Die Autorin
Iman Humaidan, geboren 1956 in Ain Anub südlich von Beirut, studierte Soziologie an der Amerikanischen Universität Beirut. Sie hat vier Romane und diverse Kurzgeschichten veröffentlicht sowie Drehbücher verfasst. Zudem unterrichtet sie an europäischen und nordamerikanischen Universitäten Arabisch und Kreatives Schreiben. Sie ist Mitgründerin des libanesischen P.E.N.-Zentrums, dessen Präsidentin sie seit 2015 ist. Iman Humaidan lebt in Beirut und Paris.
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin zahlreicher literarischer Werke aus dem Arabischen, u. a. von Sahar Khalifa, Alia Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Tajjib Salich, Habib Selmi, Nihad Siris und Baha Taher.
Zur Erleichterung der Aussprache arabischer Namen wurden in der Übersetzung betonte lange Silben mit einem Zirkumflex (^) versehen. Namen türkischer oder kurdischer Herkunft wurden dem neuen türkischen Alphabet entsprechend transkribiert.
Titel der arabischen Originalausgabe:
Ḫamsûna ġarâman min al-ğanna
Copyright © 2016 by Iman Humaidan
E-Book-Ausgabe 2017
Copyright © der deutschen Übersetzung
2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie, Zürich
ISBN 978 3 85787 953 1
www.lenos.ch
Zeit ist fliessender Ort,
und Ort ist erstarrte Zeit …
Ibn Arabi (1164 – 1240)
1
Beirut, August 1978
Die Knie wurden ihr weich, beinahe wäre sie auf den Gehsteig gestürzt. Doch Nûra lief hastig weiter. Ihr Herz schlug laut wie eine Trommel, pochte in ihren Ohren. Nur noch diesen angstvollen Herzschlag vernahm sie, skandiert von ihrem immer heftigeren Keuchen. Sonst hörte sie nichts und niemanden mehr, nicht einmal die Stimme des Mannes, der sie verfolgte, seit sie die Botschaft nach dem Bescheid des Angestellten, sie möge anderntags wiederkommen, verlassen hatte.
Autos rasten mit irrer Geschwindigkeit an ihr vorbei. Die glühende Sonne spiegelte sich in ihren heissen Karosserien und heizte die Luft weiter auf, als wollte die Hölle den lichten Tag mit allem, was darin war, verschlingen. Irgendwo knallten Schüsse, bald näher, bald ferner, wie eine Schaukel aus Geräuschen, die in stetem Rhythmus Furchen über den Himmel zog. Feuerstösse, Militärjeeps, Alarmsirenen. Nûra schwankte, ob sie hier in der Nähe warten oder rasch nach Hause zurückkehren sollte. Aber schliesslich fand sie, dass Warten keinen Zweck hätte, es gab keinen festen Termin für Anfang oder Ende der Gewaltausbrüche. Irgendwann begannen sie, dehnten ihre Kreise aus, dann hörten sie wieder auf. Die Menschen hatten sich, so gut es ging, in ihrem Schatten eingerichtet.
Sie musste ein Taxi finden, das sie zu Sabahs Wohnung brachte, dort war ihr Baby. Unweit der Botschaft hatte sie plötzlich bemerkt, dass dieser Mann im Auto neben ihr herfuhr. Vielleicht würde er sogar anhalten, dachte sie, er könnte aussteigen und auf sie zukommen, doch es schien ihm Spass zu machen, ihr Angst einzujagen. Nûra ging ein wenig langsamer. »Du denkst wohl, du kannst abhauen?«, zischte er und streckte den Kopf aus dem Autofenster. »Ich kriege dich, auch wenn du zu den Sternen auffliegst, du elende Spionin! Den Hunden werfe ich dich vor, du Hure …« Bei all ihrer Angst musste sie fast lächeln. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie dennoch weiterschreiben und nie damit aufhören würde. Dass sie geheiratet und ein Kind geboren habe, was er trotz seiner Schnüffeldienste nicht wissen konnte. Dass sie seinesgleichen schon einmal entkommen sei und auch diesmal wieder entwischen würde. Dass er sie nie kriegen würde! Sie ging weiter zur Hauptstrasse, um ein Taxi anzuhalten. Sie dachte an all die Orte, die sie verlassen hatte, seit sie aus Syrien emigriert war, an ihre langen Spaziergänge um das Dorf Rummâna auf dem Dschebel al-Arab, durch seine Weinberge, seine saftigen Frühlingswiesen. Dachte an die Zusammenkünfte mit ihren Kommilitonen an der Universität Damaskus, von deren Verhaftung sie zwei Jahre zuvor erfahren hatte. An Suhail dachte sie, ihren einstigen Liebsten, der sie in Beirut besucht hatte, dem sie half, sich zu retten und als politischer Flüchtling nach Schweden auszuwandern. An all die Freunde, die auf der Flucht vor dem Tod zur Emigration gezwungen worden waren. Dachte an ihren Vater, der als gebrochener Mann aus dem Gefängnis heimgekommen war, und an ihre Grossmutter, deren Stimme sie auch nach ihrem Hinscheiden vor zwei Jahren noch immer begleitete. Sie erinnerte sich an das Jahr ihrer Ankunft in Beirut und die darauffolgenden Jahre, und sie rief sich die Ferientage zurück, die sie früher bei der Grossmutter in dem kleinen Dorf verlebt hatte. Sie gedachte ihrer Schwester Hanâ, die in jenem Sommer dort Selbstmord beging. Die Familie hatte damals den Suizid zu vertuschen gesucht und das Gerücht gestreut, sie sei am Biss einer Giftschlange gestorben. In der »Bâke«, dem Schuppen, wo die landwirtschaftlichen Geräte und Schädlingsbekämpfungsmittel aufbewahrt und die Tiere während der Winterszeit untergebracht wurden, habe man ihren Leichnam gefunden. Aber Nûra kannte die Wahrheit, sie wusste, wie ihre Schwester gestorben war. Sie hatte ihren langen Abschiedsbrief im Bett gefunden, wo sie immer gemeinsam geschlafen hatten, im Hause von Grossmutter Schahla oder Teta Schahani, wie Nûra sie am liebsten nannte. Den Brief hatte sie gelesen und ganz unten zwischen ihrer Wäsche in der Schublade versteckt. Als sie nach der Beerdigung vom Friedhof zurückkehrte, glaubte sie zu ersticken. Sie wollte die Wahrheit laut herausschreien, doch sie musste schweigen, als wäre der Grund für den Selbstmord ihrer Schwester etwas Schändliches, das niemals offenbar werden durfte. Eine Affäre mit einem Offizier! Eine Schwangerschaft! »Mach es weg, das ist deine Schande, treib es ab!«, hatte er zu ihr gesagt, dann war er untergetaucht und reagierte nicht mehr auf ihre Anrufe. Was sie am Ende abgetrieben hatte, war ihr eigenes Leben gewesen. In der Nacht vor Hanâs Suizid war Nûra von ihrem unterdrückten Schluchzen wach geworden. Sie lagen zusammen im Bett. Hanâ erklärte, sie habe Bauchschmerzen von ihrer Regel, und sie glaubte ihr. Sie umarmten sich, und Nûra schlief wieder ein. Ihre Hand liess sie auf dem Bauch der Schwester liegen, an der Stelle, wo sie meinte, dass der Schmerz sass. Dieselbe Stelle, deretwegen ihre Schwester am folgenden Tag in den Tod gegangen war.
All das schwirrte Nûra durch den Kopf, während sie ins Taxi schlüpfte. Durch das Fenster sah sie den Mann in seinem Auto sitzen, er parkte am Strassenrand. Als sie sich nach ihm umdrehte, bemerkte sie, dass er losfuhr und ihr folgte.
»Du verdienst nicht zu leben!« Sie dachte an seine Worte, die er mehrmals wiederholt hatte. Zorn erwachte in ihr, so rasend, dass er, wenn sie ihn zur Faust hätte ballen können, glatt ihren Autositz zertrümmert oder sogar diesen Kerl hinter ihr erschlagen hätte. Es war einer dieser Momente, der sie von neuem mit einer überwunden geglaubten Realität konfrontierte, einer Vergangenheit, die sie für abgetan und abgehakt gehalten hatte. O nein, nichts war vorbei, wieder stand sie vor verschlossener Tür, und es gab kein Entrinnen.
Sie stieg aus dem Taxi und huschte in eine Gasse, die von der Corniche al-Masrâa abzweigte. Der Chauffeur sollte sie nicht bis vors Haus bringen, ihr Verfolger durfte die Adresse nicht erfahren. Sie trat in einen Lebensmittelladen und versteckte sich für ein paar Minuten. Inzwischen würde sie Sabah anrufen und nachfragen, ob sie bereits in ihrer Wohnung gewesen war. Heute früh hatte sie Sabah gebeten, alle ihre Sachen, auch die Kleidung und das Essen fürs Baby zu sich zu holen. Sie würde ihr sagen, dass sie Angst habe und nicht nach Hause gehen könne, womöglich habe ihr Verfolger schon alles ausgekundschaftet und wisse, wo sie wohne. Sabahs Telefon klingelte, doch niemand hob ab. Sie legte den Hörer auf und verliess den Laden. Sobald es ihr gelungen wäre, den Mann abzuschütteln, würde sie ein anderes Taxi nehmen. Aber plötzlich ging sie langsamer, sie dachte an den Moment bei Tagesanbruch, als ihr Sabah den Jungen aus den Armen genommen hatte. Er öffnete seine Augen, sekundenlang schaute er zu ihr auf, und dann lächelte er sie an, zum allerersten Mal, bevor er wieder einschlief.
Eine schwere Last drückte sie nieder, sie kam nicht mehr weiter. Jetzt musste sie bezahlen für eine Vergangenheit, die sie einholen würde, bevor sie endgültig mit ihr abgerechnet hatte. Aber ein solches Leben konnte sie doch nicht führen, immer im Davonlaufen, immer auf der Flucht. Sie müsste ein wenig innehalten, um nachzudenken und zu entscheiden, was sie tun sollte. Denn nun war sie Mutter. Die Zukunft ihres Sohnes würde auf irgendeine Weise mit ihrer Vergangenheit verbunden sein, und sie wollte ihm keine schmerzliche Erinnerung hinterlassen. Sie würde ganz einfach stehen bleiben, dachte sie, und sich umdrehen nach dem Auto, das ihr langsam gefolgt war. Sie würde dem Mann fest in die Augen blicken und ihm sagen, dass sie sich nicht mit der Veröffentlichung von Hanâs Geschichte begnügen werde. Auch über ihn werde sie schreiben, und das wieder und wieder. Und alles, was sie geschrieben hatte, würde sie publizieren – über die Gefängnisse, jene dunklen Verliese, die ihre Freunde geschluckt hatten, ihre Kommilitonen, die verschollen waren und deren Eltern nicht wagten, nach ihnen zu fragen.
Vielleicht war sie wirklich stehen geblieben, vielleicht hatte sie sogar ein, zwei Worte gesprochen. Vielleicht hatte sie ihre letzten Worte noch nicht zu Ende gedacht … vielleicht blickten ihre Augen nicht direkt in die seinen … vielleicht hatte sie sich nicht völlig umgedreht, vielleicht glaubte sie, das alles sei nur ein Albtraum und sie werde gleich daraus erwachen oder ein Erdbeben sei geschehen und es habe ihr die Sprache verschlagen …
Sekunden, und alles war vorbei …
Sie wollte Hanâ, die ihr Leben unter Druck beendet hatte, noch sagen, dass sie ihre Geschichte veröffentlicht und sie rehabilitiert habe … wollte ihr sagen, dass sie zum zweiten Mal getötet worden sei, weil man um die Wahrheit wusste und trotzdem schwieg, ja denen zuarbeitete. Sie wollte ihrer verstorbenen Grossmutter Schahani sagen, sie habe ihr Vermächtnis nicht vergessen: »Leben ist ein Recht.« So vieles wollte sie sagen. Aber sie sprach kein einziges Wort. Sie konnte es nicht. Würde es von diesem Tag an nie mehr können.
Aus dem Autofenster zielte er auf sie, er schoss mit einem Schalldämpfer. Die Kugel durchschlug ihren Hals, warf sie zu Boden, liess sie verstummen. Das Couvert, das sie bei sich trug, wurde weggeschleudert, Papiere flogen heraus, segelten noch ein wenig durch die Luft. Ein leichter, warmer Wind spielte mit ihnen, dann verteilten sie sich auf dem schmalen Gehweg, ein Foto von einem Säugling war auch dabei.
Der Geheimdienstmann stieg aus dem Auto, er blieb stehen und musterte die hingestreckte Frau. Er beugte sich über sie, zog sie an den Armen hoch. Schleifte sie dann zum Wagen, richtete ihren Körper auf und stopfte ihn ins Innere. Er packte sie auf den Rücksitz und lehnte ihren Kopf gegen den Rahmen der abgeschlossenen Tür. Sie war noch warm. Ihre Augen standen offen, sie schauten in seine Richtung, in sein Gesicht, und blinzelten matt. Er griff nach ihrer Hand und versuchte, einen Goldring in Form einer gewundenen Schlange von ihrem Finger abzuziehen. Sie fühlte, wie der Schmerz durch ihre Gelenke jagte, während sie, schon sehr schwach, sich mühte, ihre Finger in seiner Faust zu krümmen. Gerade diesen Ring wollte sie nicht verlieren. Sie schloss die Augen und sah wieder jenen Frühlingstag vor sich, als sie sich am Strand im feuchten Sand ausstreckte. So blau war der Himmel gewesen, und sie schlummerte ein unter der feinen Gischt, die über ihr Haar und ihr Gesicht sprühte. Der Mörder warf ihre erkaltete Hand auf die Brust, als wollte er sie weit von sich schleudern. Ein leiser Seufzer drang aus ihrem Mund, während er den Ring in seine Hemdtasche steckte. Die Strasse war menschenleer, jedenfalls schien es ihr so. Niemand zeigte sich. Angst und Schweigen regierten Beirut. Eine Stadt, gedemütigt von einem syrischen Geheimdienstoffizier, so wie sie zuvor israelische Soldaten gedemütigt hatten und noch demütigen würden, so wie sie später die Milizen demütigten, wieder und wieder. Gemächlich lenkte er das Auto in eine Seitenstrasse im Bezirk der Arabischen Universität und parkte es gegenüber einem kleinen Restaurant, wo Arbeiter und Taxifahrer verkehrten. Nachdem er seinen Revolver und seine persönlichen Sachen an sich genommen hatte, stieg er aus und ging davon.
Explosion einer Autobombe im Beiruter Viertel al-Fakihâni. Feuer und Rauchschwaden. Entlang dem brennenden Gebäude eine lange Fahrzeugkolonne, auch sie in Flammen. Eines der Autos fensterlos, inmitten eines Scherbenhaufens, überschüttet mit Erde und Steinen. Auf dem Rücksitz der ausgestreckte Körper einer Toten. Ihr Hals blutbedeckt, ihre blaue Baumwollbluse fleckig verfärbt. Der Kopf über den Sitz herabhängend, Glassplitter verstreut auf ihrem Haar und ihrem Körper.
Ein Fernsehbericht zeigte den Ort der Explosion und gab die Namen der Toten bekannt. Unter den Opfern sei eine Frau Anfang dreissig gewesen, hiess es, sie sei in einem Taxi von einem Splitter getroffen worden.
Ende des Berichts.
Niemand erfuhr, wieso diese Frau in einem gestohlenen Peugeot ohne Kennzeichen gesessen hatte. Niemand erfuhr, dass sie nach Beirut gekommen war, um in Freiheit leben zu können. Niemand erfuhr, dass sie jenes schreckliche Schweigen, das sie brechen wollte, in den Tod geführt hatte.
2
Juni 1994
»Wohin, Madame?« Der laute Zuruf des Taxichauffeurs, der neben ihr anhielt, riss Maja aus ihren Gedanken. Unschlüssig stand sie auf dem Bürgersteig und überlegte, wie sie weiterkommen sollte.
Zwei Monate waren vergangen, seit sie aus Paris zurückgekehrt war. So vieles war geschehen in dieser Zeit. Sie hatte miterlebt, wie ihr krebskranker Mann dahinsiechte und wie er dann, seinem Wunsch entsprechend, in seinem Dorf im Süden bestattet wurde. Jetzt war sie allein mit Schâdi, ihrem gemeinsamen Sohn, und diese Tatsache musste sie akzeptieren. Es schien ihr länger als ein Jahr, dass sie wieder in Beirut war.
»Nach al-Aschrafîja?«, erwiderte Maja. Es klang zweifelnd, als wüsste sie die Antwort schon vorher. Der Fahrer preschte auch sofort davon, nachdem er, offensichtlich verärgert, den Kopf zurückgeworfen hatte, was hiess: Er lehnte es ab, sie dorthin zu bringen. Die Entfernung zwischen der Hamrastrasse in Westbeirut und al-Aschrafîja im Ostteil der Stadt betrug weniger als fünf Kilometer, allerdings weigerten sich die meisten Chauffeure der Linientaxis, diese Strecke zu nehmen. Lieber waren ihnen Fahrgäste, die in südliche Richtung wollten. Trotz des weiteren Weges und der üblichen Staus bevorzugten sie diese Route. Die Spuren der Grenzlinie zwischen den beiden Beiruts mochten seit Kriegsende weggeräumt sein, in den Köpfen der Menschen aber blieben sie verankert.
Die Wunde durch Sijâds Verlust blutete noch. Zwei Wochen nachdem sie mit Schâdi im Libanon eingetroffen waren, war er in der Klinik gestorben. Seit sie von Sijâds Krankheit erfahren hatte, bekam sie ihr Leben und das ihres Sohnes nicht mehr in den Griff. Sie hatte das Gefühl, der Tod sei zu ihnen unterwegs und sie könnten nichts weiter tun, als auf ihn zu warten. Die Krankheit wurde zu einem neuen Mitglied ihrer dreiköpfigen Familie. Krankheit ist wie ein ungebetener, lästiger Gast, den man berücksichtigen muss und doch zu gern wieder loswerden möchte. Wenn einem bewusst wird, dass man sein Bleiben kaum noch ertragen kann, beginnt man anders mit ihm umzugehen. Anfangs hatte sie wie ein Automat funktioniert. Mechanisch bereitete sie das Frühstück, brachte Schâdi in den Kindergarten, anschliessend Sijâd zur Chemotherapie, kehrte dann zurück und erledigte ihr Tagwerk. Damals arbeitete sie zu Hause, als Rechercheurin und Assistentin für einen französischen Regisseur, der Dokumentarfilme über arabische Städte drehte. Manches Mal stand sie minutenlang mitten in der Küche und starrte ins Leere. Hob sie den Blick zu dem schmalen Fenster, traf er auf hochragende graue Gebäude an der anderen Strassenseite. Sie fühlte sich vollkommen hilflos. Eine Weile war sie wie gelähmt, unfähig, hinauszugehen und die Zutaten fürs Mittagessen einzukaufen.
Endlich hielt doch ein Taxi, das sie mitnehmen wollte. Als Maja die Vordertür öffnete, um sich neben den Chauffeur zu setzen, murrte er verdriesslich. Sollten nachher die drei hinteren Plätze belegt sein, könnte eine Frau neben ihm den Verlust eines fünften Kunden bedeuten. Viele Männer zögerten einzusteigen, weil es ihnen peinlich war, vorn neben einer fremden Frau zu sitzen. Missmutig gab er Gas, bevor sie die Autotür richtig geschlossen hatte – beinahe wäre sie hinausgeschleudert worden. »Mein Gott!«, hörte sie sich rufen. Schon wollte sie sich über sein schroffes Verhalten beschweren, doch ein einziger Blick in sein finsteres Gesicht bewog sie, darauf zu verzichten. Er wirkte wie ein Fass Schiesspulver, das jeden Moment explodieren konnte. Ohne sich weiter um sie zu kümmern oder ein Wort der Entschuldigung vorzubringen, raste er los. Manchmal dachte sie, dass Reden sowieso keinen Sinn mehr hatte. In einer hitzigen, angespannten Atmosphäre wie der in Beirut, das einen langen Tunnel des Krieges hinter sich gelassen hatte, war Schweigen wohl die beste Methode, um seine Nerven zu schonen.
Doch diese Strategie, für die Maja sich entschieden hatte, sollte schliesslich auch nichts nützen. Auf der Brücke, die zum Sodecoplatz führte, blockierte plötzlich der Motor. Der Chauffeur stieg aus, fluchend klappte er die Haube hoch, warf sich dann auf seinen Sitz und probierte ein paarmal, den Motor zu starten – vergeblich.
»So ein verdammter Tag … aber war ja klar, das musste schiefgehen, was habe ich bloss hier zu suchen!«, schimpfte er und stieg wieder aus. Von neuem überprüfte er den Motor und versuchte, ihn anzulassen. Nach einigen Minuten kam er zu Maja, riss ihre Tür auf und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Schwester, hier steigst du aus. Gott geleite dich. Da hast du deine tausend Pfund zurück …«
Maja hatte schon geahnt, dass so etwas passieren könnte, bevor sie das Café erreichte, das ihre Freundin Sara eröffnet hatte. So protestierte sie lieber nicht, als sie die strenge Stimme des Chauffeurs vernahm. Ihr angespannter Körper erschlaffte und bewegte sich bereitwillig nach draussen. Sie griff nach ihrer Handtasche, das Geld liess sie auf dem Sitz liegen. Während sie zu Fuss zur Kreuzung zwischen Bischâra-al-Chûri-Strasse und Sodecoplatz weiterging, schweifte ihr Blick verloren über die letzten Wolkenformationen, die der Frühling hier und da am Junihimmel zurückgelassen hatte.
Nasar, der Schuhmacher im Strand Building, hatte gewiss nicht geirrt, als er gestern zu ihr sagte: »Alles steckt hier … hier im Kopf … ja, im Kopf … Beirut ist noch immer geteilt, hier … hier drin …«, und er hatte mit dem rechten Zeigefinger an seine Schläfe getippt. Maja war gekommen, um ihre alten Schuhe abzuholen, repariert und frisch eingefärbt – »ganz wie früher, nigelnagelneu«. Das sagte er gern, und mit seinem sympathischen armenischen Akzent fuhr er fort: »Beirut ist nicht nur zweigeteilt … es gibt hundert Beiruts … Glück gehört dazu, wohin es dich verschlägt …«
»Hier drin, hier im Kopf.« So redete Nasar immer, nicht nur um Beirut zu beschreiben, sondern auch, wenn er von Jerewan sprach, der Hauptstadt von Armenien, dem Land seiner Ahnen, das er kürzlich besucht und mit einem bitteren Gefühl der Ernüchterung wieder verlassen hatte. Sechzig Jahre lang hatte er davon geträumt, fast so lange, wie er schon in Beirut lebte. Ein einziger Besuch genügte, um zu erfahren, dass er sein Sehnsuchtsland für immer verloren hatte. Jenes Jerewan, das er sich ausgemalt hatte, »hier, hier im Kopf«, wie er Maja mit gebrochener Stimme gestand, es war eine Enttäuschung gewesen, die ihn viel Kraft und Zuversicht gekostet hatte.
Nasar war korpulenter geworden, sein Kopf völlig kahl. Er erzählte Maja, nachdem sie in den Libanon zurückgekehrt war, dass seine Mutter vor zwei Jahren gestorben sei. Er hatte mit ihr zusammen in einer Wohnung neben dem Mayflower Hotel gelebt, nicht weit von seinem Arbeitsplatz. Jetzt war er ganz allein. Maja erinnerte sich noch, wie sie das erste Mal ins Strand Building gegangen war, um seinen Laden zu suchen. Sara hatte ihn ihr empfohlen. Sie erkundigte sich beim Portier im Erdgeschoss. »Nasar, der Armenier?«, fragte er. Niemand kannte seinen Nachnamen, es reichte zu erwähnen, dass er Armenier war, um ihn zu identifizieren. Seit siebzig Jahren waren diese Armenier nun Libanesen, doch das änderte für sie nichts an einem Leben wie hinter Mauern, die ihre Kontakte erschwerten und Grenzen zwischen den Menschen zogen.
Vor ihrer Ausreise hatte sie Nasar öfter besucht, sie setzte sich auf den Holzstuhl, den er mit rotem Leder gepolstert hatte, und sah ihm zu, wenn er mit seiner Maschine nähte oder an dem kleinen Tisch Schuhe mit Farbe einstrich. Er bestellte ihr einen Kaffee und lud sie ein, noch ein bisschen zu bleiben. Sie brauchte nur eine belanglose Frage zu stellen, und schon begann er in einem fort zu reden. Da sie wusste, wie schwach ihr Gedächtnis war, notierte sie sich ab und zu eine kurze Bemerkung oder ein, zwei Aussprüche von ihm.
Heute übergab er ihr eine alte Nummer einer libanesischen Zeitschrift in französischer Sprache, die eine Dokumentation über die Armenier enthielt. Das Dossier habe er extra für sie aufgehoben, sagte er, damit sie es sich mal durchlese. Dann bat er sie, in zwei Stunden wiederzukommen und ihre Schuhe abzuholen.
Maja liess ihre Schuhe immer von Nasar reparieren. Nur wenn er fand, dass es nicht mehr lohnte, sie herzurichten, trennte sie sich von ihnen. Sie war der Ansicht, dass sich mit der Zeit eine besondere Beziehung zwischen Schuhen und ihren Trägern entwickle. Eine Verbundenheit, die sich von der gewöhnlichen Verbindung des Menschen zu vertrauten Dingen seiner Umgebung unterschied. Noch immer klang ihr im Ohr, was ihr Freund Bruno, der französische Regisseur, einmal gesagt hatte, als sie, ausser Atem, mit ihren vom matschigen Schnee durchnässten Schuhen in sein Pariser Büro gestolpert war: Wie merkwürdig es doch sei, dass sich die Schuhe der Form ihres Trägerfusses anpassten und seine Geschichte abspeicherten und dabei trotzdem ihr eigenes, von den Menschen unabhängiges Gedächtnis bewahrten, denn schliesslich machten sie ja selbst Erfahrungen und betrachteten die Welt aus einer anderen Perspektive.
Sie stieg die Treppe des Strand Building hinunter, trat auf die Hamra und wandte sich zum Café Wimpy. Ein schöner Tag, obwohl der Frühling schon vorbei war. Seit sie von Beirut weggegangen war, hatte sich die Strasse verändert. Während des Krieges befanden sich hier die Schlupflöcher von Geheimdiensten, Zentren zur Liquidierung der Entführten und Büros einheimischer, auf Raub spezialisierter Milizen. Jahrelang war die Hamra wie tot gewesen, doch jetzt schien sie etwas von ihrer früheren Vitalität, einen Schimmer alten Glanzes zurückzugewinnen.
Als sie durch die Strasse bummelte und die Schaufenster der neuen Geschäfte mit den internationalen Markenartikeln betrachtete, fühlte sie voller Freude, wie das Leben, wenn auch langsam, wieder zu pulsieren begann. An verschiedenen Stellen ringsum bemerkte sie, dass Wiederaufbau und Renovierungen im Gange waren. In diesem Moment ahnte sie nicht, dass sie auf dem Weg zu einem Café war, das all die Jahre über dem Krieg getrotzt hatte und nun vom Frieden besiegt werden würde. Dass es demnächst geschlossen und in eine grosse Boutique für Konfektionskleidung umgewandelt werden sollte. In betörender Eleganz erstrahlten die Auslagen und kaschierten doch nur eine verlustreiche Erinnerung. Beirut war eine gewaltige Reparaturwerkstatt, nicht bloss für Schuhe oder Gebäude. Auch die Menschen traten mit frisch gelifteten Gesichtern und Körpern auf die Strasse. Und dennoch, hinter all der restaurierten, vom Skalpell zurückgeholten Jugendlichkeit verbargen ihre Züge das Gedächtnis eines früheren, schwer zu tilgenden Schmerzes. Beirut, die Stadt der Metamorphosen. Realer wie symbolischer Metamorphosen. Aber aus irgendeinem Grund schimmerte unter diesem neuen Antlitz, das manch einer vor sich hertrug, die brutale Vergangenheit mit ihren verleugneten Spuren. Ja, es war, als würde die Erinnerung gerade durch ihre Verdrängung nur umso präsenter und intensiver, als bahnte sich die Gewalt schon wieder, und noch bösartiger, ihren Weg ins Freie.
In einem Schaufenster mit Kleidermoden erschien die Spiegelung ihres Körpers – ein freundliches Traumbild, das sie seit langem nicht wahrgenommen hatte. Wie viel Zeit war vergangen, ohne dass die Hand eines Mannes ihn berührte? Unterwegs zum Café, befühlte sie ab und zu ihr Gesicht, strich mit den Fingern darüber hin, als wollte sie sich bestätigen, dass es unverändert sei, noch immer der Spiegel ihrer Seele. Doch wie sollte sie wissen, ob es wirklich dasselbe war und ob die Frau, die sie einmal gewesen ist, dieses Gesicht wiedererkennen könnte?
Sie betrat das Wimpy, und nachdem sie am Fenster Platz genommen hatte, bestellte sie sich eine Tasse Kaffee und eine Schachtel Gitanes Lights. Es war noch Zeit, bis Danny kam, ihr alter Freund aus Beiruter Studientagen, mit dem sie momentan an Filmaufnahmen über den Wiederaufbau des Stadtzentrums arbeitete. Sie holte das Heft aus ihrer Handtasche, in dem sie in groben Umrissen ein Szenario notiert hatte. Der vordere Teil des Heftes enthielt ausserdem Eintragungen zu einer Studie über das Leben von Asmahân. Dieses Projekt musste sie vorerst beiseiteschieben und sich ganz auf den Film konzentrieren. Aber jedes Mal, wenn sie etwas dazu formulieren wollte, ertappte sie sich dabei, dass sie über ihr eigenes Leben nachgrübelte, über Sijâds Aversionen gegen sie, gegen ihre Weiblichkeit, seit sie damals schwanger geworden war. Auch jetzt schrieb sie wieder über Sijâds Sterben, über einen Tod, gegen den sie sich nach ihrer Rückkehr innerlich aufgelehnt hatte. Eigentlich war sie ausserstande, ein Szenario über die Rekonstruktion von Gebäuden zu liefern. Unmöglich, eine solche Arbeit auszuführen, dazu war sie noch zu aufgewühlt. Vielleicht müsste sie es Danny einfach sagen, wenn er nachher kam.
Sie fühlte eine Schuld, die sie mehr bedrückte als Sijâds Verlust. Wie sollte sie weiterleben, wenn sie sich mit seinem Tod nicht abfinden konnte? Sechs Wochen waren seither vergangen. Doch ihr Herz war schwer von etwas Unfassbarem, erfüllt von einem tiefen Bedauern. Sie dachte an ihr früheres und ihr gegenwärtiges Leben. An die fast vierjährige Zeit der Dürre, in der sie dahinvegetierte ohne eine zärtliche Berührung des Mannes, mit dem sie das Bett teilte, an die vielen ungesagten Worte, die in ihrer Kehle stecken geblieben waren. An all das dachte sie und daran, was sie tun würde, morgen und übermorgen und den Tag darauf.
»Es ist schwierig, an die Zukunft zu denken und mit dem Leben verbunden zu sein, solange man nicht gelernt hat, mit dem Verlust zu leben«, notierte sie.
Sie hatten beschlossen, aus Frankreich in den Libanon zurückzukehren, weil Sijâd in seinem Dorf sterben wollte. Er wollte neben seiner Mutter bestattet werden. Es war das erste Mal, dass er unnachgiebig auf einem Entschluss beharrte. Maja hatte denn auch keine Einwände gegen diese Reise erhoben. Anfangs hatte er selbst nicht geglaubt, dass seine Krankheit wirklich so gefährlich war. »Ich werde mich schon wieder aufrappeln«, hatte er zu ihr gesagt, obwohl er jeden Tag schwächer wurde. Aber dann, nach einer gewissen Zeit und einer Serie schmerzhafter und doch ergebnisloser chemotherapeutischer Behandlungen, fügte er sich drein. Nie im Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt wie in dem Moment, als ihnen die Ärztin den Befund mitteilte. »Höchstens ein Jahr, vielleicht etwas weniger, weiter kann ich dazu nichts sagen«, hatte sie erklärt, ohne Rücksicht, ohne jede Vorrede. Weder Sijâd noch sie waren auf eine solche Wahrheit gefasst gewesen. Sie waren mit der Vorbereitung ihrer Trennung beschäftigt, mit gegenseitigen Vorwürfen, ihre Beziehung zum Scheitern gebracht zu haben, jene Illusion von Glück, die nicht mal sechs Jahre gewährt hatte – bis zu ihrer Schwangerschaft. Schâdis Geburt war das bedeutsamste Ereignis in ihrem Leben, nicht nur deshalb, weil sie Mutter wurde, sondern weil Sijâd plötzlich als ein ganz anderer erschien, der keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mann hatte, dem sie vor neun Jahren begegnet war.
Sobald sie von ihrem Kinderwunsch angefangen hatte, vertagte er das Gespräch. Und sie hatte verdrossen geschwiegen, wenn er sie vertröstete: »Wir reden ein andermal darüber.« Sie hatte gelesen, dass sich eine Schwangerschaft im vorgerückten Alter für das Kind nachteilig auswirken könnte. Auch fürchtete sie, sollte Sijâd zu lange bei seiner Ablehnung bleiben, dass sie selbst irgendwann keine Lust mehr hätte, ein Baby zu bekommen. Heute wunderte es sie, warum sie ihn nicht ernsthaft und eindringlich nach den Gründen gefragt und sich mit seinen zahlreichen Vorwänden, die er wieder und wieder anbrachte, zufriedengegeben hatte. So sagte er etwa, ihr Apartment sei mit einer Schlafkammer und einem Wohnzimmer zu klein für drei Personen, und was sie verdienten, reiche nicht aus, um ein Kind aufzuziehen.
Die Vorstellung, Sijâds Verwandte könnten ihr eines Tages den Sohn wegnehmen, entsetzte Maja. Ihr war bewusst, dass die Beziehung zu ihnen so gut wie abgebrochen war. Früher hatte sie das nicht weiter gekümmert, aber jetzt, nach Sijâds Tod, würde sie sich auf direktem Wege, ohne einen Vermittler, mit ihnen arrangieren müssen. Sie hatte Angst, Schâdi zu verlieren. Nach dem islamischen Gesetz fiel beim Tod des Vaters das Sorgerecht für seinen Sohn, wenn dieser sieben geworden war, an die Familie des Ehemannes, sei es die des Grossvaters oder des Onkels. Was hiess, dass Schâdi bis zum siebenten Lebensjahr bei ihr bleiben durfte, danach würden sie ihn zu sich nehmen. Das war der einzige Grund, der sie zur Rückkehr nach Frankreich bewegen konnte. Und sie würde diesen Entschluss bestimmt rechtzeitig ausführen, ehe Schâdi sieben war, jedenfalls würde sie viel schneller handeln als bei ihrer ersten Ausreise. Damals hatte sie jahrelang über die Emigration nachgedacht, bevor sie tatsächlich ihren Koffer packte und zum Flughafen fuhr. Rasche Entschlüsse scheute sie von jeher. Âida, ihre Mutter, konnte diese Eigenart von Majas Persönlichkeit nur bestätigen. Sie sagte, ihrer Tochter sei die Saumseligkeit angeboren, und das schon in ihrem Bauch. Das Mädchen hatte gezögert, auf die Welt zu kommen, die sich in ihrer ganzen Düsternis zeigen sollte, als sie die Pubertät hinter sich hatte und bald darauf ein nicht enden wollender Krieg ausbrach.
Ihr Leben in Frankreich erschien ihr jetzt fast unwirklich. Zehn Jahre, wie im Traum vergangen. Real wurden sie erst mit der Geburt ihres Kindes. Sieben Tage hatte sie in der Frauenklinik in Paris gelegen, und eine weitere Woche verbrachte sie daheim mit Warten auf ihre Mutter, die wegen der Visumformalitäten von der französischen Botschaft in Beirut aufgehalten wurde. Die Tage hatte sie gezählt, ja die Stunden. Sie wusste nicht, wie man ein Baby versorgt. Zwar hatte sie ein ganzes Wandbrett voller Broschüren über die Pflege von Neugeborenen, doch soviel sie auch las, sie gewann davon kein Selbstvertrauen. Früher hatte sie sich gar nicht für Bücher über Kleinkinder interessiert. Sie sammelte bibliophile Raritäten, vergriffene und aus den Geschäften verschwundene Publikationen. Die Librairie Avicenne hatte sie nach ihnen durchforstet, in unzähligen Antiquariaten gesucht, auf dem Flohmarkt und an Trödelständen gestöbert. In ihrer Familie war sie immer das Nesthäkchen gewesen, ihre Schwester und ihr Bruder waren älter als sie. Niemals hatte sie zu Hause einen Säugling gesehen, geschweige einen betreut. Nachdem sie mit ihrem Baby aus der Klinik heimgekehrt war, säuberte sie es mit einem Lappen, den sie mit Lotion und Eau de Cologne für Kinder getränkt hatte. Seit er aus ihrem Bauch gerutscht war, kannte der Kleine kein Wasser. Sie hatte Angst, ihn in der Wanne zu baden. Wie leicht könnte er sich zum Beispiel erkälten, dachte sie, oder durch die Nässe gar lungenkrank werden und nie mehr genesen. Aber kaum war Âida aus Beirut eingetroffen, zog sie als Erstes Schâdi nackt aus und übergoss ihn in der Wanne mit warmem Wasser. Vor Freude strampelte er mit seinen Beinchen, und ab und zu stiess er Laute wie kurze Jauchzer aus, während seine Hände in Halbkreisen durch die Luft fuhren.
Maja sass auf einem niedrigen Hocker neben ihrer Mutter, die Schâdis Körper mit Flüssigseife einschäumte und in liebevoller Nachsicht meinte: »Wie soll denn ein Kind auch ein Kind aufziehen!«
»Ich bin doch kein Kind mehr, Mama!«, protestierte Maja. »Vergiss nicht, ich bin Mitte dreissig. In meinem Alter warten die Frauen bei uns daheim im Dorf schon darauf, Grossmutter zu werden!«
Aber solche Worte wollte Âida nicht hören. Für sie wurden die Kinder nie erwachsen, sie blieben ihre Küken, auch wenn sie über dreissig und selbst Eltern waren. Sie war glücklich, dass sie Schâdi, solange sie bei Maja in Paris wohnte, in ihre Obhut nehmen durfte. Genug Zeit, um die Enttäuschung zu verwinden, die sie erlebt hatte, als die erste Tochter ihres Sohnes Nadîm zur Welt gekommen war. Damals hatte sie geglaubt, seine kanadische Ehefrau würde sich freuen über ihre Anwesenheit und die Fürsorge für das Neugeborene, und so war sie nach Montreal geflogen. Stattdessen verbot ihr die Schwiegertochter, das Mädchen auch nur anzufassen. Die junge Mutter fürchtete, ihr Säugling könnte sich mit irgendwelchen »Mikroben« infizieren, die seine Grossmutter in ihrem Atem aus dem Libanon eingeschleppt hatte, denn immerhin tobte dort ein Krieg, der das Gesundheitswesen und die Grundversorgung lahmgelegt hatte.
Maja war sehr froh, ihre Mutter bei sich zu haben. Sie hatte das kleine Apartment umgestaltet, um nicht nur für ihr Baby, sondern auch für Âida Platz zu schaffen, und überliess ihr gleich das ganze Schlafzimmer mit Ehebett und Stubenwagen. Sie selbst zog mit Sijâd ins Wohnzimmer, wo sie auf einer grossen, ausziehbaren Bettcouch schliefen, die sie extra vor Âidas Ankunft gekauft hatten. Diese Anordnung war für Maja eigentlich unpraktisch, da sie Schâdi nachts stillen musste, aber es störte sie nicht. Im Gegenteil, sie fühlte eine tiefe Freude, ihr Kind in sicheren, vertrauenswürdigen Händen zu wissen.
Während des Aufenthaltes der Mutter verwandelte sich das Pariser Apartment in ein richtiges Zuhause. Lautes Lachen erschallte, Lieder von Asmahân und Fairûs klangen durch die enge Wohnung, die auf einmal weiter und geräumiger erschien. In der Küche verbreiteten sich die Düfte orientalischer Gewürze und Aromen, die Âida aus Beirut mitgebracht hatte. Nach kurzer Zeit hatte sie bereits Bekanntschaft mit arabischen Nachbarn aus derselben Strasse geschlossen. Maja wunderte sich, wie verblüffend schnell ihre Mutter Leute kennenlernte und zu einem Kaffee und einem Schüsselchen Mughli1 einlud. Als Sijâd von der Arbeit heimkam, fand er das Wohnzimmer voller Gäste, die er höchstens am Fahrstuhl oder in der Umgebung des Hauses in der Rue Jeanne-d’Arc 10 irgendwann einmal flüchtig gesehen hatte. Er grüsste sie von der Tür aus, ohne näher zu treten. Leise verdrückte er sich zum Schlafzimmer, das jedoch verschlossen war, denn Schâdi sollte nicht vom Stimmengewirr geweckt werden. Darauf kehrte er um und verschwand in der Küche, um sich dort niederzulassen und am einzigen ruhigen Plätzchen einen Tee zu trinken. Sijâd wirkte damals wie ein Fremder neben den Gratulanten zur Geburt seines Kindes, gegen das er sich jahrelang gesträubt hatte. Er war stolz, dass sein Antrag auf zusätzliche Seminarstunden in Arabisch von der Universität bewilligt worden war. Bisher hatte er nur noch keine Gelegenheit gefunden, Maja, die ganz in ihrem Mutterglück aufging, von diesem Erfolg zu berichten.
3
Juli 1994
Maja parkte das Auto an der Seeseite der Corniche al-Manâra. Schâdi bockte, widerstrebend stieg er aus. Allmählich verlor sie die Geduld mit ihm. Weder wollte er weiterlaufen noch neben ihr stehen, er hörte gar nicht zu, wenn sie etwas sagte. Sie stellte sich zu ihm an das Eisengitter und zeigte mit der Hand hinaus auf das ferne Schiff, das wie angeklebt auf der Horizontlinie verharrte. Dieses Schiff bleibe noch eine Weile dort, erklärte sie. Es warte ab, dass sich das Meer beruhige. Sie sei genauso wie dieses Schiff, fuhr sie fort, auch sie werde hier warten, bis er sich beruhigt habe und auf sie höre. Die Wellen schlugen hoch und klatschten gegen die grüne, rostbraun verfärbte Mauer. Sie traten ein Stück zurück, um der Gischt auszuweichen. Trotzig, den Tränen nahe, stiess er hervor, dieses Meer sei zu klein und ausserdem schmutzig und hier gefalle es ihm überhaupt nicht und das Wasser schmecke nach Salz.
»Aber Meerwasser ist immer salzig«, unterbrach sie ihn.
Er antwortete nicht. Plötzlich riss er seine Hand los und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon. »Je n’aime pas ici«, schrie er zornig, »je veux retourner chez nous … – Ich mag es hier nicht, ich will wieder nach Hause …« Er blieb stehen und drehte sich nach ihr um, wütend starrte er sie an. Und sie könne er auch nicht leiden, rief er verzweifelt. Danach brach er in heftiges Weinen aus. »Ich will meine Teta Âida!«
Schâdi wollte heim, zu seiner Grossmutter. Er weigerte sich, mit ihr weiterzugehen. Maja überlegte kurz, dann beschloss sie, zum Auto umzukehren und ihn nach Hause zu bringen.
»Wir werden zurückfahren«, sagte sie ernst, als sie den Sicherheitsgurt am Kindersitz einklickte. Es war nicht das erste Mal, dass Schâdi seinem Ärger und Frust auf diese Weise Luft machte. Maja verstand das alles. Sie wusste, dass Kinder, selbst in diesem zarten Alter, unter Verlust leiden und dass sie Enttäuschungen und Lieblosigkeit zwischen ihren Eltern spüren.