Über das Buch:
Timber Ridge 1877: Nach dem Tod ihres Mannes kämpft Rachel Boyd nicht nur mit ihrem Vertrauen zu Gott, sondern auch darum, die Rinderfarm aus eigener Kraft weiterzuführen – für ihre beiden Söhne. Doch als in Timber Ridge der neue Arzt Dr. Rand Brookston mit revolutionären medizinischen Methoden von sich reden macht, wird Rachel mit den Wünschen ihres Herzens konfrontiert. Denn eigentlich träumt sie von etwas ganz anderem als Ställe auszumisten und Rinder auf die Weide zu treiben ...

Die spannende Geschichte einer starken Frau mit Charakter und besonderen Gaben.

Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Kapitel 6

Das Zimmer im ersten Stock über dem Gemischtwarenladen war ordentlich aufgeräumt, auch wenn sich an einer Wand Kisten und Schachteln stapelten. Doch das Zimmer war lange nicht mehr benutzt worden und ein leichter Staubgeruch lag in der Luft. Rachel legte die frische Bettwäsche auf den Schaukelstuhl neben der Tür und trat zum Fenster. Mit beiden Händen versuchte sie, das Fenster nach oben zu schieben. Es rührte sich keinen Millimeter. Bei ihrem dritten Versuch gab das Holz, von dem die Farbe abblätterte, endlich nach und bewegte sich trotz quietschenden Protests ein Stück nach oben.

Sie wischte den Staub von ihren Händen, schaute auf Timber Ridge hinaus und war für den kühlen Wind dankbar.

Sie atmete tief ein und bemühte sich um eine Ruhe, nach der ihr nicht zumute war, obwohl sie Zeit gehabt hatte, sich wieder zu fassen, seit Rand Brookston sie so scharf gerügt hatte. Sie fuhr mit dem Finger über einen Spalt in der Ecke des Fensters. Rügen war wahrscheinlich eine zu harte Bezeichnung für seine Bemerkung. Trotzdem wurde sie wieder wütend, sobald sie nur daran dachte.

Ihr Verdacht in Bezug auf den „guten Herrn Doktor“ stimmte sicherlich, auch wenn James etwas anderes behauptete. Ihr Bruder hatte die Gabe, Menschen richtig einzuschätzen, aber bei diesem Mann irrte er sich. Menschen zeigten ihr wahres Gesicht, wenn sie unter Druck standen, und Rand Brookston hatte heute sein wahres Gesicht gezeigt. Er war launisch, fordernd und strahlte eine Arroganz aus, die jeden davor warnte, ihm zu widersprechen. Genauso wie ihr Vater.

Sie zog das Bett ab, entfernte die verknitterten Laken und schüttelte die Kissen auf.

Rand Brookston war attraktiv, aber auf eine aristokratische Weise, die sie persönlich nie sehr reizvoll gefunden hatte. Trotz seiner Erklärung konnte sie die Szene, wie er an der Tür des Bordellzimmers vor ihr gestanden hatte, immer noch nicht vergessen. Der schuldige Blick, mit dem er sie angesehen hatte, das provozierende Funkeln in den Augen der jungen Frau, die sich auf dem Bett räkelte.

Aber das war noch nicht alles.

Manchmal ertappte sie ihn dabei, dass er sie anstarrte. Wie heute. Sie irrte sich vielleicht, aber sie hatte das Gefühl, dass er Interesse an ihr haben könnte. Darin wollte sie ihn auf keinen Fall ermutigen. Als sie geheiratet hatte, hatte sie sich nach Kräften bemüht, einen Mann zu finden, der das genaue Gegenteil von ihrem Vater war. Die Beziehung zu Thomas war die schönste in ihrem ganzen Leben gewesen.

Allerdings interessierte es sie sehr, wie Rand Brookston Ben Mullins’ Herz wieder zum Schlagen gebracht hatte. Falls er das wirklich getan hatte. Ärzte übertrieben ihre Rolle bei der Heilung eines Menschen gern und strichen Lob ein, das ihnen oft gar nicht zustand. Das war einer der unangenehmen Charakterzüge ihres Vaters gewesen, neben anderen Eigenschaften, die sie lieber nicht aus ihrem Gedächtnis hervorkramte.

Aber falls Rand Brookston so etwas tatsächlich gelungen sein sollte, hatte er Bens Leben gerettet. Dafür war sie sehr dankbar und sie wollte nur zu gerne wissen, wie er das angestellt hatte.

