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Heinz GreterDas verschleierte Bildnis

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Das Nildelta und Unterägypten und die wichtigsten Städte der dynastischen Zeit (ca. 3150 v. Chr. bis 30 n. Chr.). Kairo ist als Referenzstadt eingezeichnt. (Quelle: wikipedia)

Heinz Greter

Das verschleierte Bildnis

Eine philosophische Suche

Roman

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© 2016 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Elster Verlagsbuchhandlung AG

ISBN 978-3-906065-45-8

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Das verschleierte Bild zu Sais

Ballade von Friedrich Schiller (1795)

Eines unbekannten Königs Erläuterungen zum Ereignis in Saïs

Der Schleier zu Saïs

Nachwort

Das verschleierte Bild zu Sais

Ballade von Friedrich Schiller

Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst

Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester

Geheime Weisheit zu erlernen, hatte

Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt;

Stets riss ihn seine Forschbegierde weiter,

Und kaum besänftigte der Hierophant

Den ungeduldig Strebenden. «Was hab’ ich,

Wenn ich nicht Alles habe?», sprach der Jüngling;

«Gibt’s etwa hier ein Weniger und Mehr?

Ist deine Wahrheit, wie der Sinne Glück,

Nur eine Summe, die man größer, kleiner

Besitzen kann und immer doch besitzt?

Ist sie nicht eine einz’ge, ungetheilte?

Nimm einen Ton aus einer Harmonie,

Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen,

Und Alles, was dir bleibt, ist nichts, so lang

Das schöne All der Töne fehlt und Farben.»

Indem sie einst so sprachen, standen sie

In einer einsamen Rotonde still,

Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße

Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert

Blickt er den Führer an und spricht: «Was ist’s,

Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?»

«Die Wahrheit», ist die Antwort – «Wie?» ruft jener,

«Nach Wahrheit streb’ ich ja allein, und diese

Gerade ist es, die man mir verhüllt?»

«Das mache mit der Gottheit aus», versetzt

Der Hierophant. «Kein Sterblicher, sagt sie,

Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.

Und wer mit ungeweihter, schuld’ger Hand

Den heiligen, verbotnen früher hebt,

Der, spricht die Gottheit» – «Nun?» –

«Der sieht die Wahrheit.»

«Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,

Du hättest also niemals ihn gehoben?»

«Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu

Versucht.» – «Das fass’ ich nicht. Wenn von der

Wahrheit

Nur diese dünne Scheidewand mich trennte –

«Und ein Gesetz», fällt ihm sein Führer ein.

«Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,

Ist dieser dünne Flor – für deine Hand

Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.»

Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause;

Ihm raubt des Wissens brennende Begier

Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager

Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel

Führt unfreiwillig ihn der scheue Tritt.

Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,

Und mitten in das Innre der Rotonde

Trägt ein beherzter Sprung den Wagenden.

Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt

Den Einsamen die lebenlose Stille,

Die nun der Tritte hohler Wiederhall

In den geheimen Grüften unterbricht.

Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft

Der Mond den bleichen, silberblauen Schein,

Und furchtbar, wie ein gegenwärt’ger Gott,

Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse

In ihrem langen Schleier die Gestalt.

Er tritt hinan mit ungewissem Schritt;

Schon will die freche Hand das Heilige berühren,

Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein

Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.

Unglücklicher, was willst du thun? so ruft

In seinem Innern eine treue Stimme.

Versuchen den Allheiligen willst du?

Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,

Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.

Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:

Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?

«Sei hinter ihm, was will! Ich heb’ ihn auf!»

(Er ruft’s mit lauter Stimm): «Ich will sie schauen.»

Schauen!

Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.

Er spricht’s und hat den Schleier aufgedeckt.

Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?

Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,

So fanden ihn am andern Tag die Priester

Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.

Was er allda gesehen und erfahren,

Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig

War seines Lebens Heiterkeit dahin,

Ihn riss ein tiefer Gram zum frühen Grabe.

«Weh Dem», dies war sein warnungsvolles Wort,

Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,

«Weh Dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld:

Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.»

Eines unbekannten Königs

Erläuterungen zum Ereignis in Saïs

Viele Jahre später, die Geschichte des Jünglings zu Saïs war längst allgemein bekannt, tauchte in der Bibliothek zu Alexandria ein Fragment mit Erläuterungen eines unbekannten Königs auf. Von Mund zu Mund war das Ereignis in den folgenden Jahren von einem Dorf zum Nächsten, von Stadt zu Stadt weitererzählt worden. Die einen sagten, der Jüngling sei mit weißem Haar, um Jahre gealtert, hinter dem Schleier hervorgetreten.

