine «solche Vereinbarung».
Abstrus ist auch die Bemerkung, ich hätte die Einsicht in meine Akten verweigert. Was für Akten? Die der Stasi, des Staatssicherheitsdienstes der DDR? Die gibt es allerdings. Unsere Delegation wurde bestimmt abgehört. Da brauchte ich keine Einsicht zu verweigern, weil die ohnehin geheim waren. Aber seit der Wiedervereinigung sind die Stasi-Akten allgemein zugänglich. Ein Journalist, der wissen wollte, ob ich beim Schweizerischen Bankverein und bei Willi Ritschard interveniert habe, hat sie eingesehen. Und keine Anhaltspunkte gefunden. Hätte ich bei der Bank das Anliegen von Hermann Axen vertreten, gäbe es zumindest eine Aktennotiz. Nichts dergleichen, erhielt der Journalist Bescheid. Willi Ritschard konnte nicht mehr konsultiert werden; es gibt keine Verbindung zum Himmel.
Hingegen hatte Franz-Josef Strauss, CSU-Ministerpräsident von Bayern, die Kreditsperre durchbrochen. Er vermittelte für die DDR einen Milliardenkredit.
Ideologisch darf man Strauss als Glaubensbruder von Blocher bezeichnen. Dieser hat seine jährlichen Polittreffen im Albisgüetli von Strauss abgeschaut. Auch heute noch trifft sich die CSU im Januar in Passau zur grossen Politshow.
Am 18. November 1989 habe die SP dem rumänischen Diktator Nicolae Ceaușescu ein Glückwunschtelegramm geschickt, lese ich bei Blocher. «Wahrlich, es wäre für die SP eine grosse Aufgabe, endlich die Geschichte des Totalitarismus aufzuarbeiten.» Dazu gibt es von Historikern bereits jede Menge Abhandlungen. Und da die SP keine totalitäre Politik betreibt, muss sie darüber auch keine Geschichte aufarbeiten. Hingegen schiebt Blocher einmal mehr ihr eine Mitschuld über die Verbrechen des Stalinismus in die Schuhe. Wäre es so, gäbe es diese SP so wenig mehr wie die PdA.
Das mit dem Telegramm jedoch stimmt. Nur sollte nicht verschwiegen werden, was dann geschah. Als Parteipräsident entliess ich den dafür verantwortlichen Sekretär fristlos. Er hatte eigenmächtig, entgegen dem Beschluss der Geschäftsleitung, gehandelt.
In Rumänien führte Nicolae Ceaușescu von allen Satelliten Moskaus die grausamste Diktatur. Er war ein Stalinist, der aussenpolitisch nicht immer auf der Moskauer Linie marschierte. Das verhalf ihm im Westen zu einem unverdient guten Ruf.
Während meiner Präsidialzeit schickte mir der rumänische Botschafter jedes Jahr eine Einladung «im Namen und Auftrag des Genossen Nicolae Ceaușescu» – inklusive zwei Wochen Ferien am Schwarzen Meer für die ganze Familie. Ich habe nie eine Einladung angenommen. Umso wütender machte mich dieses Telegramm.
Dafür besuchte ich 1988 Janos Kadar in Budapest. Er war nach der Niederschlagung des Volksaufstands von 1956 Partei- und dann Staatschef geworden. Anfänglich verhasst, gewann er für seinen ‹Gulaschkommunismus› zunehmend Komplimente. Er war zuletzt sogar populär geworden, weil er einen etwas weicheren Kurs als die übrigen Ostblockstaaten führte.
Kadar empfing unsere kleine Delegation damals im heissen Sommer 1988 – als Ehrenpräsident, weil die Führungsleute in den Ferien weilten. Unerwartet beeindruckte er uns mit den Worten:
«Ich bin vor drei Monaten als Partei- und Staatschef abgesetzt worden. Das hat wehgetan. Früher jedoch wäre ich im Gefängnis oder im Grab gelandet. Ich bin aber noch da, jetzt als Ehrenpräsident. Das heisst, ich habe die Partei demokratisiert. Das habe ich also gut gemacht.»
Dann folgte die zweite Beichte: «Mein Credo als Kommunist war, nie einen Betrieb zu schliessen, nie Leute zu entlassen und arbeitslos zu machen. Volkswirtschaftlich war das falsch. Damit ist jede Strukturreform verhindert worden. Mit den Gewinnen der rentablen Unternehmen haben wir die unrentablen über Wasser gehalten, haben die Verluste gedeckt und so zu wenig investiert. Nun ist die ganze Wirtschaft in den roten Zahlen. Das habe ich schlecht gemacht.»
