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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Prolog
 
- I -
- II -
- III -
- IV -
- V -
- VI -
- VII -
- VIII -
- IX -
- X -
- XI -
- XII -
- XIII -
- XIV -
- XV -
 
Danksagung
Copyright

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Figuren dieses Buches und lebenden oder toten Personen ist Zufall und nicht beabsichtigt.

Zur Autorin:
Ursula Meyer, geboren in Königstein/Taunus, aufgewachsen in Köln, Studium der Romanistik, Geographie und Philosophie in Köln und Wien, lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Wien und Münster. Nach ihrer Dissertation über die Gefängnisschriftstellerin Albertine Sarrazin schreibt sie nun Kriminalromane. Mit Hauptkommissarin Sieglinde Züricher sind bisher Endstation Aasee, Münster - Weimar und zurück, Rosen aus Münster, Auf der Promenade wartet der Tod, Das Haus am Maikottenweg, … brenne auf mein Licht, Der Tod kennt keinen Stundenplan und Tod im Spieker erschienen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meinen Bruder Rafael

Prolog
Mit der Dämmerung war der Regen gekommen. Zuerst heftiges Nieseln, prickelnd wie Nadelstiche, dann fielen schwere Tropfen. Sie prallten auf die fahle Gesichtshaut, rollten über Jochbein, Kieferknochen, Schlüsselbein in den Mantelkragen und benetzten den dunklen Gabardine, der den leblosen Körper bekleidete wie eine Schaufensterpuppe. Und während sie Stoff und Haut nur stumm trafen, löste das gleichmäßige Sprenkeln der Grabsteine rechts und links neben der Toten ein hohles, fast munteres Klimpern aus.
Wind kam auf, brachte die Zweige der Linden ins Schwanken, fegte durch die Rhododendrenbüsche und zerrte am Revers des Trenchcoats, als wollte er die Frau zurück ins Leben holen. Der untere Zipfel des Mantels stellte sich auf wie ein großer, schwarzer Schmetterlingsflügel, und es sah aus, als öffnete er sich für das dunkle Rinnsal, das aus dem verletzten Körper gesickert war. Aus tiefen, inneren Wunden brach es aus, suchte sich entlang des Rocksaums seinen Weg. Doch zu dieser späten Stunde gab es keine Zeugen mehr, die die große Blutlache zur Kenntnis genommen hätten.
Der Regen gewann an Kraft, befeuchtete unter zunehmendem Rauschen das lange, dunkle Haar. Eine von der Nässe schwer gewordene Strähne verrutschte zeitlupenartig auf die Stirn, während die dicht fallenden Tropfen auf die flachen Grabplatten zu trommeln begannen wie bei einer Marche funèbre. Die Unebenheiten des Bodens füllten sich mit kleinen Pfützen, die in Rinnsale überflossen, und das Gesicht der Toten überzog sich mit einem feuchten Film.
Schon bald unterschied sich die Leiche nicht mehr von den Gräbern, zwischen denen sie lag, als hätte sie sich ihre letzte Ruhestätte schon gesucht. Der Wind umwirbelte sie mit ein paar welken Blättern, die sich im Mantel vernestelten. Sie hakten im Haar und an der Hand ihres abgewinkelten linken Arms an, als hätten sie Luftwurzeln.
Sie fühlte nichts mehr, keine Todesangst, keinen Schmerz, spürte nicht, dass der Regen irgendwann nachließ, weil der Wind die Wolken vertrieben hatte. Erst im fahlen Morgenlicht hoben sich ihre Hände und das Gesicht wieder von dem schwarzen Mantel ab, als sögen sie die aufkommende Helligkeit ein. Die Blutlache, die, den verschiedenen Absenkungen des Geländes folgend, versickert war, hatte eine schwärzliche Kruste zurückgelassen, die dunkler wirkte als der im Zwielicht dämmernde Rasen.
Requiescat in pace - das galt nicht für sie. Man ließ ihr keine Ruhe. Die Piusallee, die am Hörster Friedhof entlang führt, füllte sich mit nervösem Durchgangsverkehr und dem Lärm der Anrainer. Wagentüren wurden zugeschlagen, Motoren gestartet und im Leerlauf gehalten, als wäre der Fahrer noch einmal ins Haus zurückgekehrt, um Vergessenes, aber Unverzichtbares zu holen. Dann kehrte Stille ein, bis eine Schwarzdrossel in der Linde hoch über der Toten ihr lang gezogenes Schluchzen in den bleigrauen Himmel schickte. Ihr Gesang war nicht als Elegie gedacht, hier ging ein sehr vitaler, wenn auch spätberufener Vogel sehnsüchtig auf Partnersuche. Und er schmetterte, als würde er den Herbst nicht überleben. Für die junge Frau tief unter ihm war es der letzte Sommer gewesen.
Im Osten verdrängte langsam, aber kontinuierlich höher steigend ein vanillegelber Lichtstreifen den grauen Horizont, als sich neue Töne in die Friedhofsstille mischten. Das hohe Quietschen einer Fahrradbremse schnitt sich in den weit ausladenden Rhododendron. Seine kräftigen Zweige, schon mit stabilen Knospen für das nächste Frühjahr versorgt, schwankten heftig, dann verhakte sich der Hinterreifen in den Efeuranken, die die Baumwurzeln überwucherten. Das Vorderrad schlingerte, als der junge Radfahrer sich in Panik auf den Sattel zurückwarf und über den schmalen Fußweg davon jagte.
Zehn Minuten später rüttelte er an der Eingangstür zur Bereitschaftswache im Polizeipräsidium und drückte, als er sie verschlossen vorfand, manisch den Klingelknopf. Kaum wurde ihm geöffnet, als er zusammenbrach. Man brachte ihm ein Glas Wasser, das er schluckweise trank, erst dann konnte er reden. Die Tote war seine Schwester, er hatte sie stundenlang gesucht und gegen sechs Uhr morgens in der Wache am Alten Steinweg als vermisst gemeldet.

- I -
Nach einer weiteren Stunde war das Tatortteam versammelt.
Rund um die lang gestreckte Fläche des alten, schon seit langem aufgelassenen Friedhofs zwischen Piusallee, Bohlweg und Karlstraße zog sich das rotweiße Absperrband. Die fahle, in kränkliches Weiß gekleidete Morgensonne hatte längst vor dem zähen Bodennebel kapituliert, so dass unsere Kollegen mit ihren weißen Schutzanzügen in dieser fast gespenstischen Szenerie wie die Besatzung eines intergalaktischen Fahrzeugs wirkten. Energisch rieb ich mir die Müdigkeit aus den Augen, und die schemenhaften Raumfahrer sahen wieder aus wie normale Kriminaltechniker. Auch bei der leblosen Gestalt auf der taufeuchten, von abgefallenen Blättern gesprenkelten Rasenfläche handelte es sich nicht um eine lebensgroße Puppe, sondern um eine ermordete Frau. Die Frage, ob die Würgemale am Hals die Todesursache waren oder ihre inneren Verletzungen, würde erst eine Obduktion beantworten können. Bei den Angaben zur Todeszeit hielt sich Dr. Kerner vom Institut für Rechtsmedizin ebenfalls vorsichtig zurück: am späten Abend oder in dieser Nacht; so viel stand fest.
