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Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Mit Freundinnen im Gespräch

topos taschenbücher, Band 1078

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1078-7

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5072-1

E-Pub: ISBN 987-3-8367-6072-0

2017 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der

Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.

Umschlagabbildung: © iStock

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

I.

Der Alltag einer Frau

 

Maria

II.

Christin – Kaiserin – Europäerin

 

Theophanu (959–991)

III.

Wunden, Kampf und Heil

 

Hildegard von Bingen (1098–1179) und das Drama zwischen Gott und Mensch

IV.

Im Spannungsfeld von Europa und Christentum

 

Hedwig von Schlesien (1174–1243)

V.

Feuer und Blut

 

Caterina von Siena (1347–1380)

VI.

Die Erfahrung des Abgründigen

 

Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848)

VII.

„In sich gegründete Provinz des Menschlichen“

 

Die Wahrnehmung der Frau bei Romano Guardini (1885–1968)

VIII.

„Bürgerin Jerusalems in Babylon“

 

Edith Stein (1891–1942)

IX.

Zwischen den Zeiten

 

Ida Friederike Görres (1901–1971)

X.

Die Nähe der Frau zu Magie und Erlösung

 

Ein Blick auf Werner Bergengruen (1892–1964)

Vorwort

Es gehört zur Lage, dass im heutigen Abstoßen vom generationenlang gewohnten Frauenbild auch das Christentum seine Theorien und seine Geschichte auf dem Prüfstand findet. Sätze wie „Das Wesen der Frau ist Hingabe“, wie Gertrud von le Fort 1934 formuliert, sind schwierig geworden, weil ihre Einseitigkeit auch einem Ausnutzen und Übernutzen weiblicher „Hingabe“ stattgegeben hat.

Trotzdem muss es jenseits von Verteidigung und Angriff gelingen, die unglaubliche und ungeheuerliche Vorgabe des Christentums für die Frau (wie übrigens für den Mann) aus der Sache heraus darzustellen. Sofern die Sache Bestand hat, bedarf sie keiner Apologetik. Sie bedarf einer Augenöffnung, und auch diese ist nicht erstrangig auf Glaubensaussagen abzustützen (die nicht alle teilen), sondern hat den Blick freizugeben auf Geschichte, Daten, Erfahrung, Theorie.

Denn die Kirche schreibt den Frauen (wie den Männern) nicht nur Lebensstil und Reichweite des Handelns vor, sie reflektiert auch die Selbsteinschätzung der Christinnen. Reflektieren meint hier im genauen Wortsinn widerspiegeln. Diese Tatsache wird heute, im Ausschreiben einer „negativen“ christlichen Frauengeschichte, missdeutend unterschätzt. Aber ein solches Verschweigen oder Verzeichnen der vielgefächerten geglückten Frauentradition wird selber kontraproduktiv. Wenn Frauen nie etwas gegolten haben (was ohnehin nicht stimmt), warum sollten sie dann heute etwas gelten? Wenn die eigene Geschichte in ihren ungeheuren Aufbrüchen so wenig bekannt ist, wem sollte sie dann bekannt sein? Was dringend nottut, ist das Wegkommen von der Klagemauer: Immer schon haben Frauen nicht …, oder umgekehrt: Immer schon mussten Frauen … Es gibt die große Geschichte der jüdisch-christlichen Frauen, die sich mit jeder „männlichen“ Geschichte vergleichen lässt, an Intensität und Glück eines göttlich berührten Lebens. Die gewohnte Aufrechnung einer fortwährenden Unterdrückung, die mit heutigen Augen gemessen wird, trägt einen bewusst oder unbewusst desinformativen Zug. Mehr noch: Selbstmitleid lähmt. Jede Form von Larmoyanz ist ein Hindernis in der Sache.

Die eindringende Kenntnis der christlichen Frauengeschichte ist schon deswegen unverzichtbar, weil nur das historische Denken auch die Zukunft entwerfen kann und weil leider der ahistorische Mensch immer zum Ketzer neigt: zum Unbedingten und Radikalen, der jetzt und hier angeblich erstmals die Wahrheit verstanden hat – ohne zu fragen, was die bisherigen Mütter und Väter gesehen haben. Es sollte heute auch zum Wandel des Bewusstseins gehören, dass Frauen ihre eigene Herkunft aus der Geschichte wieder kennen und diese nicht nur als Zu-kurz-Gekommene, als verkümmert Gebliebene wahrnehmen – dann hat man sich willkürlich der belebenden Kraft dieser Vorläuferinnen beraubt. Solange die große Reihe von Frauennamen nur im Archiv einiger Spezialisten steht, sind ihre Erfahrungen unwirksam. Wenn es heute um die tiefere Mitsprache der Frau in allen Belangen des Menschlichen geht, dann müsste man sich an erster Stelle der Vor-Denkerinnen und ihres gelebten Lebens versichern, deren späte Frucht wir ja auch sind: der namenlosen wie der berühmten Christinnen. Allerdings nicht, wie wir sie auf unsere Nöte hin stilisieren, sondern in ihrer Zeit begreifen, wenn wir in unserer Zeit begriffen werden wollen. Wir Spätlinge sind ein vielfach anderer Frauentyp geworden. Und weiß Gott, was die Enkelinnen an uns einmal für Unfreiheiten wittern werden … So gilt grundsätzlich, anderen Frauen nicht Unglück vorzuschreiben, wo sie selber Glück formulieren würden.

