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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «Master of War: Defiant unto Death» bei Head of Zeus Ltd, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

«Master of War: Defiant unto Death» Copyright © 2015 by David Gilman

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández, Berlin

Karte Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg, nach der Originalausgabe von Head of Zeus

Umschlagabbildungen Stephen Mulcahey, Nik Keevil/Arcangel Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-29077-0 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40106-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40106-8

Für Suzy, wie immer

Die Kriegswunden bluteten noch.

Vor zehn Jahren war die größte Armee der Christenheit bei Crécy aufgerieben worden, als die Bogenschützen um Thomas Blackstone ihre tödlichen Pfeile auf Ritter und Pferde, Fußsoldaten wie Prinzen hatten regnen lassen. Von diesem schmutzigen Schlachtfeld war Blackstone emporgestiegen; er hatte Seite an Seite mit dem Sohn des englischen Königs gekämpft und ihm das Leben gerettet. Schwer verwundet aus dem blutdurchtränkten Schlamm gezogen, war er, Blackstone, von seinem König geadelt und zum Sterben gesalbt worden. Es gab keine höhere Auszeichnung, als in der Schlacht zum Ritter geschlagen zu werden, und Sir Thomas Blackstones geschundenem Körper gelang es, den dunklen Mantel des Todes abzuschütteln. Seit diesem Tag hatte König Edward seinem Anspruch auf den französischen Thron über die Jahre immer wieder Nachdruck verliehen. Er hielt Calais, das Einfallstor nach Frankreich, doch die mächtige Nation ließ sich nicht bezwingen.

Die Pest hatte beide Königreiche heimgesucht und sie durch massenhaftes Sterben um ihre Steuereinnahmen gebracht. Beide Monarchen waren nicht mehr in der Lage, den Krieg zu finanzieren, geschweige denn, die Entscheidungsschlacht herbeizuführen. Noch nicht. Doch dazu sollte es schließlich kommen – wenn die normannischen Barone, ebenso trickreiche wie streitbare Männer, die in Frankreich mehr Macht gewinnen wollten und ihrem König grollten, stark genug sein würden, um ihn herauszufordern.

Erster Teil Der blutrünstige Priester

Kapitel Eins

Es hieß, Thomas Blackstone gleiche einem Gespenst auf einem Friedhof. Seine Anwesenheit war zu spüren, doch wer sich umdrehte, um ihm entgegenzutreten, wurde im selben Moment niedergestreckt. Und niemand wusste, wo und wann der narbengesichtige Engländer das nächste Mal zuschlagen würde. Dass er unter dem Schutz normannischer Barone stand, war bekannt, aber sooft mörderische Söldner unter der stillschweigenden Billigung des französischen Königs versuchten, ihn in den Wäldern des Nordens zur Strecke zu bringen, fand man wenig später ihre Leichen aufgeknüpft am Wegesrand.

Sein schrecklicher Ruf hätte womöglich Schaden genommen, wenn ihn seine Feinde an diesem stürmischen Tag gesehen hätten. Gischt spritzte hoch, als die aufs Ufer zurasenden Wellen auf ablandige Sturmböen trafen, die das Meer aufwühlten. Von den fünfzehn Seemännern an Bord der Kogge, die in diesen kalten Hexenkessel geraten war, standen zwei am Helmstock, um den dreißig Tonnen schweren Koloss auf Kurs zu halten. Die Flut stieg, und alle hofften, dass die Sandbank vor ihnen ausreichend hoch überspült war, denn wenn ihr Schiff auf Grund liefe, würden alle, die sich an Deck befanden, in die schäumenden Wellen und das Schlickwatt dahinter geschleudert. Sir Gilbert Killbere, sein Mentor aus vergangenen Tagen, kam Blackstone in den Sinn. Den Ort der Schlacht wähle du!, lautete seine Devise. Die klobige Kogge, auf deren Deck er stand, hatte zu jener Flotte gehört, mit der Edward vor zehn Jahren nach Frankreich gesegelt war. Sie mochte zwar noch seetüchtig sein, wie ihr Kapitän behauptete, doch hatten ihr die zehn Jahre nicht wirklich gereicht, um sich von dem kräftezehrenden Einsatz zu erholen, und die Wellen schienen leichtes Spiel mit ihr zu haben.

Blackstone genoss das beißende Salz im Gesicht und füllte seine Lungen mit kalter Seeluft, während er sich am Dollbord des schwankenden Schiffes festhielt. Der Mageninhalt kam ihm hoch, und er erbrach sich über den Bug, wohl wissend, dass die Männer hinter ihm, die sich wie er an der Bordwand festklammerten, nicht verschont bleiben und mit den Resten seines Brotes vom Vorabend bedacht werden würden.

«Wie lange noch?», brüllte er in Richtung Achterdeck, wo der Kapitän, im Unterschied zu Blackstone und seinen Männern, breitbeinig stand und eine Hand ans Ohr hielt, um die Worte des Ritters aufzufangen.

«Ich sag’s dir, wenn ich’s weiß, Sir Thomas! Wenn ich’s weiß! Und keinen verdammten Moment eher!»

Blackstone versuchte, das Gleichgewicht zu halten, wickelte sich eine Schiffsleine um den Arm und hob den silbernen Anhänger, den er an einer Kette um den Hals trug – ein Abbild von Arianrhod –, an seine feuchten Lippen. Die keltische Göttin war ihm damals von einem sterbenden walisischen Bogenschützen in der Schlacht um Caen gegeben worden. Sie hatte ihn immer beschützt, doch ihm war so elend, dass er nun auf der Suche nach Erleichterung einen Schritt weiterging.

Lieber Herr Jesus, betete er in Gedanken, allzu oft habe ich dir den Rücken gekehrt und mich auf den Aberglauben der Heiden verlassen. Aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich, wenn du mich von dieser Folter erlöst, der nächsten, ärmsten Kirche, auf die ich stoße, einen Teil meiner Beute aus der bevorstehenden Schlacht überlassen werde.

Ein Mann trat neben ihn. Auch er taumelte und musste sich festhalten, verriet aber keinerlei Anzeichen von Übelkeit. Mit Hilfe des beißenden Winds wischte er sich die langen Haare aus dem Gesicht. «Versprechen an Gott werden selten gehalten, mein Herr. Besser ist es, den Magen um Trost zu bitten», sagte Guillaume Bourdin, Blackstones Knappe, der die Gedanken seines Herrn erraten zu haben schien. Dem jungen Kämpfer konnten die tosenden Wellen nichts anhaben. Blackstone hingegen spürte, wie sich ihm der Magen umkrempelte, sobald er den Blick hob. Beschämt straffte er die Schultern. Seit der Überfahrt nach Frankreich vor zehn Jahren war Blackstone nie wieder an Bord eines Schiffes gewesen. Er hatte sich geschworen, dass es das letzte Mal gewesen war, doch jetzt war es wieder wie damals: Der Horizont hob und senkte sich, und so auch sein Magen. Nichts hatte sich geändert.