Bis weit nach Mitternacht hatten Franz und ich einen größeren Freundeskreis bewirtet, wir hatten uns viel Zeit miteinander genommen, in der optimistischen Annahme, bis zehn Uhr ausschlafen zu können, weil Samstag war. Jetzt tanzten weiße Punkte vor meinen Augen und die Kehle kratzte wie Pergamentpapier. Kollege Max Lückmann, der unter unseren Gästen gewesen war und jetzt schweigsam neben mir stand, hatte ganz kleine, schlaftrunkene Augen, und nach seinem Strubbelkopf zu urteilen, war er ebenfalls aus dem Bett gleich in Kleidung und Schuhe gefahren. In Unkenntnis der rauen Witterung hatte er nach einer leichten Wildlederjacke und einem dünnen Schal gegriffen, und ein extrascharfer Kaugummi musste die Zahnbürste ersetzen. Als er um ein Papiertaschentuch bat, reichte ich ihm ein Blatt Küchenrolle aus dem Reservoir meiner Umhängetasche - wenig kniggetauglich, an nass-nebeligen Verbrechensschauplätzen allerdings unschlagbar.
Kerner setzte die Leichenschau fort, und ich fühlte eine vage Dankbarkeit über diesen Aufschub. Hartnäckig mied mein Blick die tote Frau, er wanderte über den Rhododendron, ohne jedoch Halt an seinen wie winzige Pinienzapfen geformten Knospen zu finden. Eine große Schwarzdrossel schoss aus dem Unterholz hervor, rannte zielstrebig über die Rasenfläche und zerrte einen Regenwurm aus dem Boden. Der Wurm wand und krümmte sich, bevor er stückweise im Vogelschnabel verschwand. Gleich würde der Räuber zufrieden auf einen Ast flattern und triumphierend zu singen beginnen, bis die Anstrengung seinen kleinen Körper durchlief wie eine lustvolle Welle. Ich spürte wieder jene Mischung aus Hilflosigkeit und Ekel, die gewaltsam gestorbene Lebewesen in mir auslösten; ein fast archaisches Entsetzen vor jedem brutalen Tötungsakt. Als Vierjährige war ich Zeuge des grausamen Spiels unserer Nachbarkatze mit einer Drossel geworden. Am liebsten wäre ich weggelaufen, doch ich lag mit verstauchtem Fuß im Bett, und der ungleiche, hässliche Kampf lief unmittelbar vor meinen Augen an der Terrassentür ab. Dieses heimtückische Loslassen und Fangen, die Jagdlust und Gier der schwarzen Katze und die erbärmlichen Fluchtversuche des Vogels lösten eine Panik aus, die mir in der Kehle hochschoss wie eine scharfe Säure. Vergeblich stopfte ich mir die Finger in die Ohren, immer unflätiger polterte die fette Katze in ihrem Tötungstaumel gegen die hölzerne Balustrade, und der Vogel schrie. Als endlich Stille eingekehrt war, wirbelte der Wind einen Trauerzug schwarzer Federn über die Terrasse, während die Bestie mit dem Kadaver spielte wie mit einem Strickknäuel.
Von da an verließ ich das elterliche Wohnzimmer, sobald sich im Fernsehen Schlägerstimmung aufschaukelte, sicherte mich bei Kinobesuchen mit Freunden über das voraussehbare Gewaltpotential ab, bis meine erste große Liebe mich in den „Weißen Hai“ lockte, unter dem Vorwand, es handele sich um einen Dokumentarfilm. Schon manches Mal hatte ich darüber gegrübelt, inwieweit mein Vorsatz, Polizistin zu werden, mit dieser tief verankerten Abscheu zu tun hatte. Ich ließ meine Augen über die verwitterten, bemoosten, von Efeupelzen überwucherten Grabsteine wandern und fand auch jetzt keine Antwort.
Kerner löste sich aus der unbequemen Hockhaltung, zu der ihn die Leichenschau gezwungen hatte, und zog das Diktiergerät aus der Brusttasche seines weißen Overalls, unter dem er einen beneidenswert warm und sehr schottisch aussehenden Tweedsakko trug. Ich fror in meiner dünnen Brokatjacke, dem einzigen Stück Oberbekleidung, das mir in der Eile meines Aufbruchs in die Hände geraten war. Ich hatte am vergangenen Abend unsere Garderobenhaken für die Gäste geräumt und meine dicke Walk-Jacke ins Praxiswartezimmer meines Mannes gehängt. Beim Abschied der Gäste hatte ich noch schnell den neuen, sündhaft teuren Blazer vorzeigen müssen, so dass das gute Stück, nachdem es prüfenden Händen und nicht ganz neidlosen Blicken ausgesetzt gewesen war, die Nacht über der Sofalehne verbrachte.
Während Kerner seine Beobachtungen auf Band sprach, versuchte ich, aus seinen stakkatoartigen Formulierungen erste Ergebnisse zu entschlüsseln. Doch ich kam nicht weit, und so beschloss ich abzuwarten, bis er mit seiner Untersuchung fertig und bereit zu Erläuterungen war, die auch medizinische Laien wie ich verstanden. Ich bewunderte sein Engagement und seine Kompetenz. Viele bewunderten ihn, und es war kein Geheimnis, dass er auf den Direktorenposten des Instituts für Rechtsmedizin spekulierte. Bisher war er nur interimistischer Leiter. Vor drei Wochen hatten wir den Abschied seines Vorgängers Professor Busse in dem alten Backsteingebäude an der Von-Esmarch-Straße, mit dem anorektischen Adler über dem Eckportal und der umso wohl genährteren Eule am Seiteneingang, gefeiert. Busse würde in Münster wohnen bleiben und seinen reichen Erfahrungsschatz weiterhin zur Verfügung stellen.
Ganz im Gegensatz zu meinem eigenen Chef. Nach seiner Pensionierung Ende August hatte Dr. Gross, seit jeher für Überraschungen gut, seine kleine, alte Villa an der Gasselstiege einer Maklerin anvertraut und mit einer holländischen Jugendfreundin - er hatte über dreißig Jahre lang als Witwer allein gelebt - ein Hausboot gekauft, um die niederländischen Kanäle abzuschippern. Und falls es ihm und seiner Vera dort zu öde wurde, warteten die Pariser Quais oder die verträumten Seineschleifen, westlich der französischen Metropole, wo so manches Bild der Impressionisten entstanden war.
Dabei konnte „der Pinguin“, wie Gross in sentimentaler Rückschau noch immer von seinen Mitarbeitern genannt wurde, angeblich gar nicht schwimmen.