Nachdem sie die Matratze aufgeklopft hatte, überzog sie sie mit einem frischen Laken und staubte die Nachttische ab, da Ben bald in diesem Zimmer liegen würde. Sie und Lyda hatten hin und her überlegt, ob es klug sei, Ben zu ihrem Haus ein paar Straßen weiter zu bringen, oder ob es sinnvoller wäre, wenn die beiden eine Weile über dem Laden wohnten, bis Ben wieder besser bei Kräften wäre. Lyda hatte sich für Letzteres entschieden, da sie Ben gern in ihrer Nähe hatte, um tagsüber immer wieder nach ihm sehen zu können. Rachel hatte ihr zugestimmt. Für sie wäre es auch leichter, Lyda im Laden zu helfen und sie bei Bens Pflege zu unterstützen, wenn die beiden im Schlafzimmer über dem Laden wohnten. Andererseits hatte Rachel keine Ahnung, wie sie es schaffen sollte, ihnen zu helfen, da ihre Tage von frühmorgens bis spätabends verplant waren. Aber Ben und Lyda waren für sie wie eine Familie. Außerdem wusste sie, dass dieses Zimmer für das Ehepaar eine besondere Bedeutung hatte. Hier hatten sie vor vielen Jahren in ihrer ersten Zeit in Timber Ridge gewohnt, bevor sie sich ihr Haus gebaut hatten.

Während Rachel den Staub von der Kommode wischte, erregten laute, aufgebrachte Stimmen ihre Aufmerksamkeit. Sie spähte aus dem Fenster und sah, dass nun deutlich mehr Menschen auf dem Gehweg vor dem Geschäft warteten und zu den Türen drängten.

„Ich muss eine Bestellung abholen“, schrie ein Mann.

„Wir brauchen unsere Waren!“

„Mullins hat gesagt, dass sie heute fertig sind! Warum hat er so früh geschlossen?“

Immer zahlreicher wurden die lautstarken Beschwerden. Rachel drehte sich um und wollte gerade schon nach unten gehen, da sie sich Sorgen machte, dass Mitch und Kurt diesem Ansturm allein nicht gewachsen wären. Doch dann erblickte sie einen Herrn, der auf eine Bank stieg. Sie schaute genauer hin. Es war derselbe Mann, den sie zuvor auf dem Gehweg gesehen hatte, der Mann, der freundlich angeboten hatte, vor der Ladentür Wache zu stehen. Mit ausgestreckten Armen wandte er sich an die Menschen. Sie konnte seine Worte nicht verstehen, aber zu ihrer Überraschung verstummten die Beschwerden.

Sie wartete einen Moment und überlegte, ob er ihre Hilfe bräuchte. Aber offenbar kam er gut alleine zurecht.

Sie schloss das Fenster und wischte eilig weiter Staub, bevor sie das Bett fertig bezog.

„Bitte seien Sie vorsichtig, Mr Daggett!“ Lydas besorgte Stimme hallte die Wendeltreppe herauf. Rachel konnte sie gut verstehen. Sie wäre selbst vor ein paar Minuten beinahe auf der Treppe ausgerutscht. Lyda gab Charlie Daggett noch mehr Anweisungen. „Oben wird die Treppe enger. Passen Sie bitte gut auf.“

Während Rachel das Kissen ordentlich aufschüttelte, ertönten Charlie Daggetts schwere Schritte auf dem Flur. Sie drehte sich um und sah seine kräftige Gestalt, die den Türrahmen ausfüllte. Er trug Ben auf den Armen. Ben Mullins war kein schmächtiger Mann, aber neben Charlie Daggett wirkte er fast wie ein Junge. Andererseits sah neben Charlie jeder klein aus.

Rachel deutete auf das Bett. „Hierher, Mr Daggett. Das Bett ist fertig.“

„Ja, Ma’am.“ Charlie bewegte sich mit einer für einen so kräftigen Mann überraschenden Wendigkeit und Präzision, obwohl er schon so früh am Nachmittag Alkohol getrunken hatte, wie der Whiskeygeruch, der ins Zimmer wehte, verriet. Dass er trank, war für sie nichts Neues, auch für sonst niemanden in Timber Ridge. Aber je besser sie Charlie in den zwei Monaten kennengelernt hatte, seit er auf ihrer Ranch arbeitete, umso weniger verstand sie, warum er so viel trank.

Er tauchte nie betrunken zur Arbeit auf und verhielt sich ihr oder ihren Jungen gegenüber nie grob. Das war nicht der Grund für ihre Sorge. Sie beunruhigte mehr die Frage, warum er oft so übermäßig trank. Charlie Daggett war ein fleißiger Arbeiter und von Natur aus ein stiller Mann, der nie ein Wort über seine Vergangenheit verlor.

Ben verzog das Gesicht, als Charlie ihn vorsichtig aufs Bett legte. „Ich bin kein Invalide, Daggett“, knurrte Ben mit einem leisen Seufzen. „Wenigstens noch nicht.“ Er verlagerte sein Gewicht und Rachel sah ihm an, dass er Schmerzen hatte. „Ich habe immer noch zwei gesunde Beine. Ich hätte auch alleine die Treppe hochsteigen können.“

Charlies bärtige Wangen zogen sich zu einem Grinsen nach oben, das Rachel vertraut war. „Ich mache nur das, was mir der Doc aufgetragen hat, Mr Mullins.“

Rachel konnte nicht genau sagen, ob Bens Unbehagen eher daher rührte, dass Charlie ihn getragen hatte, oder von seinem Herzinfarkt. So, wie sie Ben kannte, vermutete sie das Erstere.