Ich habe diesen Abstecher nach Budapest bewusst erwähnt. Der ungarische Gulaschkommunismus war mit dem von Nicolae Ceaușescu nicht vergleichbar. Ungarn hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion denn auch zuerst den Stacheldrahtzaun zum Westen aufgebrochen. Heute, unter Präsident Orbán, macht es in Sachen Demokratie wieder einen Schritt rückwärts.
Hier noch ein übles Muster aus Blochers Pamphlet. Eine Verunglimpfung, die das unmöglich Scheinende schafft: die SP auch in den Nazi-Sumpf zu ziehen:
«Die Tatsache, dass Hitler und Mussolini auch Sozialisten und Sozialdemokraten bekämpft haben, schliesst nicht aus, dass wichtige Stimmen der SP den ideologischen Grundlagen der braunen Diktaturen mit einem grossen Verständnis oder gar mit Bewunderung gegenüberstanden.
Den Ursachen von Unfreiheit, Verfolgung und Terror – der Staatsallmacht, dem Kollektivismus und dem Antikapitalismus – brachte die SP durchaus Gefühle der Faszination entgegen.»
Nachdem Blocher versucht hat, die SP ideologisch als Verwandte des Sowjetkommunismus zu stigmatisieren, hat er sich tatsächlich noch gesteigert. Er behauptet allen Ernstes, «wichtige Stimmen der schweizerischen Sozialdemokratie» hätten dem Nationalsozialismus von Adolf Hitler «Bewunderung» und «Gefühle der Faszination entgegengebracht».
Das ist nur noch Rufmord. Weil das pure Gegenteil zutrifft.
Schon die Formulierung, Hitler habe «auch Sozialisten und Sozialdemokraten bekämpft», ist eine Ungeheuerlichkeit. Hitler war am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden. Ins Amt gebracht von bürgerlichen Steigbügelhaltern. Kaum an der Macht, legte Hitler dem Reichstag das Ermächtigungsgesetz vor. Um damit das Parlament auszuschalten, die Demokratie zu liquidieren und sich zum Führer zu ernennen.
Mit dem Ermächtigungsgesetz sollte die Nazi-Diktatur legalisiert werden. Der Reichstag als Parlament wurde ersucht, dem bitte zuzustimmen und sich damit abzuschaffen. Mit 441 gegen 94 Stimmen wurde das Ermächtigungsgesetz angenommen. Alle, ich wiederhole, alle bürgerlichen Parteien und Abgeordneten hatten zugestimmt. Ohne eine einzige Ausnahme. Alle hatten sich und die Demokratie entmachtet. Hatten Hitler zum alleinigen Führer und Diktator gewählt. Was daraus geworden ist, wissen wir alle.
Eine Partei jedoch, Herr Blocher, hat sich dem Ermächtigungsgesetz widersetzt. Hatte geschlossen dagegen gestimmt: die Fraktion der SPD, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Mit einer Rede von Otto Wels, die in die Geschichte eingegangen ist. Ich zitiere nur die letzten Worte: «Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.»
Hitler hatte dann nicht nur «auch» noch Sozialdemokraten bekämpft. Viele von diesen mutigen Abgeordneten mussten ins Ausland flüchten oder wurden ermordet. Der erste SPD-Vorsitzende nach dem Zweiten Weltkrieg hiess Kurt Schumacher. Er hatte das Konzentrationslager überlebt. Als körperlich Schwerstbehinderter symbolisierte er persönlich die Nazigräuel.
Neben den Juden hatten also Sozialdemokraten und auch Kommunisten als Verfolgte am meisten Opfer zu beklagen. Das müsste Blocher wissen. Es existieren dafür genügend Beweise.
Ich bin fassungslos, dass ein so gescheiter Mann sich dermassen schäbig unter jedem Niveau benehmen kann.
Ich habe Hitler als Bub erlebt und am Radio gehört. Als er sich im Bunker erschossen hat, war ich 19-jährig. Ich will damit sagen, die letzten Kriegsjahre habe ich bewusst mitbekommen. Grossvater war Dienstverweigerer.