Ich fragte Lückmann, ob unser neuer Chef über den Leichenfund am Hörster Friedhof informiert sei. Er nickte. Dr. Sonnhagen erwartete uns so schnell wie möglich in seinem Büro, zur ersten Berichterstattung. Kein schöner Start!, dachte ich mitleidig, erst gestern Nachmittag der Einstand in unserem Meetingraum mit launigen Worten, Kir Royal und Schokoladentorte, nur fünfzehn Stunden später betroffene Gesichter, Fotos von wässrigen Blutlachen und der Leiche einer jungen Frau, die längst die Totenstarre erreicht hatte.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie genau in der Mitte zwischen den beiden Steintafeln lag. Es gab nicht viele Grabmäler auf diesem alten Friedhof. Flechten, Moose und eine grünliche Patina hatten sie im Lauf der Zeit mit einer Tarnfarbe überzogen, so dass es aussah, als hätten sich die Platten und Säulen langsam und beharrlich aus dem Untergrund herausgeschoben. Aber die weite Fläche hatte auch etwas von einer düsteren Bauklotzwiese für einen nekrophil veranlagten Riesen.
Als Dr. Kerner die Frau auf den Bauch drehte, kam am Hinterkopf eine Platzwunde zum Vorschein. Der Arzt nickte auf meine Frage, ob sie von ihrem Sturz auf den harten Untergrund herrühre. Mit Sicherheit sei sie nicht tödlich gewesen. Das Blut hatte die Haare verklebt, doch der relativ kleine, dunkle Fleck im Rasen verriet, dass die Blutung schnell zum Stillstand gekommen war. Demnach war die Wunde nicht sehr tief.
War die Frau vielleicht nicht erst hier, genau zwischen den beiden Grabplatten, unter ihren Verletzungen zusammengebrochen? Hatte der Täter sie hierher geschleift, um ein Zeichen zu setzen? Ich sah mir die Inschriften auf den Steinen an. Die Namen sagten mir nichts, beide Todesdaten fielen ins zweite Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, kurz bevor man den Friedhof aufgegeben hatte. Jugendliche trafen sich manchmal hier zum Kiffen, auch waren schon Penner beobachtet worden, wenn sie im Morgengrauen ihre mit alten Zeitungen ausgestopften Rewe- oder Lidltüten unter dem Kopf hervorholten. Die schrägen Steinplatten funktionierten wie Keilkissen, und die geweihte Erde hatten Schnee und Regen längst ausgewaschen.
Kerner - er war etwa eins neunzig und von massiger Statur - stemmte sich ein weiteres Mal aus der Hocke hoch, und als er dann beiseite trat, um über sein Handy einen Sarg anzufordern, betrachtete ich dies als Aufforderung, mir meinerseits die Tote gründlich anzusehen. Und da war sie auch wieder: meine zuverlässige, von Adrenalin gepeitschte Motivation, auch wenn sie immer ein bisschen Anlaufzeit brauchte. Ich dachte darüber nach, wo man nach möglichen Tatzeugen fragen könnte, hoffte auf gesprächsbereite Verwandte und Freunde des Opfers, die uns helfen würden, die letzten Tage der jungen Frau zu rekonstruieren, dachte an all die winzigen Details, die wir sammeln, sortieren und zusammensetzen würden, bis wir das Bild des Schuldigen, seines Motivs und des Tathergangs vor uns hatten. Wir würden nicht nur die Lebensgeschichten, sondern auch die Gewohnheiten und Eigenarten, die Wünsche und Interessen von Opfer und Täter kennen lernen; meist völlig alltägliche Neigungen, oft genug aber auch verbotene, abartige und gefährliche. Das Opfer war von ihnen in die Falle gelockt, dem Mörder waren sie zum Verhängnis geworden. Mit wie vielen Personen würden wir in der nächsten Zeit reden müssen, und wem konnte man trauen? Lügen mussten wie die sprichwörtliche Spreu vom Weizen der Wahrheit getrennt und die verschlüsselten Mienen nicht Aussagewilliger enträtselt werden. Wir würden Zusammenhänge zwischen Fakten finden, die vordergründig nichts miteinander zu tun hatten, Aussagen miteinander vergleichen, die sich widersprachen, Fäden verknüpfen, die bis dahin lose gehangen hatten. Den Schüchternen würden wir mit viel Geduld die Angst nehmen und den Arroganten ihre Selbstsicherheit.
Was für ein Credo am frühen Morgen!
Und was für ein erbarmungswürdiges Opfer.
Kerner hatte die Frau wieder auf den Rücken gedreht. Sie mochte Mitte zwanzig sein, etwa eins siebzig groß und hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit vollen Lippen und einer geraden, schmalen Nase. Die braunen Augen waren halb unter den Lidern verborgen. Ihr feucht-welliges, dunkles Haar erinnerte mich an die weichen Wolldocken, die meine Großmutter in der Hand gehalten hatte, wenn sie mich bat, ihr, die Hände hochgereckt, beim Aufwickeln der Wolle zu helfen. Das Kreisen meiner Hände war, verglichen mit unseren knallharten Ballspielen in der Schule, die reinste Rentnergymnastik, wie sie in Frauenzeitschriften empfohlen wurde. Natürlich hatte ich wissen wollen, wen sie als Nächsten „bestrickte“. Mein Großvater war tot, aber gab es nicht Schwäger oder Cousins als Abnehmer für Nierenschoner, Fäustlinge oder die einfühlsameren Fingerlinge?
Nirgendwo im Haar der Toten hatten sich Erdbrocken verfangen, wie es nach einem Kampf am Boden der Fall gewesen wäre. Der Regen hatte ihre Kleidung durchnässt. Ein Täter, der ihr diese Schutzlosigkeit ersparen wollte, hätte sie unter die dichten Zweige des Rhododendrons gezogen, wo sie auch vor fremden Blicken verborgen geblieben wäre. Warum ausgerechnet dieser Platz?
Ich rekapitulierte Kerners Schätzung des Todeszeitraums: frühestens dreiundzwanzig Uhr. Um diese Zeit waren immer noch Menschen unterwegs, Kino- und Theaterpublikum, Restaurantgäste, jemand, der Freunde besucht hatte oder spät von der Arbeit kam. Weshalb diese junge Frau unterwegs gewesen war, ließ sich an ihrer Kleidung nicht ablesen. Der schwarze Trenchcoat - ein Verkaufshit dieses Sommers - war mit einem blau-gelb gemusterten Tuch aufgefrischt, die restliche Kleidung bestand aus schwarzem Jeansrock, weinrotem Pullover, schwarzer Strumpfhose und flachen, anthrazitfarbenen Slippern. Sie trug weder Ringe noch Halsoder Ohrschmuck, sondern nur eine Swatchuhr mit ziemlich abgeschabtem Lederarmband. In ihrem Nylonrucksack steckte neben Papiertaschentüchern, der Verpackung eines Müsliriegels und einer Taschenbuchausgabe der Erzählungen von Thomas Mann nur ein zerfranstes Stoffportemonnaie im Indiolook mit dreißig Euro in Scheinen und ein paar Münzen. Kein Ausweis, kein Führerschein, weder Bank- noch Kreditkarte. Wir würden die Aussage des jungen Mannes, der sie gefunden hatte, überprüfen müssen. Vielleicht gab es ja inzwischen weitere Vermisstenmeldungen. Bei abgängigen Erwachsenen wartete man für gewöhnlich achtundvierzig Stunden, bevor die Suche aufgenommen wurde. Auch der junge Mann, der um sechs Uhr das Verschwinden seiner Schwester gemeldet hatte, war mit diesem Argument vertröstet worden. Und wenn die Tote eine Asylantin war, die auf falsche Papiere hoffte, während seine Schwester untertauchen musste? Und wenn es gar nicht seine Schwester war?