„Ja, ja“, seufzte Ben. „Ich weiß. Aber warum hören Sie nicht zur Abwechslung einmal auf mich? Immerhin bin ich derjenige, der Sie bezahlt.“

Bens Stimme klang scharf, aber sein leichtes Lächeln milderte seine Worte ab und verriet, was der eigentliche Grund für seine Frustration war, die Rachel nur zu gut verstehen konnte. Auch für sie war es nicht leicht, auf andere angewiesen zu sein. Das war schon immer so gewesen. Nach Thomas’ Tod hatte sie darunter besonders gelitten. Sie wusste nicht genau, warum. Von anderen abhängig zu sein gab ihr das Gefühl, als stünde sie auf abschüssigem Boden zu nahe am Abgrund.

Sie sah zu Charlie hinauf. Aus seinem breiten Grinsen schloss sie, dass er ebenfalls den Grund für Bens Unmut kannte.

„Mama, Dr. Brookston hat mich Onkel Bens Herz abhören lassen!“ Mitchs Begeisterung war nicht zu überhören, als er nach Lyda und Dr. Brookston ins Zimmer gelaufen kam.

„Wirklich?“ Rachel, die am Fußende des Bettes stand, entging nicht, dass es Kurt deutlich weniger eilig hatte und gleich neben der Tür stehen blieb. Er sah nicht so begeistert aus wie sein Bruder. Sie sah in Rand Brookstons Richtung, wich aber seinem Blick bewusst aus. Es tat ihrem Herzen gut, Mitch so aufgedreht zu sehen. Er war in letzter Zeit immer so ernst. Sie zerzauste seine roten Haare. „Das war nicht das erste Mal, dass du ein Herz abgehört hast. Du hast mit dem Stethoskop deines Großvaters schon einmal mein Herz abgehört. Weißt du noch?“

„Ich weiß, aber …“ Mitch trat näher an Ben heran. „Mit Dr. Brookstons Stethoskop hört man viel besser.“ Er deutete auf Dr. Brookstons schwarze Ledertasche.

Dr. Brookston zog ein Stethoskop heraus. „Wärst du so nett und würdest Mr Mullins’ Herz noch einmal für mich abhören, Mitchell?“

Ben schnaubte. „Warum? Wollen Sie überprüfen, ob es zum zweiten Mal stehen geblieben ist?“

Rand Brookston lachte schallend. Wie geschmacklos! Rachel überlegte krampfhaft, was sie sagen könnte, um seine Taktlosigkeit zu überdecken. Doch dann hörte sie Ben leise lachen, sogar Lyda schmunzelte. Obwohl sie immer noch nicht wusste, was an dieser Bemerkung so lustig sein sollte, beschloss Rachel, ihre Meinung für sich zu behalten, als sie das verschwörerische Lächeln bemerkte, das Arzt und Patient sich zuwarfen.

„Ich vermute, Mitchell …“ Rand Brookston beugte sich näher zu ihrem Sohn hinab. „… dass du mit diesem Stethoskop besser hören kannst, weil die Schläuche am Stethoskop deines Großvaters wahrscheinlich viel kürzer waren als diese hier. In den letzten Jahren wurden die Schläuche verlängert, wodurch die Auskultation deutlich verbessert wurde.“ Er demonstrierte Mitchell, was er damit meinte. „So bezeichnen es Ärzte, wenn sie die Geräusche des Herzens oder der Lunge abhören. Weißt du zufällig, woher das Stethoskop seinen Namen hat?“

Mitchell kniff die Augen zusammen und rollte die Zunge zwischen den Schneidezähnen, ein deutliches Zeichen, dass er sich konzentrierte. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Das Wort stammt aus dem Griechischen. Stethos ist griechisch für Brust und skopein ist das griechische Verb für untersuchen.“ Dr. Brookston zuckte entschuldigend die Achseln, was Rachel als jungenhaft, vielleicht sogar charmant hätte betrachten können, wenn sie ihn nicht schon ganz anders erlebt hätte. „Das habe ich irgendwo gehört.“

„Stethos … skopein“, wiederholte Mitchell mit derselben Wortbetonung, die Dr. Brookston benutzt hatte. Rachel wusste, dass sich ihr älterer Sohn diese Worte merken würde. Er vergaß nie etwas.

Mitchell steckte sich die Oliven des Stethoskops in die Ohren und legte den glockenförmigen Trichter auf Bens Brust. „Worauf soll ich beim Abhören achten, Dr. Brookston?“

Das Bild, wie sich Mitchell mit dem Stethoskop über Ben Mullins beugte, erzeugte in Rachel eine plötzliche Zukunftsvision und sie verspürte den starken Drang, ihre zwei Söhne zu packen und schnell wegzulaufen. Seit Jahren erzählte sie zwar ihren Söhnen, dass sie jeden Beruf ergreifen könnten, den sie wollten, und dass sie damit einverstanden wäre, solange sie glücklich waren.

Aber das stimmte nicht.

