Wir alle verhandeln tagtäglich: am Arbeitsplatz mit Kollegen, mit den Vertretern eines anderen Unternehmens, beim Einkaufen, oder privat mit unserem Lebenspartner oder einem Freund. Die wenigsten von uns haben Verhandeln jedoch trainiert oder sich mit dem Verhandeln konzeptionell beschäftigt. Häufig wird sogar angenommen, dass man Verhandeln weder lernen noch lehren könne. Entweder man sei eben ein guter Verhandler, so die Überlegung, oder man sei es nicht.
Diese Einschätzung ist falsch. Verhandeln kann man sowohl unterrichten als auch lernen. Mit diesem Buch wollen wir Ihnen helfen, in Zukunft besser zu verhandeln. Wir wollen Sie dabei unterstützen, Ihre Fähigkeit zur zielgerichteten Steuerung von Verhandlungsprozessen, also zum Verhandlungsmanagement, zu entwickeln und zu optimieren.
Zwar ist Verhandeln eher ein Handwerk als eine Wissenschaft. Aber auch ein guter Handwerker wird man nicht allein durch praktisches Üben. Man benötigt auch Wissen, Konzepte und Verständnis, welche die eigene praktische Tätigkeit anleiten. Unser Ziel ist es, Ihnen dieses Wissen, diese Konzepte und dieses Verständnis für das Verhandlungsmanagement zu vermitteln.
Seit etwa 40 Jahren sind Verhandlungen Gegenstand der Forschung in unterschiedlichen Disziplinen, insbesondere der Spieltheorie, der Wirtschaftswissenschaft, der Kognitionspsychologie und der Kommunikationstheorie. Der Ertrag dieser Forschungen, zu denen wir selbst beitragen, ist in dieses Buch eingeflossen. Er ist die Grundlage, um durch Training und reflektierte Erfahrung ein besserer Verhandler zu werden.
Das Buch wird geprägt von den vielfältigen Verhandlungserfahrungen, die wir in unterschiedlichen Rollen als Unternehmer, Unternehmensberater, Rechtsanwälte, Schiedsrichter oder Mediatoren über einen langen Zeitraum sammeln konnten. Eingeflossen sind auch unsere langjährigen Erfahrungen als Verhandlungstrainer. Seit nunmehr über 20 Jahren haben wir auf der Grundlage der in diesem Buch vorgestellten Konzepte Verhandlungsworkshops vor allem für Unternehmen und Unternehmensberater, Rechtsanwaltssozietäten und öffentliche Institutionen sowie an Universitäten und für Rechtsreferendare durchgeführt. Das, was wir dort gelernt haben, finden Sie in diesem Buch.
Zum Zustandekommen des Buches haben viele beigetragen, denen wir gerne danken möchten. An erster Stelle stehen insoweit die Teilnehmer der soeben genannten Verhandlungsworkshops. Die kritische Diskussion von Verhandlungskonzepten in und mit einer interessierten Gruppe und das Ausprobieren dieser Konzepte in Verhandlungssimulationen war und ist für uns eine Quelle reichhaltiger Erfahrungen und intellektueller Stimulation. Zu danken haben wir auch den Freunden und Kollegen, die das ganze Buch oder einzelne Kapitel im Entwurf gelesen und Verbesserungsvorschläge gemacht haben: Martin Fries, Andreas Hacke, Jacqueline Kersten, Matthias Prause und Johanna Stark.
Die erste Auflage des Buches ist vom Markt sehr gut aufgenommen worden. Für die zweite Auflage haben wir neuere Literatur nachgetragen, aktuelle Beispiele eingefügt und weiter gesammelte Verhandlungserfahrungen einfließen lassen. Zu einer Veränderung der Grundstruktur des Werkes hatten wir keinen Anlass: Sie hat sich bewährt. Zu danken haben wir Johanna Stark für redaktionelle Unterstützung. Über Kritik und Anregungen freuen wir uns.
Hamburg, München/Oxford und Berlin |
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Im November/Dezember 2000 wurde dem einstigen Weltklasse-Tennisspieler Boris Becker, damals noch mit Barbara Becker verheiratet, eine Affäre nachgesagt.1 Spekulationen über eine angebliche Beziehung wies er energisch zurück. Am 5.12.2000 erklärte er der Presse, dass er sich von seiner Frau Barbara getrennt habe. Juristische Schritte wolle er aber zunächst nicht einleiten. Offensichtlich fühlte sich Becker recht sicher. 1993 hatte er mit seiner Frau Gütertrennung vereinbart und ihr für den Fall der Scheidung vertraglich eine Abfindung in Höhe von 5 Millionen DM versprochen. Eine Scheidung würde ihn also etwas kosten, aber vergleichsweise wenig. Sein Vermögen wurde auf 200 Millionen DM geschätzt.
Während sich Boris Becker sicher fühlte und sein (neues) Leben genoss, wurde Barbara Becker gut beraten. Sie packte die gemeinsamen Kinder ein, flog nach Miami und erhob am 8.12.2000 vor dem Bezirksgericht Miami-Dade Klage auf Übertragung des Sorgerechts und auf Unterhaltsabfindung in Höhe von etwa 45 Millionen DM. Boris Becker schien überrascht. Am 15.12.2000 reichte er beim Amtsgericht München die Scheidung ein. Gleichzeitig wehrte er sich in Miami gegen die Forderungen seiner Frau. Das neue Jahr begann am 4.1.2001 mit einer unerfreulichen Anhörung in Miami. Es wurden unangenehme Fragen gestellt, auch zu steuerlichen Aspekten. Einen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit lehnte Richter Maynard Gross ab. Es drohte ein gerichtlicher Scheidungskrieg vor laufenden Kameras.
Beckers Kompromissbereitschaft stieg anschließend erheblich. Mitte Januar einigte er sich mit seiner Frau außergerichtlich. Angeblich wurde ein Betrag in Höhe von etwa 30 Millionen DM gezahlt, deutlich mehr als die ehevertraglich vereinbarten 5 Millionen DM. Wenige Tage später wurde die Ehe in München geschieden.
58Barbara Beckers Flug war ein geschickter strategischer Zug, die Flugkosten gut angelegtes Geld. Aus 5 Millionen DM wurden binnen weniger Wochen angeblich 30 Millionen DM. Boris und Barbara Becker verhandelten über die Scheidungsfolgen im Schatten des Rechts,2 und der war in Miami für Boris kürzer als in München. Strategische Züge sind ein Element strategischen Verhandelns, und damit wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.
Worum es beim Verhandeln geht, haben wir im II. Kapitel bereits gesehen: Wir suchen nach gemeinsamen, interessenbezogenen Problemlösungen (Einigungsoptionen) vor dem Hintergrund der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten bei einer Nichteinigung (Nichteinigungsalternativen). Strategisches Verhandeln bedeutet: Man versucht, den eigenen Vorteil in Verhandlungen unter Berücksichtigung der Tatsache zu maximieren, dass der Verhandlungspartner dasselbe versucht.