Als Schüller das Taschenbuch aus dem Gepäck der Toten auf eingelegte Zettel durchblätterte, sah ich ihm über die Schulter. Doch es steckte nur ein Lesezeichen drin. „Wälsungenblut?“, knurrte er, „was soll denn das heißen?“
„Inzest unter Geschwistern. Und die Wälsungen waren ein altes germanisches Geschlecht, aus dem die Nibelungen hervorgingen.“
„Boah!“, machte er mit geheuchelter Anerkennung und ließ das Buch in die Asservatentüte fallen. „Was haben wir für eine gebildete Kollegin.“
„Zufall“, schränkte ich ein. „Meine Tochter arbeitet gerade an einem Referat über diese Novelle von Thomas Mann.“
„Inzest? So etwas moralisch Zersetzendes lernt man heute in der Schule?“, auch seine Entrüstung war nur gespielt.
Dr. Kerner wippte auf seinen taub gewordenen Zehen und verstaute das Diktaphon im warmen Jackenfutter, während ich weiter unter den scharfen Böen fröstelte, die den Friedhof zausten. Ich rieb mir die starren Fingerspitzen, während ich Kerners vorläufiger Einschätzung der Situation zuhörte - zusammen mit Max, Cornelia Hanflang vom Tatortteam und Waldemar von Heinrichsdorff, unserem Fotografen, der Einfachheit halber von allen nur Heinrich genannt.
Nach Kerners Angaben war die junge Frau mit zwei „Volltreffern“ eines spitzen, scharfen Gegenstands in die Leber getötet worden, wobei noch nicht geklärt war, ob sie frontal vor dem Täter gestanden oder er sie von hinten gepackt hatte. Die Frage, wie groß der Täter war und ob wir es mit einem Links- oder einem Rechtshänder zu tun hatten, würde eine Untersuchung des Stichkanals beantworten. Auch sei, so fuhr Kerner fort, die Durchlässigkeit des Mantelmaterials zu prüfen, weil sie nicht nur Aufschluss über die Tatwaffe gebe, sondern auch über die Anatomiekenntnisse des Täters. Der allerdings musste kein Arzt sein, auch Internet-Informationen reichten aus.
Als Ansgar Schüller, der Leiter des Tatortteams, zu unserem kleinen, wie zu einer Verschwörung zusammengerottet wirkenden Grüppchen stieß, brachte Max die Frage auf, ob der Fundort identisch mit dem Tatort sei. Schüller bejahte mit vorsichtigem Optimismus. Unterschiedlich große Fußspuren im Gras, das stellenweise stark zertreten wirkte, Reifenabrieb am etwa einhundert Meter entfernten Bordstein der Piusallee, der auf einen Kavaliersstart hindeutete, und die nächtliche Bodenfeuchtigkeit seien viel versprechende Anzeichen. Der zähe Bodennebel klebe die Indizien förmlich fest. Sein Kollege Berni Wagner zeigte sich weniger zuversichtlich. In der Nacht habe es mittel bis stark geregnet. „Die Blutreste sind ziemlich versuppt, und was die Fußspuren anbelangt … ich bin da nicht so überzeugt.“ Seine permanente Skepsis, von einigen als pathologische Weltuntergangsstimmung moniert, drückte natürlich auch an diesem Morgen auf die Stimmung. Schüllers hüstelte, die anderen hüllten sich in Schweigen.
„Können Sie die Todeszeit vielleicht noch etwas eingrenzen?“, hakte ich nach, um die Unterhaltung wieder anzukurbeln.
„Nicht vor der Obduktion!“, wiegelte Kerner ab. „Sie hat gelebt, als ihr die Stichverletzungen zugefügt wurden, so viel steht fest. Jetzt haben wir halb neun, und die Totenstarre entspricht einem Postmortem-Zeitraum von sieben bis neun Stunden. Das heißt, der Todeszeitpunkt kann ab dreiundzwanzig Uhr angesetzt werden, wobei ich eine nächtliche bis frühmorgendliche Außentemperatur zwischen drei und sechs Grad berücksichtige.“ Diese Angaben stammten vom Wetterdienst des WDR, mit dem er auf dem Weg hierher telefoniert hatte. Alles Weitere würden wir im Lauf des Tages oder morgen erfahren. „Haben Sie schon nach Vermisstenmeldungen gefragt? “
„Jemand, der sich als ihr Bruder ausgab, hat um sechs Uhr in der Wache am Alten Steinweg Anzeige erstattet“, erklärte Lückmann, und ich dachte: Welcher junge Mann kennt schon die Freizeitbeschäftigungen seiner Schwester so genau, dass er beschließt, die halbe Nacht nach ihr zu suchen? Falls die beiden zusammen wohnten, sah die Antwort allerdings anders aus.
Als zwei Mitarbeiter des rechtsmedizinischen Instituts mit dem Sarg erschienen, nestelte Lückmann an seinem kunterbunt gestreiften Schal, der in dieser morosen Szenerie leuchtete wie ein Osterei mit Schleife, und ich wandte mich ab, um auf eigene Faust das Territorium zu ergründen. Ein Ritual, das ich hartnäckig praktizierte, wenn sich nur eben die Gelegenheit dazu bot.
Der feuchte Rasen, auf dem die Frau gelegen hatte, zeigte auch jetzt noch den Abdruck ihres Körpers. Von ihrer Taille bis etwa auf Höhe ihrer Kniekehlen hatte die Blutlache die niedrigen Grashalme und schütteren Moospolster ringsum mit einer rostfarbenen Kruste überzogen. Mein Blick wanderte über die Grabplatten links und rechts, die weder Blutspritzer zeigten noch Erdklumpen oder Fußabdrücke, die auf einen Kampf hätten schließen lassen. Ob die Inschriften in irgendeiner Weise mit dem Opfer in Verbindung standen, würde man später in Erfahrung bringen.
Wenn die Angaben des jungen Mannes, der sie gefunden hatte, stimmten, handelte es sich bei der Toten um die dreiundzwanzigjährige Sandra Küng, die in einer Innenstadtbuchhandlung beschäftigt war und an der Soester Straße, gleich hinter dem Hauptbahnhof, wohnte.
Der junge Mann hieß Mathias Küng und war unter derselben Adresse gemeldet. Ich wollte wissen, ob sich die beiden eine Wohnung geteilt hätten, worauf Lückmann entgegnete, das sei noch nicht geklärt.
 
„Hast du schon mit Mathias Küng telefoniert?“
Inzwischen waren wir, nach einem Abstecher zu Sandra Küngs Arbeitsstelle, im Präsidium angekommen und warteten im Büro darauf, dass Dr. Sonnhagen uns zu seiner ersten Lagebesprechung rief. Bis es so weit war - Sonnhagen hielt sich derzeit noch beim Polizeipräsidenten auf -, erstellten Max und ich unsere eigene, provisorische Tagesordnung.