«Die Männer?», erkundigte sich Blackstone und musste mit ansehen, wie das Heck von einer mächtigen Woge in die Höhe geworfen wurde und das Schiff eine dermaßen prekäre Schieflage annahm, dass es der Länge nach zu kippen drohte. Blackstone und Guillaume umklammerten die Haltegriffe. Der Kapitän brüllte ein Kommando, das niemand verstand, und das Schiff rutschte ins Wellental, wo es sich bebend wieder aufrichtete. Das einzige Segel knatterte, die nasse, harte Leinwand krachte wie eine umstürzende Eiche. Blackstone blickte über das Deck und sah, wie sich seine Männer Schulter an Schulter hinter ihren Schilden duckten und zu behaupten versuchten. Sie machten einen erbärmlichen Eindruck. «Sind sie kampfbereit?», fragte Blackstone.

«Jeder Dritte ist noch zu schwach; die Hälfte könnte die Burgmauern erreichen, der Rest wäre kräftig genug, sie auch zu erklimmen und zu kämpfen.» Guillaume kniff die Augen vor der heranfliegenden Gischt zusammen. Die Küste und ihre gefürchtete Sandbank rückten näher. Die Saint Margaret war doppelt so lang wie breit und mit all den Männern und Fässern voller Teer und Öl überladen. Sie schlingerte bedenklich hin und her.

«Du grinst wie ein Mönch mit einer Kerze im Arsch! Hüte dich, deinen Herrn zum Narren zu halten, Guillaume – er kann dir das Leben zur Hölle machen.»

«Verzeiht, aber wenn wir den Seemännern glauben können, brauchen wir uns über den Angriff auf die Burg nicht den Kopf zu zerbrechen. In der Mündung des Zuflusses herrscht eine vertrackte Querströmung, und das Schwemmland dahinter ist für Ross und Reiter unpassierbar. Die Festung einzunehmen sollte die geringste unserer Sorgen sein.»

Wieder erschütterte ein mächtiger Brecher das Schiff. Guillaume duckte sich, um den Stoß abzufangen. Er war geschmeidig und kräftig, darauf gedrillt, sich mit Schwert, Axt oder Morgenstern schnell zu bewegen. Erst neunzehn Jahre alt und mit dem jugendlichen Gefühl der Unsterblichkeit gesegnet, kämpfte er an Blackstones Seite, seit er ihm die Treue geschworen hatte.

Der Wind trug einen Warnruf heran. Der Kapitän hatte die Mannschaft aufgefordert, ihr Gewicht auf das gereffte Segel zu verlagern. «Macht Euch bereit, Sir Thomas!», brüllte er. «Verliert Ihr hier einen Mann, holt ihn der Teufel.»

Blackstone fasste die Leine eine Schlinge fester und spürte, wie sich das Schiff hob und mit markerschütternder Wucht auf einem Wellenberg aufsetzte. Guillaume verlor den Halt und prallte so heftig gegen die Bordwand, dass ihm die Beine unter dem Körper weggerissen wurden. Wild fuchtelte er mit den Händen, um sich irgendwo festzuhalten. Blackstone löste seinen Griff an der Leine, die ihm brennend über den Handteller rutschte. Er packte Guillaume beim Kragen und hielt krampfhaft an ihm fest, spürte aber, dass er den Fliehkräften an Bord nicht widerstehen konnte und der Knappe ihm entrissen zu werden drohte. Das Gesicht des jungen Mannes wirkte gefasst und zeigte wieder jene Entschlossenheit, die ihm seit Kindesbeinen eigen zu sein schien. Blackstone erinnerte sich an diese Miene, mit der er als Knabe seinen sterbenden Herrn zu schützen versucht und mit zitternder Hand einen Dolch gegen Blackstone erhoben hatte. Nun aber verrieten seine Augen einen plötzlichen Anflug von Panik. Kein Wort kam über seine Lippen, doch warf er einen letzten verzweifelten Blick auf seinen Herrn, als ihn eine mächtige grüne Woge erfasste, die, über dem Bug brechend, bis zur Mastspitze aufschäumte.

Hilflosigkeit und Reue überfielen Blackstone. Er hätte Jennah of Hythe, den Kapitän des Schiffs, auf dem Boden der Spelunke in Bordeaux liegen lassen und dem betrunkenen deutschen Söldner, der den Streit angefangen hatte, zugestehen sollen, dass er ihm die Kehle aufschlitzte. Stattdessen aber war Blackstone dazwischengegangen. Er hatte den vierschrötigen Schläger mit einem Fußtritt außer Gefecht gesetzt, während dessen Männer Jennah am Boden festhielten. Messerstechereien in Hafenkneipen endeten oft tödlich, aber einen wehrlosen Mann zu töten war schlimmer als ein Schwein zu schlachten, und Blackstone hatte dem Einhalt gebieten müssen. Es sei nicht besonders klug, sich mit Fremden anzulegen, hatte er zu dem Deutschen gesagt, als der ihn bedrohte. Doch der betrunkene Messerstecher griff an – was dumm von ihm war, denn Blackstone und Guillaume hatten ihn im Handumdrehen entwaffnet. Meulon, Blackstones Hauptmann, besorgte das Weitere und schlitzte ihm und seinen Kumpanen so tief die Kehle auf, dass sie keine Luft mehr zum Schreien hatten. Die alte Hure, der die Kneipe gehörte, beklagte sich lauthals, doch Meulon zeigte nur mit der Klinge auf sie und zog seine zotteligen Augenbrauen in die Stirn. Worte waren nicht nötig. Die Frau gab dem Kind, das ihr diente, einen Tritt, worauf es einen Eimer Wasser über die Blutlache am Boden goss und sie mit Sägemehl bestäubte, während die Männer die Toten durch Seitengassen zur Kaimauer schleiften. Das Klatschen war kaum zu hören, als sie zwanzig Fuß tiefer auf dem Wasser auftrafen. In der einrückenden Armee des Prinzen würden drei fehlende Männer nicht weiter auffallen.