Achtet man die geschichtlichen Abstände, dann wird noch einmal das Gemeinsame zwischen den heutigen Frauen und den alten Büßerinnen, den Mystikerinnen, Politikerinnen, Lehrerinnen, Heilerinnen, den Jungfrauen, Ehefrauen, Witwen, den Freundinnen ihrer Freunde hervortreten. Der Reichtum dieser vielerlei Leben besteht ja darin, dass die Christinnen auch hier auf der großen Welt der Antike und des Mittelalters aufbauen, auf der Erfahrung der jüdischen, griechischen, römischen, der germanischen und slawischen Frauen. Nur mit dem Selbstbewusstsein einer zweitausendjährigen bedeutenden Vergangenheit lässt sich weiterhin Geschichte gestalten, auch auf das neue Gegenufer des Unerprobten zu. Dem Beleidigtsein und der „Wut“ – die naturgemäß kurzatmig denkt – wird nichts gelingen als ein auf die Dauer langweiliges Ressentiment. Denn nochmals: Die Gegenwart reflektiert, spiegelt auf ihre Weise genau das Selbstbewusstsein ihrer Frauen wider. Wenn wir es nicht kraft Christentum in uns tragen, woher sollte uns sonst Selbstbewusstsein zuwachsen?

Zum Schluss sei auf etwas aufmerksam gemacht, von dem ich je länger je mehr überzeugt bin. Nämlich: Man/frau sollte die Kirche nicht verlassen, aus welchem (modischen oder grundsätzlichen) Ärger auch immer. „Mich, den lebendigen Quell, haben sie aufgegeben und graben sich anderswo löchrige Brunnen.“ (Jeremia 2,13) Diese Klage kann leider den meisten Suchbewegungen gelten. Was aber tun, wenn einem die Kirche selbst als löchriger Brunnen vorkommt? Tiefer in ihr graben, bis der Schacht zum Grundwasser getroffen ist. Denn es gibt den Schacht (das Beste an der Kirche), und in ihm rauscht das Grundwasser (Gott) – wirklich. Diesen Schacht zu finden schafft vielleicht nicht die einzelne Frau, aber genau hier liegt der Sinn einer Porträtsammlung: Zusammen fällt die Suche leichter. Manchmal öffnet auch eine alte Freundin, die nur noch in einem Buch spricht, den Zugang: Hildegard, Hedwig, Caterina und die neueren, durchwegs komplizierteren Frauen, überhaupt die zahllosen geistigen Schwestern, die vielen Marien, Magdalenen und Marthen dem Namen und dem Geist nach.

München, 20. Juli 1994
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Nach 22 Jahren erfolgt eine fast unveränderte Neuauflage. Jedoch trägt sie einen etwas anderen Titel und enthält ein Kapitel mehr: über Edith Stein. Das Gespräch wird also fortgeführt, im Sinn des kurzen Wortwechsels in Goethes Märchen:

„Was ist herrlicher als Gold?“ fragte der König.

„Das Licht“, antwortete die Schlange.

„Was ist erquicklicher als Licht?“ fragte jener.

„Das Gespräch“, antwortete diese.

Erlangen, 31. Mai 2016
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

I.Der Alltag einer Frau

Maria

Das graue Pathos des Alltags

Der Alltag heißt in einem chassidischen Vergleich die „unfruchtbare Frau“: rastloses Arbeiten, immer dasselbe und trotzdem vergeblich. Den ganzen Tag füllt man Wasser in ein Gefäß, das den ganzen Tag ausrinnt. Alltagsarbeit wird nie fertig, ist lähmend unendlich. In dieser Tatsache liegt Leiden: mausgraues Leiden, unheroisches, manchmal lächerliches Leiden. In einer zeitgenössischen Witzfigur wird das gerne vorgeführt – im Junggesellen, der das generationenlange Frustrationstraining der Hausfrau noch nicht im Blut hat: Von der Vergeblichkeit zermürbt, kapituliert er vor dem Tausenderlei, das bei aller Mühe nicht abnimmt.

Hausarbeit ist aber nur eine besonders augenfällige Verdichtung des üblichen Alltags: sei es im Büro, im durchgeplanten Wochenablauf eines Beamten, Lehrers (auch an der Universität), Seelsorgers, einer Sekretärin … Wie entkommt man dem Tod des immer Gleichen und Fruchtlosen, der unschöpferisch zerstäubenden Zeit? Es gibt mehrere Möglichkeiten zu entkommen, und zwar seien zuerst die irreleitenden aufgezeigt: gleichsam die Straßengräben rechts und links von der wirklichen und wirksamen Lösung.