Andere, er habe bis zu seinem frühen Tod geschwiegen und das Geheimnis seiner Schau, von Gram gebeugt, mit ins Grab genommen. Wogegen wieder andere behaupteten, er habe, wenn Frager ihn bedrängten, mit nur einem einzigen Satz all jene gewarnt, die durch Schuld zur Wahrheit kommen wollten.

Des unbekannten Königs Mutmaßungen und Erläuterungen zum unerhörten Vorfall in Saïs waren derart bruchstückhaft, dass weder eine feste Datierung noch der genaue Hergang des Geschehens auszumachen war.

Auch der Name des Herrschers blieb im Dunkeln. Rex … dixit (der König … sagte) ist der einzige Hinweis auf den königlichen Ursprung der in Dialogform gehaltenen Erläuterungen, die im Museion zu Alexandria verwahrt wurden. Hier das Fragment des unbekannten Königs:

Was bedeutet es, dass der Jüngling um Jahre gealtert war?

Der König sagte: Es bedeutet, dass nur Alte und Weise die letzten Geheimnisse erfahren können, nachdem sie zuvor lange Jahre geliebt und gelitten und die Lust und Last eines langen Lebens getragen und verstanden hatten. Hier ist nun der umgekehrte Vorgang: nicht das Alter bringt die Einsicht, sondern die Einsicht macht alt, und kommt die Einsicht vor ihrer Zeit, dann kommt auch das Alter vor seiner Zeit. Kein Jüngling kann weise sein, und wie denn könnte ein Jüngling mit der Wahrheit umgehen! Denn Alter und Einsicht und Weisheit gehören in einem geglückten Leben zusammen, nicht aber Jugend und Weisheit und Einsicht.

Doch Weisheit und Einsicht, sagt man, bringen Freude und Heiterkeit, Gelassenheit und Ruhe. Der Jüngling hingegen schien nach seiner tollkühnen Tat an einer schweren Last zu tragen, war von Gram gezeichnet und schwieg, als sei die Wahrheit niemandem zumutbar.

Sie ist offenbar für die Jugend eine Zumutung. Sie kam nicht durch ein wechselvolles Leben und vielfältige Erfahrung zur Reife, sondern muss ihn wie ein Schlag getroffen haben.

Und warum das Schweigen?

Der Köng sagte: Weil die Erfahrung der Wahrheit etwas ganz und zutiefst Persönliches ist, das schwerlich jemandem vermittelt werden kann. Sie ist jenseits des Denkens. Ein Weiser aus Asien hatte gesagt: «Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht.»

Demnach wäre sein Schweigen der Beweis dafür, dass er die Wahrheit erfahren hat.

Vielleicht, doch weil er schwieg, wissen wir es nicht. Und Schweigen allein ist noch kein Beweis. Wir können darüber nur mutmaßen. Da wir über sein Verhalten im Leben nichts wissen, bleibt diese Frage in der Schwebe. Doch scheinen sein Alter und das, was er erfahren hatte, nicht übereinzustimmen. So alterte er vor seiner Zeit.

Andere behaupten, er habe darüber geschwiegen, doch all jene gewarnt, die durch Schuld, indem sie das Gebot der Götter verletzen, zur Wahrheit kommen wollen.

Dann hätte er immerhin ein Herz gezeigt für alle jene, die vor der Versuchung stehen, durch Schuld zur Wahrheit zu kommen. Zur Sache aber sagte er nichts und schwieg.

Merkwürdig ist aber, dass der Tempelpriester den Schleier nicht längst für sich gelüftet hatte. Denn er hätte von seinem Alter her die Voraussetzung dazu gehabt.

Der König sagte: Das ist insofern nicht merkwürdig, als es zur Pflicht der Tempelpriester gehörte, das Geheimnis zu schützen. Die Ehrfurcht vor dem Mysterium hielt ihn davon ab. Er tat nur seine Pflicht, als er den jungen Mann vor den Konsequenzen eines frevlerischen Tuns warnte. Das heißt, in seinem Inneren war er nicht eigentlich frei, sondern gebunden durch den Glauben an das geheimnisvoll Verborgene. Ließe er die Götter (oder was er dafür hielt) fahren, dann hätte er die innere Freiheit zu fragen, was die letzte und einzige Wahrheit ist. Auch müsste er sich und die Angst vor Gottverlassenheit überwinden und alles, wirklich alles, auch sich selbst loslassen.