Rand ging auf ein Knie. „Zuerst musst du das Herz des Patienten finden, was je nach seinem Temperament“, er zwinkerte Ben und Lyda zu, „bei einigen Patienten schwerer ist als bei anderen.“ Ben und Lyda lächelten, was Mitchell ein Grinsen entlockte. „Dass du den Herzmuskel ausfindig gemacht hast, erkennst du an dem ganz speziellen Geräusch der …“

Rachel fühlte sich irgendwie ausgeschlossen. Ben und Lyda schien eine engere Freundschaft mit dem Arzt zu verbinden, als sie erwartet hatte. Dieses Verhalten, das Rand gegenüber seinem Patienten zeigte … dieser Humor, den er an den Tag legte, vertiefte die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Eine schlaue Art, musste sie widerstrebend zugeben. Offenbar sparte er sich seine „arrogante, grobe und fordernde“ Art für seine Assistenten auf. Der arme Angelo!

„Miss Rachel?“

Charlie Daggett stand mit dem Hut in der Hand an der Tür. Rachel trat zu ihm. Ihr entging nicht, dass Kurt die Szene am Bett mit einem distanzierten Blick verfolgte. Sie wollte ihn beruhigend über den Kopf streichen, aber er wich ihrer Hand aus.

Da Charlie sie beobachtete, setzte Rachel ein Lächeln auf und tat, als würde die Ablehnung ihres Sohnes sie nicht verletzen. „Ja, Mr Daggett?“

Charlie drehte den Hut in seinen Händen und warf einen kurzen Blick auf Kurt. Seine Miene wurde nachdenklich. „Miss Rachel, ich bin froh, dass ich Sie hier angetroffen habe, Ma’am. Ich bin nämlich Ihretwegen in die Stadt gekommen.“

Rachel wartete. Der Ernst in seiner Stimme machte sie nervös.

„Mr Daggett …“ Lyda trat neben sie und legte eine Hand auf Charlies Mantelärmel. „Entschuldigen Sie, dass ich Ihr Gespräch unterbreche, aber bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen noch einmal danken, dass Sie genau im richtigen Moment gekommen sind. Ohne Sie hätten wir es nicht geschafft, meinen Mann nach oben zu bringen.“

Charlie zog den Kopf ein. „Es freut mich, dass ich helfen konnte, Ma’am. Sie und Ihr Mann behandeln mich immer freundlich. Und es ist wirklich sehr großzügig von Ihnen, mir Arbeit zu geben.“

Lyda lachte leise. „Sie sind ein fleißiger Mann, Mr Daggett. Das hat also nicht viel mit Großzügigkeit zu tun.“

Charlies rötliche Gesichtsfarbe vertiefte sich. „Ich komme jeden Tag vorbei, Ma’am, und kann Mr Mullins die Treppe hinab- und hinauftragen, wenn es nötig ist, bis der Arzt sagt, dass er wieder selbst gehen darf.“

Lyda nickte. „Danke. Ehrlich gesagt, wollte ich Sie genau darum bitten. Ich habe das Gefühl, dass es mehrere Tage dauern kann, bis Dr. Brookston meinem Mann erlaubt, sich wieder allein zu bewegen.“

Lyda kehrte zum Bett zurück. Rachel wartete. Sie wollte unbedingt hören, was Charlie zu sagen hatte, fürchtete sich aber gleichzeitig davor. Charlie stieß ein tiefes Seufzen aus. Sein Atem roch sehr stark nach Alkohol und es kostete sie einige Selbstbeherrschung, nicht zurückzuweichen.

„Ich bin in die Stadt gekommen und habe Sie gesucht, Ma’am, weil ich eine der Kühe, die bald kalben werden, nicht finden kann. Ich habe sie gesucht, da heute Nacht mit weiterem Schnee zu rechnen ist, aber ich konnte sie nicht entdecken.“

Rachel entspannte sich. „Mit ihr ist bestimmt alles in Ordnung. Kühe, die kurz vor dem Kalben stehen, werden oft unruhig. Ich helfe Ihnen, sie zu suchen, sobald wir nach Hause kommen. Wir brechen bald auf.“

Charlies Blick wanderte wieder zu Kurt und dann langsam weiter zu Mitchell, bevor er Rachel wieder anschaute. „Es ist Lady, Miss Rachel“, flüsterte er. „Lady ist die Kuh, die fort ist.“

Rachel runzelte die Stirn. „Aber das ist nicht möglich. Sie war heute Morgen im Stall. Ich habe kurz vor dem Frühstück nach ihr gesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie …“ Die Veränderung an Kurts Haltung war mehr zu spüren, als zu sehen. Sie senkte den Blick. Diese Miene ihres Sohnes kannte sie. Ein Stein bildete sich in ihrem Magen. „Kurt, warst du heute Morgen nach dem Frühstück bei Lady? Bevor wir zur Schule fuhren?“

Er nickte langsam und kontrolliert.

„Und hast du daran gedacht, den Riegel vor die Stalltür zu schieben, wie ich es euch gesagt habe?“

„Ja, natürlich“, antwortete er ein wenig zu schnell und schaute sie herausfordernd an.

Kurt war in den letzten Monaten gut darin geworden zu lügen, aber nicht so gut, dass sie ihn nicht durchschauen würde. Kurt und Mitch liebten Lady, wie andere Jungen ihre Hunde liebten, und obwohl ihr jüngerer Sohn keine Skrupel hatte, die Unwahrheit zu sagen, hatte er noch nicht gelernt, seine Gefühle perfekt zu tarnen. Sie sah, dass er Angst hatte. Nicht vor ihr, das wusste Rachel, aber er hatte Angst, dass Lady etwas zustoßen könnte.