Er nickte zu meiner Frage. „Herr Küng hat versprochen, den ganzen Tag zu Hause auf uns zu warten.“ Vielleicht wohnten er und seine Schwester tatsächlich zusammen, dachte ich optimistisch, und wenn ihre Wohnung in einem anderen Stockwerk liegt, besitzt er wahrscheinlich den Schlüssel. In beiden Fällen stände einer ersten Überprüfung ihrer Lebensverhältnisse nichts im Wege, einem Einblick in ihren Terminkalender, zum Beispiel, in ihr Adressbuch, ihre Mailbox. Erst jetzt fiel mir ein, dass die Kollegen vom Ermittlungsdienst bei der Leiche kein Handy gefunden hatten.
„Was macht Herr Küng beruflich?“
„Er betreibt eine Kneipe im Kuhviertel. Das ‚Trüffelschwein‘.“
„Also arbeitet er regelmäßig bis spät in die Nacht“, grübelte ich, „wer oder was hat ihn wohl dazu veranlasst, seine Schwester mit so viel Ausdauer zu suchen? Noch dazu an einem Freitag, wenn seine Kneipe wahrscheinlich auf vollen Touren läuft? Seine Schwester war volljährig. Und er behauptet doch, wegen ihr die halbe Nacht unterwegs gewesen zu sein, oder?“ Max nickte.
„Dann hatte er offenbar keine Ahnung, was gestern Abend auf ihrem Programm stand: ob sie mit jemandem verabredet war oder allein ausgehen wollte. Sonst hätte er nämlich, wenn er sich Sorgen um sie machte, nachfragen können, wo sie steckt. Ich meine, er hätte in anderen Lokalen fragen können oder bei Freunden.“
„Vorausgesetzt, sie hatte ihre eigene Wohnung: Wieso ist ihm überhaupt aufgefallen, dass sie abgängig war?“, konterte er. „Also wenn meine Schwester …“
„Deine Schwester, Max, könnte auf dem Mond gelandet sein, und du wüsstest es auch nach Wochen noch nicht.“
Max griemelte. Es war kein Geheimnis, dass Corinna und er, wenn überhaupt, nur im Streit miteinander redeten. Seitdem ihre Mutter ein Testament verfasst hatte, war es noch schlimmer geworden. Ich kannte Lückmann lange genug, um ihm auch nicht den leisesten Anflug von Erbschleicherei zuzutrauen. Er und seine Dauerverlobte Sabine lebten in geordneten Verhältnissen, gönnten sich im Sommer zwei Wochen Griechenland, im Winter fünf Tage Reit im Winkl und leisteten sich grundsätzlich nur das, was sich ohne Pump anschaffen ließ. Umso intriganter führte sich seine ältere, alleinerziehende Schwester auf, wenn es darum ging, die Rosinen aus dem Familienkuchen zu holen. In der zwanghaften Vorstellung, sie, die die schmerzhaften Einschränkungen einer Scheidung erlebt hatte, müsse begünstigt werden, behängte Corinna die Schlüssel an den Möbeltüren mit Namenszetteln und klebte Post-its unter die Teppiche. Bei dieser rabiaten Schrapperei würde ihm, so protestierte Max in regelmäßigen Abständen, nicht mal ein einziges, mickriges Andenken an seine Mutter bleiben.
„Dann halte dich ran“, hatte ich bei einem dieser Lamentos gestichelt, „sei dabei, wenn deine Schwester das Testament abzuändern versucht. Und sorg dafür, dass es nach dem Tod deiner Mutter einen Nachlassverwalter gibt.“
Aber er hatte nur abgewinkt und „Winkeladvokaten!“ gebrummt.
Unwillkürlich musste ich an die Töchter von Dr. Gross denken. Warum hatte er den Preis für seine Villa nicht selbst bestimmt? Schließlich war er nicht nur bei vollen geistigen Kräften, sondern auch ein fuchsschlauer Jurist, allerdings mit drei sehr erfolgsverwöhnten Töchtern gesegnet, die als Staatsanwältin, Richterin, Verteidigerin arbeiteten und ihrerseits mit Rechtswissenschaftlern verheiratet waren. Was würde aus ihrem hoffnungsvollen Nachwuchs werden? Wie kamen die Gene mit einer so einseitigen Orientierung zurecht? Auch mein Vater arbeitete als Rechtsanwalt, doch Franz war Tierarzt und unsere Tochter träumte neuerdings von einer Schauspielerkarriere.
Das Telefon riss mich aus meinen Überlegungen. Es war Hilly Türmer, die uns mitteilte, der Chef erwarte uns. Ihre sonst immer sehr freundliche Stimme erinnerte mich an den Aufruf eines säumigen Flugpassagiers, dessen Gepäck bereits ausgeladen wurde.
Lothar Sonnhagen war dreiundfünfzig und promovierter Jurist. Er stammte aus einer alteingesessenen münsterschen Familie und hatte sich im Landeskriminalamt Düsseldorf eine steile Karriere aufgebaut. Seit einem Jahr von einer Düsseldorfer Rechtsanwältin geschieden, hatte er sich umgehend für den frei werdenden Platz des Leiters des münsterschen KK 11 beworben, um seiner auf Grund familiärer Schwierigkeiten wohl ziemlich verhassten Wahlheimat den Rücken zu kehren. Noch führe er täglich hin und her, hatte Hilly berichtet, die in ihrer liebenswerten und quirligen Person die Tüchtigkeit der Chefsekretärin mit der Umtriebigkeit einer Mutter Courage vereinte. Natürlich hatte sie auch längst herausgefunden, dass Dr. Sonnhagen dringend ein Haus suchte, um seine drei schulpflichtigen Kinder an den Wochenenden um sich zu scharen, und selbstverständlich kam nur Eigentum in Frage. Zur Miete zu wohnen, könne er sich absolut nicht vorstellen. Hatte Hilly ihm von der Gross-Villa erzählt?
Er saß an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen. Ohne aufzublicken, gab er uns mit einer knappen Handbewegung die Order, Platz zu nehmen. „Für elf Uhr möchte ich alle an dem neuen Mordfall beteiligten Mitarbeiter im Meetingraum versammelt sehen“, verkündete er, noch immer mit der Nase über seinen Papieren. „Vielleicht können Sie das in der Zwischenzeit publik machen. Und Frau Türmer soll für ausreichend Kaffee sorgen.“ Die Feder seines Füllhalters kritzelte und krakelte, als folgte sie den labyrinthischen Wegen zu einem Schatz, der innerhalb der nächsten zehn Minuten entdeckt werden musste, weil er sich sonst in Luft auflöste. Ich nutzte seine geistige Absenz, um sein Outfit zu studieren. Trotz der starken, knochigen Nase und den kräftigen Geheimratsecken, die sich wie kurze, aber breite Schneisen in seinen dichten, dunklen Haarschopf geschlagen hatten, wirkte sein Gesicht recht angenehm. Beides, Nase und Haarschopf, erinnerte mich an meinen münsterschen Vorgänger Frieder Lenz, der vor zehn Jahren zum Ersten Kriminalhauptkommissar im Kölner Präsidium aufgerückt war.