Und Kapitän Jennah war dankbar. Während etliche Runden sauren Rotweins ausgeschenkt und ein Hammelbraten aufgetischt wurden, spann er Seemannsgarn über seine Fahrten entlang der wilden Küste im Westen Frankreichs und kam auf eine Festung fünfzig Meilen flussaufwärts zu sprechen, die sich in der Hand des französischen Königs befand und von großer strategischer Bedeutung war, weil sie eine wichtige Brücke sicherte. Gerüchten zufolge lagerten dort Waffen für die Unterstützer der französischen Krone. Hoch im Norden gelegen, war die Festung für den Prince of Wales kaum zu erreichen, und dessen loyalen Feldherrn aus der Gascogne, den Captal de Buch, hinderte sie daran, mit seinem Heer über Bordeaux hinaus vorzudringen. Der englische Prinz war auf Landgewinn und Kriegsbeute aus, nicht auf eine lange, kräftezehrende Belagerung in sumpfigem Gelände, weshalb er seine Kämpfer nach Süden geführt hatte. Gegen Ende des vergangenen Jahres hatte er Bordeaux erreicht, von wo aus er Ausfälle in den Süden und nach Osten unternahm. Wie ein Korken in der Flasche steckte die Festung in einem von den Gezeiten durchfluteten Meeresarm, über dem fast immer ein stinkender Nebel aus Gasen des Marschlandes schwebte. Bei Ebbe glich das Gelände ringsum einem morastigen Teufelsschlund.

Blackstone ließ seinen Blick durch den düsteren Raum schweifen. Auf dem Kaminrost knisterten glühende Scheite, von denen beißender Rauch aufstieg. Zwei oder drei schemenhafte Gestalten wankten umher. Ein kalter Windstoß sorgte kurz für Frischluft, als eine Tür geöffnet und sogleich wieder geschlossen wurde, doch der Gestank nach abgestandenem Schweiß ließ sich davon nicht vertreiben. Die Wirtin trat fluchend auf Männer ein, die wie Wülste aus Sumpfgras schlafend am Boden lagen und sich nicht rührten. Sumpfland. Ob es gelänge, mit einem Boot flussaufwärts zu fahren? Hatte er die Frage schon gestellt oder kam er erst jetzt darauf? Jemand hatte gesagt, nur Narren würden einen Überfall wagen, selbst wenn sie der Festung auf dem Wasserweg nahe kommen sollten, was aber wohl ausgeschlossen sei, weil ein flaches Boot nicht hart am Wind segeln könne.

Kannte sich Jennah of Hythe in diesen Gewässern aus? Blackstone, fast so betrunken wie der weindurchtränkte Schiffsmeister, fasste einen Plan, von dem er sich reiche Beute und eine Schlappe für die Franzosen, die Feinde seines Königs, versprach. Edward und dessen Sohn war er zur Treue verpflichtet.

Das Gesicht des Seemanns hatte die Farbe gegerbten Leders. Gefäßreiser vom Trinken und von schwerem Wetter röteten Wangen und Nase. Mit dem Unterarm wischte er sich den Mund, von dem Wein tropfte. «Ob ich mich auskenne? Ich spreche aus zwanzigjähriger Erfahrung, habe mein Schiff von Bordeaux nach Southampton gesteuert und zurück, den Frachtraum voller Gascogne-Wein für meinen König. Mit über zwanzig Männern, die wie vertäute Fässer zusammenhielten, sind wir ’46 in Frankreich eingefallen. Über zwanzig! Andere hatten nicht mehr als ein Dutzend an Bord. Weniger! Ich habe die Jungs übergesetzt, und sie hatten trockene Füße, als sie an Land gingen. Wart Ihr nicht auch mit dabei, Master Blackstone?»

Blackstone nickte. Nicht einmal in betrunkenem Zustand konnte er diese höllische Überfahrt vergessen, obwohl sie geradezu harmlos gewesen war im Vergleich zu dem, was ihn auf den Schlachtfeldern erwartet hatte.

Jennah legte eine Hand auf Blackstones Schulter, und die Augen waren ihm schon zugefallen, als er mit schwerer Zunge lallte: «Nie zuvor habe ich mit einem Ritter gezecht, Sir Thomas. Ich fühle mich geehrt, und wäre mein Schiff nicht von diesem Waffenmeister beschlagnahmt worden, zusammen mit der Fracht – meiner Fracht! Aye! Meinen Vertrag bin ich los, so ist es. Bin aus dem Dienst für meinen König entlassen worden, einfach so. Aber, was ich eigentlich sagen will … Könnte ich noch über mein Schiff verfügen, würde ich es Euch überlassen, in Euren Dienst stellen.» Jennahs Kopf fiel auf den Tisch. Sein Becher kippte um. Blackstone wankte zur Tür, stieß sie mit der Schulter auf und machte sich auf den Weg, dem gascognischen Feldherrn seinen ehrgeizigen Plan zu unterbreiten.

 

Jean de Grailly, dessen eingeschworene Truppen für die englische Krone kämpften, gehörte einem der vornehmsten Häuser im Bordelais an. König Edward konnte sich glücklich schätzen über seine Gefolgschaft. Er war einer der jüngsten und fähigsten Heerführer überhaupt, hatte für den König wichtige Siege errungen und trug immer noch den alten Feudaltitel Captal de Buch. In ganz Frankreich war er wegen seiner verwegenen Attacken, die die Gebietsansprüche des englischen Königs untermauerten, berühmt-berüchtigt. Blackstone schätzte ihn auf drei- oder vierundzwanzig, wähnte ihn also um ein paar Jahre jünger als sich selbst. Es war ungewöhnlich, dass ein so vornehmer Herr einem Geringeren Audienz gewährte, aber Blackstones Ruf und Stellung beim König wie auch gerüchteweise beim normannischen Adel durften nicht unterschätzt werden. De Grailly musterte den abgerissenen Mann, der vor ihm stand. Blackstone war mindestens einen zweiwöchigen Ritt von zu Hause entfernt. Über die Jahre hatte der narbengesichtige Ritter immer wieder Zuflucht und Schutz gefunden bei englischen Seneschallen und Vertretern des gascognischen Adels, wenn er, Vieh und Lebensmittel raubend, die wärmeren Gebiete südlich der Normandie durchstreifte, ohne sich auf Kampfhandlungen einzulassen oder dem Prinzen gefällig zu sein. Hier im Südwesten trug der Adel seine uralten Fehden unter sich aus. Manche Edelmänner waren käuflich, andere wurden niedergerungen, wenn es galt, Grenzen zu verschieben. Und so fragte sich de Grailly, warum Thomas Blackstone zu ihm gekommen war. Der Engländer hatte sich mit fünfzig Reitern, die eine Herde Vieh und Karren voller Vorräte für den Winter mit sich führten, auf den Heimweg gemacht. War er, der Engländer, ein Bündnis eingegangen mit einem der Feudalherren aus dem Süden?

Blackstone war nüchtern, doch als er seinen waghalsigen Plan erklärte, wurde ihm fast schwindlig. Ihm war, als legte sich eisiger Morgenreif um sein Herz. Was seinen Ehrgeiz in der durchzechten Nacht beflügelt hatte, kam ihm nun geradezu wahnwitzig vor. Aber der Winter war hart und noch lange nicht überstanden, und er brauchte Geld und Waffen für seine Männer. Er nahm den Becher Gewürzwein, der ihm angeboten wurde, dankend an, ließ sich seine Unsicherheit nicht anmerken und schilderte sein Vorhaben.

De Grailly hörte ihm aufmerksam zu. Wie nur wenige verstand er sich darauf, von Rangunterschieden abzusehen, wenn ein erfahrener Kämpfer einen Plan unterbreitete, der Sieg und Ruhm versprach.

«Du willst, dass ich sein Schiff freigebe?», sagte de Grailly, weniger überrascht von der Bitte als von Blackstones Ausführungen.

«Ja. Und wenn er uns hilft, bitte ich darum, dass er seine Fracht zurückerhält und, nach England zurückgekehrt, einen guten Gewinn erzielt.»

«Thomas», erwiderte de Grailly, dem nicht ganz klar war, ob er den Plan als irrsinnig abtun oder tatsächlich eine Chance darin sehen sollte, sein Territorium nach Norden hin auszuweiten. «Du weißt, wie viele Männer auf der kleinen Kogge Platz finden? Ein Dutzend, vielleicht eine Handvoll mehr. Was du vorhast, ist unmöglich.»

Vielleicht hat er recht, dachte Blackstone. Sich der wütenden See auszusetzen und sich dann mit rasch wechselnden Gezeiten flussaufwärts vor eine feindliche Festung zu wagen, von deren Wehranlagen man nichts wusste, mochte wohl heißen, den eigenen Untergang heraufzubeschwören. Schiffsmeister Jennah hatte gesagt, dass der Festung zum Meer hin eine kleine Halbinsel vorgelagert war, über die seine Männer bis vor die Burgmauern gelangen könnten, vorausgesetzt, dass sie nicht von der Flut überspült sein würde. Weiteres war nicht bekannt. Blackstone rechnete damit, das Haupttor niederbrennen und die Verteidiger der Garnison – wie viele waren es? Sechzig oder mehr? – im Innenhof überrumpeln zu können. Und es war zu hoffen, dass de Grailly rechtzeitig mit Verstärkung zur Stelle sein würde.

De Grailly sagte: «Die Franzosen kontrollieren den Fluss und die Straße. Sie werden wohl auch flussabwärts Boote in Bereitschaft halten, Boote, die wendiger sind als ein Schiff. Möglich, dass sie schon auf dich warten.»

«Meister Jennah meint, wir können uns die Flut zunutze machen. Wir treiben mit ihr landeinwärts. Boote von oben kommen nicht dagegen an.»

Es war still zwischen de Grailly und Blackstone, während beide über die Idee nachdachten. De Grailly erkannte, dass, wenn er nach Norden vorstoßen und dem französischen Unterleib eine tiefe Wunde beibringen würde, er seine Truppen ins Landesinnere und nach Süden lenken, den Feind in die Zange nehmen und Périgueux einnehmen könnte, eine große Stadt in französischer Hand. Nervös tippte er mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Zu weit, zu schnell? Zu offen an der Flanke? Forderte der englische Ritter sein Glück nicht allzu sehr heraus?

Blackstone brach das Schweigen. «Nehmt die Garnison ein, erbeutet das Waffenarsenal, und Ihr schlagt eine Wunde, die sie ausbluten lässt. Ihr kontrolliert den Fluss und die Straße nach Norden; Euer Rücken ist geschützt, und der Prinz wird Euch auf beide Wangen küssen und mit Ruhm überschütten.»

«Und du, Thomas? Was springt für dich dabei heraus?»

«Ich nehme so viele Waffen mit, wie ich tragen kann, das Silberzeug und die Münzen, die für die Söldner bestimmt sind und für die Landjunker, die auf König Johanns Seite stehen. Ihr habt den Sieg und ich die Beute. Mit Ruhm allein kann ich meine Männer nicht besolden.»

De Grailly nickte. Für den Engländer war das Risiko größer.

«Ihr müsst diese Straße sichern», erklärte Blackstone. «Seid zur Stelle, wenn ich die Tore niederbrenne und die Burg stürme. Wenn Ihr nicht kommt, sitze ich in der Falle.»

«Und wenn du es nicht schaffst, die Burg zu stürmen? Dann bin ich geliefert. Sechshundert Männer kann ich nicht einfach kehrtmachen lassen. Den Franzosen wird mein Vormarsch nicht unbemerkt bleiben; sie werden sich mir in den Weg stellen, meinen Kopf dem französischen König ausliefern und am Prinzen Rache üben.»

«Und Euer Pferd könnte stolpern und Euch zu Fall bringen; mir könnte ein Wegelagerer auflauern und ein Messer zwischen die Rippen stecken. Der Tod lauert überall auf uns. Es kommt darauf an, ihn zu überlisten und auf Abstand zu halten», antwortete Blackstone.

 

Von der Welle erfasst, stürzte Guillaume der Länge nach über das Deck. Geriete das Schiff jetzt wieder in eine Rollbewegung, wäre er verloren. Blackstone konnte nichts tun. Seine Hand, aufgescheuert an der rauen Leine, blutete, und als er, wie ein Flaschenzug im Sturm hin und her schaukelnd, einen letzten verzweifelten Versuch unternahm, seinen Knappen zu packen, sah er, wie sich ein Schatten aus dem Haufen der beieinander kauernden Männer löste. Eine stämmige Gestalt, die Augen kaum sichtbar und der schwarze Bart salzverkrustet, warf sich auf Guillaume und entriss ihn dem tosenden Wasser. Es war Meulon, der den kleineren Mann wie einen Schild an sich riss und dann seinerseits von Gaillard gehalten wurde. Zusammen hatten die beiden genug Kraft, um ein halbes Dutzend Männer im Handumdrehen zu bezwingen. Der Wut des Meeresgottes verwehrten sie dieses Opfer – und wie ein Tier, das sich in seinen Bau zurückzieht, verschwand Guillaume hinter der menschlichen Schildwand.

Blackstone rutschte aus und prallte, an der Leine festgeklammert, ungebremst vor die Bordwand. Der Schmerz, den er spürte, machte ihn wütend und verdoppelte seine Kräfte. Und dann ging ein Beben durch das Schiff, und man hörte das unheimliche Geräusch, mit dem Holz über Sand kratzt. Die geklinkerte Kogge war so dickbauchig wie eine fette Sau. Zwar geriet sie wegen der gebogenen Rippen leicht ins Schlingern, doch dank des flachen Bodens konnte sie seichte Gewässer befahren, und von der nächsten Flutwelle wurde sie über das Kieselbett der Flussmündung getragen. Mit einem Mal fand sich das Schiff in sehr viel ruhigerem Wasser wieder, das sich zu beiden Seiten an die zweihundert Schritt weit ausdehnte und mit Wattinseln und faulenden Baumstümpfen durchsetzt war, in denen sich heulend der Wind verfing.

Blackstone wandte sich den Männern zu. «Auf die Füße! Hoch! Sofort!»

Zögernd erhoben sich die Männer, hakten einander unter, um Halt zu finden, in der einen Hand die Waffen, die andere festgekrallt im Wams eines Kameraden. An diesem Tag hatten sich alle so oft erbrochen, dass die Mägen leer waren. Sie litten Hunger und kränkelten, wie Blackstone ihren abgezehrten Gesichtern ansah. Das Schiff lag jetzt ruhig auf dem Wasser. Meister Jennah erteilte den Befehl, das Segel zu lichten und zu sichern.

«Wir haben Gegenwind, der hilft uns nicht weiter, aber die Flut schiebt uns flussaufwärts», rief er Blackstone entgegen. «An die Schöpfkannen!»

An Deck stand das Wasser knietief. Blackstone nahm sich ein Beispiel an dem Seemann. Er schnappte sich einen Eimer, füllte ihn mit Wasser und reichte ihn an den nächsten Mann weiter. Die anderen mussten nicht erst aufgefordert werden und legten sich sofort ins Zeug. Schwer wie das Schiff war, drohte es jeden Moment aufzusetzen. Jennah blickte auf, sah, wie der Wind Gischt und Schaum herbeischleuderte, und brüllte den Rudergängern zu, Kurs zu halten. In seichten Flussgewässern war ein solches Kommando eigentlich überflüssig, aber Männer, die ein Schiff steuerten, waren in der Regel zum Dienst auf Handelskoggen wie der Saint Margaret gepresst worden und hatten schon etliche Flüsse befahren.

Jennah hatte Blackstone den Verlauf des Flusses beschrieben und von den zahllosen Schlammbänken berichtet wie auch von dem Ödland, das sich bis zu den Wäldern am Horizont erstreckte. Erreichten sie die Flussmündung, wenn die Sonne noch über ihren Köpfen stand, hatte Jennah mit verbissener Miene voll böser Vorahnungen gesagt, müssten sie, spätestens, wenn sie in der Ferne eine Kirchenglocke hörten, die letzte Flussbiegung passiert haben. Blackstone blickte zum Ufer und schätzte, dass sich das Schiff so schnell bewegte wie ein trabendes Pferd. Wenn Meister Jennah recht hatte, würden sie, vor der Burg angekommen, nur noch wenig Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit haben. So hatte er es sich gewünscht: ein paar kurze Stunden, um sich den Mauern zu nähern, dann kämpfen und schließlich den Stützpunkt sichern. Sie würden angreifen und bis zum Morgen durchhalten. Während der Nachtstunden war mit de Graillys Truppen nicht zu rechnen. Allenfalls und mit Glück würde der gascognische Feldherr in der Nähe warten, versteckt in den Wäldern, und, sobald es hell wurde, die Straße sichern. Nun, ein Soldat musste sich auf sein Glück verlassen, auf eine beschwichtigende Hand der Engel hoffen, die es ihm erlaubte weiterzuleben. Blackstone musterte seine Leute; zitternd und ausgehungert, machten sie einen erbärmlichen Eindruck, und er spürte, dass er auch den Segen der Erdgeister nötig hatte.

Blackstone schüttete einen Eimer voll Wasser über der Reling aus. Ein Teil davon flog als Regenschauer zurück und prasselte ihm ins Gesicht. Der Wind hatte sich gedreht.

Er blickte zu Jennah hinüber, der mit seinen Rudergängern zusammenstand und ihm wissend zunickte. Der Wind kam jetzt von achtern und trieb sie mit der Flut schneller dem Feind entgegen. Sie würden die Burg früher erreichen als erwünscht.

 

Auf die Schiffsrationen gesalzenen Fischs hatte niemand Appetit, umso mehr Branntwein gab es für die Männer zum Dank dafür, dass sie das Wasser an Deck und in der Bilge abgeschöpft hatten. Er war gut gegen die Übelkeit und sorgte für zusätzliche Kraft in den Gliedern. Außerdem vermochte er die unguten Gefühle zu beruhigen, die, wie Blackstone wusste, jedem seiner Männer zusetzten. Sie waren nur zwanzig – Blackstone und Guillaume nicht mitgezählt –, und es war nicht damit zu rechnen, dass sich die Schiffsmannschaft an ihrem Angriff beteiligen würde, dem Angriff auf eine Garnison, deren Besatzung wahrscheinlich doppelt so stark war. Blackstone hoffte, dass die mäandernde Annäherung seiner Kämpfer unbemerkt blieb. Der französische Edelmann, der der Garnison vorstand, würde allenfalls mit einem offenen Angriff rechnen. Männer von Ehre kamen nicht heimlich von hinten geschlichen wie Mörder in der Nacht.

Ehre, dachte Blackstone, bedeutete für jeden etwas anderes.

Von einer Kirchenglocke war nichts zu hören, als die Saint Margaret die letzte Flussbiegung passierte und hinter der vorgeschobenen Landzunge zum Vorschein kam. Die Männer duckten sich hinter die Bordwand, während Blackstone und Jennah die vor ihnen auftauchende Festung betrachteten. Es handelte sich um eine einfache Verteidigungsanlage, die sich vornehmlich auf ihre geschützte Lage verließ. Über dem Fluss erhob sich ein hölzerner Wall. Der weiche Uferboden würde, wie Blackstone vermutete, eine Steinmauer nicht tragen können. Auf der gegenüberliegenden Seite hingegen, wo der Untergrund fester zu sein schien, zeigte sich eine gemauerte Brustwehr. Wohl hatte man Entwässerungskanäle gegraben, doch die waren vernachlässigt worden und taugten nichts mehr. Warum Mühe auf eine Befestigungsanlage verschwenden, wenn das Watt und die Gezeiten genügend Schutz boten? Für den Holzwall hatte man wahrscheinlich Kastanien- oder Eichenstämme verwendet, die zwar hart wie Eisen waren, aber im Schlick steckten und entsprechend wenig standfest sein konnten. Die Burg selbst thronte etwa fünfzehn Fuß über dem Fluss. Blackstone sah, dass, was einst eine weitere Wasserfläche gewesen sein mochte, sich nunmehr in mehrere kleine Kanäle aufteilte, die als dünne Rinnsale im jenseits des Flusses gelegenen Weideland ausliefen. Kein Wunder, dass die Festung allein dem Schutz der Straße gewidmet war. Ein Angriff über sumpfiges Gelände hatte kaum Aussicht auf Erfolg.