Dieser Jüngling war nicht irgendein Jüngling, ansonsten er wohl kaum den gewiss beschwerlichen Weg in die Stadt gegangen wäre, um dort für den Preis der Wahrheit seinen möglichen Tod und Gottverlassenheit zu riskieren. Es ist, als ob etwas in seinem jugendlichen Herzen sich wie frühzeitig regte und er vor der Zeit den Drang nach letzter Erkenntnis in sich trug.

Der König sagte: Das mag sein, denn er wusste um den feinen Unterschied zwischen ‹sehen› undschauen: «Ich bin nicht bloß geboren, mit meinen Augen die Welt zu sehen, ich bin auch dazu bestellt, das ewige und letzte Wahre zu schauen.» So jedenfalls wird an einigen Orten das Gespräch des Jünglings mit dem Priester überliefert. Also zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt.

Offenbar berührt das letzte Wahre den Menschen in der Form der Sehnsucht, als Ahnung vielleicht auch, und wird dann zur unruhigen und beunruhigenden Suche und lässt den Menschen die verschiedensten und oftmals sehr verschlungenen Wege beschreiten. Es ist aber auch möglich, dass der junge Mann bloß von Wissensdurst getrieben war und, den Respekt vor dem Geheimnis vergessend, mit frecher Neugier hinter den Schleier trat. Und dies, so kann man es sehen, war seine Schuld.

Doch eine Seite seines jugendlichen Herzens war stärker als alles andere: er wollte das Letzte jetzt erfahren – selbst um den Preis der Gottverlassenheit und des Todes. Ebenso nahm er die Schuld auf sich, trotz des göttlichen Verbots, dem Drang nach Erkenntnis nachzugeben.

Der König sagte: Insofern war er wahrhaftig, seinem Alter und seiner Lebenszeit gerecht. Denn Jugend ist neugierig und ungeduldig; das muss so sein. Doch hier waren der Preis der Ungeduld und Neugierde (und vielleicht auch um der Ahnung willen) das ungelebte Leben und ein vorzeitiges Altern und früher Tod. Sie waren die Strafe für sein Übertreten des göttlichen Verbotes. Sein Schweigen bleibt ein Rätsel und verbirgt uns noch immer, was die einzige Wahrheit ist.

Es ließe sich die Sache aber auch so sehen: Der Priester steht für ein altes Weltbild, das einem Gläubigen und Gottesfürchtigen keine Fragen gestattet. Er ist einer, der glaubt, aber nicht wissen und erfahren will. Der Jüngling hingegen will das Überkommene nicht einfach glauben, er will wissen. Insofern ist das Argument der «Gottverlassenheit» die bloße Drohung eines Gläubigen und für jene, die erfahren und wissen wollen, kein echter Einwand, solange man nicht wirklich um das weiß, was sich hinter dem Schleier verbirgt. Und so bleibt auch der Grund für sein vorzeitiges Altern und Schweigen ein Rätsel.

Der König sagte: So ist es. Das Bildnis zu Saïs ist auch nach des Jünglings Schau für alle andern ein Rätsel, und das Geheimnis bleibt. Man kann über das letzte Wahre nur mutmaßen – bis es sich zeigt.

*

Hier brechen des unbekannten Königs Erläuterungen ab. Es bleibt die Frage, wer denn dieser Jüngling war, welche Ungewissheiten, inneren Nöte und Erfahrungen ihn dazu führten, nach Saïs zu gehen, um dort das Verbotene zu tun und das Geheimnis zu schauen.

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Naukratis im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Rekonstruktion des französischen Architekten und Archäologen Jean-Claude Golvin.

Der Schleier zu Saïs

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Eigentlich hätte er heute nach Saïs gehen wollen. Doch als Aja aus schweren Träumen erwachte, vernahm er durch die vorgeschobenen Fensterläden den Lärm der längst erwachten Stadt. Auf sein Bett fiel durch die Ritzen im Holz der Läden ein scharf begrenzter Lichtstrahl, in dem sich Staubwölkchen wie ein kleines Sternenmeer in der Luft bewegten.