An seinem linken Handgelenk funkelte in den Sonnenstrahlen, die den herbstlichen Frühnebel inzwischen verjagt hatten, ein klotziges, multifunktionales Zifferblatt an einem breiten Metallarmband. Seinen rechten Ringfinger schmückte ein Siegelring mit graviertem Lapislazuli. Die Finger waren lang und kräftig, ohne sichtbare Behaarung. Wahrscheinlich besaß er auch einen respektablen Waschbrettbauch ohne störenden Wollbesatz. Meine Mundwinkel zuckten, während ich darüber nachdachte, dass die meisten Mitarbeiterinnen diese ziemlich weit unten angebrachte Gedankenschublade nur dann herauszogen, wenn ihr Chef ihnen Muße dafür ließ.
Mein Blick kehrte zu Sonnhagens unermüdlich kritzelnden Fingern zurück, und ein anderes Bild öffnete sich vor meinem inneren Auge: die weichen, bunten Fangarme der Aktinien. Auf deutsch: Seeanemonen. Hin- und hergetrieben von der sanften Tiefseeströmung, ergatterten sie nur selten lohnende Beute, bis sich irgendwann ein ahnungsloser Fisch verhedderte.
Seine Kleidung bestand aus einem nachtblauen Anzug zum weißen Hemd und zur ebenfalls dunkelblauen Krawatte mit bordeauxroten Pünktchen. Ich setzte im Geiste den „Pinguin“ daneben, in seinen stets abgewetzten, schwarzen Anzügen, die aussahen wie Outletware der Firma „Mafiaboss“, und den auf abenteuerlichste Weise gepunkteten, gestreiften oder karierten Fliegen. Wenn Dr. Gross uns warten ließ, dann nicht, um Neuigkeiten von weltbewegender Wichtigkeit aufzuschreiben, sondern weil er unbedingt noch den Sportteil der Münsterschen Zeitung zu Ende lesen musste. Für Mord und Totschlag war danach noch Zeit genug. Mit einem leisen, inneren Lächeln überschlug ich die zehn Jahre, in denen ich, bis auf sechs Urlaubswochen jährlich, jeden Werktagmorgen an dieser vorderen Schreibtischseite gesessen hatte. Manchmal mit, manchmal ohne Lückmann, doch immer umschwelt von den Zigarrenschwaden des Dr. Gross und virtuell angelächelt von seinen drei Töchtern, die sich jetzt nicht auf den Verkaufspreis seines Hauses einigen konnten. Die Tatsache, dass die kleine, plüschige, aber sehr atmosphärische Villa zum Verkauf stand, hatte Franz und mich in lange Gespräche verwickelt. Unsere Vermieterin meldete Eigenbedarf, spätestens zum Jahresende mussten wir unser Haus in Handorf räumen. Aber noch standen unsere Pläne in den Startlöchern, zum einen weil die Töchter von Dr. Gross den Kaufpreis noch nicht festgelegt, Franz und ich dagegen unsere finanziellen Limits hatten, zum anderen weil unsere eigene Tochter seit neuestem verkündete, in Zukunft abends nicht mehr stundenlang „über die Dörfer dümpeln“ zu wollen, um ein Dach über dem Kopf zu haben. An der Gasselstiege waren die Busverbindungen bedeutend schlechter als in Handorf.
Der Pinguin hatte die Fotos seiner Töchter so gereiht, dass seine Besucher die Faszination ihrer zwar herben, aber auch sehr intelligent und zielstrebig wirkenden Mienen aus größter Nähe erlebten. Mädels!, hatte ich ihnen jedes Mal, wenn ich in letzter Zeit dort saß, mit einem schnellen Zwinkern zugeraunt, macht mir einen guten Preis, und ich kaufe das Haus, in dem euer Vater glücklich war, zum ersten Mal seit dem Selbstmord seiner Frau. Das hat er mir persönlich erzählt. Und auch dass seine vier Enkel - eure Kinder - seinen Garten so gern hatten. Diesen Garten werde ich hegen und pflegen. Aber macht mir ein faires Angebot …
Erschrocken fuhr ich mir über die Stirn. Was hatte dieser sentimentale Kram hier zu suchen? Außerdem war die Villa „Pinguin“ ziemlich unpraktisch mit ihren vielen kleinen Zimmern; dem „Spielkasino“, der „Denkstelle“, der Bibliothek; selbst das Esszimmer wirkte puppenhaft, spießig beinahe - eine Bausünde das Ganze. Und war nicht der Garten völlig verunstaltet durch alberne Gartenzwerge, die er hatte einzementieren lassen, damit seine Enkelkinder sie nicht umrannten? Allerdings besaß das Haus hübsche, weiße Sprossenfenster und eine zweiflügelige, ebenfalls weiß lackierte Eingangstür mit fein geschwungenen Glaseinsätzen, deren Schnörkel dem Paisleymuster nachempfunden waren. Ein bisschen energischer verdrängte ich dagegen das Bild der geschmacklosen Garderobenhaken in Form eines Hirschgeweihs oder der überdimensionalen Milchkanne mit dem Enzianemblem, die als Schirmständer diente, und kehrte zurück zu den ernüchternden Fakten dieses Morgens. Vielmehr holte Lückmanns Stimme mich in die Gegenwart.
„… deutet der Todeszeitraum von dreiundzwanzig Uhr bis in den frühen Morgen eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen Sandra Küng und ihrem Mörder an.“ Da Sonnhagen die Augen weiter auf seine Aufzeichnungen richtete, warf Max mir einen Blick zu, der nach Beistand und Zustimmung verlangte.
Das konnte er haben. „Mit wem trifft man sich so spät am Abend?“, pflichtete ich ihm bei. „Es sei denn, wir haben es mit einer Zufallsbegegnung zu tun.“ Wenn Frau Küng die Abkürzung über den Hörster Friedhof regelmäßig nahm, wusste der Täter vielleicht davon.
Wieder kratzte Sonnhagens Füllfeder emsig übers Papier, als wollte er jeden einzelnen Gedanken festhalten. Ich fragte mich, warum er kein Aufzeichnungsgerät mitlaufen ließ. Und während mir mein kleiner innerer Teufel, der mich gern zur spontanen Rebellion aufstachelte, einflüsterte, ich solle kommentarlos aufstehen und weggehen, unterzog der wesentlich lethargischer veranlagte Max seine Fingernägel einer ausgiebigen Kontrolle. Also blieb ich sitzen, obwohl mich diese Warterei allmählich mehr peinigte als ein Wadenkrampf, und nutzte die Zeit für einen kritischen Rundblick durchs Zimmer. Sonnhagen hatte den Schreibtisch des Pinguins übernommen, ihm jedoch einen sehr teuer aussehenden Perser untergeschoben. Auch die kräftige Anthurie, die unser alter Chef zu irgendeinem Dienstjubiläum geschenkt bekommen hatte, schmückte weiterhin den Raum, mit dem Unterschied, dass sie in einen bedeutend größeren, blau glasierten Kübel umgetopft worden war, der fast dramatisch zu ihren tiefroten Blüten kontrastierte und auf einem niedrigen Rolltischchen direkt am Fenster stand; wahrscheinlich Hillys Werk. Bestimmt hatte sie geflucht wie ein Kutscher, sie sei weder Gärtner noch Schaufensterdekorateur. Und sie hatte es auch garantiert abgelehnt, die drei großen Umzugskartons auszupacken, die sich an der Fensterfront reihten und mit ihren heruntergeklappten Deckeln an Elefantenohren erinnerten. Ich überlegte gerade, welche Elefanten die größeren Ohren besaßen: die indischen oder die afrikanischen, da hob Sonnhagen völlig überraschend den Kopf, als wollte er mich bei meiner wenig sachdienlichen Gehirnakrobatik ertappen. Er grinste und fuhr in seinem Gekrakel fort.