«Wir sollten ein wenig Abstand halten, Meister Jennah», sagte Blackstone. Hohe Gräser und Rohrgewächs erstickten kümmerndes Gebüsch und verkrüppelte, von schlammigem Brackwasser umspülte Bäume, die immerhin so hoch waren, dass sich das kleine Schiff dahinter verstecken konnte. Binsen bogen sich im Wind und schüttelten ihre Spelzen ab.

«Wir könnten dadrüben trockenfallen, Sir Thomas», schlug der Schiffsmeister vor. «Und aufs nächste Hochwasser warten. Ihr müsstet Euch dann mit Euren Männer durchs Schilf schlagen, was nicht einfach sein wird, zumal das Zeug da mitzuschleppen ist.» Er nickte in Richtung der angebundenen Bottiche, halbierte Weinfässer, von denen jedes an die hundert Pfund wog. Meister Jennah verzog das Gesicht – wahrscheinlich mehr, schätzte er. Blackstone hatte die mit Teer gefüllten Halbtonnen mit an Bord genommen, um damit das Haupttor niederzubrennen, was aber, wie er jetzt sah, unmöglich sein würde, da das Tor vom Fluss aus nicht zu erreichen war. Es kam nur ein Zugriffsweg in Frage, der über den Holzwall. Mit Fässern durchs Watt zu waten, geschützt nur von Röhricht, war ein Unterfangen, um das er seine seekranken Männer nicht beneidete. Die Binsen mochten ihnen ein wenig Tarnung verschaffen. Vor dem Wall erstreckte sich ein schmaler Seitenarm des Flusses voll von stinkendem schwarzem Schlick und faulender Vegetation, was ihn als Verteidigungsgraben noch geeigneter machte. Wenn die Burg nur von dieser Seite aus anzugreifen war und Feuer an den Holzwall gelegt werden musste, würde wohl, wie Jennah meinte, der Wall so lange brennen, dass der Garnison genügend Zeit bliebe, Verstärkung anzufordern. Zehn Jahre zuvor hatte er unweit der großen Stadt Caen vor Anker gelegen und ihre Zerstörung mit angesehen. Damals waren Bogenschützen des Königs auf Lastkähnen angeschippert worden, deren Schlagkraft den heranmarschierenden Soldaten Zeit erkauft hatte. Dieser Ort hier aber war nicht Caen, zumal der Haufen, der ihn bedrohte, nur aus zwanzig Männern bestand.

«Kannst du dein Schiff in diesen Graben bringen?», fragte Blackstone und zeigte auf den Wasserlauf unterhalb des Holzwalls.

«Nein! Ich mache aus meinem Schiff keine Feuerbarke.»

Blackstone hatte sich von der wilden Passage immer noch nicht erholt und stand auf wackligen Beinen. Der stämmige Seemann war stark genug, um ihn zu Boden zu stoßen. «Halt sie gerade!», brüllte Jennah seinem Steuermann zu, «den Bug dorthin gerichtet», fügte er an und zeigte mit der flachen Hand auf das Flussufer. Die Strömung war immer noch günstig. «Ein Schiffsmeister ist seiner Fracht und dem Leben seiner Männer verpflichtet», sagte er, den Blick zurück auf Blackstone gerichtet. «Und ein Schiff ist erst dann verloren, wenn sein Kapitän und die Besatzung tot sind. Das ist Gesetz, Sir Thomas. Weder mein Schiff noch meine Männer werde ich Euch opfern. Ich schulde Euch mein Leben, mehr nicht.»

«Du gewinnst den Segen des Prinzen», entgegnete Blackstone in der Hoffnung, an Jennahs Treue zu appellieren.

«Ay! Der Prinz! Gott segne ihn! Er würde einem Mann das Hemd wegnehmen, auch auf die Gefahr hin, dass der arme Kerl erfriert. Der Prinz hat keine Verwendung mehr für mein Schiff, wenn es in Flammen aufgegangen ist.» Jennah spuckte aus und fuhr sich so heftig mit der Hand über den kurzgeschorenen Kopf, dass Schuppen im Wind wirbelten. Seine von Salz und Wetter aufgesprungenen Hände waren ungezählte Male wieder verheilt und stark genug, um ein Messer und ein knotiges Tau zu nehmen und sich einem Mann zu widersetzen, der sein Schiff niederzubrennen beabsichtigte.

Blackstone zweifelte keinen Augenblick an seiner Entschlossenheit. Jennah stand drei Schritte entfernt, aber schon zückten Meulon und die anderen Männer ihre Schwerter. Blackstone hob beschwichtigend die Hand, um es nicht zum Äußersten kommen zu lassen, denn es wäre ein Schlachten, da die Seeleute nicht wirklich Widerstand leisten konnten.

«Ihr werdet mein Schiff nicht bekommen, bei den Tränen Christi, nein!», wiederholte Jennah. «Ein Ritter kämpft für sein Banner; sein Schwert lässt er nur fallen, wenn er tot ist. So auch der Seemann. Wir haben einen Schwur geleistet. Die Saint Margaret gehört mir. Sie ist mein Ein und Alles.»

Es wäre Blackstone ein Leichtes gewesen, den wütenden Mann zu entwaffnen, aber ihn zu töten hätte niemandem zum Vorteil gereicht. Blackstone wusste mit dem Schiff nicht umzugehen, und den Kapitän zu erpressen mit der Drohung, einen seiner Männer zu töten, kam nicht in Betracht – oder allenfalls als Spiegelfechterei. Außerdem hatte Jennah seinen Teil der Abmachung geleistet und die Kämpfer ans Ufer gebracht.

Blackstone fragte: «Wann läuft das Wasser ab?»

«In spätestens drei Stunden», antwortete Jennah, immer noch mit dem Messer in der Hand.

Blackstone nickte und wandte sich an seine Männer. «Meulon. Schick Gaillard mit einem Fass vor den Wall.» Und den Blick wieder auf Jennah gerichtet: «Lass gut sein, Meister Jennah. Von mir hast du nichts zu befürchten. Dein Schiff gehört dir. Zu verteidigen, was man liebt, ist Ehrensache.»

Jennah zögerte, doch als Blackstone sich von ihm entfernte, steckte er das Messer zurück in die Scheide. Er sah, wie einer der Soldaten, ein Mann so groß und kräftig wie Blackstone, aber mit noch breiteren Schultern, mit einem Teerfass die Bordwand herunterkletterte und sich auf den Weg über das Watt machte, worin er bis zu den Knien versank. Mit dem Fass auf der Schulter fiel es ihm sichtlich schwer, das Gleichgewicht zu halten, und tatsächlich stürzte er nach nur zehn Schritten. Er rappelte sich wieder auf und schulterte das Fass, war aber kaum vier Schritte weitergekommen, als er abermals zu Boden ging.

Meulon reagierte auf ein Zeichen Blackstones und pfiff Gaillard zurück. Alle wussten, dass, wenn der starke Gaillard es nicht schaffte, keiner von ihnen den Wall erreichen würde, der an die dreihundert Pfeillängen weit entfernt und zudem von einem Wasserlauf geschützt war.

Blackstone wägte seine Chancen ab. Ein vorschneller Angriff, und die Garnison würde Verstärkung kommen lassen, die de Graillys Truppen, so stark sie auch sein mochten, auf der schmalen Straße würde überrumpeln können; die Engländer wären geschlagen, was verheerende Auswirkungen auf die Kriegsführung des Prinzen haben würde, der den Feind zu zermürben versuchte. Ein verspäteter Angriff barg die Gefahr, dass Blackstone und seine Männer auf der Burg wie Ratten in die Enge getrieben werden mochten. Nach dem wochenlangen Raubzug, der gerade erfolgreich abgeschlossen worden war, sehnten sich seine Männer zu ihren Frauen und einem behaglichen Zuhause zurück. Stattdessen riskierten sie jetzt, dass man ihnen die Köpfe abschlug und aufspießte. Er verfluchte seinen Ehrgeiz.

Er hätte jetzt auf halbem Weg nach Hause sein können. Christiana hatte er versprochen, sich ganz ihr zu widmen und mit dem Sohn Geburtstag zu feiern, sobald er die Ortschaften, die seiner Gewalt unterstanden, mit Vorräten versorgt und seine Männer bezahlt haben würde. Während der Wintermonate hatte er nur wenige Raubzüge unternommen und Zeit gehabt, das Fundament für eine neue Mauer zu legen. Er hatte Steine herbeikarren lassen und zwei kalte Monate in der Scheune verbracht, um sie zurechtzuhauen. Als Christiana und er nach ihrer Trauung das alte normannische Anwesen übernommen hatten, waren ihm dort Spuren einer antiken Siedlung aufgefallen. Die Römer hatten gepflasterte Straßen angelegt und die Ställe für ihr Vieh mit Schutzwällen umgeben. Doch wie so viele alte französische Ortschaften war auch diese verfallen und von Dickicht zugedeckt. Römische Legionäre hatten dort kampiert, bis sie zu weiteren Eroberungszügen einberufen worden waren. Blackstone fühlte sich wohl an diesem Ort; er war ihm inzwischen eine Heimat, in der er mit Christiana und seinen Kindern verhältnismäßig friedlich leben konnte. Und sehnlichst wünschten sie sich noch ein Kind. Auch das hatte er ihr versprochen. Sechs Monate vor seinem jüngsten Raubzug hatte Christiana eine Totgeburt erleiden müssen. Das Kind war von den Frauen, die sie betreuten, in Tücher gewickelt und vor ihr verborgen worden, doch Blackstone hatte das blutdurchtränkte Leinen aufgeschlagen und das winzige Kind betrachtet, das eingerollt und wie schlafend dalag und sein zweiter Sohn hätte sein sollen.

Joanna de Ruymont, eine Vertraute, die anders als ihr Gatte keinen Gefallen an dem Engländer finden konnte, hatte Christiana getröstet. Sie stammte aus hohem Haus, war entsprechend streng gesittet und empfand eine tiefsitzende Abneigung gegenüber Thomas Blackstone, der mit seinen Bogenschützen etliche Mitglieder ihrer Familie bei Crécy getötet hatte. Ihr Mann Guy, ein enger Freund von Blackstones Mentor, dem Normannen Jean d’Harcourt, bemühte sich als Friedensstifter zwischen ihnen, doch es war Joanna, die Christiana besuchte, wenn die Männer unterwegs waren. Vor allem sie war es, die Christiana über die qualvolle Zeit nach der Totgeburt hinweggeholfen hatte.

Nun aber wollte auch Blackstone nicht länger auf sich warten lassen, seine Frau trösten und den Wall errichten.

«Sir Thomas?», riss Meulon seinen Herrn aus seinen Gedanken. «Was befehlt Ihr uns?»

Blackstone warf einen Blick auf die Männer, die auf sein Kommando warteten.

«Kann einer deiner Männer schwimmen, Meister Jennah?»

«Schwimmen? Nein. Wozu? Ich bin der Einzige hier an Bord, der es schaffen könnte, das Ufer zu erreichen, wenn das Schiff sinkt.»

«Bindet je ein Fass Teer und ein Fass Öl zusammen und bringt sie unter die Brücke und auf die Salzweide hinaus. Und dann lasst sie brennen. Die Flammen sollen hoch auflodern und die Kämpfer der Garnison nach draußen locken.»

«Dazu bin ich zu alt», erwiderte Jennah. «Das Wasser ist kalt, und wer weiß, in was man da hineintritt. Und wie sollte man den Zunder trocken halten?»

Blackstone musterte seine Mannschaft. Guillaume trat vor. «Ich gehe, mein Herr. Es wird allerdings eine Weile dauern, die Fässer durchs Wasser zu ziehen und in Position zu bringen.»

Dass sich sein Knappe auf den Weg machen wollte, passte Blackstone nicht. Derjenige, der die Fässer in Brand steckte, würde von den Bogenschützen auf der Brustwehr leicht auszumachen sein. Verräterisch wären auch die beim Gang durchs Röhricht aufgescheuchten Wachteln.

«Meulon, du führst den Angriff an. Ich werde mit Master Guillaume ins Wasser gehen.» Ihm blieb keine andere Wahl. Blackstone hatte, kaum dass er gehen konnte, schwimmen gelernt und in dem Fluss geplanscht, an dem er geboren war.

«Mein Herr», beeilte sich Meulon zu sagen, «den Wall können wir erklimmen, aber wir brauchen Eure Führung. Ohne Euch würden wir in der Festung herumzappeln wie Ertrinkende im Wasser.» Von den anderen Männern waren Laute der Zustimmung zu hören. Ein drahtiger Mann, muskulös, obwohl von leichtem Körperbau, trat vor. Es war Perinne, der wie manch anderer in der Gruppe schon seit zehn Jahren an Blackstones Seite kämpfte. Ein Steinmetz wie sein Herr.

«Ich hab’s einmal durch einen Tümpel geschafft, Sir Thomas. Gebt mir eine Holzbohle, an der ich mich festhalten kann, und ich mach’s auf die andere Seite, wenn die Strömung nachhilft. Ich will nicht, dass Meulon allen Ruhm für sich einheimst. Außerdem fühle ich mich im Wasser sicherer als in Gaillards Nähe; der würde mir wahrscheinlich seinen Speer in den Arsch rammen, sobald sich ein Schatten bewegt.»

Die Männer lachten und zollten ihm Beifall. Die Spannung löste sich merklich.

«Sei’s drum», sagte Guillaume. «Aber achte auf die Windrichtung, wenn du die Fässer in Brand steckst, sonst hast du noch weniger Haare als jetzt.»

Unter Perinnes kurzgeschorenen, schütteren Haaren zeichneten sich etliche Narben ab. «Ich sehe vielleicht nicht aus wie ein Mägdlein, Master Guillaume, wage aber zu behaupten, dass sich mein alter Kopf in sehr viel mehr Frauenbrüste geschmiegt hat als deiner.»

Guillaume Bourdin trug seine Haare schulterlang und wurde wegen seiner zarten Gesichtszüge nicht selten für eine junge Frau gehalten – eine Verwechslung, die schnell korrigiert wurde, wenn man ihn kämpfen sah. Auch konnte man den Stolz des Knappen leicht verletzen, wenn man eine Erklärung dafür suchte, warum er die Gesellschaft von Huren zu meiden schien. Doch in einem Haufen wie Blackstones zu kämpfen hatte unweigerlich zur Folge, dass man an seinen Verletzungen zu wachsen lernte. Und inzwischen hatte Guillaume wohl ebenso viele Narben wie Perinne auf seinem blanken Schädel.

Meister Jennah sagte: «Lieber Himmel, Sir Thomas. Ein Scheißhaufen schwimmt doch besser als diese beiden. Wollt Ihr sie wirklich ins Wasser steigen lassen?»

«Wenn unser Aussehen oder der Auftrieb von Scheißhaufen über Sieg und Niederlage entscheiden würden, wären wir alle Könige von Frankreich. Ich werde mit ihnen schwimmen, die Fässer platzieren und zurückkehren. Sorg dafür, Meister Jennah, dass das Schiff nicht trockenfällt, und bete, dass sie keine Kundschafter aufs Wasser schicken, denn dann wären dein Schiff und die Mannschaft verloren – und du mit ihnen. Ich würde dir dann nicht helfen können, denn ich liege vor dem Wall auf der Lauer.»

Jennah wischte sich mit einer Hand übers Gesicht. Das Risiko, entdeckt und angegriffen zu werden, schien sehr viel realer geworden zu sein.

«Sir Thomas, lange können wir hier nicht ankern. Früher oder später wird man unseren Mast erspähen. Ihr braucht eine günstige Strömung, um die Fässer anzulanden, mein Schiff braucht Ihr nicht mehr. Lasst mich fahren, sobald der Wind dreht.»

«Du lässt uns im Stich?», herrschte ihn Meulon an und kam, von den anderen Männern gefolgt, bedrohlich nahe. Ihre Stimmung war offenbar umgeschlagen.

Der Schiffsmeister wich zurück. Diese rauen Burschen waren so gefährlich wie der Feind. Er bekreuzigte sich und rief Jesus, den Sohn Gottes, an. Blackstone trat zwischen ihn und seine Männer.

«Meister Jennah hat getan, worum ich ihn gebeten habe. Er hat recht: Wir brauchen sein Schiff nicht länger. Entweder wir nehmen die Festung ein und werden dann vom Captal de Buch und seinen Streitkräften abgelöst, oder wir sterben. Ich für meinen Teil bleibe keine Stunde länger auf diesem Kahn. Lieber kämpfe ich, als auf den Knien zu liegen und meinen Arsch durch die Kehle zu würgen.»

Seine bewusst derbe Rede hatte den gewünschten Effekt. «Amen, mein Herr», sagte Perinne.

Andere stimmten zu. Meulon übernahm die Führung. «Nutzen wir das Tageslicht, um vor den Wall zu kommen. Und vorher wollen wir uns den Bauch mit Jennahs Pökelfisch vollschlagen, denn uns steht eine lange Nacht bevor.»

Kapitel Zwei

Die Ebbe setzte ein, und innerhalb weniger Stunden ging das Wasser um zwanzig Fuß zurück. Blackstone zog sich aus, stieg nackt ins kalte Nass und spürte, wie seine Muskeln krampften. Guillaume und Perinne folgten, hatten aber ihre Kleider anbehalten, weil sie die ganze Nacht im Watt würden zubringen müssen. Ihre Waffen hatten sie in geölte Tücher eingeschlagen. Im ruhigen Wasser wateten sie, bis zum Hals eingetaucht, auf die Brücke zu. Ein jeder schob zwei zusammengebundene Halbfässer vor sich her, deren Dauben bereits mit gezielten Axthieben aufgebrochen worden waren. Sackleinen stopfte die Lecks. Im Schutz der Binsen, die das Ufer überwucherten, kamen sie schnell voran, zumal das Wasser seichter wurde. Als sie die Festungsanlage passiert und weit genug hinter sich gelassen hatten, riskierten sie einen Blick auf das Torhaus und die eisenbeschlagene Pforte, vor der im Halbdunkel zwei Wachen auszumachen waren. Nicht mehr. Der französische Kommandant schien arglos zu sein.

Blackstone tauchte in eine der Wasserrinnen ein, die das Weideland durchzogen; Guillaume und Perinne, der sich ein Stück Holz vor den Bauch gebunden hatte, wählten jeweils andere Rinnen. In der Ferne läutete eine Kirchenglocke. Als sie den Abstand zur Festung um rund hundert Schritt vergrößert hatten, schoben sie die Halbfässer zwischen einige Graswülste und brachen die eingeschlagenen Dauben weiter auf. Das Feuerzeug – Feuerstein, Stahl und Zunder –, das sie unter ihren Lederkappen mit sich führten, war trocken geblieben. Das verabredete Signal zum Einsatz würde von derselben fernen Kirchenglocke kommen, wenn sie nach Anbruch der Dunkelheit zur Vesper läutete.

Blackstone watete zurück zu seinen Gefährten. Der Wind hatte sich gelegt, und die Fäulnisgase, die vom Morast aufstiegen, reizten ihre Kehlen. Von der kalten, schweren Luft am Boden gehalten, trieb Rauch von der Garnison dicht über die Wasseroberfläche. Sie zitterten, nicht nur der Kälte und Feuchtigkeit wegen, sondern auch aus Angst vor den verlorenen Geistern der Toten, die ihrem Glauben nach zwischen Himmel und Erde gefangen waren und aus der kochenden, stinkenden Unterwelt aufsteigen mochten. Blackstone packte Perinne bei den Schultern und versuchte, die eigene Furcht zu bezähmen.

«Bei Nacht kommen sie nicht nach oben, Perinne. Wenn sie in Erscheinung treten, dann nur im Dämmerlicht. Dieser Rauch will nichts besagen. Versteck dich dort im Röhricht und bleib aus dem Wasser. Du weißt, was zu tun ist.»

«Aye, Sir Thomas, ich weiß.»