Wie oft schon hatte er sich vorgenommen, nach Saïs zu gehen und immer wieder einen Vorwand gefunden, die Reise aufzuschieben! Auch jetzt: es war zu spät. Eine ziemlich lächerliche Ausrede, das wusste er fast im selben Augenblick, als sie auftauchte. Was denn hielt ihn davon ab, diesen Gang nach Saïs zu unternehmen? Hatte er Angst vor der Wahrheit, einer Wahrheit, die er doch nicht kannte? Oder gar Furcht vor der Rache der Götter, an die er ohnehin nicht glaubte?

Seit sein Lehrer am Gymnasion in Naukratis von dem verschleierten Bildnis berichtet hatte, war die Ruhe dahin. Denn dessen Bemerkung, dass hinter einem Schleier im Tempel der Göttin Isis zu Saïs ein verborgenes Bildnis von der letzten Wahrheit berichte, war wie ein Stein in ein ruhiges und klares Wasser gefallen, der Kreise über Kreise auslöste und Unruhe brachte bis in die Tiefen des Grundes. Als hätte ein Zauberwort ihn aus dem Schlaf und kindlichen Träumen aufgeweckt. Seither teilte er sein Leben in zwei Abschnitte ein: die Zeit vor dem Wissen um das Bildnis und die Zeit danach.

Die Wirkung dieser Bemerkung, die der Lehrer so beiläufig hingeworfen hatte, war unerhört, obwohl sie in einer Weise daherkam, als sei sie nicht weiter von Belang, so wie Worte fallen über das Wetter oder die steigenden Preise. Die Tatsache, so sie denn tatsächlich eine war, dass dort die letzte Wahrheit zu finden sei, schien den Lehrer gar nicht zu berühren, hatte ihn wohl auch nie wirklich berührt, denn dann wäre er selbst ja längst hingegangen und hätte von dem berichtet, was er hinter dem Schleier gesehen hatte: die Lösung des Rätsels aller Rätsel.

Offensichtlich aber interessierte den Lehrer die Wahrheit nicht. Obwohl Aja diesen Mann verehrte, fragte er sich: Wie kann ein Mensch von diesem klaren Verstand und umfassenden Wissen nicht den Drang nach dem Wissen um die letzten Geheimnisse haben, wenn sie denn so einfach zu bekommen sind? Oder kannte er die Wahrheit und war mit diesem Wissen vielleicht verbunden, dass es nicht mitgeteilt werden durfte, sondern nur persönlich und in Saïs selbst zu holen war? Aber vielleicht wussten die meisten Erwachsenen um dieses Bildnis hinter dem Schleier, doch machten sie kein großes Wesen daraus.

Wie heiter und unbeschwert waren die Tage und Jahre zuvor gewesen, ehe der Lehrer von Saïs gesprochen hatte! Er lebte in einer geordneten Welt, in der alles seinen richtigen Platz hatte. Wohl gab es Ungewissheiten, auf die niemand eine Antwort zu haben schien. Aja erinnerte sich sogar daran, dass genau genommen die Unklarheiten stetig zunahmen und er schon in den Monaten vor der Bemerkung auf merkwürdige Weise ein anderer wurde. Die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit waren weg. Zunehmend mied er den Umgang mit seinen Kameraden, und das Spielen und Scherzen sagten ihm nicht mehr zu. Keine Streiche, keine Dummheiten, kein jugendliches Zechen und keine verträumten Stunden mit Freunden am Ufer des Flusses zu Zeiten der untergehenden Sonne, wo sie bis in die Dämmerung von großen Taten träumten oder mit dem Ball spielten.

Sein Herz wurde schwer, und er empfand eine wachsende Schwierigkeit, das alltägliche Leben zu leben und die Tage unbeschwert zuzubringen. Eine innere Unruhe überschattete sein Denken. Es war das Ende seiner Kindheit. So sah er es später, als er über sein verändertes Wesen nachzusinnen begann. Seine Heiterkeit war wie verdüstert, als verdeckten Wolkenschleier das einst sonnige Gemüt.

Ob er vielleicht doch nach Saïs gehen sollte, trotz der bereits hoch stehenden Sonne? Bliebe er in der Stadt und zeigte er sich in den Straßen und auf dem Marktplatz, hätte er die unangenehmen Fragen der Freunde zu beantworten. Denn er hatte ihnen vor Tagen gesagt, dass er am nächsten Vollmondtag nach Saïs gehen werde, um das Bildnis aufzusuchen. Er erinnerte sich genau an die Reaktion der Freunde: Sie hatten sich aus den Augenwinkeln zugelächelt wie Menschen, die mehr von einer Sache wissen.