Meine Augen wanderten weiter, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, an dem mein Frust abprallen konnte wie ein Squashball in einer Sporthalle. Doch alles was ich entdeckte, war mit meinem alten Chef verbunden, als klebten noch seine Fingerabdrücke darauf. Nur der große Kristallascher, mit dem er demonstrativ gegen das allgemeine Rauchverbot verstoßen hatte, war verschwunden und seine beeindruckende Sammlung von Elefantenplastiken, die den Aktenrollschrank dekoriert hatte, auf wenige Highlights reduziert. Das große mahagonifarbene, auf Hochglanz polierte Exemplar mit dem drohend erhobenen Rüssel stand noch da, außerdem das symmetrische, sehr verliebt wirkende Pärchen aus Elfenbein und Ebenholz, auch die possierliche, durch Schwänzchen und Rüsselchen ineinander verhakte Fünfer-Familie aus fein ziseliertem Silber durfte bleiben. Die Unmenge der Trabanten aus billigerem Material - Speckstein, Keramik oder Glas - hatte der neue Hausherr unerbittlich entfernt.
Auch an seiner eigenen Sammelleidenschaft ließ Sonnhagen seine Besucher teilhaben. Die Wände schmückten die in gebürstetem Edelstahl gerahmten Reproduktionen alter Bauzeichnungen von Johann Conrad Schlaun, dem die Stadt Münster mehrere Barockgebäude verdankt. Links vom Schreibtisch hing der Erbdrostenhof, daneben ein Aufriss der Längswand und ein Grundriss der Loretokapelle. Rechts prunkte ein kolorierter Plan von Residenzschloss, Neuplatz und Hofgarten. Wo hatte Sonnhagen diese Schätze aufgetrieben?
Als er Max wieder zum Reden aufforderte, gab dieser ihm so detailliert Auskunft über unsere bisherigen Ergebnisse, als hätte sich das lange Schweigen in seinem Innern zu Wortkaskaden aufgetürmt. Dabei gipfelten unsere Meldungen lediglich in der Neuigkeit, dass die Tote als Mathias Küngs Schwester identifiziert worden war, nachdem die Befragung in ihrer Arbeitsstelle auch die letzten Zweifel beseitigt hatte. Ich war erleichtert, dass Max ungeachtet seines Redeflusses sämtliche Spekulationen, die wir an unseren eigenen Schreibtischen angestellt hatten, aus dem Spiel ließ. Er hielt sich an die reinen Fakten, und ich fand es beeindruckend, dass sie für einen Monolog reichten, der gut und gern ein Königsdrama von Shakespeare eröffnen konnte. Normalerweise pflegte Max im Telegrammstil zu berichten.
Obwohl er damit rechnen konnte, in den nächsten Stunden alle Protokolle auf seinen Tisch zu bekommen, hatte sich unser Chef wieder eifrig Notizen gemacht. In meinen Augen verlieh ihm diese ungestüme Notierwut etwas Streberhaftes, das zu seinem dunkelblauen Kommunionanzug passte. Er überflog seine voll geschriebenen DIN-A4-Seiten, als wollte er sichergehen, dass er seine Fleißaufgaben pflichtgemäß absolviert hatte, dann entließ er uns mit einer wedelnden Handbewegung und dem kommandoartigen Hinweis auf das Meeting in einer halben Stunde. Seiner sonoren Bariton-Stimme zum Trotz, wirkte er dabei wie ein kleiner Junge, diesmal wie einer, der mit Zornestränen drohte, wenn nicht alle seiner Geburtstagseinladung folgten. Gehörte er vielleicht zu jenen Charakteren, die sich bis ins Alter eine gewisse Kindsköpfigkeit bewahrten und noch stolz darauf waren? Max redete bereits mit Hilly im Vorzimmer, als Sonnhagen mich zurückrief. „Züricher!“
Ich zuckte zusammen, obwohl ich meinen Nachnamen wirklich mag. Befanden wir uns hier auf dem Truppenübungsplatz?
„Herr Dr. Sonnhagen?“ Gelang mir das Lächeln wirklich so souverän, wie ich es mir wünschte?
„Haben Sie für heute Abend schon irgendwelche privaten Pläne? “
„Ich bezweifle, dass ich heute einen privaten Abend haben werde. Am ersten Tag eines neuen Falls sind wir hier in Münster im Allgemeinen sehr beschäftigt. Und berufen Sie nicht ein Meeting für elf Uhr ein? Dann fällt auch die Mittagspause flach, aber eine warme Mahlzeit müssen Sie Ihren Mitarbeitern schon einräumen. Sonst arbeiten unsere Dachstübchen nicht mehr richtig.“
Vorsichtshalber, um ihm nicht die Laune zu verderben, erinnerte ich ihn nicht daran, dass er Max und mir auch noch die Bekanntmachung des Meetings um elf aufgebuckelt hatte. Als wären wir seine Laufburschen. Schließlich gab es schlimmstenfalls auch die Möglichkeit, eine Sammelmail herumzuschicken.
Er winkte lässig ab. „Die Besprechung ist spätestens um zwölf vorbei. Dafür sorge ich schon! Sollen die Herren und Damen Kollegen doch erstmal weitere Fakten sammeln!“
„Zumindest zu den Damen gehöre ich auch. Und welche Verwendung hätten Sie überhaupt heute Abend für mich?“ Vielleicht sämtliche Schuhe putzen oder schnell ein paar Hemden bügeln, weil er noch keine Haushälterin gefunden hatte? So anspruchsvoll, wie sich dieser Typ gebärdete, hatte ich ja nicht mal meinen Vorgesetzten bei der Münchener Sitte erlebt. Doch meine gereizte Stimme irritierte ihn kein bisschen.
„Ich möchte mit Ihnen essen gehen“, konterte er mit so verheißungsvoller Mimik, als hätte in Münsters Innenstadt über Nacht ein Gourmettempel aufgemacht, den man keinesfalls verpassen durfte, bevor sich die Speisekarte auf das Wald- und Wiesenprogramm der Studentenkneipen nivellierte. Vielleicht konnte er Gedanken lesen, denn er setzte prompt nach: „Kennen Sie sich in Münsters Gastronomie aus?“
Diese Frage hatte ich vor etwas mehr als einem Jahr schon einmal gehört. Doch der alte münstersche Professor, der sie damals gestellt hatte, lebte ganz allein. Seine Frau war vor Jahren gestorben, während Sonnhagens Verwandte sich im Örtlichen Telefonbuch nur so tummelten. Warum fragte er nicht sie um Rat, wenn ihm nach kulinarischen Höhenflügen zumute war?