Erster Irrweg: Frau duldet vor sich hin. Halb leidet, halb genießt sie den Eindruck, ein Aschenputtel zu sein und in der Asche zu sitzen, damit sich die anderen die Sonnenseite der Welt teilen. Lust am Frust. Es wird einem ja nichts geschenkt, aber merkwürdig genug: Man gönnt sich auch selber nichts. Die Verführung liegt darin, dass solche „Ergebung“ durch Religion auch noch gestützt scheint. Denn wenn von Religion oder Gott die Rede ist, meldet sich oft als erstes Gefühl, dass damit etwas am Leben beschwichtigt werden soll. Zum Beispiel Leiden, auch das Leiden an Unterordnung und zäher Benachteiligung, das gleichsam – so wittert man – zu früh und kampflos in eine Fiat-Haltung abbiegen muss, sich nicht wehren darf, geschweige denn verändert werden soll. Religion lehrt also Dulden (meint man) … Gott gönnt uns auch nichts (meint man) …

Dieses klassische Vorurteil ist möglich und bestimmt viele „irgendwie“, weil das Religiöse nicht selten zu einem solchen Stillhalten eingesetzt wurde und auch eine unglückliche Auslegung an solchen Zwecken haarscharf entlangbalancierte. Zweck meint zum Beispiel, Religion zur Beruhigung zu verwenden, auch gegenüber sich selbst. Man kann das Heilige durchaus als Mittel zur eigenen Unbeweglichkeit, zum Einrichten in der Asche nutzen. (Deswegen immer ein kostbarer Rat der Meister, die im Selbstbetrug der Seele bewandert waren: auch auf die eigenen „besten Absichten“ zu verzichten und sich zu überlassen …)

Solcher Missbrauch hält nicht Stand vor dem Ernst, wenn man den Blick wirklich auf Gott richtet (oder er Seinen auf uns.) Der Umgang mit Ihm ist nicht eigentlich einfach; er wird es erst, wenn man eigentümliche Schranken in sich selbst, die seine Nähe versperren, niedergelegt hat. Zu solchen Schranken zählt etwa die falsche Blickrichtung: vor allem die falsche und eingebildete Demut, oder eher noch: das Misstrauen gegenüber dem Leben. Mir kann’s ja nicht gut gehen, ich bin für das Leiden aufgespart etc. Aber: Leiden hat nicht den Zweck, jemanden persönlich klein zu halten nach der „Absicht“ Gottes. Und vor lauter Leidensfrust übersieht man den Augenblick, den Menschen, die Gabe, die einen nach der Absicht des großen Gebers glücklich machen sollte. Vielleicht sogar auf Dauer, mitten im Alltag und in der Wiederkehr der „normalen“ Abhobelungen. Nein, Leiden meint nicht religiöse Tristesse, in die man sich widerwillig fügt. „Aber ihr, ihr habt sogar die Freude am gemästeten Kalb verloren“, sagt Hildegard von Bingen (1098–1179).1

Leiden, dem wir nicht ausweichen können, hat nicht Zweck, sondern Sinn. Und das meint, ihm keine kleingedachte, kleinliche Absicht zuzulegen. Wir können nur von einem Antlitz her großen Sinn, unseren Sinn im Leiden erfahren und übrigens ertragen – auch ertragen, dass nach vielen Hungertagen das gemästete Kalb doch wieder zugerichtet wird.

Allerdings nicht ohne Gegenwehr unsererseits. „Das bin ich ja gar nicht wert.“ Sehr richtig, nur steht das für die Neuanfänge Gottes nicht zur Debatte. Vielfach verbirgt sich hinter den freudlosen Unterwerfungen eine hochmütige Selbstbescheidung, die so etwas wie Lösung, Blick ins Weite, Freudigkeit des Herzens gar nicht will. Oder noch nie so etwas wie Glauben an eine Lösung vollzogen hat.

Was das Ganze noch schwieriger macht: Diese hochmütige Bescheidung hat sich zu einem zweiten, verbreiteten Irrweg stilisiert, der dem ersten verwandt ist. Nur verkleidet er sich nicht mehr schein-religiös, sondern gibt sich als Frucht hoher und höchster religionsfreier Kultur aus: Man heroisiert sein alltägliches, ja lebenslanges Grau und leidet verbissen-tragisch. Dies zelebrieren seit geraumer Zeit nicht wenige Vordenker und Wortführer der Kultur als die unerträgliche Düsternis des Lebens. Seit mehreren Generationen gibt es ein ungeheures, fast triebhaftes Widerstreben, auch und gerade bei bedeutenden europäischen Denkern und Literaten, an so etwas wie Seligkeit zu glauben, so etwas wie ein Dasein jenseits der Düsternis überhaupt zu wollen. Der absurde Sisyphus ist modern, der den Stein nach oben schleppt, von wo er herunterrollt und Sisyphus zum neuen Hinaufschleppen zwingt. Die tragische Geste ist modern, die umsonst das ewig Misslingende neu beginnt und über den Beginn nicht hinausgelangt. Die Verzweiflung ist modern, die auf das Leben spuckt, weil sie es nicht bestehen kann. Schauerlich-reizvoll scheint es zu sein, „Schmerz, Wut, Enttäuschung hinauszuschreien“ – diese abgegriffene Wortfolge lähmt schon lange das Ohr. Wie fern liegt das ausgewogene Betrachten Hölderlins, der gewiss das Dunkel kannte, aber trotzdem ein Auge auch für das Helldunkel hatte – heute würde man den folgenden Satz vermutlich als Behagen verdächtigen: „Wie mit den Lebenszeiten, so ist es auch mit den Tagen, keiner ist uns genug, keiner ist ganz schön, und jeder hat, wo nicht seine Plage, doch seine Unvollkommenheit. Aber rechne sie zusammen, so kommt doch eine Summe Freude und Leben heraus.“ Eine solche Summe ist mittlerweile fremd geworden, scheint zu nahe am Kleinbürgerlichen. Auch die Philosophie hat diesem Gefühl nachgearbeitet. Wo liegt der Sinn des Daseins? Die berühmt gewordene Antwort füllt das ermattende Nachdenken, der Sinn des Daseins liege im Dasein selbst, das heißt in seiner Sinnlosigkeit. Diese unechte Armut gehört zu den großen, schwer auszuhebenden Schemen. Daher Vorsicht: „Die größte Sünde ist: wenn das Feuer gleichgültig wird …“

Dann tut sich Schweigen oder mittlerweile die Esoterik auf. Und in beidem wirkt Trauer, aber mit dem Scharfsinn des Paulus gesehen die Trauer der Heiden. Diese weint um das Schale, gefällt sich aber in ihrer Vergeblichkeit, leitet Scheingefechte der Selbsterlösung ein – eine andere Art von Hochmut. Stattdessen wäre zu weinen um ewige Seligkeit, weil es sie gibt, bedrängend gibt, sie aber keinen Ort im Sprechen der Geistträger, der Intellektuellen hat. Weil das Glück wahr ist und nicht eine Erfindung der „Pfaffen“. Weil überhaupt alles wahr ist, von der Liebe angefangen bis zur widerlegten Verzweiflung und dem besiegbaren Teufel. Und bis zu Gott. Weil auch die Welt, ihre Sonnenaufgänge, Blitze, Morgenröten das sind, was sie scheinen: ungeheuerlich schön.

Der Schatz im Acker

Versuchen wir – in Gedanken –, den Auszug aus dem versagenden Zeitgeist und dem eigenen Pakt mit ihm zu vollziehen. Wie falsch ist das Nein aus einem Nein … Kann der Schatz im Acker des Alltags wieder sichtbar werden, um dessentwillen sich der Ausbruch aus Sprachlosigkeit und Sinnleere lohnt? Das Reden über Sinngebung des Sinnlosen ist zu wenig. Wenn schon Selbstanklage, dann nur mit dem tiefen Recht derer, welche die ganze Wirklichkeit zulassen.

Alltag – nochmals: Das ist das Vorläufige, hundert- und tausendmal nutzlos Wiederholte, die reine Vergeblichkeit. Der Alltag ist das Unpathetische überhaupt, deswegen heißt er grau. Und doch ist genau darin der Schatz im Acker zu suchen oder er ist eben überhaupt nicht da. Wie verhält man sich richtig, weder mit der falschen Bescheidenheit noch mit der heroischen Trauer, zu der alltäglichen Abnutzung? Ginge es möglicherweise auch leicht, heiter, mit der Anmut des Geistes?

Gesucht ist der Mensch, der den Einsatz, den Anfang mitten im Vorläufigen leistet, dem das Vorläufige aber nichts ausmacht. So wünscht ihn sich die Philosophie, auch und gerade die atheistische, seit dem 19. Jahrhundert. Genau betrachtet wäre es der Mensch, der die Angst des Lebens verloren hat, die Angst nämlich, umsonst zu leben oder sich unberechnet zu verausgaben. Mit anderen Worten: Er hätte die Angst verloren zu sterben. Bei allem, was er tut, weiß er, dass es wieder aufhört, und trotzdem tut er es; die Vergeblichkeit des Endlichen schreckt ihn nicht, er nimmt diese Schranke ohne „Frust“. Er kann „sterben“, nicht nur am Ende, sondern in jeder seiner Handlungen. Solche Menschen sind „schön wie ein Ja in einem Saal voller Nein“ (Euclides da Cunha).

Stattdessen übt man genau und instinktiv das Gegenteil: sich schützen, nicht in den Alltag ausleben, nicht zur Nahrung für andere werden – sich retten gegen die Zeit, gegen das Werden, auch gegen das Altwerden, immer grünen, immer vital sein – das ist der Zustand des unreinen, nicht-identischen Menschen. Und dieser alte Adam, diese alte Eva stirbt widerwillig unter den Forderungen des Alltags, empfindet darin Beschädigung.

Und doch gibt es etwas, das nicht abzuschirmen ist, weil es sich eigentlich gerne verausgaben will: zwecklos und überströmend. Die wohl dichteste Erfahrung davon geschieht dort, wo es um „Liebe“ geht, und sei sie noch so folienhaft und kinomäßig. Liebe gelingt nicht im Abarbeiten, nicht im Stiersymbol des Pharao und seines Fronlandes, in welchem die Israeliten sich alltäglich bis zu Tode plagten. Sondern in ihr erscheint das Dasein unangestrengt, von innen überfließend. Diesem Überfluss antwortet gleichzeitig etwas in der Wirklichkeit „aus freien Stücken“. Denn was in der Liebe erstrebt, umworben wird, kommt bei aller Mühe doch auch „von selbst“ zu, es kann ja gar nicht erzwungen kommen. Für alles, was man gerne tut, gilt die Regel: Hier hat alles Wollen auch etwas Gelassenes, weil darin die Bewegung sichtbar bleibt, sich etwas geben zu lassen. Das Gelungene ist immer auch zugefallen. Ein Beispiel: Als Michelangelo die Decke der Sixtina ausmalte, bedurfte es mehrjähriger harter Disziplin, ja Schinderei schon allein des Körpers, da das meiste im Liegen gemalt werden musste. Und trotzdem war in dieser Anstrengung auch ein Leichtes und Geniales: nämlich wie die meisten Striche hingesetzt wurden und aufs erste Mal saßen – wobei Michelangelo natürlich vorher Entwürfe ausgearbeitet hatte. Von jenem Spielerischen ist die Rede, das mitten in der Plackerei vorhanden sein kann, sie auch nicht auslöscht, vielmehr durchbricht. Ebenso gelassen antwortete Picasso auf die Frage nach seiner künstlerischen Eingebung: „Ich suche nicht, ich finde nur!“

Auch Nietzsches „Übermensch“ wollte zu diesem letztlich frei und leicht gezeichneten Typus gehören. Ja, sogar zum Kind: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, ein heiliges Ja-Sagen.“2 In den beiden vergangenen Jahrhunderten gab es mehrere Entwürfe des neuen, unabgenutzten, spontanen Menschen, der „liebend“ seinen Einsatz leistet und den Alltag überflügelt. Nur findet sich in den Entwürfen eines nicht: Ein solches Dasein kann nicht durchgehalten werden, weder denkerisch noch im Leben. Die Entwürfe kennzeichnen eine rein menschliche Erfüllung, aber wohlweislich als „Utopie“ oder „Prinzip Hoffnung“, das sich nicht einlösen muss, weil es sich nicht einlösen kann. Im Grunde bedarf es einer Verfallstheorie, böser gesagt einer theoretischen Ausrede, weshalb dieser Mensch nie konkret wird, immer nur „am Horizont“ ist.

Aber wie kommt Erfüllung wirklich zustande? Ihr fehlt ein Baustein, nämlich ein Gegensatz, der sich paradox ausnimmt: zwei Enden, die sich logisch gesehen ausschließen. In gedanklicher Zergliederung lassen sich Dinge auseinanderhalten, die wirklich und wirksam zusammengehören. Solches Zergliedern gilt auch für das atheistische Denken der beiden letzten Jahrhunderte, erst recht für die Literatur des Absurden, sei es bei Camus, Sartre oder Joyce. Jene zwei Enden, die sich schwer zusammenbringen lassen, lauten: dass es eine absolut erfüllte hiesige Welt gibt, einen voraussetzungslosen Einsatz, den Anfang inmitten der Endlichkeit, dass aber der sich einsetzende Mensch trotzdem ein absolut Gehorchender ist. Anders ausgedrückt: Es gibt ein Hören, Zuhören, Zugehören zu Gott, das vollendet schöpferisch ist. Und der Mensch, der frei ist, sich frei fühlt, selbstverantwortlich handelt, erhält diese Freiheit zugleich als Geschenk – aber: Das Geschenk erniedrigt ihn nicht. Für Nietzsche hatte Gott Angst, den Freien neben sich wachsen zu lassen, wegen einer Schmälerung seiner selbst. Wo Gott ist, kann ich nicht sein, hieß das atheistische Dogma. Deswegen ertrotzt, erschafft sich der Freie die Freiheit – erzeugt sie für sich selbst, in dauernder Anstrengung gegen Gott. Aber zu denken und zu erleben wagt er nicht, dass Freilassen zu Gottes eigenem Wesen gehört, dass Er sich selbst zerstören würde, würde Er Unfreie um sich dulden – dass es eine Vaterschaft gibt, in der jeder im Maße des Empfangens seine Freiheit findet. „Gott ist so frei, dass er nur Freie um sich duldet“, so Thomas von Aquin. Und der Dank dafür ist nicht wieder ein neues Ducken, sondern erst recht ein Aufrichten.

Aus einer solchen Erfahrung heraus wird Alltag, alltägliches Abnutzen und Kraftvergeuden eine „fruchtbare Frau“. Arbeit ist Widerstand, ohne Zweifel, und Schleifstein. Aber zugleich ist sie auch Zugang zum Lebendigen, das wie belebendes Grundwasser in den gewohnten Pflichten aufsteigt. Gott ist „des Stromes Ungestüm, der seine Stadt erfreut“ (Psalm 46,5). Und zwar dann, wenn der alltäglich gebundene Mensch das Andrängende als Auftrag nimmt. Im Ergriffenwerden durch den alltäglichen Dienst richtet der Mensch sich auf, lebt auf, greift selber aus. Der Anruf wandelt sich in Kraft. Es ist älteste Erfahrung: Solcher Dienst beugt nicht, sondern stärkt. Wen Gott berührt, der ist nicht Sklave, sondern Freier. Das ist nicht als theologische Schreibtischerkenntnis oder gut versponnene Mystik gemeint, sondern das meint Alltag und ist an seinem Probierstein zu prüfen. Denn Gott sehen wir nicht, wir hören ihn nicht. Aber jede sinnvolle Forderung ist sein Wort; überhaupt wo Sinn ist, ist Er. Auch hier ist Er im Kleinen, im leisen Wehen, nicht in Donnergetöse und eindrucksvollen Blitzstaffagen – wie Elija auf dem Berge das Kommen Gottes fast nicht merkte, weil er auf Erdbeben und Gewalt eingestellt war … Die Epiphanien Gottes sind alltäglich-keusch, seit jeher. Und doch so wirksam im Alltäglichen, dass jedes Aufgreifen einer Aufgabe, meiner Aufgabe, aufrichtet, kräftigt. So genau sind auch die Leiden als Aufgaben gemeint, dass selbst sie nicht bloß leidend, sondern Kraft entbindend wirken. Gott modelt – als großer Modellierer – ohne Aufhebens, aber so, dass der Widerstand des Menschen zur Zustimmung wird und Erneuerung und Umwandlung die Mühe begleiten. Wenn ein Fiat nötig wird, dann in der Weise, dass man sich dieses Kostbare wünschen, darum bitten soll. Louise Labé formulierte 1555, im Vierten Sonett ihrer von Rilke übersetzten französischen Liebesgedichte:

Je mehr der Gott uns zusetzt, desto mehr

sind unsre Kräfte unser. Wir verdingen

nach jedem Kampf uns besser als vorher.

Der uns und Götter übermag, ist denen

Geprüften nicht ganz schlecht: Er will sie zwingen,

sich an den Starken stärker aufzulehnen.

Herrin, die die Gassen ins Frohe öffnet

Wo gibt es wirklich, nicht erträumt, das lebendige Leben, das den Alltag durchdringt? Wo gibt es wirksam, nicht theoretisch, die Freiheit, schöpferisch zu arbeiten mitten im Geringen und nicht scheu den Kopf vor der Freude wegzuwenden, weil „ich ja nicht gemeint sein kann“? Diese Erfahrung hat das Christentum an Maria erfasst. Oder anders: Es ist in ihrer Gestalt etwas gänzlich Unerwartetes aufgetreten. Nämlich die Tatsache, dass im irdischsten aller Alltage, im Weben, Wasserholen, Brotbacken, Feuermachen, im Empfangen und Zur-Welt-Bringen, ja auch im Verlieren und Bestatten-Müssen um die Welt Gottes gesorgt wird. Dass das Arbeiten sich hier auf das unbedingte Leben richtet, das im durchaus Bedingten durchscheint. Der große Irrtum besteht darin, dieses Eingegrenzt-Kleine habe nichts mit Gott zu tun, sich zu verschwenden oder vielmehr sich abhanden zu kommen mache letztlich gesichtslos. Dagegen steht die klassische Erfahrung Israels, und sie verdichtet sich gänzlich in der Erbin solcher Erfahrung, in Maria. Gott ist gerade im Genauen wirksam, an bestimmten Orten, zu einer bestimmten Zeit, nicht überall und überhaupt und gleichzeitig nirgendwo. Und gerade so macht er den Alltag damit zum All-Tag (mit dem Genie der Sprache ausgedrückt).

Michelangelo formulierte ein seltsames Gedicht (wieder in der Übersetzung Rilkes):

Ein Mann aus einer Frau, ein Gott sogar

spricht da durch ihren Mund.

Ich hör es und

kann nie mehr wieder mein sein, wie ich’s war.

Ich meine, sonderbar

aus mir herausgerückt,

von außen Mitleid mit mir selbst zu fassen.

Weit über leerer Lust Gefahr

hat mich ihr Angesicht entzückt

und andrer Schönheit nur den Tod gelassen.

O Herrin, Gassen

ins Frohe öffnende durch Flut und Feuermeere,

gib, dass ich nie mehr in mich selber wiederkehre.

Gott durch eine Frau – darin liegt der springende Punkt. Das heißt nämlich: Gott nicht in seiner verzehrenden Gestalt, sondern als Kind und Sohn und einer Sippe zugehörig, eben alltäglich. Von Windeln ist biblisch die Rede, auch von Untertansein, von Zimmermannsarbeit. Und man kann wohl sagen, dass diese Frau die Gassen durch Gottes Flut und Feuermeere bahnt, dass sie erträglich macht, wo sonst der Erschreckende stünde. Schon die Erzählung des Lukas von der Verkündigung zeigt dieses Klare, zeigt einen ungeheuren Vorgang überschaubar. Denn in Nazareth wird keine unbewusst bleibende Frau überwältigt, wie in den Mythen die Götter ein Gegenüber in vielen Masken täuschen und vergewaltigen. Bei Lukas bricht der Souverän auch gar nicht ein, zwingt nicht, verführt nicht, täuscht nicht. Im Gegenteil: Er kommt durch einen Dritten, den angelos, der den Freiraum für Rede und Gegenrede, für Wort und Frage auftut. Und es ist echte Frage aufseiten Marias, wie es echte Bitte aufseiten des Souveräns ist. Anders gesagt: Dieses Treffen bleibt menschlich, gleitet nicht weg ins Rauschhafte, Animalische, Dämonische, Ekstatische im trüben Sinn. In Maria verdichtet sich alles, was menschliche und geistvolle Freiheit heißt, was Aufrechtstehen und Klaren-Kopf-Behalten meint. Und aufrecht entschließt sie sich zu allem, was geschehen soll, was ihr zufällt, was sie empfängt. So wird – dem Denken kaum nachvollziehbar – Gott ihr Alltag, der Lebensraum für das Göttliche ihr Werk. Aber keineswegs so, dass sie etwas voraushätte in dem Sinn, dass ihr Arbeiten nun viel beschwingter und durchsichtiger wäre als das normale. Gott kam ja in Gestalt von Nichtgott. So war ihre Prüfung wohl auf andere Weise nicht einfacher als die gewöhnliche. Dass sie aber Gott in sein Eigentum aufnahm, nämlich in den Alltag, ist dasjenige, was wir aus falscher Demut und eingefleischter Kleinlichkeit nicht tun. Hier schließt sich der Kreis mit dem obigen Verdacht, dass Gott sich nicht „so irdisch“ auf den Menschen einlassen kann und will.

Darin sitzt genau, was mit dem alten Wort Sünde gemeint ist und umgekehrt mit der Sündelosigkeit Marias. Denn die Liebe springt über die eigenen Grenzen, rennt hinaus in die Gassen, bahnt sich Wege durch Flut und Feuermeere, holt den Geliebten herein, auch in das Unfertige und Arme. Aber die Nichtliebe = Sünde wagt nicht und gewinnt nicht; sie hält klein und den Löser fern. Nehmen wir die herbere Gestalt einer anderen Frau, die uns ähnlich ist und deswegen tief im Zwiespalt steckt. „Die Liebe vereint, die Sünde trennt. Aber die büßende Liebe hat etwas von beiden. Magdalena stürzt zu Jesu hin: das ist die Liebe; Magdalena wagt nicht, sich Jesus zu nahen: das ist die Sünde; sie tritt mutig ein: das ist die Liebe; sie nähert sich in Angst und außer sich: das ist die Sünde: sie macht die Füße Jesu duften: das ist die Liebe; sie begießt sie mit ihren Tränen: das ist die Sünde; sie löst und vergeudet ihr Haar: das ist die Liebe; um die Füße Jesu zu trocknen: das ist die Sünde; sie ist gierig und unersättlich: das ist die Liebe; sie wagt nichts zu begehren: das ist die Sünde. Aber sie weint, aber sie seufzt, aber sie schaut auf, aber sie schweigt: Das ist die Liebe und die Sünde in einem.“3

Doch die eine große Tochter Israels in Nazareth wagt, verlässt sich (im schönen Doppelsinn des Wortes), vergisst sich und die eigene Einschätzung, sich und die eigene Kleinheit. Das heißt, sie erinnert sich wohl im Magnifikat an die „Niedrigkeit seiner Magd“, aber der Gedanke daran hindert sie nicht, sich für alles Kommende bereitzuhalten. Dieser „Auszug aus sich selbst“ und aus der eigenen Grenze, nämlich der menschlichen Selbstverschließung, ist etwas Ungeheuerliches, das an Maria anschaulich wird. Denn sie gibt die Psychologie des Menschen, der an Gott geraten ist. Sie ist Feuer vom Feuer geworden, Strom vom Strom, durch die Berührung mit dem göttlichen Magneten selbst ein Magnet. Etwas anderes, nein, jemand anderer hat die Mitte des Denkens und Tuns besetzt, und die Seele hat dort abgeladen und sich wie nie zuvor aufgerichtet, ist jetzt größer als zuvor. „Sonderbar aus mir herausgerückt“, hieß es oben und mündete in die dringliche Bitte: „Gib, dass ich nie mehr in mich wiederkehre“ – an die Herrin gerichtet, die selbst und in derselben Weise vorauslief.