Aja zog sich das Betttuch bis zu den Schultern, drehte sich auf die rechte Seite und starrte in den Tanz der Staubkörnchen im scharfen Strahl des Lichtes. Was war am Anfang des kosmischen Tanzes? Und wo war das Zentrum? Die meisten glaubten seit den alten Griechen, dass die Sonne und die Sterne sich um die Erde drehten. Aristarch von Samos aber hatte behauptet, es verhalte sich umgekehrt, die Sonne sei im Zentrum und die Erde eine unbedeutende Kugel, die sich mit Tausend anderen Himmelskörpern um die Sonne drehe. Wieder andere sagten, die Erde sei eine Scheibe und vom Ur-Ozean umgeben. Zudem sei es nicht einmal erwiesen, dass der Mensch das einzige mit Geist ausgestatte Wesen im Universum sei. Er hatte gelernt, wie man seit Erathostenes den Umfang der Erdkugel errechnet, gar ihren Radius zum Zentrum. Das war einleuchtend, so klar und einfach und klug.

Aber der Anfang, was war am Anfang dieser ganzen Wirklichkeit? Wer hat sie geschaffen? Und wenn es einen gäbe, der sie geschaffen hat, warum denn schuf er sie so unvollkommen, so fehlerhaft, ungerecht und gemein, mit Schmerz und Trauer behaftet? Das war es, was er nicht verstehen konnte und was sein Herz beschwerte, das Leid und die Unvollkommenheit der Welt.

Und wenn der Mensch stirbt, wo geht er hin? Einige sprechen von Himmel und Hölle, Elysion und Tartaros, von Seligkeit und Pein, die eine Ewigkeit andauerten. Andere sagten, man komme wieder, werde noch einmal geboren und habe ein weiteres Leben zu leben, das abhänge von der Qualität des Lebens, das man vor dem Tode gelebt habe. Und die neueste Behauptung von Epikur war, dass nach dem Tode gar nichts sei.

Aja erinnerte sich, wie er einmal mit einigen seiner Freunde zu einem angeblich weisen Mann gegangen war, der außerhalb der Stadt in einer unscheinbaren Hütte ein zurückgezogenes Leben führte und im Rufe stand, klug und gleichzeitig auch vollkommen zu sein. Sie fragten ihn damals, ob es ein Leben nach dem Tode gebe. Der Alte hörte zu, sagte aber kein Wort. Sie wiederholten die Frage, denn es schien, als habe er sie nicht verstanden: «Gibt es ein Leben nach dem Tode?»

Er hatte sie lange angeschaut und schließlich gesagt: «Merkwürdig, alle fragen, ob es ein Leben nach dem Tode gebe. Die Frage ist doch: Gibt es ein Leben vor dem Tode?»

Dann hatte er sich umgedreht und war in seiner Hütte verschwunden.

Auf dem Heimweg hatten sie über diese merkwürdige Antwort gesprochen. Einer meinte, das sei das Dümmste, was er je gehört habe, denn als ein lebendiger Mensch wisse er, dass es ganz eindeutig ein Leben vor dem Tode gebe. Das sei so nicht gemeint, hatte Aja geantwortet, vielmehr, was für ein Leben man vor dem Tode führe. Die Qualität sei das Problem. Einige gingen wie Blinde durch die Welt, und andere lebten derart an der Oberfläche, dass sich wirklich die Frage aufdränge, ob sie ein menschenwürdiges Dasein führten, ganz zu schweigen von den Kranken, Bedürftigen und Unglücklichen. Er war damals von der Antwort des Alten beeindruckt und kam zur Überzeugung, dass dieser zu Recht seiner Weisheit wegen gerühmt wurde.

So kamen denn seit diesem Besuch beim Weisen zu den alten Fragen weitere hinzu: Wie sollte er sein Leben leben? Nur das war entscheidend und nicht, wie lange er lebe, oder ob gar nach diesem Leben noch ein weiteres Leben sei. Und warum, fiel ihm ein, war überhaupt etwas und nicht nichts? Schließlich die letzte, entscheidende Frage: Sollte er überhaupt leben? Er spürte, dass er mit dieser Frage an einem Abgrund stand und sich in ganz dünner Luft bewegte, die ihn kaum mehr atmen ließ. Ihn schwindelte.

Da klopfte jemand an die Tür. «Aja, es ist längst Tag. Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?»