War es vorstellbar, dass sich unser neuer Chef unsicher fühlte? Einfach nicht wusste, wie er sich diesem eingefahrenen Tross neuer Mitarbeiter nähern sollte? Heute Morgen, vor der trostlos-nebeligen Kulisse des Hörster Friedhofs, hatte er mir leid getan. Es war kein angenehmer Start in einer neuen Dienststelle, wenn gleich am zweiten Morgen ein Kapitalverbrechen gemeldet wurde und man nicht mal die Zeit hatte, Schreibtisch und Schränke einzuräumen. Dann erinnerte ich mich, dass sogar mein allererster Arbeitstag im münsterschen KK 11 von einem Mordfall überschattet worden war. Mitten aus meiner Einstandsfeier mit bayrischen Weißwürsten, Bretzeln und weiß-blauer Tischdekoration waren wir zur Himmelreichallee gerufen worden, wo ein münsterscher Gymnasiumsdirektor über seinem Mercedes-Lenkrad hing. Damals war ich dreiunddreißig, zwanzig Jahre jünger als unser neuer dynamischer Chef mit all seinen Erfahrungen aus dem Landeskriminalamt. Oh nein, Mitgefühl war hier völlig fehl am Platz. Wie Hilly behauptete, hatte Sonnhagen sich vehement um diesen Job beworben. Unsere Dezernatssekretärin wusste immer ein bisschen mehr als wir, und offensichtlich begegnete sie ihrem neuen Vorgesetzten mit der Unerschütterlichkeit einer Hansekogge bei Windstärke Zehn. Im kommenden März feierte Hilly ihren Sechzigsten, ihre Pension war so fest einzementiert wie die chinesischen Gartenzwerge des Pinguins. Wenn jemand eine lose Zunge riskieren konnte, dann sie!
„Ich würde“, hörte ich mich zu meiner eigenen Verblüffung und völlig gegen meinen Willen sagen, „das Landhaus Schulte-Bracht vorschlagen. Es liegt stadtauswärts an der Grevener Straße, und wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin. Dann können Sie ein Glas Wein trinken oder ein Bier.“ Gütiger Gott, was war denn los mit mir, dass ich seinen Herrschaftsansprüchen auch noch entgegenkam? Wirkte der erste Schock nach unserem neuen Mordfall etwa noch immer? Der Anblick der toten Sandra Küng hatte sich in meine Netzhaut eingebrannt. Wie nach einem Blick des ungeschützten Auges in eine Sonnenfinsternis flackerte das Negativbild ihrer Leiche auf, sogar wenn ich gar nicht an sie dachte.
„Fein!“, entgegnete er selbstzufrieden. So musste in alten Zeiten der Besitzer einer Bananenplantage geklungen haben, wenn sein Kutscher vor dem säulenverzierten Hauptportal hielt, um ihn zu heimlichen Vergnügungen in die nächste Stadt zu fahren.
„Und was mache ich mit der Befragung von Mathias Küng? Was, wenn er nur heute Abend Zeit hat?“
„Sie meinen den Bruder des Mordopfers? Erledigen Sie das heute Nachmittag. Der Bursche ist dazu verpflichtet, den ganzen Tag auf uns zu warten.“ Er winkte mich näher an den Schreibtisch und raunte: „Verstehen Sie doch, Frau Kollegin. Ich möchte einen Überblick über unsere Abteilung gewinnen. Den verschaffen Sie mir bei einem gemeinsamen Essen. Am Montag ist Ihr Assistent Lückmann an der Reihe. Ich meine mit dem Arbeitsessen.“
„Mein Kollege Lückmann, Herr Doktor Sonnhagen!“
Er wedelte mit der Hand, als verjagte er eine Fliege. „Also, um sieben ist Aufbruch zu diesem Landhaus … Wie hieß es doch gleich? Und wenn Sie in diesem Fresstempel einigermaßen bekannt sind, dann sorgen Sie doch bitte dafür, dass wir schnell bedient werden. Wie sieht denn übrigens die Speisekarte aus?“
Ich schenkte ihm ein zynisches Lächeln. „Es klingt seltsam, aber manchmal enthalten unsere Polizeiakten mehr Informationen als die Broschüre ‚Münster geht aus‘. Und Sie bekommen sie sogar kostenlos. Wenn Sie im Lauf des Tages die Zeit finden, den Fall Maja Lehnbach vom August des vergangenen Jahres aufzuschlagen, dann können Sie dort alles Wissenswerte über das Landhaus Schulte-Bracht nachlesen. Die Speisekarte finden Sie auf der Website.“ Damit war ich aus der Tür, um Lückmann zu warnen, dass sein Kraftkammertraining am Montagabend einem dienstlichen Dinner zum Opfer fiele. Es sei denn, Dr. Sonnhagen stand nach dem heutigen Abend nicht mehr der Sinn nach exklusiven Arbeitsessen im Tête-à-Tête. Welcher eigenartige Teamgeist löffelte ihm eigentlich die Hoffnung ein, er könne seine neuen Mitarbeiter beim Essen über unsere Interna ausfragen? Mein Mund würde jedenfalls wie zugenäht sein.
Ich rief Agnes Schulte-Bracht an und bestellte für halb acht einen Zweiertisch in einer ruhigen Nische, bevorzugte Bedienung inklusive. „Ich bringe den neuen Abteilungsleiter der Mordkommission mit.“
Agnes hatte mich begrüßt wie eine alte Freundin, doch die Ankündigung meines Begleiters verschlug ihr die Sprache. Offenbar hatte sie noch immer Respekt vor Besuchen der Polizei. Selbst wenn sie nur kam, um die legendäre westfälische Kartoffelsuppe ihres Mannes Clemens zu testen.
Das Meeting endete schon um viertel vor zwölf, und es brachte neue Erkenntnisse. Vielleicht lag es ja an seinem mollig-warmen Jackett, dass Dr. Kerner nach der Leichenschau auf dem windigen Hörster Friedhof gleich im Sektionsraum seines Instituts aktiv geworden war. Sein Assistent Jochen galt ohnehin als passionierter Frühaufsteher, der seine Lungen gern mit klarer Morgenluft voll pumpte, bevor sich dort die Formalindünste seiner Arbeitsstelle breit machen konnten. Konsequent ließ er auch den Magenbeton aus Frischkornbrei und Dickmilch auf dem Frühstückstisch stehen, den ihm seine Mutter in unbelehrbarer Hartnäckigkeit jeden Morgen zubereitete. Jochens Aussage zufolge stülpte allein der Gedanke an die morgendlichen Obduktionsvorbereitungen sein Verdauungssystem regelmäßig nach außen, was ihn genauso regelmäßig an das Bild seiner Mutter erinnerte, wie sie seine Socken auf links drehte, um die Löcher zu stopfen. Vor drei Uhr nachmittags konnte Jochen grundsätzlich nichts zu sich nehmen, und selbst dann bediente er sich aus einer mitgebrachten Tupperbox. Er war ein eigenartiger Kauz, mit einem fast kahlen Kopf, einer Iris, deren Blau an Farblosigkeit grenzte, und einem Mund so eckig und schmal wie ein Briefkastenschlitz. Auch wenn gerade keine Sektion stattfand, schien er stets präsent, und wenn ihn lediglich der Duft seiner Zigarillos verriet, der den Eingangsbereich des Instituts einräucherte wie Weihrauch ein Kirchenschiff beim Seelenamt.