Wenn Sie und Ihr Verhandlungspartner bei einer Verhandlung möglichst viel für sich herausholen wollen, dann lässt sich dieses Ziel auf zwei Wegen erreichen. Sie können Maßnahmen zur Vergrößerung des insgesamt verfügbaren „Kuchens“ ergreifen (Wertschöpfung). Je mehr Wert es insgesamt zu verteilen gibt, desto größer wird auch Ihr potenzieller Anteil. Sie können aber auch dadurch mehr für sich herausholen, dass Sie schlicht und einfach den größten Teil eines vorhandenen Wertes für sich reklamieren (Wertbeanspruchung). In diesem Kapitel werden Sie erfahren, welche Taktiken der Wertschöpfung und Wertbeanspruchung es gibt und wie Sie diese in Verhandlungen effektiv einsetzen können.
Darüber hinaus werden wir uns aber auch mit dem so genannten Verhandlungsdilemma beschäftigen. Aus dem Nebeneinander von Wertschöpfung und Wertbeanspruchung in Verhandlungen ergibt sich nämlich ein Spannungsverhältnis. Es besteht die Gefahr, dass sich Taktiken der Wertbeanspruchung negativ auf die Höhe des Kooperationsgewinns auswirken. Sie werden sehen, wie sich das Verhandlungsdilemma in Verhandlungen bemerkbar macht und welche Herausforderungen sich daraus für das Management des Verhandlungsprozesses ergeben.
Verhandlungen führen bei rationalem Verhalten nur dann zu einer Einigung, wenn die Verhandlungspartner Einigungsoptionen finden, die für alle Beteiligten besser sind als ihre jeweiligen Nichteinigungsalternativen. Abbildung 10 stellt dies dar.
Abbildung 10: Effiziente Lösungen
Der Null-Punkt markiert die Nichteinigungsalternativen, die (A) und (B) zur Verfügung stehen (sie haben für beide einen Nutzenwert von 0, sind also wertneutral). Jede Lösung östlich dieses Punktes ist für (A) besser als seine Nichteinigungsalternative, jede Lösung nördlich dieses Punktes ist für (B) besser als seine Nichteinigungsalternative. Alle Lösungen in dem nordöstlichen Quadranten sind damit für (A) und (B) grundsätzlich akzeptabel, sie bilden den so genannten Einigungsbereich (vgl. dazu bereits das II. Kapitel). Die Kurve in diesem Quadranten markiert Lösungen, die optimal in dem Sinne sind, 60dass sich der Nutzen von entweder (A) oder (B) nur noch dadurch steigern lässt, dass der des jeweils anderen sinkt (so genannte Pareto-Kurve). Ziel der Verhandlungen von (A) und (B) muss es sein, Lösungen zu finden, die möglichst nah an dieser Kurve bzw. auf ihr liegen. Eine solche Lösung ist C, eine andere D. Entscheiden sich (A) und (B) für E, dann verschenken sie mögliche Kooperationsgewinne: C und D wären für beide besser als Lösung E. Es geht also darum, das Potenzial des Einigungsbereichs auszuschöpfen.
Ein erster wichtiger Schritt zu Lösungen wie C oder D liegt in der Erkenntnis, dass es sie überhaupt gibt. Wir hatten bereits gesehen, dass die Vorstellung, die meisten Verhandlungen seien Nullsummenspiele, falsch ist (vgl. I. Kapitel). Wenn Sie den „Nullsummenmythos“ als solchen erkennen, sind Sie auf dem besten Wege, sich daraus zu befreien. Gehen Sie niemals mit der Annahme in eine Verhandlung, es gehe nur darum, einen vorhandenen Wert zu verteilen. Egal, wie eindimensional die Sache auch aussehen mag – fast immer gibt es irgendwelche Möglichkeiten der Wertschöpfung, Spielraum für beide Seiten, ein gutes Geschäft zu machen.
Wie lassen sich solche „Win-win“-Lösungen praktisch erreichen? Drei Möglichkeiten stehen Ihnen zur Verfügung: Sie können Unterschiede zwischen Ihnen und Ihrem Verhandlungspartner ausnutzen, um Wert zu schöpfen. Sie können aber auch Gemeinsamkeiten herausfinden, die eine solche Wertschöpfung ermöglichen. Schließlich lassen sich häufig auch Größenvorteile (Skalenerträge) erzielen.
Dass Unterschiede zwischen Ihnen und Ihrem Verhandlungspartner dazu beitragen können, gemeinsam ein besseres Verhandlungsergebnis zu erzielen, ist kontraintuitiv. Oft haben wir das Gefühl, dass Unterschiede es schwer machen, eine Einigung zu finden. Diese Einschätzung ist auch nicht ganz falsch. Wenn Sie als Geschäftsführer eines Unternehmens eine andere Unternehmensstrategie für Erfolg versprechend halten als Ihr Mitgeschäftsführer, dann behindert dies eine gemeinsame Geschäftsleitung.
Interessenunterschiede: Gleichwohl sind es in Verhandlungen auch und vor allem Unterschiede zwischen den Beteiligten, aus denen 61sich Kooperationsgewinne ziehen lassen. Das liegt in erster Linie daran, dass Sie und Ihr Verhandlungspartner häufig unterschiedliche Interessen im Hinblick auf einen bestimmten Verhandlungsgegenstand verfolgen oder dass Ihnen zumindest verschiedene Verhandlungsgegenstände unterschiedlich wichtig sind. Solche unterschiedlichen Interessen (Präferenzen) ermöglichen Tauschprozesse.3
Erinnern Sie sich an das im I. Kapitel behandelte Beispiel des Streites zweier Geschwister um die letzte verbliebene Orange. Der Schlüssel zu einer allseits vorteilhaften Lösung liegt hier darin, dass beide erkennen, dass sie ganz unterschiedliche Dinge mit der Orange vorhaben: Eine der Schwestern möchte einen Kuchen backen und benötigt dafür die Schale, die andere möchte hingegen das Fruchtfleisch essen. Ähnlich verhält es sich etwa regelmäßig bei der Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft. Die gleichmäßige Verteilung aller Gegenstände der Erbschaft (so dies möglich sein sollte) auf alle zu gleichen Teilen berechtigten Erben ist selten die beste Lösung. Für alle vorteilhaftere Ergebnisse lassen sich erzielen, wenn jeder diejenigen Erbschaftsgegenstände erhält, die ihm am meisten am Herzen liegen.4 Dasselbe gilt beispielsweise bei Verhandlungen über die Auseinandersetzung von Vermögenswerten im Zusammenhang mit einer Scheidung.