Der Vorgang ist vom Buch her und als theologischer Gedanke bekannt: Abladen (sich selbst nämlich) und Neugeburt. Obwohl es ein wunderbarer Vorgang ist, erzählt man anderen meist nur in Stunden schweren Leides zum Trost, dass es so etwas (vielleicht) gebe. Aber wer es selbst erlebt hat, wird nicht mehr schüchtern und mit falsch klingender Stimme davon reden, und auch nicht nur in schweren und sonst unerträglichen Fällen, sondern eben immer, alltäglich. Die biblischen Berichte haben in ihren Aufzeichnungen den nüchternen Ton, der weiß, was er sagt, der weiß, warum er es sagt. Und der deswegen sich nicht scheut, altbekannten Trost als heute wirklich, als wahrhaft wirksam, am eigenen Leben überprüfbar anzuführen. Es ist keineswegs leicht, im Religiösen zu lügen; das Sensorium dafür ist sehr fein und wird unfehlbar reagieren. Auch wer Durst hat, kann nicht versalzenes Wasser trinken. Die Sicherheit, mit der Maria im Magnifikat das Getragenwerden von Gott ausspricht, stammt vom frischen Wasser. Solche Sätze haben das Siegel der Wahrheit an sich: Es gibt die Kraft von der anderen Seite. Es gibt die Liebe, von sich wegzulaufen. So liegt auch eine unbeweisbare, aber große Gewissheit in dem Wort, dass Maria die Gassen ins Frohe öffnet, dass sie der Trost der Betrübten ist, der Trost aller wehen Herzen. Und wenn ihre großen Betrübnisse aufgehellt worden sind, die aus der Liebe stammten, dann werden auch unsere kleinen Betrübnisse aufgehellt, die aus der Nichtliebe stammen – und zwar immer in derselben Bewegung: indem wir den selbstgezogenen Kreidekreis verlassen und dem Souverän zulaufen.

Solches Überlassen ist leicht, heiter, anmutig. Religion lehrt nicht das Dulden, sie lehrt das unpathetische Durchstehen und Loskommen. Romanos der Melode, der wunderbare Grieche, sagte auf seine unnachahmliche Weise: „Bethlehem öffnete Eden … Kommt, lasst uns empfangen die Paradiesesgaben in der Höhle.“

1Hildegard von Bingen, Umarmt vom lebendigen Licht. Prophetische Worte und Gebete, hg. v. Maria-Assumpta Hönmann, Freiburg 1993, 81.

2Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, I, KSA 4, 29.

3Die Liebe der Magdalena. Ein französischer Sermon, gezogen durch den Abbé Joseph Bonnet aus dem Ms. Q I 14 der Kaiserlichen Bibliothek zu St. Petersburg, übertr. durch Rainer Maria Rilke, Leipzig (1912) 21919.

II.Christin – Kaiserin – Europäerin

Theophanu (959–991)

Glutschrift des verborgenen Herzens
unter Perlen und Juwelen …
Maria Eschbach
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Einem zählebigen Vorurteil widersprechend, hat das Mittelalter in seinen Führungsgestalten keineswegs ausschließlich Männer oder gar Kleriker (als deren Drahtzieher) zu verzeichnen. Vielmehr erscheinen zahlreiche, in der Regel bedeutende Frauen auf der Bühne politischer Gestaltung. Einem verwandten Vorurteil zuwider sind diese Frauen keineswegs nur als Gattin, Mutter, Tochter tätig, sondern planen selbstständig in öffentlichen Belangen und weiträumigen geschichtlichen Entscheidungen. Bereits in den frühen Jahrhunderten zu Beginn der deutschen Geschichte lassen sich hervorragende Frauen, die als Herrscherinnen unmittelbar oder mittelbar hervortraten, ins Auge fassen. Die Reihe beginnt bei der Langobardin Galla Placidia, umfasst nicht wenige Merowingerinnen und führt bis zu Adelheid, der „Mutter der Königreiche“ und Schwiegermutter Theophanus.2

Gerade bei den Sachsenkaisern nahmen Frauen nicht nur einen objektiven, sondern im Bewusstsein des Volkes hervorragenden Anteil an den Weichenstellungen der Politik. Solcher Einfluss galt nicht minder für die Kulturgeschichte, nämlich für die Kultivierung bäuerlicher Lebensart, für die allmähliche Überführung heidnischer Praktiken ins Alltagschristentum, letztlich für die sittliche und künstlerische Hebung des Volkes und die Angleichung der unterschiedlichen Lebenswelten des mittelmeerischen und nördlichen Europa.3