Sie hatte Kurt mit allen Mitteln, die ihr einfielen, zur Vernunft bringen wollen. Als James, ihr älterer Bruder, noch bei ihnen gewohnt hatte – vor seiner Heirat mit Molly im letzten Monat –, war ein Blick von ihm genug gewesen und die Abwehrhaltung des Jungen war genauso wie früher bei ihrem Mann Thomas zerbrochen. Doch wenn sie Kurt ansah, war es, als baue er eine zwei Meter hohe Steinmauer um sich herum auf.

Ihre Kehle schnürte sich vor Ärger zusammen. Ihr Gesicht begann zu glühen. Dass sich Kurt danebenbenahm, war eine Sache, aber dass er ihr frech ins Gesicht log, war etwas ganz anderes. Und das auch noch vor Charlie Daggett. „Warte hier, junger Mann“, flüsterte sie und wandte sich an Charlie. „Danke, Mr Daggett“, brachte sie höflich über die Lippen, „dass Sie mir Bescheid gegeben haben. Die Jungen und ich treffen Sie, sobald wir können, auf der Ranch.“

Er setzte seinen Hut auf. „Ich reite los und beginne mit der Suche, sobald ich draußen bin, wenn Sie einverstanden sind.“

„Ja, das wäre großartig. Ich treffe Sie dann in ungefähr einer Stunde oben auf der Crowley’s Ridge. Wenn Sie sie finden, geben Sie zwei Schüsse ab. Ich folge dann dem Geräusch.“

„Wird gemacht, Ma’am.“ Charlie verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. „Es tut mir leid, aber da ist noch etwas.“

Sein Zögern machte Rachel nervös. „Ja, Mr Daggett?“

„Als ich auf der Suche nach Lady draußen war, habe ich eine andere Kuh gefunden. Erinnern Sie sich an die Kuh, die sich letzten Monat im Zaun verfangen hatte?“

Sie nickte.

„Es tut mir leid, Miss Rachel, aber …“ Er senkte die Stimme. „Es sieht so aus, als hätte ein Puma sie erwischt. Aber es könnte auch ein …“

Er senkte den Blick und Rachel hörte, was er nicht sagte, was er nicht aussprechen konnte. Es könnte auch ein Bär gewesen sein. Bilder, wie das Tier nach dem Angriff aussehen musste, standen ihr mit schmerzlicher Klarheit vor Augen und ihr Magen zog sich unwillkürlich zusammen. Sie unterdrückte ein Schaudern und weigerte sich, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Für Bären war es eigentlich noch zu früh im Jahr. Das redete sie sich ein. Letztendlich spielte es eigentlich keine Rolle, wer die Kuh getötet hatte, ob es ein Puma oder ein Bär gewesen war. Doch für sie spielte es eine Rolle. Und sie wusste, dass es für die Jungen eine Rolle spielte. „Bitte, Mr Daggett“, flüsterte sie so, dass nur er sie hören konnte. „Erzählen Sie meinen Jungen nichts davon. Aber falls sie es herausfinden und nachfragen, dann sagen Sie ihnen bitte, dass es ein Puma war.“

„Ja, Ma’am“, sagte er nur und verschwand mit einem kurzen Nicken aus dem Raum.

Rachel schaute Kurt noch einmal strafend an, bevor sie ans Bett trat. Der Verlust der anderen trächtigen Kuh war hart, aber wenn sie Lady verlieren würden, wären sie ruiniert. Abgesehen von der emotionalen Bindung, die sie zu der jungen Kuh, die zum ersten Mal trächtig war, hatte, rechnete Rachel im Stillen die finanzielle Investition nach, die Lady darstellte. Vor seinem Tod hatte Thomas den größten Teil ihrer Ersparnisse für einen ausgezeichneten Bullen mit hervorragender Abstammung ausgegeben. Lady hatte ebenfalls einen erstklassigen Stammbaum und ihr erstes Kalb, das jederzeit zur Welt kommen konnte, versprach gute Rinder für die Zukunft der Ranch. Das war nun noch wichtiger, da sie vor einem Monat bei einem Schneesturm den Bullen verloren hatte.

Falls Lady und ihrem Kalb etwas zustieß – Rachel wand sich innerlich bei dieser Vorstellung –, wäre das eine weitere Bestätigung dafür, dass sie nicht imstande war, ihre Familie zu versorgen.

Diese Erinnerung brauchte sie wirklich nicht.

