image

Freddy Derwahl

Abenteuer Einsamkeit

topos premium
Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

image

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

ISBN: 978-3-8367-0019-1

2017 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Der geistliche Kampf ist so brutal
wie die Schlacht der Menschen

Arthur Rimbaud, Eine Zeit in der Hölle

Inhalt

Die Schönheit kam im Verborgenen Vorwort

Der Sprung von der Brücke

Champagner mit Robert Lax

Thomas Merton in Love

Das Tao der Einsamen

Die Wüstenväter und Wüstenmütter

Nachtwache in Abu Makar

Ein Bohémien auf dem Athos

Die Säulensteher

Am Pfad der Wölfe

Die versteckte Frau

Gabriel

Der alte Mönch und das leere Meer

In den Wäldern der Ardennen

Ein eremitisches Journal von der Liebe

Einsiedeln

Sterne über Sélignac

Die Schönheit kam im
Verborgenen

Vorwort

Über Einsiedler zu schreiben war ein spannender Auftrag. Was waren das für Menschen: Weltflüchtlinge, Sonderlinge, Frömmler, Versteckte, vielleicht gar etwas psychopathisch? Allein schon der Zugang schaffte Probleme: Wo sie finden, sie kontaktieren, ihre Zustimmung erhalten? Güte und Zufälle halfen. Seit 1963 kannte ich Gabriel Bunge, der als Eremit in der Schweiz lebt; er überlegte und sagte „Ja, als Dank für unsere lange Freundschaft“. In einem norddeutschen Kloster traf ich den koptischen Bischof, der spontan vorschlug, mich in die Salzwüste Ägyptens zu begleiten. Ein Freund von Thomas Merton, der Trappist Charles Dumont, erzählte über ihre persönlichen Begegnungen. Der griechische Außenminister verhalf mir zu einem Sonderaufenthalt auf dem Heiligen Berg Athos. Mit der Übersetzung eines Buches von Kardinal Suenens erhielt ich Zutritt in eine entlegene Kartause. Eine kleine Notlüge öffnete mir die Türe zur verborgenen Zelle einer Reklusin auf dem Aventin in Rom. Überall großartige Köpfe, intensive Lebensgeschichten. Das Vertrauen wuchs, man ließ uns sogar filmen. ORF, ZDF, Arte und BRF zeigten die Reportagen, die mit einem internationalen Fernsehpreis ausgezeichnet wurden.

Die Überraschung war ja, dass ich bei den zweijährigen Recherchen keineswegs Weltfremde oder Verirrte traf, sondern starke Menschen. Jeder verschieden mit seinem besonderen Charisma, keineswegs abweisend und mit beiden Füßen auf dem kargen Boden ihrer jeweiligen Einsamkeit. Echte Abenteurer, die in unserer amüsierten Zeit der Gottvergessenheit allein seine Nähe suchten. Gewiss am Tag, aber auch nachts, wenn die Stille alles bedeckte. Keine Selbstverliebtheit trieb sie um, sondern eine enge Beziehung zur Welt, die sie nicht hinter sich gelassen, sondern mitgenommen hatten. „Wüste“, nannten sie ihre Hütten und Höhlen. Die meisten lebten vom Minimum. Besucher kamen selten, und es war gut so. Im Garten und ringsum im Wald packten sie an. In den rauen Händen die zarten Seiten der heiligen Bücher. Das einzig Notwendige.

Bei der Überarbeitung dieses Buches machte ich eine überraschende Entdeckung: In den 16 Jahren seit seiner Veröffentlichung sind die eigentlichen „Inhalte“ die gleichen geblieben. Mehr noch, sie haben in der zeitlichen Distanz eine Frische bewahrt, die jenes „Abenteuer Einsamkeit“ als Fortsetzungsgeschichte erscheinen lässt. Das Einsiedlertum breitet sich seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, in der Folge der erschütternden Biografien von Charles de Foucauld, Siluan und Thomas Merton, stetig aus. Im befreiten östlichen Europa gewiss auch als Folge des Wiederauflebens des Mönchtums, im Westen kurioserweise als eine kleine, aber starke Alternative zum dramatischen Rückgang klösterlichen Lebens.

Es gibt diskrete Hinweise auf Veränderungen. Waren die „Wüstenmütter“ in den Eremitagen der Sketis oder des Wadi Araba im frühen Christentum noch eine Ausnahme, die meist erst bei der Waschung der Leichen entdeckt wurde, ist heute die Zahl der Einsiedlerinnen auf markante Weise gestiegen. Sie sind nicht mehr eine Minderheit in der Minderheit. Ihre Zeugnisse entsprechen einer Tendenz, die sich im spirituellen Leben weiter ihren Weg bahnt: ad fontes, zurück zu den Quellen. Diese finden sich vor allem in den „Apophtegmata“, den Weisungen der Wüstenväter aus dem 3. und 4. Jahrhundert. Ihr illusionsloser Blick für den geistlichen Kampf gegen die „Dämonen“ haben manche Klöster aus ihrer Lethargie befreit und den Einsiedlern die innere Kraft gegeben, „in der Zelle auszuharren“. Kurze Sprüche, demütige Mitteilungen und väterliche Ratschläge über die entscheidenden Dinge mönchischer Herausforderungen.

Da verwundert es, dass in einer Zeit davoneilender Hochtechnologie eine Weisheit wieder auflebt, die in ihrer Schlichtheit naiv wirken könnte. Altvater Kolobos mahnt: „Nichts als Mühsal ist der Mönch.“ Der Einsiedler Antonios warnt die Jüngeren vor Angriffen des Widersachers „bis zum letzten Atemzug“. Evagrios Pontikos steigt von Ungeziefer übersät in einen Brunnen. Ein Mitbruder behält zur Einübung des Schweigens mehrere Jahre einen Kieselstein im Mund.

Kein Zweifel, dass der christliche Osten mit seiner mystischen Tradition, den nächtlichen Liturgien und dem Siegeszug der Ikonen das wachsende Phänomen des „Abenteuers Einsamkeit“ maßgeblich prägt. Die Anziehungskraft, die der Heilige Berg Athos seit Ende der Sechzigerjahre ausstrahlt, hat viele junge Christen aus Europa und den USA in das Felsenkloster von Simonos Petras und in die Einsiedeleien von Katounakia geführt. Ein „Metochion“, eine Außenstelle der Mönchsrepublik, wurde in Frankreich gegründet. Der Philosoph Martin Heidegger, der mit einer Athosreise liebäugelte, beklagte dabei die „tobende Welt der Technik“, noch bevor von Digitalisierung die Rede war. Er wusste: Fortschritt im Geistesleben geht den entgegengesetzten Weg: im Schweigen, langsam zurück in die Reinheit des „Wortes“. Dann nichts anderes als „im Dank stehen“.

Die Neufassungen in diesem Buch betreffen Todesfälle oder die Änderung von Lebensumständen. So war eine der schönsten Begegnungen auf meiner langen Einsiedler-Reise von Karelien bis in die innere Wüste Ägyptens der Besuch bei dem amerikanischen Eremiten, dem Poeten Robert Lax auf Patmos. Als Autor sollte ich der letzte Gast dieses „Meisters der Entschleunigung“ sein, von dem eine Zeitung nach seinem Tod im September 2000 schrieb: „Gestern haben sich die Himmelspforten für einen der Heiligen geöffnet …“

Der in den Bergen des Tessins lebende Einsiedler Gabriel Bunge, dessen Schriften zu den Klassikern der zeitgenössischen spirituellen Literatur zählen, trat im August 2010 zur russischen Orthodoxie über. Auch ich zählte zu den Kritikern des alten Freundes, doch lassen seine glücklichen Gesichtszüge während der Nachtwache in der Moskauer Kirche der Gottesmutter-Ikone „Freude aller Trauernden“ erkennen, dass es wohl seine Berufung war, diesen schwierigen Weg zu gehen.

Im Kapitel über das außergewöhnliche Leben der Reklusin Nazarena ist alles gesagt. Doch erlaubte mir im Herbst 2008 die Pfortenschwester des Camaldoli-Klosters auf dem Monte Sabina in Rom, ihre dunkle Zelle zu besuchen. Da stand noch der Holzkasten ihres Bettes, wo sie auf einem Kreuz schlief. Ein kleines Fenster zur Kapelle, wo sie das Offizium mitbetete. Getrocknete Blumen für die Handarbeit. In der Schublade die Peitsche für die Selbstgeißelung, ein Gürtel mit spitzen Nägeln.

Meine belgischen Freunde, der Eremit Jacques Winandy und der Trappistenmönch Charles Dumont leben nicht mehr. Nach einer Weltreise auf der Suche nach einem einsamen Ort ruht P. Jacques auf dem Friedhof seiner ehemaligen Abtei Clervaux in Luxemburg. Der Dichter P. Charles starb in der Frühe des Weihnachtsfestes 2009. Von ihm stammt das „Eremitische Journal von der Liebe“, das in der Erstausgabe dieses Buches noch mit dem Pseudonym „Pater M.“ erschien.

Die Eremiten-Zellen aus dem Schlusskapitel „Sterne über Sélignac“ stehen seit 2001 verwaist. Die Kartäuser mussten wegen Nachwuchsmangels den einsamen Ort aufgeben und zogen sich in die Klöster von Montrieux und La Grande Chartreuse zurück. Doch der Bericht behält seinen ganzen Wert, denn das strenge Leben, die Tag- und Nachtgebete sowie die Gestaltung der Örtlichkeiten mit den Häuschen und Gärten am Großen Kreuzgang sind im nie reformierten Einsiedler-Orden die gleichen geblieben.

Dieses Buch zu schreiben und neu zu überarbeiten war eine spannende, jedoch schwierige Aufgabe. Eremiten führen ein Leben in der Verlassenheit und Stille. Nichts liegt ihnen ferner als Neugier und Werbung, sie scheuen die Öffentlichkeit. Möglich wurde dieses Projekt nur deshalb, weil sich der Autor verpflichtete, diesen Lebensstil in keinster Weise zu stören und in seinen Berichten dem tiefen Grund ihres Wagnisses auf der Spur zu bleiben: getrennt von allen, vereinigt mit allen.

Die Herausforderungen waren hart. In den Wüstenklöstern Bishoi und Baramos herrschte die radikale Regel der Fastenzeit. Die koptische Weihnachtsvigil dauerte zwölf Stunden. Der schwerkranke Robert Lax war nur nach Sonnenuntergang ansprechbar. Vater Gabriels Zelle blieb verschlossen. Die Eremitagen der Kamaldulenser lagen in unwegsamem Gebirge. Beim Nachtoffizium in Sélignac sank die Temperatur auf minus 24°. Thomas Mertons Liebesgeschichte erfuhr man nur stückchenweise. In der Höhle von Abba Makarios kroch eine giftige Natter. Ein Unwetter am Athos-Kap verhinderte drei Tage den Aufstieg.

Aber, aber. Die Schönheit kam im Verborgenen. Das Warten öffnete in eine andere Welt. Die Gnade leuchtete in lapidaren Details. Die Glut eines Blicks lohnte alle Mühe. Da waren Hände, die unvergessen bleiben. Worte, die für ein Leben reichen. Plötzlich wirkte die Einsamkeit wie bewohnt, die Armut wie ein Geschenk. Kamen Tränen, dann nicht aus Trauer. Die Nacht war nicht finster. Dann nahmen die einsamen Männer und Frauen das alte vergilbte Buch, die seit Jahrzehnten gelesenen heiligen Schriften und Psalmen: Klagen, Jubel, Hilferufe, Schreie, manchmal auswendig, nur noch ein Flüstern. Tiefer hinein in die Intimität Gottes, dessen Liebe sie so glücklich macht.

Eupen, am Fest Johannes’ des Täufers, 2016
Freddy Derwahl

Der Sprung von der Brücke

Dieser kleine, schlanke Mann mit den dichten Afrolocken: Er wirkte nicht wie jemand, der für die Einsamkeit eines Klosters bestimmt ist, eher wie ein den Theaterproben entlaufener Komödiant. Er wäre auch als Straßenmaler oder Jazzpianist auf Montmartre durchgegangen. Als einer, der die Farben liebt, nachdenklich klimpert, der, wenn er rechnete, mit Wundern rechnete. Dass also Frère Mathieu nicht bleiben würde, schien eine abgemachte Sache zu sein. Kam die Sprache auf das vermeintliche oder bevorstehende Ende seiner Probezeit, bezeichnete er solche Mutmaßungen allerdings als „Kalendergeschichten“ und Ausgeburten einer „Stoppuhren-Mentalität“. Er tat dies mit so furiosem Unterton, dass man über seine unter dem friedlichen Benediktiner-Habit schlummernde Gereiztheit schmunzeln musste. Er strahlte eine Art maghrebinischer Verschlagenheit aus, die zu einem abendländischen, der Keuschheit, Armut und dem Gehorsam verpflichteten Orden nicht passen wollte. Wo immer der flippige Zottelkopf auftauchte, löste er Staunen aus. Seine Repliken auf Anspielungen auf sein Mönchsein erwiesen sich als kleine Meisterwerke der Scharfzüngigkeit. Da schoss ein tückisches Gemisch aus pechschwarzem Sarkasmus und pikanten Bibelzitaten über die Klosterflure, sodass die Urheber des Spotts rasch in Deckung gingen. Schließlich schritt er mit kaum gezügeltem Triumph durch die sich lichtenden Reihen der Beobachter, als wollte er fragen: „Ist da noch jemand? Will noch einer sein Maul aufreißen?“

Mathieu war 28 und verkrachter Philosophiestudent mit kurzem Übersetzervolontariat in einem Verlagshaus des linken Seine-Ufers. Als er in der Abtei des Heiligen Erlösers um Aufnahme bat, geschah dieser Wechsel in die Ardennen überraschend und geräuschlos. Es gab da im Vorfeld offenbar eine Affäre, aber außer Geraune erfuhr man nicht viel. Übrigens war sein wirklicher Name nicht „Mathieu“ – und auch das Kloster, in dem ich ihm in den späten Achtzigerjahren begegnete, hieß anders. Bestimmte Beteiligte an der Geschichte wollen nicht genannt werden. Aber die Geschichte selbst ist keine Fiktion. Sie hat sich im Detail so zugetragen, wie ich sie erlebte. Und sie muss erzählt werden.

Ich hielt diesen „Mathieu“ zunächst für einen jener eingebildeten Pariser Linksintellektuellen, die die Weltrevolution verkünden und sich nach der ersten enttäuschten Liebe zu klösterlichen Schnuppertagen berufen fühlen. Doch dann kippte er mir im Refektorium als Tischdiener eine brühend heiße Tomatensuppe über die Jeans. Ich schrie auf, und er sagte leise: „Scheiße.“

Als er sich nach dem Essen mit hochroten Wangen entschuldigte, antwortete ich zugeknöpft, dies als einen „Anschlag revolutionärer Zellen“ zu betrachten und das „Blutvergießen“ beim nächsten Essen heimzuzahlen. Er hat nur schüchtern gelächelt, aber hinter den runden randlosen Gläsern seiner Gandhi-Brille erkannte ich plötzlich eine Spielart von Melancholie, von der man nicht weiß, wo Trauer und Müdigkeit, vielleicht sogar Lebensmüdigkeit, ineinanderfließen. Viel später gestand er, meine Empfindungen wie mit einem Echolot bis in die letzten Fasern registriert zu haben. Er nannte dieses heimliche Abtasten „alarmbereite Vorfeldsicherung“. Mathieu dachte mit seinem klugen Afrokopf, den er bald dem Klosterfriseur zum Schnitt vorlegen wollte, tiefenpsychologisch um die Ecke. Er musste wohl seine Gründe haben.

Eine verschüttete Suppe! Nie in meinem Leben hat etwas ähnlich Banales so viel an erregendem, abenteuerlichem Erwachen ausgelöst. In Wahrheit brachte dieser erste Blickkontakt, ohne dass wir es ahnen konnten oder eine Absicht gehegt hätten, seine und meine Trauer für Sekundenbruchteile auf eine gemeinsame Wellenlänge. Sogleich war wortlose Verständigung. Das, was wir nicht nur vor aller Welt, sondern auch vor uns selbst mit Todschweigetricks oder defensiver Frivolität zu verbergen verstanden, löste sich in dieser tragikomischen Begegnung über dem bespritzten Tischtuch. Es war weder blindes Vertrauen noch ein Erkennen auf den ersten Blick, sondern das überrumpelnde gemeinsame Erstaunen über die plötzliche Nacktheit unserer verletzten Herzen.

Mathieu trat als angehender Mönch in mein Leben, als ich gerade als Anwärter auf dieses Leben gescheitert war. Das, worauf er sich mit einem unverkennbaren Hauch an Kühnheit für immer festzulegen schien, war mir wenige Monate zuvor verweigert worden. Spät, offenbar zu spät, hatte ich den Versuch unternommen, in das Trappistenkloster Abbey of the Genesee im amerikanischen Bundesstaat New York einzutreten. Aber der Abt, Dom John Eudes, kannte kein Erbarmen. Zwar hatte ich auf seine gezielte Frage, ob ich die Keuschheit leben könne, die devote Antwort gegeben: „With the help of the Virgin“, doch meinte er mitleidvoll lächelnd, das reiche nicht. Er wolle seine betont eremitisch lebende Gemeinschaft derlei Risiken nicht aussetzen. So kehrte ich schließlich ernüchtert und niedergeschlagen nach Europa zurück. Mathieu war der erste Mensch, mit dem ich nach diesen Ereignissen zu sprechen wagte.

Er war ja nicht nur dabei, meine eigenen, jäh zusammengebrochenen Mönchsträume zu verwirklichen, sondern gab mir sofort zu verstehen, dass ich mich deshalb nicht schämen müsse. Er habe eine nicht minder dramatische Vorgeschichte. Und es sei daraus nur zu lernen, dass es zwischen Gott und dem Menschen Ereignisse gebe, die unsere schönen Inszenierungen vom Leben einfach über den Haufen werfen. Sein Eintritt in die Abtei, so ließ er mich bald wissen, beruhe keineswegs auf einer erbaulichen Geschichte, sondern auf tragischen „Zufällen“, deren Schrecken nach wie vor präsent seien. Und da ein anderer offenkundig die Fäden gezogen habe, sollte er vielleicht von „brutaler Gnade“ sprechen. Ich horchte auf, doch verschlug mir der Verlauf seiner „Berufung“ bald die Sprache. Seine Geschichte spielt im Pariser Studenten- und Intellektuellenmilieu und mutet wie das Drehbuch zu einem Stück an, das in den Fünfzigerjahren in Pariser ExistenzialistenKellern hätte verfasst werden können.

Mathieu, der an der Sorbonne studiert, lebt zusammen mit David in einer mehrere Räume umfassenden Wohnung in der Rue St. André-des-Arts; es ist mehr als eine Wohngemeinschaft, jedoch keine sexuelle Beziehung. Beide sind heterosexuell und leben das. Was sie in der Folge immer enger verbindet, ist eine Marotte, ein literarischer Topos, eine „idée fixe“, in die sich beide sukzessive hineinsteigern. Hintergrund ist das geistige Vakuum, die selbstverständliche Geltung einer nihilistischen Sicht auf die Dinge. Nichts geht, nichts ist etwas wert. Das Leben ist völlig ohne Sinn. Machen wir etwas daraus.

Was nun die Marotte betrifft, so nennt Mathieu sie „mein obsessives Abschiedstrauma“, eine Besessenheit der Loslösung von allem, was Freude macht und Wert hat. Sind die psychischen Ursachen dieser Einstellung bei Mathieu noch nachvollziehbar – er spricht von der grauenhaften Trennung der Eltern, vom Verrat des Vaters an der aus Algerien stammenden Mutter, die er öffentlich betrog –, so bleibt das, was David zum Mitspielen bewog, im Dunkeln. Vielleicht habe ich Mathieu auch nicht danach gefragt.

Anfangs lesen sie nur und tauschen sich über bestimmte Autoren aus, so die französischen Existenzialisten und Nihilisten der Nachkriegsära, vor allem Camus, aber auch Sartre. Alles wird der Kritik unterzogen und geistig unterminiert, aber es bleibt nicht bei der negativen Ästhetik, beim verächtlichen Blick und bei geistigen Formen des Abschieds. Das Spiel mündet in eine Praxis der radikalen Reduktion, in einen von beiden in gegenseitiger Herausforderung betriebenen fatalen Wettstreit, der sich gegen die normalen Bedürfnisse und Freuden richtet, sie nach und nach eliminiert und in diesem Prozess der Auslöschung gegen Null tendiert. Ab einem bestimmten Punkt: keine alkoholischen Vertröstungen mehr, keine illuminierenden Versuche mehr mit Psychopillen, mit irgendwelchem Stoff. Keine dauerhaften Beziehungen zu Frauen, bestenfalls da und dort ein verbrennendes Abenteuer. Beziehungen erscheinen „heftig und belastend, nur Umklammerungen …“. Mathieu erinnert sich daran, eines Tages das dreibändige Dictionnaire Quillet, ein Weihnachtsgeschenk seines Vaters, aus dem Haus gebracht und bei einem Buchhändler seine Sartre-Taschenbuchausgabe verhökert zu haben. Nur von Rimbaud wollte er sich noch nicht trennen.

Die beiden leben ein Leben sorgfältig arrangierter Abschiede. Es gibt für sie nichts als das Abhorchen einer immensen, nur mühsam unterdrückten Trauer. Neues tritt nicht an ihren Horizont. Zen erregt wegen seiner puristischen Kargheit kurz ihre Aufmerksamkeit, auch der Buddhismus ist ihnen, seiner skeptischen Weitsicht halber, einen Blick wert, doch empfinden sie schließlich, wie Mathieu es formulierte, „das Getingel all der Himalaya-Mönche durch die politischen Akademien“ als desillusionierend.

Goethes Werther hat mich immer bedrückt – heikle Pubertätsliteratur, auch wenn mir sehr wohl bekannt war, dass der Roman im 19. Jahrhundert unter jungen Leuten eine ganze Welle von Selbstmorden ausgelöst hat. Selbstmord siedelte ich ausschließlich auf dem Terrain der Psychopathologie an. Plötzlich saß mir mit Mathieu ein Mensch gegenüber, der mir plausibel machte, dass man sich tatsächlich in Freiheit für den Tod entscheiden kann, ohne im Geringsten depressiv oder unheilbar krank zu sein. In langen nächtlichen Sitzungen machen er und David sich mit dem Thema vertraut, tasten sich persönlich immer näher heran. Natürlich auch anhand des Werther, doch stößt beide die romantische Attitüde ab. Auch die einschlägigen Villon-Gedichte legen sie wieder beiseite. Mehr finden sie bei den Theoretikern des Hand-an-sich-Legens, Pavese und Améry.

Irgendwann überschreiten sie den Rubikon, treten aus dem Stadium der Theorie heraus und erfinden schließlich eine ihnen angemessen erscheinende Inszenierung: den gemeinsamen Sprung vom Pont-du-Gard, dem römischen Aquädukt in der Provence. „Ein enormer Luftzug im Morgengrauen eines Frühlingstages“, so lautet ihr tödlicher Plan, „ein befreiender Absturz zwischen romanischen Bögen“. Mathieu schildert mir den Sarkasmus, mit dem sie sich die Tat bis ins Detail ausmalten: Die Entdeckung der Leichen durch die erste Busladung japanischer Fototouristen. „Den Göttern der Frühe und der Kirschblüten ein reines Opfer.“

Dann nimmt das angekündigte Drama seinen Lauf. Am Samstag nach Ostern im Jahr 1983 fahren sie nach Uzès, flanieren am Abend durch die Altstadt. Im Schatten mächtiger Kastanien an der Tour Fenestrelle trinken sie einen Pastis und bemerken nicht ohne Stolz, in einem uralten Land der Ketzerei zu sein, wo Arianer, Albigenser und Calvinisten einst heldenhaften Widerstand geleistet hatten. Zwischen den Wehrtürmen lassen sie sich bei „Fontaines“ ein opulentes Menü auftischen und trinken dazu einen Liter Rosé aus dem Weingut von Terrebrune. Nach Mitternacht fahren sie zur fatalen Brücke und warten auf das Morgenrot.

Alles läuft sehr schnell und wortlos, ohne jede theatralische Geste ab. Jeder weiß, „worauf es ankommt“. Oberhalb des sechsten großen Bogens befindet sich die abgesprochene Stelle, den sie „Punkt Omega“ nennen. David klettert vor und springt sofort, ohne sich noch einmal umzublicken. Mathieu hört keinen Schrei, „nur eine Art erstauntes Piepsen, das sogleich in einem dumpfen Aufprall verstummt“. Tief unten auf den Felsen, neben dem grün schimmernden Wasser des Gard, liegt der Freund. Tot. „Seitdem“, sagt Mathieu, „stürze ich noch immer, ich stürze und stürze durch mein armes Leben …“

Das, was in den nachfolgenden Jahren auf ihn einstürzt, empfindet er nie als Rache oder Strafe für sein feiges Zögern. Nur die eine, die naheliegende Lösung, seinen toten Freund noch einmal einzuholen, ist für immer ausgeschlossen. Die Versuchung dazu tritt niemals an Mathieu heran. Er ist bereit, alles in Kauf zu nehmen an Schande und Pein. Nur das eine nicht. So sehr er sich auch unter seinem Dach verkriecht und wie ein Hund leidet, nur noch allein sein will, ohne es tatsächlich zu können, muss er begreifen lernen, dass er bis zu seinem letzten Atemzug ein zum Leben Verurteilter ist. Er durchkostet es: allein sein, nicht leben und nicht sterben können. Immer dieselbe Rechnung aufmachen. Aber vor wem? Ist ja keiner da. „Halt, mein Vater war stets da, ich hatte keine Geldprobleme, was jedoch die Sache nicht leichter machte, denn mir blieb ja alle Zeit, mich auf das Unerträgliche zu konzentrieren.“

Die Frauengeschichten, die dann folgten, waren verzweifelte Versuche, seine leidenschaftlichen Begegnungen in eine Art Bußsakrament zu verwandeln. Er will sich durch Liebe reinigen, immer und immer wieder, als könne er sich darin seiner geistigen Anspannung entladen, seines inneren Druckes, seiner Lebenslast entledigen. Sex als regenerative Pause des Daseins. Die Partnerinnen merken, dass Mathieu von ihnen Anhörungen, Lossprechungen und Vorsätze für ein besseres Leben erwartet, zu denen sie weder Neigung noch Kompetenz verspüren. Drängen sie ihn, sich doch endlich einfach hinzulegen, gibt er zur Antwort: „Dann müssen wir auch wieder aufstehen.“ Es gibt ein schönes 18-jähriges Mädchen, Christine, das er rühmt, als einzige „zum absichtslosen Kuss“ fähig zu sein. Doch kann er sie nicht halten.

Mathieu wird „ein routinierter Trinker“, lässt sich treiben, schreibt auf Caféhaus-Terrassen lange, elegische Briefe, die von der jungen Unschuldigen nie beantwortet werden. Wenn der Verkehr über die Seine-Brücken brandet, hat er grandiose Bilder; mysteriös funkelt das Leben. Er glaubt an ein literarisches Talent, versteigt sich in die Poesie der anbrechenden Dunkelheit mit all ihren Lichtern und Leuchtschriften. Doch wenn der Körper endlich gegen ein weiteres Glas Beaujolais rebelliert, kommt mit der Übelkeit die Einsamkeit wieder. Dann steht er an den Theken der Nachtcafés, im sicheren Schutz des Lärms, aber unfähig sich auszukotzen, und wäre es bei einem Clochard. Er geht so weit, Prostituierte zu bezahlen, nur damit sie bei ihm bleiben und solidarisch schweigen.

Schlimm ist das Erwachen nach solchen Nächten. Während er über dem Waschbecken Gift und Galle erbricht, beginnt er zu begreifen, dass ihm für diese Art des Abstiegs die Konstitution fehlt. Mathieu fühlt sich hundeelend, sterbenskrank, allein und ohne Gegenmittel. Er versuchte es zunächst mit stundenlangen Spaziergängen durch die entlegensten Arrondissements, wobei er dann und wann Galerien und Kirchen betritt. Es geschieht ohne „metaphysische Ambitionen“, wie er beteuert, „eher um etwas auszuruhen“. Während er in den Ausstellungen nur die Extreme „Wiederholung oder Verweigerung“ zu erkennen glaubt, erstaunt er bisweilen über den ihn im leeren Halbdunkel älterer Kirchen plötzlich anspringenden Schock. Ihn befällt ein Aufhorchen und Zusammenzucken, eine Art Gänsehaut. Ist die Leere nicht leer? Er nimmt an sich einen sonderbaren Sog wahr, zugleich eine fast kindliche Furcht, „wie vor einem Höhleneingang“.

Mathieu beginnt wieder zu lesen, zunächst bedächtig, bald jedoch rauschhaft. Mit furioser Akribie sammelt und verschlingt er, was in irgendeiner Weise an diese eigenartige „Gänsehaut“ anknüpft. Im Sog der Einsamkeit sucht er nach „Durchbrüchen“ und „Durchbrechern“. So häuft sich auf dem Boden seines Dachzimmers bald ein Gebirge verborgener Weisheiten, ein seltsamer Mix aus Laotse-Sprüchen mit Marguerite Duras, Koranversen mit Passagen aus Klingsohrs letzter Sommer, dem biblischen Jakobskampf am Jabbok mit den Reisenotizen von Camus oder den Tagebüchern von Léon Bloy. Was er wie manisch sucht, sind „Befreiungsgeschichten“, „Codeworte“. Der radikale Dreh seines Lebens, den Augustinus von Hippo in den Confessiones beschreibt, oder die jähe Trauer von Ernst Jünger nach der Nachricht vom Tod seines Sohnes liefern ihm dazu das Material. Mathieu, der seit dieser Zeit in seinen Taschen stets einen in hartes, graues Leinen gebundenen Notizblock bei sich trägt, ist besessen von der Möglichkeit, sich mit solch spärlichen Botschaften an „die Bruchstellen der Tristesse“ heranlesen zu können.

Seine besondere Liebe gilt bald den „poètes maudits“, den armen Dichtern, verdammten Poeten. Denen, die in der verweigerten, gescheiterten oder verirrten Liebe, im Suff oder in der Droge, und sei es die Droge der Verzweiflung, Hand an sich legten. Er meint damit nicht nur den vollzogenen letzten Ausweg, den er ja all zugut kennt, sondern auch das Sich-treiben-Lassen an die Ränder dieser glühenden Zone. Dabei bewahrt er sich – unvergessene erste Liebe! – eine besondere Verehrung für die Verse Arthur Rimbauds.

An einem Weihnachtsabend entdeckt er in einem Café neben der Kirche St. Julien-le-pauvre im Quartier Latin eine sonderbare Frau. Sie ist ärmlich, doch sauber gekleidet, keine Figur aus dem Milieu der Clochards, und schleppt Plastiktüten mit sich. Offenbar friert sie, denn sie drückt sich gegen die Heizungsrohre und schlürft einen heißen Kakao. Auffallend ist, dass ihre feinen Gesichtszüge und ihre gepflegten Hände nicht zu ihrem Äußeren passen. Ihr Alter zu schätzen scheint unmöglich, Mathieu tippt auf Ende fünfzig. Offenbar war sie einmal eine Schönheit, doch scheint sie viel durchgemacht zu haben. Ihr Haar ist angegraut, ihre Brüste sind fast flach. Als sie dem Kellner die Geldstücke aufs Tellerchen legt, blickt sie Mathieu direkt in die Augen. Er wendet sich irritiert ab, doch sie lächelt ihm beim Hinausgehen zu, dies sei eine gute Lektüre „an solchen Abenden“. Die Rimbaud-Gedichte in der Hand, sieht er, wie sie mit den Plastiktüten und hochgeschlagenem Kragen auf den Parkwegen verschwindet.

Erst nach Wochen begegnen sie sich wieder. Es ist dasselbe Ritual an den Heizungsrohren, als tanke sie nur kurz etwas Wärme auf, um dann wieder mit ihrer Ladung zu verschwinden. Als sie erneut so freundlich lächelt, fragt er sie nach Rimbaud. Ja, natürlich schätze sie ihn, doch sei ihr heute nur noch eine einzige Passage seines Werkes wichtig. Er schiebt seinen Stuhl näher, und sie beginnt zu erläutern, was ihr dieser Satz bedeutet: „Der geistliche Kampf ist grausamer als die Schlacht der Menschen.“ Anne ist 61 und eine „kleine Schwester“ aus der Gemeinschaft von Charles de Foucauld, die sich unter den Ärmsten im Quartier eine solidarische Bleibe eingerichtet haben. In den Tüten schleppt sie das Gesammelte und Erbettelte vom Tag: Reis, Lauchstangen, Milchpulver, etwas Babynahrung. Unter dem Schal trägt sie am Hals ein kleines Holzkreuz mit einem eingeschnitzten Herzen.

Dann erzählen sie sich ihre Geschichten. Die Schwester unpathetisch, kurz gefasst, gerade so viel über ihren heiklen Weg preisgebend, um ihrem unruhigen Gegenüber etwas Zutrauen zu gewähren. Niemals zuvor, sagte mir Mathieu, habe er eine solche Gesprächspartnerin gehabt. Als alles gesagt ist, gibt Schwester Anne zu verstehen, sie wisse, was das „Nicht-mehr-anders-Können“ ist, aber sie wisse auch, „dass alle Dramen, selbst wenn man sie, wie dein armer Freund, zum schrecklichen Ende treibt, augenblicklich in die barmherzigen Arme des Vaters sinken“. Nach einem kurzen Zögern fügt sie hinzu: „Und auch der Mutter.“

Anne ist da in den nachfolgenden Wochen. Still, unaufdringlich, nüchtern. Mathieu sucht sie wie ein Ertrinkender das Land. Gerne will er sie länger bei sich halten, sie ausfragen, ihre Erfahrungen hören oder sie auch nur drüben in der Gasse beim Griechen zu einem kleinen Essen einladen. Doch wehrt sie stets ab. Stattdessen versorgt sie ihn mit kleinen Botschaften, etwa der Art: „Wir sind tief verbunden in der Einsamkeit“, oder: „Ich wache über deinen Kummer“. Manchmal nennt sie ihn „mein Sohn“ oder „mein guter Junge“. Wenn sie geht, lächelt sie.

Am Aschermittwoch lädt sie ihn zur Vesper ein. Ein verdreckter Hinterhof, ein Mietblock in den Gassen von St. Gervais. Laute nordafrikanische Kinder, Neonlicht auf den Fluren, Hundekot, die Leier orientalischer Transistormusik, vier Stockwerke hoch. „Petite Soeur Anne“ steht unter der Klingel, die Tür ist nicht verschlossen. Zwei winzige Zimmer, das eine als Lager für ihr Sammelgut, ein Gaskocher, ein Waschbecken; im anderen, hinter einem halb geöffneten Vorhang, eine schmale Schlafstelle zu ebener Erde, ein Tischchen mit Büchern. Der kleine Flur ist die Kapelle: vor dem Kreuz brennen zwei Kerzen, neben der Marienikone steht eine Konservendose mit getrockneten Blumen. „Lass dich durch mich nicht aufhalten“, sagt Anne, „du gehst, wann immer du magst.“ Sie betet die Psalmen, dann schweigen sie zusammen.

In der Fastenzeit überschlagen sich die Dinge. Anne teilt ihm einen Satz des noch zögernden Charles de Foucauld mit: „Wenn Gott tatsächlich existiert, will ich ihn ganz kennenlernen.“ Dieser Satz wühlt Mathieu zutiefst auf. Er verschlingt die Evangelien und unterstreicht darin die Antwort Jesu an Philippus: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ mit dicken roten Strichen. Anne besorgt ihm eine Ausgabe der Regula Benedicti. Er bringt sie bereits am nächsten Morgen mit den Worten zurück, die Dinge hätten sich geklärt.

Acht Tage später sitzt er im Zug in die Ardennen. Der Abt und anschließend der Novizenmeister machen mit ihm die „Waldrunde“, jeweils anderthalb Stunden Fußmarsch im weiten Bogen um das Kloster des „Heiligen Erlösers“. Danach lassen sie ihn vier Tage in seiner Zelle allein, „zum Ausruhen“. Am Ende seines Aufenthalts klopft der Abt zweimal leise an seine Türe und sagt ihm, sein Eintritt sei für den 14. September, das Fest der Kreuzerhöhung, festgelegt worden. Mathieu weint wie ein Schlosshund.

All die Jahre habe ich ihn, nach unserem Malheur mit der Suppe, immer wieder besucht. Natürlich verzichtete er auf seine Locken und legte nach der „kleinen Profess“ auch die ewigen Gelübde ab. Er wurde stiller, aber auch drahtiger. „Lieber Freund, die Einsamkeit mit Gott ist eine leidenschaftliche Erfahrung“, schrieb er mir zum Geburtstag und fügte als Fußnote die lapidare Mitteilung hinzu, er werde im Advent in den Alpen ein „Praktikum als Einsiedler“ beginnen.

Vier Tage später, es war der 20. November 1993, erhielt ich ein neues Schreiben der Abtei. „Frère Mathieu ist auf einer Botenfahrt ins Dorf tödlich verunglückt.“ Während der Totenmesse sagte Vater Abt, der Abenteurer Gottes sei zu Gott heimgestürzt. Am offenen Grab sangen die Mönche das „Magnificat“. Es war ein dunkler Wintertag, und am Abend flackerte vor dem kleinen weißen Kreuz eine Kerze.

Champagner mit Robert Lax

Nicolaos weiß, wo Robert steckt. Die Gasse hoch, weder links noch rechts, immer weiter bis zu den roten Blumen, dann links und gleich wieder rechts, ganz oben das letzte Haus. Seine Hand weist den verschlungenen Weg. Er kenne Robert so lange schon und stößt mit allen Fingern viermal ins Leere: ein halbes Leben. Robert sei alt und krank, er könne nicht mehr nach unten in den Hafen von Scala. Aber oben auf den glatten heißen Steinen, da reiche es noch für einige Schritte in der Sonne. Die weiße Wand entlang bis zum Oleanderbusch und zurück zum Häuschen neben dem Windschutz, wo die Katzen hocken. Ja, die Katzen! Wo die Katzen sind, da sei Robert. Gehen Sie nur, Kyrios, gehen Sie. Nicolaos ist stolz auf seinen alten amerikanischen Freund. „Die Fischer und Bauern auf Patmos“, so leuchten seine Augen, „vermissen ihn sehr.“

Blaues Segeltuch, ein Sonnendach, das muss seine Zone sein. Die Gasse seiner letzten Schritte. Blendendes Weiß, enge Mauern zum Tasten. Geranien, ein üppiger Oleanderstrauch. Wenn der Wind es will, erscheint zwischen den rosarot flimmernden Blüten die Klosterfestung.

Drei Katzen auf dem kleinen Balkon über dem Meer. Eine jede hat ihr eigenes Nest, wie Wachhäuschen der Leibgarde. Plastikschüsseln mit Futter und Wasser, ein Spiellappen, der Trog mit Streu. Die Alte dreht einen müden Kontrollgang um den Fremden, räkelt sich schließlich in der Schattenecke. Die Jüngste leckt ihre Pfoten. Grauweiße, hellbraune Katzen, ein sorgenvolles Blinzeln in den Augen.

Ich klopfe an die blaue Türe, ringsum Morgenstille. Noch einmal wage ich es, rufe dezent „Mr. Lax, Mr. Lax“. Dann wieder lange nichts und eine ferne fragende Antwort, sehr zerbrechlich. Im Türspalt nähert sich lautlos ein großes, ängstlich suchendes Auge, graue Haarbüschel, drei Fingerspitzen greifen in einen langen, spitzen Bart. Er werde kommen, ich möge durchgehen, den Korridor entlang, einfach eintreten, mich setzen, warten. Seine leise Stimme. An der Wand ein großes Plakat, zwei Wölkchen über einer kleinen Arena, dazu in Lampionschrift: CIRCUS ROBERTO. Auf Patmos, der Insel der Geheimen Offenbarung, eine ganz andere Ikone.

Das hintere Zimmer liegt im Halbdunkel, spärliche Lichtfäden in den Fensterschlitzen. Ringsum das geordnete Chaos einer vor der Welt verborgenen Intellektuellen-Schreibstube. Bücherberge, Zettelkästen. Tiefere und höhere Schichten, Aufgeschlagenes, Weggelegtes, überall Lesezeichen, dann wieder lose Blätter, Zeichnungen, Briefstapel, Kritzelnotizen. An den Wänden Malereien von Kindern, daneben Minimal-Art-Grafik, starke Verwandtschaften. Der Schreibtisch: ein langes Brett, ganz zugedeckt mit Materialien, auch Steine, getrocknete Blumen, von der Ägäis herangespülte Schalen.

Ich entziffere Mircea Eliade und 33 Poems. Darüber eine dichte Galerie von Fotos und Ansichtskarten, keine Rhodos-Sonnenuntergänge, aber die heilige Therese vom Kinde Jesu als resolutes junges Mädchen mit schwarzen Locken neben dem fletschenden Grinsen von Louis Armstrong, der Einsiedler Charles de Foucauld im algerischen Hoggar und der grinsende Charlie Chaplin mit ausgebeultem Frack. Ein frühes Chagall-Original mit Widmung und die Marx Brothers. Auf einer Karte steht: „Es gibt so viele Arten der Erlösung wie es Menschen zu erlösen gibt.“ In der Tiefe des Raumes das aufgeschlagene, von Stühlen und Tischchen umstellte Bett. Tassen, Hefte, Bücher, Bleistifte. Das logistische Nachtlager eines unermüdlichen Poeten. Da und dort medizinische Unvermeidlichkeiten. Über den Kopfkissen ein kleines, fast quadratisches Kreuz. Intensives Schwarz auf der weißen Wand.

Als er ins Zimmer tritt, sehe ich, wie groß er eigentlich ist. Thomas Mertons Porträt aus den Dreißigerjahren gilt noch immer: „Bob Lax war größer und ernster als alle anderen, hatte ein längliches Gesicht wie ein Pferd unter einer riesigen schwarzen Mähne und schien einem unergründlichen Schmerz nachzuhängen.“ Jetzt kommt Robert Lax tastenden Schrittes. Die New York Times Book Review zählt ihn zu den größten Dichtern Amerikas im 20. Jahrhundert, obwohl er seit den Sechzigerjahren nicht mehr in den Vereinigten Staaten lebt. Doch er ist keinesfalls vergessen, publiziert immer noch. Bedeutende Ausstellungen, zuletzt in München, Zürich und Tokyo, sind ihm gewidmet. Ein weltumspannender Kreis von Kennern seiner aufs Äußerste verdichteten experimentalen Lyrik wartet auf jedes Wort aus seiner Feder.

Da steht er vor mir, uralt, doch von ungebrochener geistiger Ausstrahlung. Er trägt nichts als einen grauen, abgenutzten Pullover, der ihm bis zum Nabel reicht. Aber seine Nacktheit ist von erschütternder Grandezza: heitere Ehrlichkeit im unaufhaltsamen Untergang. In der einen Hand einen großen Stock, greift er zu einer noch ungeöffneten Plastikflasche und füllt meinen Krug bis zum Rand mit Wasser. Alles strahlenden Blickes. Dann sagt der Mann mit todernster Stimme und weit ausholender, einladender Geste ein Wort, das mich für mein Leben trifft: „Champagner …!“

Die Pointe kommt wie eine Rakete aus seinem Mund, schon schüttelt er sich vor Lachen über meine Verblüffung, der Bart zittert vor Freude, dann dreht er mir den blanken Hintern zu und schlurft, kichernd wie ein Pausenclown, mit seinen Storchenbeinen ins Bett. In der Spätvorstellung des CIRCUS ROBERTO ist noch jede Menge los.

Mein Gastgeber, der mühsam in seine Decken kletternde Dichter und Einsiedler Robert Lax, lebt seit fast vierzig Jahren auf ägäischen Inseln. Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Österreich wurde 1915 in der Kleinstadt Oleron im amerikanischen Bundesstaat New York geboren. An der Columbia-Universität stand er im Bannkreis des genialen Literaturdozenten Mark van Doren. Lax und seine Freunde gelten als die eigentlichen Wegbereiter der Beatgeneration. Thomas Merton gehörte dazu, der spätere Trappist, Dichter und Eremit; Edward Rice, Gründer und Herausgeber der christlich-liberalen Zeitschrift Jubilee; der Minimalkünstler Ad Reinhardt und auch Allen Ginsberg, mit dem Lax in der Redaktion der Studentenzeitschrift Columbia-Jester ätzenden Spott auf das trübe Middlewest-Establishment ausschüttete.

Frühe Ironie, die Raum schuf für tiefere Sehnsüchte. Die Erwartung der jungen Leute richtete sich auf Erkenntnis, Durchblick; und das war nicht zu generieren durch rückwärts gewandte Verachtung des bürgerlichen Milieus. Eher durch Versuche mit ganz neuen Sachen, Experimente mit der eigenen Person, notfalls an den poetischen Rändern des Suffs oder in Liebesaffären. Lässig, aber niemals leichtfertig. „Learning from the old boys.“ James Joyce etwa, dessen Finnegans Wake sie sich laut vorlasen, um „die Verdichtung von Laut und Sinn“ fassbar zu machen.

Besonders nahe war ihm Merton, der erzählt: „Wohin wir auch traten, vor unseren Füßen gähnte der Abgrund […] und machte uns schwindlig und ließ uns vor Eisenbahnzügen und Höhen aller Art zurückschrecken.“ Er wiederum bewunderte bei Lax die „großen und hochgescheiten Einfälle“, seine Verehrung für den Hindu-Mönch Bramachari, der ganz auf Gott ausgerichtet war und beide mit der Empfehlung überraschte, die Bekenntnisse des heiligen Augustinus und die Nachfolge Christi zu lesen. Merton erkannte in Lax „eine Art Verbindung von Hamlet und Elija. Ein Prophet ‚in potentia‘, aber ohne Zorn. Ein König, aber auch ein Jude. Ein Geist mit wundervollen Eingebungen […] Das Geheimnis seiner Beharrlichkeit und Festigkeit lag in einer Art natürlicher, instinktiver Geistigkeit […] Sein Geist besaß von Natur aus, von der Wiege an, eine Verwandtschaft mit Ijob und dem heiligen Johannes vom Kreuz. Und heute weiß ich, dass der Hang zur Kontemplation ihm in einem ihm selbst unbegreiflichen Maße eingeboren war.“

SummaDer Berg der sieben Stufen