Fähigkeiten, Kosten oder Ressourcen: Es sind aber nicht nur unterschiedliche Interessen der Beteiligten, die sich zur Wertschöpfung ausnutzen lassen. Unterschiede im Hinblick auf Fähigkeiten, Kosten oder Ressourcen bergen häufig ebenfalls Wertschöpfungspotenziale.5 Der Ausnutzung unterschiedlicher Fähigkeiten dient etwa das Prinzip der Arbeitsteilung. So ist es sinnvoll, wenn von mehreren Partnern eines joint venture jeder die Aufgaben übernimmt, die er selbst am besten bewältigen kann. Vielleicht hat ein Verhandlungspartner im Einzelfall Zugang zu Ressourcen, über welche die anderen nicht verfügen. Vielleicht kann er notwendige Leistungen billiger erbringen oder besorgen als die anderen. Denken Sie etwa an die Finanzierung eines bestimmten Leistungspaketes. Es ist sinnvoll, dass derjenige Verhandlungspartner mit den geringsten Finanzierungskosten die Finanzierung übernimmt. Auf diese Weise wird 62Wert geschöpft bzw. ein Wertverlust vermieden – der zur Verteilung verfügbare Kuchen ist größer.
Individuelle Prognosen: Auch individuelle Prognosen bieten Raum für vorteilhafte Gestaltungsmöglichkeiten.6 Ein Beispiel ist die Gestaltung von Unternehmenssanierungen. Nehmen wir an, ein bestimmtes Unternehmen sei in finanzielle Schwierigkeiten geraten und zahlungsunfähig geworden. Es lohne sich jedoch, das Unternehmen zu sanieren, weil sein Fortführungswert höher ist als sein Zerschlagungswert. Um die Sanierung ins Werk zu setzen, müssten jedoch alle finanziell an dem Unternehmen Beteiligten (Gläubiger, Gesellschafter) Opfer bringen. Soweit es dabei um die Gläubiger geht, besteht eine Möglichkeit natürlich darin, dass alle gleichmäßig auf einen bestimmten Prozentsatz ihrer Forderungen verzichten. Vielleicht ist das jedoch nicht die beste Lösung. Möglicherweise gibt es optimistische Gläubiger, welche die Ertragsaussichten des reorganisierten Unternehmens sehr positiv einschätzen. Vielleicht sind demgegenüber andere Gläubiger besonders skeptisch. In einer solchen Situation bietet es sich an, dass die optimistischen Gläubiger primär mit Eigenkapitaltiteln oder eigenkapitalähnlichen Titeln (Besserungsschein o.Ä.) abgefunden werden, die pessimistischen dagegen primär mit einer höheren Barquote.7 Bei objektiv gleichem Wert der so zusammengesetzten Abfindungspakete erhalten alle subjektiv eine höhere Befriedigung, als wenn sie jeweils dasselbe Paket erhalten hätten.
Wie dieses Beispiel verdeutlicht, ist Wertschöpfung durch die Ausnutzung divergierender Prognosen nicht nur ein interessantes Gedankenspiel. Alle Optionsgeschäfte beruhen auf demselben Prinzip. Auch in vielen Verhandlungen können Sie damit arbeiten, um Wert zu schöpfen: Welches Zukunftsszenario hält Ihr Verhandlungspartner für wahrscheinlich? Welches halten Sie für wahrscheinlich? Bestehen insoweit Unterschiede? Wenn ja, welche Gestaltung können wir finden, die diese Unterschiede zum beiderseitigen Vorteil abbildet?
63Bei einem Unternehmensverkauf ist es z. B. nicht unüblich, dass ein Teil des Kaufpreises aus zukünftigen Gewinnen bezahlt werden soll, sofern diese bestimmte Werte erreichen oder überschreiten (so genannte Earn-Out-Klauseln). Wenn der Verkäufer diesbezüglich optimistisch, der Käufer demgegenüber pessimistisch ist, erhalten beide subjektiv mehr als bei einem Kaufpreis ohne eine entsprechend bedingte Komponente.
Überlegen Sie immer, ob Sie und Ihr Verhandlungspartner bestimmte zukünftige Entwicklungen, die sich auf den Verhandlungsgegenstand beziehen, unterschiedlich einschätzen. Wenn ja, können Sie durch die Ausnutzung dieser unterschiedlichen Prognosen Wert schöpfen.
Die hier erläuterten Zusammenhänge lassen sich auch grafisch darstellen (Abbildung 11).
Abbildung 11: Wertschöpfung durch kontingente Verträge
64Abbildung 11 zeigt eine Situation, in der (A) die Lösung C („Vertrag C“) und B die Lösung D („Vertrag D“) vorschlägt. C ist für (B) nicht akzeptabel, da diese Lösung schlechter ist als (B) ̓s beste Alternative (Null). Aus demselben Grund ist D für (A) nicht akzeptabel. Eine Einigung ist deshalb scheinbar nicht möglich. Gleichwohl können (A) und (B) eventuell eine beiderseits vorteilhafte und damit konsensfähige Lösung finden, wenn es ihnen gelingt, einen so genannten kontingenten Vertrag zu schließen.8 Denkbar ist zum einen, dass sie es von einem zufälligen Ereignis, etwa dem Wurf einer Münze, abhängig machen, ob Vertrag C oder Vertrag D in Kraft treten soll (Randomisierung). Da beide Ereignisse gleich wahrscheinlich sind, beträgt der erwartete Nutzen beider Parteien C/2 + D/2 oder (C + D)/2. Dem entspricht grafisch Punkt E („Vertrag E“). E ist konsensfähig, da diese Lösung für (A) und (B) besser ist als ihre jeweiligen Nichteinigungsalternativen.
(A) und (B) können sich jedoch noch besser stellen. Sie könnten daran denken, es von einem zukünftigen Ereignis, etwa dem morgigen Stand des Aktienkurses eines bestimmten Unternehmens, abhängig zu machen, welcher Vertrag (C oder D) gelten soll: C, wenn dieser Kurs steigt, und D, wenn er fällt („Vertrag F“). Wenn ihre Prognosen diesbezüglich unterschiedlich sind ((A) glaubt, der Kurs werde steigen; (B) glaubt, er werde fallen), gehen beide subjektiv davon aus, dass der von ihnen präferierte Vertrag mit einer Wahrscheinlichkeit von Eins in Kraft gesetzt werden wird. Mit anderen Worten: (A) ist – bei risikoneutralem Verhalten – indifferent zwischen F und C, und (B) ist – ebenfalls bei risikoneutralem Verhalten –indifferent zwischen F und D, weil beide davon überzeugt sind, dass letztlich der von ihnen vorgezogene Vertrag auch bei dem kontingenten Arrangement gelten wird.
Natürlich wird sich ex post herausstellen, dass der Aktienkurs entweder gestiegen oder gefallen ist, so dass letztlich entweder Vertrag C oder Vertrag D in Kraft gesetzt wird. Darauf kommt es hier jedoch nicht an. Weder (A) noch (B) haben Grund, sich zu beklagen, weil sie ein ex ante beiderseits vorteilhaftes Arrangement beschlossen haben. Das Risiko, dass ihre Erwartung ex post enttäuscht werden könnte, sind sie bewusst eingegangen.
Individuelle Zeit- oder Risikopräferenzen: Ebenso wie unterschiedliche Prognosen lassen sich schließlich auch unterschiedliche Zeit- oder Risikopräferenzen der Verhandlungspartner ausnutzen, um Wert zu schöpfen. Genauso wie bei unterschiedlichen Prognosen basieren ganze Märkte auf entsprechenden Unterschieden (Kreditmärkte, Versicherungsmärkte), und jeder marktmäßige Austausch bedeutet: Alle Beteiligten gehen davon aus, dass sie von einer bestimmten Transaktion profitieren werden (sonst hätten sie sich bei rationalem Verhalten nicht darauf eingelassen).
65In dem oben beschriebenen Beispiel der Unternehmenssanierung lässt sich eine Einigung der Gläubiger beispielsweise noch dadurch fördern, dass die höhere Barquote den risikoscheuen und auf sofortige Liquidität angewiesenen und die im Wert erfolgsabhängigen Eigenkapitaltitel vorrangig den risikofreudigen und weniger auf sofortige Zahlung angewiesenen Gläubigern zugeteilt werden.
Insbesondere das Arbeiten mit unterschiedlichen Zeitpräferenzen der Beteiligten ist praktisch bei jeder Verhandlung, bei der es (auch) um Geldzahlungen geht, ein nützliches Instrument der Wertschöpfung. Fragen Sie sich immer, ob sich nicht durch (partielle) Stundungen bzw. durch die zeitliche Staffelung von Zahlungen ein Wertschöpfungseffekt im Vergleich mit einer sofortigen Zahlung erzielen lässt.
Einbeziehung zusätzlicher Personen/Themen: Verglichen mit einer Zwei-Personen-Verhandlung sind die Möglichkeiten zur Ausnutzung von Unterschieden bei einer Mehr-Personen-Verhandlung zumindest auf den ersten Blick deutlich größer: Eine größere Zahl von Beteiligten impliziert, dass mehr unterschiedliche und unterschiedlich gewichtete (priorisierte) Interessen betroffen sind. Mehr-Personen-Verhandlungen eröffnen deshalb unter Umständen Wege zur Wertschöpfung, die bei Zwei-Personen-Verhandlungen nicht existieren. Es kann zu „Ringtauschgeschäften“ kommen, wenn etwa (A) gegenüber (B) ein Zugeständnis macht, weil (B) dem (A) einen bestimmten Vorteil verschaffen kann, (B) aus demselben Grund (C) ein Zugeständnis macht und (C) wiederum dem (A).9
Sie sollten deshalb im Einzelfall immer erwägen, ob es sinnvoll ist, bestimmte Personen, welche die Wertschöpfungsmöglichkeiten erweitern könnten, zu den Verhandlungen hinzuzuziehen: Gibt es jemanden, der meinem Verhandlungspartner ein Zugeständnis machen kann, zu dem ich nicht in der Lage bin? Was könnte/müsste ich dieser Person bieten, damit sie dieses Zugeständnis macht? Wie lässt sie sich sinnvoll/organisch in die Verhandlung einbinden? Mit diesen Fragen sind Herausforderungen an das Prozessmanagement verbunden (Umgang mit Komplexität, Gestaltung des Spielfeldes), mit denen wir uns im V. und VI. Kapitel ausführlich beschäftigen werden.
66Ähnliches wie für die beteiligten Personen gilt für die Themen, um die es in einer Verhandlung geht. Je enger der Verhandlungsgegenstand definiert ist, desto schwieriger, je weiter er definiert ist, desto leichter sind allseits vorteilhafte Gestaltungen möglich. Wenn es um viele Verhandlungsgegenstände geht, wird jeder Beteiligte gezwungen, für sich selbst die einzelnen Themen bzw. Gegenstände zu priorisieren, und gerade darin liegt ja der Ansatzpunkt für vorteilhafte Kompromisse begründet. Man gibt bei Thema 1, das einem selbst weniger wichtig ist, der Gegenseite dafür sehr viel bedeutet, etwas nach, um bei Thema 2, bei dem die Interessenlage genau umgekehrt ist, seine eigenen Ziele möglichst weitgehend befriedigt zu sehen. Das Ausnutzen von Unterschieden durch „Paketlösungen“ setzt bisweilen voraus, dass der Verhandlungsgegenstand erweitert wird.
Nehmen wir einmal an, Sie befinden sich als Produzent von Spezialsoftware, der für ein Autovermietungsunternehmen Software zur Steuerung von dessen Fuhrpark herstellen sollte, in Vergleichsverhandlungen. Ihnen wird vorgeworfen, dass die Software fehlerhaft sei und auch zu spät fertig gestellt wurde. Natürlich geht es in dieser Verhandlung um die endgültige Fertigstellung der Software sowie etwaige Schadensersatzzahlungen. Aber vielleicht ist es sinnvoll, auch über einen Wartungsvertrag zu reden? Vielleicht lässt sich die Software in ein Gemeinschaftsunternehmen einbringen und gemeinsam vermarkten? Vielleicht gibt es für Sie Möglichkeiten, andere Leistungen für den Abnehmer der Software zu erbringen, die diesem viel nützen, Sie jedoch nur wenig kosten? Verlieren Sie durch die Konzentration auf den konkreten Verhandlungsgegenstand nicht den Blick dafür, dass möglicherweise erst eine Erweiterung auf andere/zusätzliche Themen Wertschöpfungsmöglichkeiten eröffnet.
Zu wissen, dass sich unterschiedliche Interessen, Fähigkeiten, Kosten und Ressourcen, Prognosen sowie Zeit- und Risikopräferenzen zur Wertschöpfung in Verhandlungen ausnutzen lassen, ist eine Sache. Eine andere ist es, in einer konkreten Verhandlung tatsächlich auf diese Unterschiede zu stoßen und daraus etwas zu machen, also den Kooperationsgewinn zu vergrößern. Von zentraler Bedeutung ist insoweit die Haltung, mit der Sie in eine Verhandlung hineingehen: Suchen Sie potenzielle Unterschiede, seien Sie sensibel für Anhaltspunkte 67zur Wertschöpfung. Was ist mir zentral wichtig? Kann mein Verhandlungspartner mir etwas geben, das eines meiner zentralen Interessen befriedigt? Was ist ihm zentral wichtig? Kann ich meinem Verhandlungspartner etwas geben, das einen großen Wertschöpfungseffekt auf seiner Seite hat? Je mehr solcher Unterschiede Sie entdecken, desto mehr „Tauschgeschäfte“ in Verhandlungen wird es geben, und umso größer wird die Wertschöpfung sein, die Sie mit Ihrem Verhandlungspartner realisieren können – zum beiderseitigen Vorteil.