Sie bat um Kraft, die sie selbst nicht hatte, und beschloss, sich keine unnötigen Sorgen zu machen, solange noch alles gut ausgehen konnte. Sie räusperte sich. „Mitchell, wir müssen jetzt fahren. Lyda …“ Sie ergriff Lydas Hände, obwohl ihr der stumme Protest in Mitchs Gesicht nicht entging. „Die Jungen und ich fahren nach Hause, aber ich versuche, später wiederzukommen.“

Lyda schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ben und ich kommen schon zurecht. Dr. Brookston hat gesagt, dass er bei ihm bleibt, während ich unten die Kunden bediene. Und wenn wir noch mehr Hilfe brauchen, kommt Angelo vielleicht später herüber. Außerdem …“ Lyda warf einen Blick zum Fenster. „… kommt noch mehr Schnee und es wird bitterkalt. Ich … ich will nicht, dass du in einer solchen Nacht draußen bist.“

Selbst wenn Lyda ihre Hand nicht gedrückt hätte, so wäre Rachel nur allzu bewusst gewesen, was sie meinte. Ihre Gedanken wanderten erneut zu Bens und Lydas Kindern. So schwer es auch gewesen war, Thomas zu verlieren, konnte sie sich nicht vorstellen, wie schmerzlich es erst sein musste, die eigenen Kinder zu beerdigen.

„Mama?“ Mitchell blieb am Fußende des Bettes stehen und schaute sie gleichzeitig erwartungsvoll und vorsichtig an. „Dr. Brookston hat gesagt, dass er mich später nach Hause bringt, wenn du einverstanden bist. Dann könnte ich hierbleiben und Onkel Bens Herz abhören, um sicherzugehen, dass mit ihm alles in Ordnung ist.“

Rachels Nerven spannten sich zum Zerreißen an. Sie zwang sich, zu Dr. Brookston zu sehen. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Dr. Brookston. Aber, Mitchell …“ Sie wandte sich wieder an ihren Sohn. „Du musst jetzt mitkommen. Lady ist aus dem Stall verschwunden und ich könnte zu Hause deine Hilfe gebrauchen.“

Mitch legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. „Aber wie konnte sie …“ Seine Miene verdüsterte sich. „Es ist Kurts Schuld, nicht wahr? Ich habe ihm gesagt, dass er nicht …“

Rachel hob eine Hand. „Jetzt nicht. Bitte geh mit deinem Bruder hinunter und wartet im Wagen auf mich. Ich komme sofort nach.“

„Ja, Ma’am …“ Mitchs hartes Kinn verriet, dass er darüber nicht glücklich war, aber er gehorchte.

Rachel trat um Rand Brookston herum und beugte sich nach unten, um Bens stoppelige Wange zu küssen. „Ich komme euch beide morgen besuchen. Vielleicht bringe ich eine Kartoffelsuppe mit. Die magst du doch so gern.“

Ben seufzte und sah sehr müde aus. „Wir freuen uns auf deinen Besuch, aber mach dir keine unnötige Mühe.“

„Mir unnötige Mühe machen? Deinetwegen?“ Rachel schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Daran würde ich nicht im Traum denken.“

Ben berührte ihre Hand und Rachel wurde erneut von starken Gefühlen überrollt. Sie wusste, dass sein Zustand ernst war. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Hol ihn nicht zu dir, Herr. Noch nicht. Bitte! Um Lydas und der Jungen willen. Und auch um ihrer selbst willen, aber es erschien ihr weniger egoistisch, Gott wegen der anderen für Ben zu bitten.

„Mrs Boyd?“

Als sie Rand Brookstons Stimme hörte, richtete sich Rachel auf und strich mit der Hand über ihren Rock. Sah ihr Lächeln so steif aus, wie es sich anfühlte. „Ja, Dr. Brookston?“

„Wenn Sie einen Moment Zeit haben, Ma’am, würde ich gerne mit Ihnen sprechen.“ Er deutete zum Flur.

Sie hatte es zwar eilig, nach Hause zu kommen, kam aber trotzdem seiner Bitte nach und trat vor ihm auf den leeren Flur hinaus. Vielleicht wollte er über Ben sprechen. In diesem Fall wollte sie unbedingt hören, was er zu sagen hatte. Außerdem hatte sie selbst die eine oder andere Frage an ihn.

Sie war überrascht, als er die Tür hinter ihnen zuzog.

Er verlagerte unsicher sein Gewicht und entwickelte plötzlich ein starkes Interesse an den Holzdielen unter seinen Stiefeln. „Mrs Boyd, ich …“ Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Das war für einen Mann, der so geschickt mit einem Skalpell umgehen konnte, doch etwas seltsam. „Ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen. Die Situation mit Mr Mullins war sehr kritisch, und ich …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe meine Frustration an Ihnen ausgelassen. Es tut mir leid. Ich habe mich danebenbenommen. Ihre Voraussicht, das Digitalis anzufordern und hierherbringen zu lassen, war vorbildlich. Ich … hoffe, Sie können mir vergeben.“

Rachel starrte ihn an. Er entschuldigte sich? Damit hatte sie nicht gerechnet. Sein Stammeln und dass er ihr nicht in die Augen schaute überzeugte sie fast davon, dass sie ihn tatsächlich falsch eingeschätzt hatte. Und erstaunt stellte sie fest, dass sie sich wünschte, sie hätte sich wirklich geirrt. „Danke für Ihre Entschuldigung, Dr. Brookston. Ich nehme sie gerne an.“ Glaube ich zumindest …

„Danke.“ Er atmete erleichtert aus und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem scheuen Lächeln.