1940 gab es eine kritische Phase. Ein Angriff auf die Schweiz lag in der Luft. Und ging haarscharf an ihr vorbei. Grossvater hatte einen Karabiner gefasst, und längst ausgemusterte ältere Männer formierten sich zu ‹Ortswehren›. Sozusagen als allerletztes Aufgebot.
Für den Dienstverweigerer hatte es nur den General gegeben, dem er vertraute. Von drei Bundesräten war er nicht überzeugt. Aber der General werde uns nie verraten, das höre ich, als ob es gestern gewesen wäre.
General Henri Guisan war ein konservativer Waadtländer Aristokrat. In seinem Abschlussbericht über den Aktivdienst 1939–1945 dankte er speziell der Linken. Sie sei seine zuverlässigste Stütze gewesen.
Man muss wissen, es blieben im Schweizerland nicht alle im aufrechten Gang. Die Rede ist von Nazi-Sympathisanten. ‹Fröntler›, wie sie hiessen. Darunter mussten auch Landesverräter überführt werden. Alle kamen sie aus einem bürgerlichen Milieu. Keiner von links. Das ist keine Behauptung von mir, sondern ist historisch verbürgt.
Um Klarheit zu schaffen: Damit setze ich nicht etwa das Bürgertum pauschal auf die Anklagebank. Es gab Versager, und es gab herausragende Männer im Widerstand gegen Anpasser. Ich erwähne lediglich Willy Bretscher, Chefredaktor der ‹Neuen Zürcher Zeitung›, oder Albert Oeri, Chefredaktor der ‹Basler Nachrichten›.
Wenn Blocher die SP schon ungehörig misshandelt, sei aber auch an Bundesrat Eduard von Steiger erinnert, Mitglied der BGB, heute SVP. Von Steiger zählte nicht zu den Politikern, auf die man besonders stolz sein kann. Zu früh hatte er die Grenzen dichtgemacht und so mit der berüchtigt gewordenen Ausrede «das Boot ist voll» von den Nazi-Schergen Verfolgte zurückgewiesen.
Blocher hätte allen Grund, mit Vorwürfen sparsamer umzugehen.
Er ist jedoch gegenüber der SP nicht einfach entgleist: Was er der demokratischen Linken antut, ist Teil seiner Strategie. Die SP soll wie ein räudiger Hund isoliert werden. Für FDP und CVP unzumutbar werden. Denn er hämmert mit seiner SP-Schelte auch auf ihnen herum. Damit sie sich endlich von der Linken verabschieden und bürgerliche Politik machen. Mit der SVP selbstverständlich und, noch selbstverständlicher, unter ihrer Führung.
Blocher nimmt es mit den historischen Fakten nicht genau. Für seine Verleumdungsarien wäre das nur hinderlich. Er handelt wie ein Geldfälscher. Denn auch falsches Geld ist Geld. Aber nur bis zum Verfalldatum. Dann ist aus.
Bei Blocher kommt noch etwas hinzu. Er hat, aus was für Gründen auch immer, die historische Leistung der Linken, der SP und der Gewerkschaften, nie gewürdigt und nie akzeptiert. Sonst wäre folgende Aussage klar undenkbar: «Die Linke hat sich nie für die Schweiz eingesetzt.» Zitiert aus ‹Der Sonntag› (heute ‹Schweiz am Sonntag›), 15.2.2011.
Das schlägt dem Fass den Boden aus.
Und garniert wird eine solche Unverschämtheit mit Kuhglocken und Fahnenschwingern. Richtig SVP-vaterländisch. Die letzte Partei, die das Monopol beansprucht, sich für die Schweiz zu engagieren und für sie zu kämpfen.
Es gehört deshalb zu diesem Buch, kurz ein paar Stationen der SP festzuhalten. Um dem Blocher-Verriss zu entgegnen, wonach die SP noch nie etwas für dieses Land getan habe.
Jede Demokratie ist politisch breit ausgerichtet. Es gibt rechte und linke Parteien. Die heutige Schweiz wäre ohne eine Sozialdemokratische Partei keine Demokratie. Das kann man – auch mit Geschichtsfälschungen – nicht widerlegen. Das weiss Blocher ebenso gut.
Er geht mit seinem Machtanspruch, im Bundeshaus nur noch einen bürgerlichen Bundesrat zu haben, zu weit.
Eines ist beruhigend: Blocher kann diese SP nicht wegreden.