Dass auch Gemeinsamkeiten eine wichtige Quelle der Wertschöpfung sind, überrascht nicht. Immer dann, wenn Sie und Ihr Verhandlungspartner bestimmte gemeinsame Interessen haben, wenn zwischen Ihnen eine (fort-)bestehende persönliche oder geschäftliche Beziehung existiert, oder wenn eine bestimmte Form des gemeinsamen Vorgehens von Ihnen beiden gewünscht wird, können Sie diese Gemeinsamkeiten ausnutzen, um Wert zu schöpfen.
Denken Sie etwa noch einmal an das Beispiel der Sanierung eines notleidenden Unternehmens. Die an den Sanierungsverhandlungen beteiligten Gläubiger haben ein gemeinsames Interesse an einer Reorganisation der in Schwierigkeiten geratenen Gesellschaft, wenn dadurch die ihnen allen zur Verfügung stehende Haftungsmasse maximiert wird. Bei einer Scheidung haben die Ehepartner ein gemeinsames Interesse an dem Wohlergehen ihrer Kinder. Wie hart eine erbrechtliche Auseinandersetzung zwischen Verwandten auch geführt wird – die verwandtschaftlichen Bande bleiben auch in Zukunft bestehen, und daraus folgt ein gemeinsames Interesse an einer allseits erträglichen Gestaltung der Auseinandersetzungsvereinbarung.
Erinnern Sie sich schließlich daran, wie wichtig häufig auch verfahrensbezogene Interessen für alle Beteiligten in Verhandlungen sind (vgl. II. Kapitel). Die meisten von uns können mit vielen Ergebnissen in der Sache leben, wenn sie das Gefühl haben, dass das Verfahren fair und transparent abgelaufen ist. Auch dies ist eine Gemeinsamkeit, aus der sich häufig Wert schöpfen lässt. Möglicherweise 68sind alle Teilnehmer einer Verhandlung an der Vermeidung einer gerichtlichen Auseinandersetzung interessiert, weil sie bestimmte Informationen geheim halten oder eine bewährte Geschäftsbeziehung aufrecht erhalten möchten. In diesem Fall besteht eine Gemeinsamkeit im Verfahren und nicht notwendig bezüglich einer inhaltlichen Frage. Denken Sie deshalb daran, gegebenenfalls einen Verfahrensvorschlag – etwa zur Nutzung eines alternativen Streitbeilegungsverfahrens, beispielsweise der Mediation – in einer Verhandlung zu machen, wenn schon in der Sache keine Einigung möglich erscheinen sollte.
Eine dritte Möglichkeit zur Wertschöpfung in Verhandlungen liegt schließlich im Ausnutzen von Größenvorteilen (Skaleneffekten): Die durchschnittlichen Herstellkosten eines Produktes sinken, je mehr Einheiten dieses Produktes hergestellt werden. Dies kann beispielsweise daran liegen, dass sich die Investitionskosten für eine zur Herstellung benötigte Maschine dann auf viele anstatt auf wenige Einheiten verteilen. Auch ein verbesserter Produktionsprozess (etwa aufgrund von Lerneffekten) kann eine Rolle spielen.
Größenvorteile lassen sich in vielfältiger Weise zur Realisierung von Kooperationsgewinnen ausnutzen. Beispiele sind Vertriebskooperationen oder joint ventures bei Forschungs- oder Produktionsvorhaben. Überlegen Sie in einer Verhandlung immer, ob sich nicht möglicherweise durch eine Veränderung der (hergestellten bzw. vertriebenen) Menge eines bestimmten Verhandlungsgegenstandes Geld sparen und damit Wert schöpfen lässt. Um das bereits erwähnte Beispiel der Spezialsoftware noch einmal aufzugreifen: Diese nach Fertigstellung gemeinsam mit dem Pilotkunden im Rahmen eines joint venture an Dritte zu vertreiben, führt dazu, dass Größenvorteile ausgenutzt werden.
Wenn Sie in Verhandlungen Wert schöpfen, indem Sie Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Größenvorteile ausnutzen, dann verhandeln Sie „integrativ“: Sie bemühen sich darum, Ihre Interessen mit denjenigen Ihres Verhandlungspartners zu verzahnen, diese zu integrieren.1069Integratives Verhandeln setzt eine offene und ehrliche Kommunikation zwischen Ihnen und Ihrem Verhandlungspartner voraus.
Betrachten Sie insoweit nochmals das Viereck der Schlüsselfaktoren aus dem II. Kapitel. Im Hinblick auf den Bewertungsmaßstab der Interessen geht es Ihnen darum, eigene Interessen mitzuteilen und Prioritäten deutlich zu machen. Gleichzeitig sind Sie bemüht, die Interessen Ihres Verhandlungspartners zu verstehen. Die Verhandlungen finden in einer problemlösenden Atmosphäre statt. Ihre eigene Wahrnehmung und diejenige Ihres Verhandlungspartners sind auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie Größenvorteile gerichtet, die eine Wertschöpfung ermöglichen könnten. Sie bestehen nicht auf allen Punkten gleich stark und fordern auch die Gegenseite zu Differenzierungen heraus. Alle Beteiligten versuchen, kreative, allseits vorteilhafte Einigungsoptionen zu finden. Hier liegt der Schwerpunkt des integrativen Verhandelns. Ihre Nichteinigungsalternativen sind präsent, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt.
Das mit dem Begriff des integrativen Verhandelns verbundene Bild von Verhandlungen erfasst einen wesentlichen Ausschnitt der Realität. Vollständig gerecht wird es dieser Realität jedoch nicht. Verhandlungen haben, wie bereits erwähnt, neben einer wertschöpfenden regelmäßig auch eine wertverteilende Komponente. In vielen Verhandlungen steht diese Komponente sogar im Vordergrund. Strategisches Verhandeln bedeutet nicht nur, den vorhandenen Kooperationsgewinn möglichst zu vergrößern. Strategisches Verhandeln bedeutet auch und insbesondere, Schritte zu unternehmen, um von diesem Kooperationsgewinn – wie hoch er im Einzelfall auch sein mag – in größtmöglichem Umfang zu profitieren.
Betrachten Sie nochmals Abbildung 10. Die Lösungen C und D sind beide effizient in dem Sinne, dass es keine Lösung gibt, die beide Verhandlungspartner [(A) und (B)] besser stellen würde. C und D unterscheiden sich aber gravierend im Hinblick auf die Verteilung des Kooperationsgewinns. C ist wesentlich günstiger für (B), D ist 70wesentlich günstiger für (A). Dementsprechend wird (B) versuchen, C durchzusetzen, und (A) wird versuchen, D durchzusetzen. Beide Verhandlungspartner sind bemüht, den eigenen Gewinn zu maximieren. Sie verhandeln insoweit „distributiv“, nicht „integrativ“.
Welche Taktiken bzw. Techniken können Sie einsetzen, wenn es Ihnen primär darum geht, den eigenen Vorteil in einer Verhandlung zu maximieren?
Bevor wir uns diese Taktiken bzw. Techniken genauer ansehen, wollen wir unser Augenmerk kurz noch einmal auf das Verhältnis von Wertbeanspruchung in Verhandlungen und Ethik lenken. Wertbeanspruchung kann man aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.11 Man kann sich fragen, ob der Einsatz eines bestimmten Instruments für die eigenen Interessen in Verhandlungen (langfristig) vorteilhaft ist. Das ist eine instrumentelle Perspektive. Man kann sich auch fragen, ob dieser Einsatz von der Rechtsordnung toleriert wird. Dies wäre eine rechtliche Perspektive. Schließlich kann man Wertbeanspruchung auch aus einer ethischen Warte betrachten, sich also fragen, ob sie moralisch akzeptabel ist oder nicht.12
In unseren folgenden Überlegungen wird, der Zielsetzung dieses Buches entsprechend, die instrumentelle Perspektive im Vordergrund stehen. Es geht uns und Ihnen ja darum, die eigene Verhandlungskompetenz zu verbessern und in Verhandlungen bessere Ergebnisse zu erzielen. Dabei kann ein „besseres Ergebnis“ in einem wünschenswerteren inhaltlichen Resultat für Sie liegen. Möglicherweise steht für Sie im Einzelfall aber auch ein besseres (angenehmeres) Verfahren im Vordergrund. Zentral ist in jedem Fall die Ausrichtung an der eigenen, verbesserten Interessenbefriedigung.
Dass in den folgenden Ausführungen die instrumentelle Perspektive auf Verhandlungen im Vordergrund steht, bedeutet nicht, dass die rechtliche sowie die ethische Perspektive irrelevant wären. Das Gegenteil ist der Fall. Wertbeanspruchung hat immer eine rechtliche Dimension (zulässig – unzulässig – möglicherweise zulässig/unzulässig). Zur ethischen Legitimität bestimmter Instrumente der Wertbeanspruchung sowie zur gerechten Verteilung des Kooperationsgewinns gibt es eine differenzierte philosophische Diskussion.13
71Wir werden uns mit diesen Aspekten hier jedoch nur insoweit beschäftigen, als sie unmittelbar oder mittelbar Ihr Ziel, eine möglichst hohe Interessenbefriedigung in Verhandlungen zu erzielen, beeinflussen. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine bestimmte Taktik rechtlich angreifbar ist und in diesem Sinne rechtliche Risiken birgt. Das gilt beispielsweise für arglistige Täuschungen, zu denen die Rechtsprechung in bestimmten Zusammenhängen auch schon Angaben „ins Blaue hinein“ zählt,14 oder widerrechtliche Drohungen. Eine Taktik kann aber auch hohe ethische Risiken in dem Sinne bergen, dass der Verhandlungspartner sie für inakzeptabel hält und deshalb möglicherweise eskalierend reagiert. Unter diesen Vorzeichen wollen wir uns im Folgenden mit einzelnen Taktiken bzw. Techniken der Wertbeanspruchung in Verhandlungen auseinandersetzen.
Wenn Sie darüber nachdenken, wie Sie Ihren Anteil an dem Kooperationsgewinn vergrößern können, dann sollten Sie zunächst über die Einstellung nachdenken, mit der Sie eine Verhandlung führen. Sie können von vornherein auf ein „angemessenes“ Ergebnis hoffen und gar nicht mehr als ein solches anstreben. Sie können aber auch versuchen, für sich selbst ein ambitioniertes, sehr gutes Ergebnis zu erzielen. Die Erfahrung zeigt, dass ambitionierte, ehrgeizige Verhandler deutlich besser abschneiden als solche, die sich lediglich moderate Ziele setzen.15 Wenn Sie besonders gut abschneiden wollen, dann sollten Sie also zunächst einmal an Ihrer Einstellung arbeiten: Setzen Sie sich ehrgeizige, aber realistische Ziele, und geben Sie sich nicht von vornherein mit einem für Sie möglicherweise zwar akzeptablen, aber nicht idealen Ergebnis zufrieden. Je mehr Sie in der Verhandlung anstreben, desto mehr werden Sie im Zweifel auch bekommen. Dafür ist es wichtig, die nachfolgend beschriebenen Mechanismen zu kennen.
Aus der Spieltheorie wissen wir, dass sich Risikoscheu und Ungeduld negativ auf das eigene Verhandlungsergebnis auswirken: Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts, und wer auf eine schnelle Einigung drängt, der wird auch eher zu Zugeständnissen bereit sein.16
72Insbesondere Ungeduld ist keine ein für alle Mal feststehende Eigenschaft. Ungeduld in Verhandlungen hängt häufig von den Kosten und Risiken ab, welche die Verzögerung einer Einigung für die Verhandelnden auslöst, und diese Faktoren lassen sich beeinflussen. Eine Gewerkschaft kann beispielsweise durch den Aufbau einer Streikkasse den auf ihr lastenden „Einigungsdruck“ verringern. Gleiches gilt umgekehrt auch für die Arbeitgeber: Wenn sie eine bestimmte Menge Fertigprodukte auf Lager halten oder ihnen bei einem Streik anderweitige Fertigungskapazitäten – beispielsweise im Ausland – zur Verfügung stehen, sind sie für einen Arbeitskampf besser gerüstet.
Auch Sie sollten sicherstellen, dass Sie nicht durch eine für Ihren Verhandlungspartner erkennbare Ungeduld bzw. dadurch ins Hintertreffen geraten, dass Sie offenbar auf einen schnellen Abschluss der Verhandlungen angewiesen sind. Wenn Sie als Unternehmer Ihre Nachfolge zu organisieren haben: Warten Sie damit nicht, bis Sie „nicht mehr anders können“. Versuchen Sie generell, die Sie treffenden Kosten einer sich verzögernden Einigung zu minimieren, und signalisieren Sie gegebenenfalls, dass Sie Zeit haben. Achten Sie umgekehrt auf Signale Ihres Verhandlungspartners, die darauf schließen lassen, dass er schnell zum Abschluss kommen muss und möchte. Solche Signale sind regelmäßig Anzeichen einer hohen Konzessionsbereitschaft, die Ihre Verhandlungsposition entscheidend stärken kann.
Die zentrale Taktik distributiven Verhandelns besteht darin, den (wahrgenommenen) Einigungsbereich zu den eigenen Gunsten zu verändern. Da dieser Bereich durch die jeweiligen Nichteinigungsalternativen der Verhandlungsbeteiligten bestimmt wird, heißt dies: Verbesserung der eigenen Nichteinigungsalternativen (oder ihrer Wahrnehmung durch den Verhandlungspartner) bzw. Verschlechterung der Nichteinigungsalternativen des Verhandlungspartners (oder seiner diesbezüglichen Wahrnehmung).
Wenn in Zeitungen oder Zeitschriften über Verhandlungen berichtet wird, dann wird dort häufig der diffuse Begriff der „Verhandlungsmacht“ 73gebraucht. Es ist davon die Rede, dass eine Seite über eine größere Verhandlungsmacht verfüge als die andere. Erläutert wird dieser Begriff ebenso wenig wie eine Erklärung dafür geboten wird, woraus sich Verhandlungsmacht ergibt. Nach unserer Einschätzung und Erfahrung ist die „Arbeit an den Nichteinigungsalternativen“ der wirkungsmächtigste Mechanismus distributiven Verhandelns. Gute Nichteinigungsalternativen sind gleichzeitig die wichtigste Quelle von Verhandlungsmacht: Wer wegen guter Nichteinigungsalternativen auf eine Einigung mit seinen Verhandlungspartnern am wenigsten angewiesen ist, wird sich regelmäßig den größten Teil des Kooperationsgewinns sichern können.17
Eine zweite wichtige Quelle von Verhandlungsmacht liegt darin, in schwierigen oder gar festgefahrenen Verhandlungssituationen kreative, wertschöpfende Vorschläge machen zu können. Wenn sich eine Blockadesituation eingestellt hat und keiner mehr „weiter weiß“, kann derjenige, der eine neue Idee hat, wieder Bewegung in die Verhandlungen bringen und diese in ein konstruktives Fahrwasser lenken. Unterschiedliche Quellen der Wertschöpfung in Verhandlungen haben wir bereits behandelt (vgl. oben). Was Sie am Verhandlungstisch konkret tun können, um – allein oder mit Ihrem Verhandlungspartner – wertschöpfende Vorschläge zu entwickeln und zum Gegenstand der Verhandlungen zu machen, wird uns noch ausführlich im V. Kapitel beschäftigen. Derjenige, der in der Lage ist, in einer kritischen Situation solche Vorschläge einzubringen, hat auf jeden Fall einen Vorteil.
Erinnern Sie sich noch einmal an den eingangs geschilderten Fall der Scheidung zwischen Barbara und Boris Becker. Nachdem diese sich getrennt hatten, verfügte Barbara zunächst nur über eine sehr schlechte Nichteinigungsalternative: Sie hatte einen Ehevertrag unterschrieben, der ihr nur einen recht kleinen Teil des aktuellen Vermögens von Boris Becker gewährt hätte. Entsprechend gut sah die Nichteinigungsalternative von Boris Becker aus. Durch den Flug in die USA und die Klage in Miami verbesserte sich Barbaras Nichteinigungsalternative dramatisch, während diejenige von Boris enorm an Wert verlor. Die endgültige Einigung zwischen den beiden spiegelte diese veränderten Kräfteverhältnisse wider.
74Daran wird gleichzeitig deutlich, dass die wichtigsten Dinge in Verhandlungen häufig nicht „am Verhandlungstisch“ geschehen. Die Arbeit an den Nichteinigungsalternativen vollzieht sich zumeist außerhalb des Verhandlungsraumes – durch Gespräche mit Dritten oder durch andere Maßnahmen, welche die eigene Position für den Fall einer Nichteinigung verbessern. Es geht darum, das „Spielfeld“ in einer Weise zu gestalten, die dann die eigene Stellung am Verhandlungstisch optimiert (dazu später mehr im VI. Kapitel).
Die eigenen Nichteinigungsalternativen (oder ihre Wahrnehmung durch den Verhandlungspartner) zu verbessern ist in der Regel einfacher, als diejenigen des Verhandlungspartners (oder dessen diesbezügliche Wahrnehmung) zu verschlechtern. Soweit es um Ihre eigenen Nichteinigungsalternativen geht, agieren Sie in Ihrem eigenen Handlungs- und Rechtskreis. Denken Sie beispielsweise daran, sich alternative Kauf- oder Verkaufsangebote zu verschaffen, wenn Sie sich in oder vor einer Kaufvertragsverhandlung befinden. Wenn Sie einen bestimmten Job haben wollen, sind Sie gut beraten, zuvor mit anderen Personen bzw. Institutionen zu sprechen, bei denen Sie am Ende nur notfalls arbeiten möchten. Auf diese Weise können Sie sich über das Marktumfeld informieren und sich zumindest eine passable Nichteinigungsalternative schaffen, die Ihnen in den Gesprächen mit dem bevorzugten Arbeitgeber größere Verhandlungsmacht verleiht, abgesehen davon, dass sie auch Ihre Sicherheit im Auftreten erhöht.
Dass es dagegen meistens schwierig ist, die Nichteinigungsalternativen des Verhandlungspartners zu verschlechtern, liegt daran, dass man zu diesem Zweck häufig in dessen Freiheitssphäre eingreifen müsste. Das aber lässt die Rechtsordnung regelmäßig nicht zu. Dem Verhandlungspartner mit Schädigung zu drohen, wenn dieser sich nicht so verhält, wie man selbst es wünscht, ist grundsätzlich kein seriöser Verhandlungsstil und außerdem zumeist illegal (wie im Fall des Mafia-Paten, der ein „Angebot“ macht, das man nicht ablehnen kann).
Ausnahmen bestätigen die Regel: So kann sich zum Beispiel ein Hersteller von Software vollkommen legal dadurch schützen, dass er Raubkopien mittels eines programmierten Kopierschutzes verhindert. 75Ähnlich versuchte VW im Streit mit Zulieferern 2016, deren Lieferverweigerung mit einstweiligem gerichtlichen Rechtsschutz (Beschlagnahme von Bauteilen) zu begegnen. Auch haben Sie es beispielsweise in der Hand, Ihrem Vertragspartner bei einem Scheitern der gegenwärtigen Verhandlung mit einem völligen Abbruch der Geschäftsbeziehungen für die Zukunft zu drohen. Auch die Mobilisierung der Öffentlichkeit ist häufig ein probates Mittel, um die Nichteinigungsalternativen des Verhandlungspartners zu verschlechtern. Denken Sie etwa an die Lokführerstreiks in den Jahren 2014 und 2015. Die von der Arbeitgeberseite lancierten Pressemeldungen, nach denen die wiederholten bundesweiten Streiks mit enormen volkswirtschaftlichen Schäden verbunden seien und neben Pendlern auch Urlauber hart treffen würden, obwohl man freilich an der Erstellung von Ersatzfahrplänen arbeite, hatten zumindest das Ziel, die Nichteinigungsalternativen der Lokführer zu verschlechtern.
Wenn es Ihnen schon nicht möglich ist, die Nichteinigungsalternativen Ihres Verhandlungspartners tatsächlich zu verschlechtern, so versuchen Sie doch zumindest, bei diesem eine kritische Reflexion über seine Möglichkeiten bei einem Scheitern der Verhandlungen auszulösen, mit der vielleicht die eine oder andere Schwäche aufgedeckt wird. Wir hatten bereits gesehen, dass unbegründeter Optimismus eine verbreitete Wahrnehmungsfalle ist (vgl. II. Kapitel). Bringen Sie Ihren Verhandlungspartner dazu, dass er auch die dunklen Flecken in dem rosaroten Bild sieht, das er sich von seinen Nichteinigungsalternativen malt. Insoweit können Sie durchaus mit Suggestivfragen arbeiten („Was machen Sie, wenn wir uns heute nicht einigen? Was haben Sie davon?“). Es hat eine für Sie günstige Wirkung auf Ihren Verhandlungspartner, wenn dieser sich auch mit den Schwächen seiner Nichteinigungsalternativen beschäftigen muss.