„Ich kann es mir schließlich nicht leisten, dass mir die Schwester des Sheriffs böse ist, nicht wahr?“

Mit großer Mühe bewahrte Rachel ihre Haltung, aber eine bittere Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Das war es also! Rand Brookston wollte es sich mit ihrem Bruder nicht verderben. Das hätte sie sich denken können. Sie wandte sich zum Gehen, doch dann hielt sie inne. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, um ihre Frage loszuwerden. „Dr. Brookston, könnten Sie mir bitte eine Frage beantworten?“

Seine Miene wurde ernst. „Ja, Ma’am. Gerne.“

„Lyda hat gesagt, dass Sie Bens Herz wieder zum Schlagen brachten.“ Sie senkte die Stimme. „Aber wir wissen beide, dass das unmöglich ist.“

Er warf einen Blick zur Tür, dann entfernte er sich ein paar Schritte davon und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

„In der Vergangenheit war es, wie Sie sagen, Mrs Boyd: Wenn das Herz eines Menschen zu schlagen aufgehört hatte, konnte man nichts mehr machen“, flüsterte er. „Es galt als unmöglich, den Herzmuskel wiederzubeleben. Viele halten das immer noch für unmöglich. Aber dank jüngster Forschungen mit externer Brustkompression können wir …“

„Externer Brustkompression?“, wiederholte sie zögerlich, aber mit nicht zu überhörender Neugier.

Er nickte. „Bei dieser Methode wird auf die untere Hälfte des Sternums in einem bestimmten Rhythmus mehrmals Druck ausgeübt. Ungefähr so.“ Er legte die Hände übereinander und demonstrierte es für sie. „Bis wieder ein Herzschlag zu hören ist. Falls einer eintritt. Ich habe in meiner Praxis eine Zeitschrift, die erst vor zwei Monaten erschienen ist. Ich kann sie Ihnen gerne leihen, falls es Sie interessiert, mehr darüber zu lesen.“

„Ja, das wäre sehr nett.“ Sie wollte zwar unbedingt mehr über diese neue Methode erfahren, aber im Moment war Bens Zustand wichtiger. „Aber sagen Sie mir …“ Sie deutete zur Schlafzimmertür. „Wie sieht Ihre Prognose für Ben aus? Und bitte versuchen Sie nicht, meine Gefühle zu schonen. Ich mag zwar kein Arzt sein, aber ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass ein Mensch, der an einer Herzerkrankung leidet, eine … unsichere Zukunft hat.“ Sie schwieg einen Moment, da sie ihren nächsten Gedanken nur ungern aussprach. „Ich denke, er hat vielleicht noch ein Jahr“, flüsterte sie und wartete auf seine Reaktion. „Vielleicht auch weniger?“

Noch bevor er etwas sagte, las sie die Antwort in seinen Augen.

Er wandte den Blick ab. „Die Zeit, die einem Patienten in dieser Verfassung bleibt, hängt von vielen Faktoren ab. Es ist schwer zu –“

„Ja, ich verstehe“, flüsterte sie. Sie hatte ihre Antwort.

Die Schlafzimmertür ging auf und Lyda kam heraus. „Ben braucht einen Nachttopf“, flüsterte sie mit einem müden, aber sichtlich erleichterten Lächeln. „Er hat zu viel Tee getrunken, schätze ich.“ Sie ließ die Tür offen und Rachel erhaschte einen Blick auf Ben, der die Arme auf der Brust liegen und die Augen geschlossen hatte. Kein tröstlicher Anblick.

„Mrs Boyd“, sagte Dr. Brookston leise, „falls Sie länger bleiben möchten, können Sie gerne …“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss dringend nach Hause. Meine beste Kuh kann jederzeit kalben und ist auf Wanderschaft gegangen.“ Sie beschloss, Charlie Daggetts andere Nachricht lieber für sich zu behalten.

Ein Funkeln trat in Rand Brookstons graue Augen. „Ich bin auch ein guter Tierarzt, Ma’am. Fragen Sie Harvey Conklin. Ich habe ihm im letzten Monat geholfen, Zwillingsfohlen zur Welt zu bringen. Falls Sie meine Hilfe brauchen, kann ich durchaus …“

„Nein.“ Sie hob eine Hand. „Aber trotzdem vielen Dank.“

Ein kratzendes Geräusch ertönte auf der Treppe, gleich hinter der Treppenbiegung. Es folgte ein schnelles Stakkato von Stiefelschritten – zwei Paar Stiefeln. Sie musste nicht lange raten, wem diese Schritte gehörten. Bei Kurt war ein solches Verhalten nicht überraschend, aber bei Mitchell ... Sie drehte den Kopf und sah ein leichtes Stirnrunzeln in Rands Gesicht. Dann merkte sie, dass es nur ihr eigenes Stirnrunzeln widerspiegelte. Sie verbannte es sofort aus ihrem Gesicht. „Ihr Angebot ist sehr freundlich, aber ich bin sicher, dass ich ganz gut allein zurechtkomme.“

„Daran habe ich nicht die geringsten Zweifel, Mrs Boyd“, sagte er mit einem starken Südstaatenakzent, der zweifellos beabsichtigt war. „Mein Angebot hatte nichts mit meiner Einschätzung Ihrer Fähigkeiten zu tun, Ma’am, sondern mit dem aufrichtigen Wunsch zu helfen.“

Sein Charme überraschte sie. Sie gestattete sich den Anflug eines zögernden Lächelns. „Danke“, flüsterte sie, obwohl es sie störte, dass ihr seine Worte so viel bedeuteten, „aber wir schaffen das schon.“

Sie wünschte ihm eilig einen guten Abend und lief dann die Treppe so schnell hinab, wie es das schmale Treppenhaus erlaubte.

