Hugo Makibi Enomiya-Lassalle
topos taschenbücher, Band 1082
Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus
Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck
Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-8367-1082-4
E-Book (PDF) ISBN: 978-3-8367-5077-6
Epub ISBN: 987-3-8367-6077-5
2017 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.
Umschlagabbildung: © KNA Bild
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
Vorwort
I. |
Der Perlentaucher |
II. |
Der Ruf des Kuckucks |
III. |
Im Land der aufgehenden Sonne |
IV. |
Die Friedenskirche |
V. |
Auf dem Zen-Weg |
VI. |
Was ist Erleuchtung? |
VII. |
Reisende zwischen Ost und West |
VIII. |
Am Horizont offene Weite |
IX. |
„Alles, was ich wollte, war, den Menschen zu helfen, weiter nichts“ |
Anmerkungen
Glossar
Dank
H. M. Enomiya-Lassalle SJ ist ein Brückenbauer und Friedensstifter. Seine Lebenszeit umspannt fast ein Jahrhundert, von der Geburt zu Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Tod gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Sein Lebensweg verbindet Europa mit Asien, Christentum mit Buddhismus, traditionelle christliche Frömmigkeit und Theologie mit der nichtchristlichen spirituellen Praxis der Zen-Tradition. Als Soldat war er im Ersten Weltkrieg, und er überlebte die Atombombe auf Hiroshima. Wenn er von Frieden sprach, geschah das nicht blauäugig, sondern mit dem Wissen, dass wirklicher Friede die Fähigkeit voraussetzt, sich selbst infrage und in die Schuhe des anderen zu stellen. Frieden erfordert Umdenken, und die Zen-Übung, die er unter japanischen buddhistischen Zen-Meistern praktizierte, schien ihm ein geeigneter Weg zur Selbstlosigkeit. Nur wenn die Menschen lernen, ihre persönlichen, nationalen, ethnischen oder religiösen Egoismen zu übersteigen, kann es Frieden geben. In diesem Punkt war Lassalle bis zu seinem Lebensende optimistisch. Er beurteilte die bisherige Geschichte der Menschheit – trotz aller Kriege, die er ja auch selbst erlebt hatte – als einen Weg zu mehr Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Menschen sind darauf angelegt, glücklich zu sein – doch im Vergänglichen gibt es kein Glück, nur im Unvergänglichen, darin sind sich Buddhismus und Christentum und auch die anderen religiösen Traditionen einig. Und da die Menschen glücklich sein wollen, würde sich das Streben nach der Erfahrung des „Ungeborenen, Ungewordenen“, wie es der Buddha nennt, am Ende als „neues Bewusstsein“ durchsetzen.
Der Wandel, den Lassalle in der christlichen Spiritualität – nicht als Einziger, aber maßgebend – eingeleitet hat, lässt sich an einem schlichten Gegenstand ablesen. Der Meditationsschemel, heute in fast allen christlichen Bildungsinstitutionen und Klöstern zu finden, kam erst über Lassalle in den 1960er-Jahren aus Japan nach Europa. Kontemplation und Meditation wurden im christlichen Kontext bis dahin fast nur von einer klösterlichen Elite praktiziert. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) gab nicht nur dem Laien eine neue Stellung in der Kirche, sondern regte auch an, von der Weisheit anderer Religionen zu lernen. Ohne das Zweite Vatikanum wäre Lassalles Weg nicht möglich gewesen. Er konnte das schmale Zeitfenster von Anfang der 1960er-Jahre bis zum Ende der 1980er-Jahre nützen, in denen eine bis dahin nie gekannte religiöse Offenheit möglich war. Mit der islamischen Revolution im Iran (1978/79) und dem Pontifikat von Papst Johannes Paul II. (1978–2005) begannen sich die Fronten zu schließen und zu verhärten.
Das Lebensbeispiel des Jesuitenpaters Hugo M. Enomiya-Lassalle zeigt, dass es möglich ist, die Grenzen zu anderen Religionen und Kulturen zu überschreiten, ohne die eigene Identität zu verlieren. Dass er immer wieder mit enormen Widerständen zu kämpfen hatte, aber nie den Mut verlor, macht seine Biografie zu einer wichtigen und heilsamen Lektüre.
November 2016
Ursula Baatz
In seinem alten schwarzen Anzug, der aus dem Nachlass eines Mitbruders stammte, wirkte er trotz seiner Größe auf den ersten Blick unscheinbar. Wer näher mit ihm zu tun bekam, nahm rasch die einfühlsame, taktvolle, aber auch bestimmte Haltung wahr, mit der er zuhörte. Manchmal, am Ende seines Lebens, als sein Gehör nachließ, legte er die Hand wie einen Trichter um die eine Ohrmuschel, um besser hören zu können. Und irgendwie wurden die Probleme kleiner und erträglicher und verschwanden manchmal sogar völlig, wenn er zuhörte, ganz Ohr, ganz Hinwendung zum Nächsten. So habe nicht nur ich Pater Hugo M. Enomiya-Lassalle kennengelernt. Als ich ihn das erste Mal sah, ging er in einer abgetragenen Soutane durch den Speisesaal des Missionshauses St. Gabriel in Mödling bei Wien. Der Mann machte einen ärmlichen Eindruck, und ich dachte, man sollte ihm eine neue Soutane kaufen. Wenig später erfuhr ich, dass dieser Mann der berühmte Pater Lassalle war, bei dem ich einen Zen-Kurs belegt hatte.
Das war 1976, und für viele galt die Zen-Meditation damals als ultimativer Fortschritt. Als sich dann herausstellte, dass die Erleuchtung sich doch nicht nach drei Sesshins einstellte, blieben viele enttäuscht weg – doch eine große Gruppe machte weiter. Es gibt heute in fast jeder größeren Stadt in Deutschland eine Zen-Meditationsgruppe, manche sind buddhistisch, manche sind christlich, aber überall finden sich Menschen, die durch P. Lassalle zum Zen gekommen sind. Meistens haben diese Leute schon viele Jahre Zen-Praxis hinter sich, denn immerhin sind mehrere Jahrzehnte vergangen, seit P. Lassalle sein erstes Buch Zen – Weg zur Erleuchtung veröffentlicht hat – ein bahnbrechendes Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Die Verbindung von Christentum und Zen, die Hugo Lassalle etabliert hat, ist, religionsgeschichtlich betrachtet, wohl einzigartig. Verbindungen und Austausch zwischen den verschiedenen Religionen hat es immer gegeben, denn Religionen sind keine monolithischen Gebilde. Man kann etwa zeigen, dass es Einflüsse der mittelalterlichen Yoga-Praxis auf das Jesus- bzw. Herzensgebet der Ostkirche gegeben hat,1 ohne dass das christliche Moment deswegen gelitten hätte. Doch dass ein Christ den Zen-Weg gehen kann, ist erst durch das Zweite Vatikanische Konzil möglich geworden. Das Konzilsdokument Lumen Gentium empfiehlt, „dass aller Same des Guten, der sich in Herz und Geist der Menschen oder in den eigenen Riten und Kulturen der Völker findet, nicht nur nicht untergehe, sondern geheilt, erhoben und vollendet werde zur Ehre Gottes, zur Beschämung des Teufels und zur Seligkeit des Menschen“ (Lumen Gentium, 17). Damit hat sich die katholische Kirche für die Werte anderer, nicht europäischer Kulturen geöffnet, und damit eröffnete sich für Hugo Lassalle die Möglichkeit, zusammen mit dem Zen-Meister Yamada Koun (1907–1989) etwas bis dahin wohl noch nicht Dagewesenes unternehmen zu können. Amtsträger christlicher Kirchen – also katholische Priester und Ordensfrauen und evangelische Pastorinnen und Pastoren – erhielten von Yamada Koun Roshi einen Teil der Amtsbefugnisse eines buddhistischen Zen-Meisters, nämlich jene, die unmittelbar mit der Zen-Übung zu tun haben. Alles, was zur buddhistischen Religion gehört – also Rituale, Gelübde, und auch den Titel „Roshi“ –, fand Yamada Koun Roshi dagegen unpassend für Christen. Worauf es Yamada Koun Roshi einzig ankam, war, „die Lehre außerhalb der Schrift, unmittelbar auf des Menschen Herz zeigend“ Menschen zugänglich zu machen. Diese klassische „Definition“ von Zen hieß, in die Sprache Hugo Lassalles übersetzt: Alle Menschen haben die Möglichkeit der „natürlichen Gotteserkenntnis“. Denn was man von Gott erkennen kann, ist für alle offenbar, sagt der Apostel Paulus, und wer sich dieser Erkenntnis verweigert, wird zur Strafe seinen Leidenschaften überlassen (Römer 1,19.26).
Hugo Lassalle hat damit viel in Bewegung gebracht: Er hat die Wiederentdeckung der christlichen Mystik und der Kontemplation ganz wesentlich angeregt, und der Umstand, dass es heute in Europa und in den USA eine ganze Reihe Christen gibt, die Zen-Lehrer und Zen-Meister sind oder ganz einfach Zen üben, ist ein Ergebnis seiner Bemühungen. Und vor allem hat er sehr vielen Menschen durch seine Kurse, seine Bücher und vor allem durch seine Art zu leben zu einer tieferen Erfahrung Gottes verholfen.
Hugo Lassalle war Jesuit, und zwar mit Haut und Haar, und zugleich war er ein Suchender, einer, dem es vor allem um die Erfahrung des Absoluten und um die Umwandlung des eigenen Lebens ging. Die Anerkennung innerhalb der Institutionen – sowohl der katholischen Kirche als auch der zen-buddhistischen – war ihm wichtig, weil er nicht nur für sich selbst einen spirituellen Weg suchte, sondern einen dauerhaften Weg für die anderen ermöglichen wollte.
Wer ihn am Ende seines Lebens kannte, erlebte ihn als einen Menschen, der sein Leben souverän meistert. In einer Weise stimmte das auch – denn er war sich seiner Zweifel und Schwächen sehr bewusst. Sein Gesicht war das eines Menschen, der durch viele Schmerzen gegangen ist und am Grunde der Schmerzen den Frieden gefunden hat. Und er versteckte sich auch. Dann saß da bloß ein alter Jesuit, der schlecht hörte und vergesslich war, der undeutlich sprach und altmodische Ansichten hatte, täglich Messe las, Brevier und Rosenkranz betete und am Revers seines Anzugs ein großes Kreuz trug. Gerade die Demut und Unscheinbarkeit, die Einfachheit und Natürlichkeit, mit der Lassalle lebte, machte ihn für viele zu etwas Besonderem. „Er strahlte etwas aus, und ich dachte, das muss ich mir merken, so etwas werde ich nicht oft sehen“, sagte jemand über Lassalle.
Erst bei der Lektüre der rund 10 000 Seiten, auf denen P. Lassalle oft in winzigen Buchstaben und zum größeren Teil in der alten Sütterlin-Schrift seine Gedanken in seinem Tagebuch niedergeschrieben hat, habe ich verstanden, wie schwer errungen dieser tiefe Frieden war, der von ihm ausging. Wahrscheinlich war es deswegen so überzeugend und hilfreich, wenn man mit Schwierigkeiten zu P. Lassalle kam und er einfach sagte: „Das kann schon einmal vorkommen, machen Sie ruhig weiter.“
Dieses Buch ist der Versuch, zusammenzufassen, was das Wichtige an Hugo M. Enomiya-Lassalles Leben ist. Die Zitate aus seinem Tagebuch sind kursiv gesetzt, sodass man auch seine eigene Stimme vernehmen kann.2
P. Lassalle war ein Meister der christlichen Spiritualität. Und das heißt, dass er den Zen-Weg als Christ gegangen ist. Er kam aus dem Katholizismus des 19. Jahrhunderts, aus einer Frömmigkeit, in der es galt, den Körper abzuspalten und zu unterdrücken und das Denken in Begriffen, das Gebet mit Worten und konkreten Bildern zu fördern. Abtötung war eine wichtige Vokabel in der Frömmigkeit, die Hugo Lassalle gelernt hatte. Die Zen-Praxis verlangte, genau das aufzugeben: die Sinne zu öffnen und das begriffliche Denken zwar nicht aufzugeben, aber darüber hinauszugehen. Dass sich Hugo Lassalle auf diesen Weg einließ, spricht für seinen Mut und seine Entschlossenheit, den Weg der Mystiker zu gehen. Dass christliche Mystik und Zen-Übung nahe miteinander verwandt sind, das wurde ihm sehr rasch klar. „Loslassen“ und Ich-Losigkeit sind die Basis beider Wege; und beide Traditionen stimmen darin überein, dass man über das Letzte, über Gott, die Absolute Wirklichkeit, das Nirwana, nichts sagen kann. Denn alle menschlichen Worte schränken nur ein.
Der Mut, auf der Suche nach Gott immer wieder den nächsten Schritt auf einen unbekannten Horizont hin zu tun, gehört zu den Grundzügen von Lassalles Leben. Das hat vielen Leuten Hoffnung gemacht – denn man konnte an ihm sehen, dass Älter- bzw. Altwerden nicht gleichbedeutend mit Vergreisung und Verlust der Lebendigkeit sein muss. Er gab den Menschen Hoffnung, nicht nur durch das, was er sagte, sondern einfach dadurch, wie er war.
Für P. Lassalle war die Zen-Praxis keine Form individualistischer Spiritualität ohne Ethik. Er setzte klare Maßstäbe, doch er wusste auch, dass Menschen Zeit brauchen, um sich zu verändern. Metanoia, die „Umwandlung des Herzens und des Denkens“, war für ihn das Wichtigste. Seine Art, nicht-direktiv Impulse zu geben, hat vielen Menschen ein gutes Stück weitergeholfen. Einmal, so erzählt eine Frau, ging es im Dokusan darum, dass sie etwas Schlechtes getan hatte, sich aber wegen dieser Sache nicht schuldig fühlte. Lassalle sagte darauf bloß: „Ich habe einmal in Genf einen Schwindler kennengelernt, der hatte auch kein schlechtes Gewissen.“ „Ich habe das noch heute in mir“, sagt die Frau, und es hat ihr Leben verändert. Und so ist es vielen gegangen. Nach einem seiner Vorträge – es war 1979 in Köln, in der Kirche St. Peter – traten Zuhörer an Pater Lassalle heran, die noch Fragen hatten. Ein junger Mann stellte sich neugierig dazu. Lassalle sah ihn an. Der junge Mann, ansonsten keineswegs besonders sensibel, brach in Tränen aus, lief fort und versteckte sich in der Menge. Sein Leben hatte damit eine neue Richtung genommen, erzählte er später. Ein anderes Mal, es muss 1985 gewesen sein, kam eine Frau in das Meditationshaus in Dietfurt im Altmühltal. Lassalle gab hier in den letzten Jahren seines Lebens die meisten Sesshins und hatte auch ein eigenes Zimmer. Die Frau war um die fünfzig, hatte eine überaus gut dotierte Position als wissenschaftliche Beamtin und hatte sich eben entschieden, ihren Posten zu kündigen und ins Meditationshaus St. Franziskus zu übersiedeln. Bislang hatte sie niemandem von ihrem Entschluss berichtet. Als sie in P. Lassalles Zimmer trat, um ihm die Post zu bringen, sagte er ganz unvermittelt: „Das, wozu man sich entschlossen hat, das soll man auch tun.“ Die Frau war sprachlos. Sie siedelte nur wenig später nach Dietfurt über.
Für Lassalle war die Zen-Übung ein Beitrag zum Weltfrieden. Er hatte zwei Weltkriege und in Hiroshima die erste Atombombe überlebt und war Zeuge des Endes der europäischen Kolonialreiche und der ersten Ansätze einer globalen Gesellschaft. Ein weltweiter Friede setzt eine grundlegende Veränderung des menschlichen Bewusstseins voraus, ein neues Bewusstsein, das über das Denken in Gegensätzen und Egoismen hinauskommt. Er glaubte, dass die Meditationspraxis den Weg zu diesem neuen Bewusstsein öffnen könne und dass die Menschheit am Vorabend eines Bewusstseinswandels stehe, der zu einer friedlicheren Welt führen könne.
Man hat seine Ideen oft mit der New-Age-Bewegung in Verbindung gebracht und als unrealistisch gebrandmarkt. Doch sprunghafte Wandlungen im kollektiven Bewusstsein hat es schon öfter gegeben. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Menschen sowohl in China als auch in Ägypten und anderswo aufhörten, den toten Herrschern wirkliche Menschen, Pferde etc. als Bedienung in eine Jenseitswelt mitzugeben, sondern stattdessen Figuren von Dienern und Pferden und Symbole für Nahrung und Gegenstände – ein ungeheurer Abstraktionsschritt. Und immerhin gehört es zu den Kennzeichen des Christentums, das Unmögliche zu erwarten, zu hoffen gegen jede Hoffnung.
Menschen, so sagte Lassalle einmal, haben eine tiefe innere Erfahrung von dem, was sie einmal sein werden. Dieses Wissen ist wie ein Samenkorn. Und wie ein Samenkorn Luft und Wasser und Erde und Sonne braucht, damit daraus z. B. eine Rose wird, so brauchen wir Menschen mehr als Essen und Trinken, damit wir werden können, was wir sind.3 Alles ist nötig, auch die Schwierigkeiten und die Schmerzen, um mit der Zeit zu dem zu werden, was wir wirklich sind.
Lassalles ganzes Leben stand unter dem Zeichen der „Nachfolge Christi“. Darüber redete er nicht viel, doch wer mit ihm Eucharistie feierte, konnte das bemerken. Gelegentlich hat er auch die Geschichte vom Perlensucher erzählt:
Es war einmal ein Kaufmann, der handelte mit Perlen und Juwelen aller Art. Er war sehr vermögend und war viel auf Reisen, um hier und dort die edelsten Steine und die strahlendsten Perlen zu kaufen und auch wieder gut zu verkaufen. Er war nicht nur ein geschickter Händler, sondern auch ein Liebhaber des Feuers in den edlen Steinen und des schimmernden Glanzes auf den Perlen, und als solcher war er sehr geschätzt bei Kennern seines Faches. Da wurde ihm eines Tages eine ganz besondere Perle gezeigt. Sie hatte etwas, das sie von allen anderen Perlen unterschied, vielleicht war es der Glanz, vielleicht aber auch die Form oder von allem etwas. Der Kaufmann sah die Perle und war zutiefst von ihrer vollkommenen Schönheit betroffen. Er konnte den Blick kaum von diesem Juwel abwenden, doch als er nach dem Preis für diese Perle fragte, erblasste er. Denn die Summe überstieg alles, was er je für Steine oder Perlen bezahlt hatte. Er rechnete rasch sein Vermögen durch und stellte fest, dass er die Perle nur erwerben konnte, wenn er alles verkaufte, was er besaß, und das war nicht wenig. Doch die Perle ging ihm nicht aus dem Kopf, sie zog ihn an, wie eine Kerze einen Nachtfalter anzieht, unwiderstehlich, bis der Falter im Licht verbrennt. Der Kaufmann beschloss, alles zu verkaufen, um die eine Perle besitzen zu können. Er wusste, dass dies in den Augen seiner Bekannten und Kunden verrückt war, und er wusste, dass er zwar die Perle, aber sonst nichts mehr besitzen würde, doch das war ihm egal. Er zahlte den Preis für die Perle, verließ alles, was je ihm gehört hatte, und verschwand aus den Augen der Menschen, die ihn gekannt hatten. Er gehörte nicht mehr zu ihnen, sondern lebte als Bettler am Rande der Gesellschaft, mal da die Hand um Almosen ausstreckend, mal dort dankend ein Stück Brot annehmend. Die Perle hatte er sorgfältig unter seinen Lumpen versteckt, und niemand wusste von dem Schatz, den er über seinem Herzen trug. Doch viele, die ihm begegneten, ihm Geld oder Essen oder einen freundlichen Blick gaben, spürten eine tiefe Freude und großen Frieden, der von dem Bettler ausging.
„Und wiederum gleicht das Himmelreich einer Perle …“ Die Geschichte vom Kaufmann, der alles verkauft, um die eine Perle zu besitzen, steht im Lukasevangelium, und P. Lassalle hat sie bei seinen Zen-Kursen öfter erzählt. Die Menschen halten den Kaufmann für verrückt, sagte er dann meistens, aber in Wirklichkeit fehlt ihm nichts, denn er hat die Perle. Vielleicht ist es kein Zufall, dass just das Gleichnis von der Perle sowohl im Evangelium, als auch in gnostischen und in buddhistischen Texten zu finden ist: Immer ist die Perle das Symbol des Absoluten, und immer geht es darum, dass die Perle so unvergleichlich ist und so kostbar, dass man alles geben muss, um sie zu besitzen, aber dass der Besitz der Perle unendlich glücklich und frei macht. Nach dem Auftrag der Bergpredigt geht es um Vollkommenheit: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist“, denn er lässt die Sonne über Guten und Bösen aufgehen und den Regen auf Gerechte und Ungerechte fallen (Matthäus 5,45.48). Buddhistisch gesprochen, geht es um die Realisierung der Buddha-Natur, wobei Realisierung sowohl Verstehen als auch leibhaftig Verwirklichen bedeutet.
Dass sich die Geschichte von der Perle in verschiedenen religiösen Traditionen findet, ist kein Wunder. Denn die Geschichte zielt auf Tiefenschichten des menschlichen Lebens, auf die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen und was wir mit der Spanne von einigen Jahrzehnten anfangen, die das Leben eines Menschen ausmachen. Dort, wo es um Leben und Tod geht, entscheiden auf einer persönlichen und existenziellen Ebene nicht mehr Glaubenssätze und Antworten, die in dem einen System richtig und in dem anderen falsch sein mögen. Ob ein Mensch in der Lage ist, authentisch zu leben, zeigt sich daran, ob es ihm gelingt, den Tod ins Leben zu integrieren. Wie man leben kann angesichts der Gewissheit, sterben zu müssen, hat Pater Hugo M. Enomiya-Lassalle vorgelebt. Der Tod schreckte ihn nicht, das „Danach“ war eine offene Frage für ihn – und zugleich war Auferstehung für ihn eine Gewissheit. In den ersten Sekunden nach dem Abwurf der Atombombe war sein erster Gedanke, dass er jetzt wissen würde, was nach dem Tod kommt. Doch er überlebte die Atombombe von Hiroshima. Da mir das Leben noch einmal geschenkt ist, will ich mit neuer Kraft alles tun für den eigenen Fortschritt und zum Heil der Seelen,4 schrieb er in sein Tagebuch. Aus diesem Grund begann der Jesuit Lassalle 1956, mit 58 Jahren, in einem buddhistischen Kloster in Japan intensiv Zen zu üben – in einem Alter, in dem andere Menschen an den Ruhestand denken. Was er suchte, war die Erfahrung Gottes. Denn: Die einzige Traurigkeit ist, kein Heiliger zu sein.5
Hugo M. Enomiya-Lassalle gehört zu den großen geistigen und geistlichen Brückenbauern des vergangenen 20. Jahrhunderts, zu jenen seltenen Menschen, die es wagen, aus einer Kultur und Religion in eine andere hinüberzugehen und dabei ihre eigene Tradition nicht aufzugeben. Viele irritiert es bis heute, dass sich P. Lassalle als Jesuit und katholischer Priester auf eine Meditationspraxis einließ, die aus dem Buddhismus kommt. Ein derartiger Schritt ist ein Risiko, bei dem man die eigene Identität aufs Spiel setzen muss – um dann eine neue, größere und tiefere Sicht von sich und der Welt zu finden. P. Lassalle ging den Weg des Zen nicht aus Unzufriedenheit mit dem Christentum. Er war als katholischer Missionar nach Japan gekommen und wollte durch die Zen-Übung die japanische Kultur in ihrer Tiefendimension kennenlernen. Dabei entdeckte er, dass die Praxis des Zen für ihn auf seiner Suche nach Gott hilfreich war. „Gott“ sollte keine Vokabel bleiben, sondern zur Erfahrung werden.
Der große chinesische Zen-Meister Joshu verglich sich einmal mit einer Brücke: Sie ist für alle da, für Weise und Narren, für Gute und Schlechte, für Tiere und Menschen – alle können auf ihr hinübergehen.6
P. Lassalle war so eine Brücke, eine Brücke der Hoffnung.
Die Religionskriege zwischen den christlichen Konfessionen, die Europa vom 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts überzogen, haben mehrere Millionen Menschen das Leben gekostet. Und bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts bestimmte die Zugehörigkeit zur katholischen oder protestantischen Konfession Lebensverhältnisse und soziale Möglichkeiten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass für Hugo Lassalle der Dialog und die Versöhnung der Religionen so wichtig war: In der Geschichte seiner Familie spielen die Religionskriege eine entscheidende Rolle.
Die Vorfahren Hugo Lassalles waren Hugenotten, Angehörige der protestantischen Minorität in Frankreich, die 1699 vor der Verfolgung durch den katholischen König aus Frankreich nach Deutschland fliehen konnten. Sie waren Handwerker, in der Textilbranche tätig, und sie gehörten zu den Gründern der Hugenottenstadt Karlshafen in Hessen. Einer der Nachfahren der geflüchteten Protestanten heiratete Mitte des 18. Jahrhunderts eine Katholikin und musste daher einwilligen, dass die Kinder katholisch erzogen wurden. Wie Hugo Lassalle später manchmal mit einem gewissen Schmunzeln anmerkte: Die evangelischen Lassalles wurden im protestantischen Deutschland katholisch und gehörten damit in Norddeutschland wiederum zu einer religiösen Minderheit, diesmal zu den Katholiken. Die Lassalles ließen sich in Hildesheim nieder, einer katholischen Enklave im protestantischen Königreich Hannover. Handwerker und kleine Unternehmer wie die Lassalles bestimmten den alltäglichen Gang der Dinge in dem kleinen Städtchen, in dem seit dem Mittelalter kein allzu großer Strukturwandel stattgefunden hatte. Die wenigen alten Fachwerkbauten, die das Bombardement des Zweiten Weltkriegs überlebt haben, können noch heute einen Eindruck von diesem anderen Lebensgefühl vermitteln.
Anfang des 19. Jahrhunderts begann in Preußen, genauer in Schlesien, im Ruhrgebiet und in der Hauptstadt Berlin die Industrialisierung. Der graue Kohlerauch, der sich überall in den neuen Industriegebieten niederschlug, ist das Signet dieser Epoche. Die Dampfmaschine trieb das neue Fortbewegungsmittel Lokomotive an – und vor allem die Maschinen, die erstmalig Massenfertigung erlaubten.
1835, als die erste Eisenbahnlinie in Deutschland in Betrieb ging, war Franz Bernhard Lassalle, in der fünften Generation der Hugenottenfamilie, sechzehn Jahre alt. Mit ihm beginnt der Aufstieg der Familie Lassalle. Den jungen Schneider hielt es nicht in dem ruhigen Städtchen Hildesheim. Nach einigen Wanderjahren, die ihn unter anderem nach Paris brachten, wo er an der Oper als Beifallklatscher sein Geld verdient haben soll, ließ sich Franz Bernhard Lassalle 1850 in Berlin nieder. Gemessen an dem Umstand, dass es damals in ganz Europa nur 47 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern gab, war Berlin mit fast einer halben Million Einwohner eine Metropole. Die Peripherie Berlins war noch bäuerlich geprägt, aber schon entstand ein Industriegürtel rund um die Stadt. Franz Bernhard machte zusammen mit einem Kompagnon im Zentrum sein Geschäft auf, in der Behrenstraße, in der Nähe der heutigen U-Bahn-Haltestelle Französische Straße. In der Auslage der Schneiderei für Herrengarderobe lag ein Ballen von bestem Tuch, und wenn eine Bestellung kam, wurde der dafür nötige Stoff zunächst auf Pump gekauft. Berlin war damals Hauptstadt der aufsteigenden Industrie- und Militärnation Preußen. Das Militär beherrschte Straßenbild und Gesellschaft, und so konnte ein geschickter und flotter Schneider sein Geld mit Uniformen machen. 1870 durfte das Geschäft „Lassalle & Zürcher“ den Titel „Hoflieferant Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich Carl von Preußen“ führen. Hochadel und preußisches Offizierscorps ließen sich hier die Uniformen anmessen. Bis zu achtzig Stickerinnen waren in dem mittlerweile zum großen Betrieb gewordenen Geschäft damit beschäftigt, Rangabzeichen und Epauletten anzufertigen und an das preußisch-blaue Tuch zu heften. Aus dem armen Schneider war ein Aufsteiger des Gründerzeit-Berlins geworden, ein Angehöriger der obersten Klasse, dessen Stimme bei Reichstagswahlen so viel zählte wie die von hundert armen Arbeitern.
Doch Franz Bernhard Lassalle zog es nach Hildesheim zurück. Auf dem Moritzberg, heute ein Teil von Hildesheim, kaufte er ein riesiges Grundstück. Zu dem ansehnlichen Herrenhaus, das er baute, gehörten auch ein Küchen- und Obstgarten sowie Pferde-, Kuh-, Schaf- und Schweineställe. Die Lassalles waren Grundbesitzer geworden und damit Selbstversorger – ein Status, der Reichtum und Ansehen bedeutete.
Als Franz Bernhard starb, hinterließ er seinen neun Kindern mehr als eine halbe Million Goldmark. (Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Arbeiters lag damals zwischen 700 und 1200 Mark.) Georg Lassalle, der jüngste in der Familie, pachtete nach Abitur und dem standesgemäß obligaten Einjährig-Freiwilligen-Jahr im Jahr 1896 ein Rittergut im westfälischen Externbrock, mit der Absicht, von Landwirtschaft zu leben. Im selben Jahr heiratete er Elisabeth Feltmann; im Jahr darauf kam der erste Sohn, Bernhard, zur Welt, und wiederum ein Jahr später, 1898, wurde Hugo Lassalle geboren.
Doch die Epoche der Landwirtschaft endete langsam. Der internationale Handel nahm zu, und um billige Getreide-Importe aus den USA und Osteuropa zu verhindern, wurde der deutsche Binnenmarkt durch Zölle geschützt. Die Aufhebung der Schutzzölle im Jahr 1895 führte zu einer Krise der Landwirtschaft, und Georg Lassalle, der die Entwicklung offenbar falsch eingeschätzt hatte, musste das Rittergut aufgeben. Die Familie übersiedelte nach Göttingen, wo Georg Lassalle von 1900 bis 1903 Jura studierte. Danach kehrte die Familie zurück nach Hildesheim. Die Familie bezog ein eben erst erbautes Haus im besten Viertel der Stadt, in dem Bernhard und Hugo heranwuchsen; später auch Hans, der 1900 geborene geistig behinderte Bruder, und die beiden Schwestern Maria (1901) und Elisabeth (1908).
Ein Kinderfoto zeigt Hugo Lassalle im damals für kleine Buben modischen Matrosenanzug – ein Hinweis auf den militaristischen Geist der Epoche, denn die deutsche Marine war der Stolz des Kaiserreichs. Abgesehen von der geistigen Behinderung des Bruders, die in dem zwei Jahre älteren Hugo wohl tiefe Spuren hinterlassen hat, auch wenn er nicht darüber sprach, scheint es eine behütete und relativ sorgenfreie Kindheit gewesen zu sein. Die Eltern scheinen so streng gewesen zu sein, wie es eben damals üblich war, das heißt, ab und zu gab es auch Schläge. Doch andererseits hatten die Kinder viel Freiheit, „mehr als die Kinder heute“, wie Hugo Lassalle gelegentlich bei Vorträgen bemerkte. Die Schule scheint Hugo kein besonderes Problem bereitet zu haben. In der Musikschule eines Onkels mütterlicherseits lernte er Cello, ein Instrument, das er liebte und in den ersten Jahren in Japan auch noch gelegentlich spielte, bis sein Cello dann in der Gluthölle der Atombombe von Hiroshima verbrannte.
Hugo Lassalle war zwar offenkundig ein gut sozialisiertes Kind, Verhalten wie schulische Leistungen entsprachen den Erwartungen, doch er fand keine Befriedigung in diesen Arbeiten. Er war dreizehn Jahre alt und auf dem Gymnasium, als dieses nagende Gefühl von Unbefriedigtsein das erste Mal auftauchte,7 das ihn sein Leben lang nicht verließ, so erfolgreich er auch nach außen sein mochte.
Das Beten hat den kleinen Hugo sicher die Mutter Elisabeth gelehrt. Sie kam aus einer betont katholischen Familie. Ihr Großonkel Hugo Feltmann war Generalvikar in Hildesheim gewesen und hatte während der Bismarck-Ära in den Auseinandersetzungen zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat als Vermittler agiert. Auch der Bruder, Hugo Feltmann, war Priester, Domvikar von Hildesheim und ab 1906 bei der damals neuen kirchlichen Institution Caritas in leitender Funktion. Der Taufpate Hugo Lassalles war ein geselliger Mann, Zigarrenraucher, wie man einem Familienfoto von 1951 entnehmen kann. Und wahrscheinlich war er es, der den zehn- oder zwölfjährigen Hugo in den Zirkus Sarassani mitnahm. Hier sah Hugo Lassalle das erste Mal leibhaftige Japaner. „Die sprangen im Hechtsprung durch ein langes Rohr, das aus Draht verfertigt war. Ich sehe es heute noch vor mir, wie so ein Japaner dastand – und ‚pfft‘, da war er schon durch das Rohr durch. Danach wurde der Sprung durch das Rohr dadurch erschwert, dass ein Mann mit einem Degen oder einem Messer durch den Draht hindurch stach.“8 Die Szene stand noch dem 90-Jährigen lebhaft vor Augen. Für eine katholische Familie in Norddeutschland waren die Lassalles sehr untypisch: Sie waren reich und sie waren gebildet – im Gegensatz zum Durchschnitt der deutschen Katholiken, die zur Unterschicht gehörten, was Einkommen und Bildung betraf. Und Georg Lassalle war Mitglied der katholischen Zentrumspartei – alles Hinweise, dass die Familie Lassalle katholisch, sozial engagiert und aufgeschlossen für Fragen der Gegenwart war.
Der kleine Hugo begegnete als Ministrant das erste Mal einem Jesuiten. Die Jesuiten waren in Deutschland nach Bismarcks Kulturkampf verboten. Nur bei bestimmten Gelegenheiten, etwa den „Volksmissionen“, durften Jesuiten als Prediger auftreten. Dem kleinen Ministranten imponierte der fremde Prediger. Er sei ein Jesuit, sagte der. Das will ich auch werden, sagte der kleine Ministrant. Mach nur ja keinen solchen Blödsinn, habe der Pater gesagt, erzählte Hugo Lassalle lächelnd als alter Jesuit.9