Insbesondere in Mehr-Parteien-Verhandlungen spielt schließlich die Bildung von Koalitionen mit einzelnen Beteiligten und/oder mit zunächst (noch) unbeteiligten Dritten für die Entwicklung, Stärkung oder Schwächung von Nichteinigungsalternativen eine wichtige Rolle. Denken Sie etwa an Sanierungsverhandlungen. Hier kann das Management eines notleidenden Unternehmens seine Verhandlungsposition 76möglicherweise dadurch stärken, dass es eine Investorengruppe organisiert, die einen Management-Buy-out finanzieren würde. Umgekehrt können einzelne oder mehrere Banken damit drohen, bei einem Scheitern der Verhandlungen im Wege einer feindlichen Übernahme, möglicherweise ebenfalls unterstützt durch eine Investorengruppe, das Unternehmen zu erwerben und/oder zu liquidieren.
Ob und unter welchen Voraussetzungen sich Koalitionen bilden, hängt nicht nur von der Stärke gemeinsamer Interessen („natürliche Koalitionen“), sondern auch von einer Vielzahl prozesstaktischer und strategischer Fragen ab, die noch wenig erforscht sind.18 Näheres dazu werden wir im VI. Kapitel erörtern. Dort werden Aspekte der Koalitions- bzw. Allianzenbildung als Teil der Gestaltung des Spielfeldes von Verhandlungen eine zentrale Rolle spielen.
Ein weiteres wichtiges Instrument der Wertbeanspruchung in Verhandlungen sind Wahrnehmungsanker. Dabei geht es um Versuche, die Wahrnehmung des Verhandlungspartners auf bestimmte Optionen zu lenken – und damit von anderen abzulenken – oder dessen Erwartungsniveau zu beeinflussen. Bei der Diskussion des Schlüsselfaktors der Wahrnehmung im II. Kapitel haben wir bereits gesehen, dass das erstmalige Nennen eines bestimmten Preises psychologisch häufig wie ein „Anker“ für die weiteren Verhandlungen wirkt (anchoring):19 Auch wenn der genannte Preis objektiv keine größere Legitimation für sich beanspruchen kann als viele andere denkbare Preise, zieht er doch häufig die Aufmerksamkeit der Verhandelnden auf sich und wird zum Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen. Gleichzeitig wirkt sich das erstmalige Nennen eines Preises auch auf das Erwartungsniveau (aspiration level)20 des Verhandlungspartners aus: Mehr als gewisse Zugeständnisse von dem festgelegten Preisniveau sind scheinbar nicht zu erreichen, und damit müsste man dann wohl, so die Überlegung, zufrieden sein.
Einen Anker zu setzen ist deshalb häufig von Vortei1.21 Wenn Sie das planen, sollten Sie es aber regelmäßig nicht in Form einer „eigenen Forderung“ oder gar eines „letzten Angebotes“ machen. So vermeiden 77Sie, ein Glaubwürdigkeitsproblem zu bekommen, wenn sich später herausstellt, dass die genannte Zahl/der genannte Preis für den Verhandlungspartner definitiv inakzeptabel ist und Sie deswegen wieder davon abrücken wollen. Besser ist es, die betreffende Zahl/den betreffenden Preis einfach so in die Verhandlungen einzuführen, dass Sie auf Referenzfälle oder Marktkonditionen verweisen. Sind Sie als Vertreter an einer Verhandlung beteiligt, können Sie auch behaupten, Ihr Vorschlag sei noch nicht autorisiert.22 Damit erreichen Sie psychologisch den gewünschten Ankereffekt, ohne sich jedoch auf eine bestimmte Verhandlungsforderung festgelegt zu haben, von der Sie möglicherweise nur schwer wieder wegkommen.
Ob der von Ihnen geworfene Anker „hält“ oder nicht, hängt davon ab, wie gut er platziert wurde. Dafür ist entscheidend, wie gut Sie selbst den Markt bzw. das Transaktionsumfeld kennen. Von einem versierten Gebrauchtwagenhändler, der Ihnen Ihren alten Pkw abkaufen will, können Sie aufgrund seiner genauen Marktkenntnis erwarten, dass er seinen Preisanker knapp über Ihre beste Nichteinigungsalternative wirft. Gute (zutreffende, präzise) Informationen sind in diesem Sinne eine Voraussetzung für eine effektive Anwendung der beschriebenen Anker-Taktik.
Mit einem Wahrnehmungsanker wird auch bei so genannten degressiven Konzessionsmustern gearbeitet. Nehmen wir an, Sie kaufen einen gebrauchten Pkw aus privater Hand. Das erste Angebot, das Sie hören, liegt bei 4.000 Euro. Nach einer gewissen Zeit macht Ihr Verhandlungspartner ein Zugeständnis und verlangt nur noch 3.800 Euro. Nach weiteren Verhandlungen folgt das nächste Zugeständnis. Jetzt soll der Wagen „nur noch“ 3.700 Euro kosten, und so geht das weiter: Jedes Zugeständnis ist halb so groß wie das vorherige. Mit diesem Konzessionsmuster suggeriert Ihr Verhandlungspartner Ihnen, dass er keinesfalls weniger als 3.600 Euro für den Wagen zu akzeptieren bereit ist (Sie spüren, können aber auch leicht ausrechnen, dass der Grenzwert seiner Angebote bei einer Vielzahl weiterer Zugeständnisse nach diesem Muster bei 3.600 Euro liegt). Ihr Verhandlungspartner erscheint flexibel – er macht immer wieder Zugeständnisse –, und doch hat er einen Grenzwert im Kopf, unter dem er den Pkw nicht abgeben möchte. Diese Grenze wird Ihnen durch das Konzessionsmuster unterschwellig suggeriert.
78Mit Wahrnehmungsankern können Sie sich nicht nur auf einzelne Elemente der Verhandlung beziehen. Sie können auch versuchen, durch einen Wahrnehmungsanker die Einschätzung Ihres Verhandlungspartners davon zu beeinflussen, um was es in der Verhandlung überhaupt geht. Insoweit lässt sich von einem Meta-Wahrnehmungsanker sprechen – Sie prägen die Sicht Ihres Verhandlungspartners auf die gesamte Verhandlung zu Ihrem Vorteil. Im Kern handelt es sich häufig um eine Beeinflussung der Nutzenwahrnehmung: Sie suggerieren, dass Sie etwas für Ihren Verhandlungspartner tun und nicht umgekehrt er etwas für Sie.