* * *

Eine halbe Stunde später brachte Rachel den Wagen vor ihrem Blockhaus zum Stehen. Dabei fiel ihr ein, dass sie auf dem Heimweg nicht bei der Bank angehalten hatte. Sie seufzte. Mit jedem Tag lag sie mit ihrer Hypothekenzahlung weiter zurück.

Schneebeladene Wolken überzogen die felsigen Gipfel und hingen in unheilverkündenden, stahlgrauen und violetten Haufen tief über der Erde. Die blasse Wintersonne zog sich hinter ihnen zurück und ein paar kurze Sekunden lang beleuchtete ihr immer schwächer werdendes Licht den aufziehenden Sturm. Rachel ließ ihren Blick prüfend über den Horizont schweifen. Dieser Anblick hätte sogar schön sein können, wenn sie nicht aus eigener Erfahrung wüsste, wie vernichtend der Schneefall und die bittere Kälte für ihren Lebensunterhalt sein konnten.

Sie schickte die Jungen ins Haus und brachte den Wagen und das Gespann in den Stall. Eine Viertelstunde später kehrte sie ins Haus zurück, da sie keine weitere Minute wertvollen Tageslichts vergeuden wollte.

Sie schlüpfte in Thomas’ alten Arbeitsmantel, für dessen dickes, warmes Leder sie dankbar war, und holte ihr Gewehr, das neben der Tür hing. Dabei fiel ihr Blick auf Thomas’ Gewehr, das danebenhing. Es hing hier, seit James es ihr vor über zwei Jahren gebracht hatte. Zusammen mit der Nachricht von Thomas’ Tod. Nicht jetzt! Lass das jetzt nicht zu! Sie hatte weder die Zeit noch die Energie für die Flut an Erinnerungen, die auf sie einstürmen wollte.

Und sie wollte jetzt auch nicht über den Mann nachdenken, der die Verantwortung dafür trug, dass Thomas nicht mehr bei ihr war.

„Jungs, es gibt genug Schinken und Bohnen zum Abendessen und im Eisschrank ist Milch. Wenn ihr gegessen habt, erledigt ihr eure Stallarbeiten und kehrt danach auf dem schnellsten Weg ins Haus zurück. Es wird draußen immer kälter. Trödelt also nicht. Und zieht Mantel und Handschuhe an. Habt ihr mich verstanden?“

Beide Jungen nickten.

„Dann geht ihr ins Bett. Und nehmt eine zweite Decke. Ich zünde ein Feuer im Kamin an, wenn ich zurück bin.“ Es gefiel ihr überhaupt nicht, sie allein zu lassen, aber ihr blieb keine andere Wahl. Außerdem waren sie es gewohnt, allein gelassen zu werden. Eine Ranch bedeutete, so viele Stunden zu arbeiten, wie die Ranch es verlangte, und diese Ranch verlangte sehr viel. Besonders von einer Frau, die auf sich allein gestellt war.

Bis zum letzten Frühling hatte sie zwei Rancharbeiter beschäftigen können. Außerdem war James ihr bei der Arbeit auf der Ranch zur Hand gegangen. Aber sie hatte in den vergangenen zwei Wintern viel Vieh verloren und ihr ganzes Geld aufgebraucht. Sie schuldete Charlie Daggett sogar einen Monatslohn und hatte versprochen, ihn diese Woche zu bezahlen.

Sie blieb an der Tür stehen und schaute zu Mitch und Kurt zurück.

Es gab Momente wie diesen, in denen sie sich fragte, ob es sich überhaupt lohne, diesen Traum – Thomas’ Traum – weiter zu verfolgen. Sie schluckte die wachsenden Zweifel hinunter und warf die Schultern zurück. „Passt aufeinander auf, solange ich fort bin. Ich komme sobald wie möglich zurück.“ Sie zog eine Braue hoch. „Und es wird nicht gestritten!“

Mit dem Bild von ihren Jungen, die allein im Flur standen, schritt sie zum Stall. Sie waren noch so jung und unschuldig und trotzdem wussten sie schon, wie schmerzlich der Tod war.

Sie stellte sich ein Tier vor, das ein Puma angefallen hatte, und vergewisserte sich, dass ihr Gewehr geladen war und dass sie die Ersatzpatronen in der Manteltasche trug. Dann sattelte sie Chaucer, Thomas’ Pferd, und brach zum Crowley’s Ridge auf, während schon die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen.