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Marc widmet dieses Buch seinen Eltern, die ihm schon früh vermittelt haben, wie wertvoll Mitgefühl und Gerechtigkeit sind.
Enge Begegnungen mit zahlreichen Tieren haben diese wichtigen Lektionen weiter vertieft.

Jessica widmet dieses Buch allen Tieren, die sie kannte und liebte.

Vorwort

Es ist absolut möglich, dass es da draußen ... eine Reihe von intelligenten Männern und Frauen gibt, denen noch nicht bewusst ist, dass wilde Tiere moralische Normen besitzen und dass sie höchstwahrscheinlich diesen Normen besser entsprechen als Menschen den ihrigen.
WILLIAM HORNADAY, Seelen und Sitten wilder Tiere

Ein junger weiblicher Elefant mit einem verletzten Bein wird von einem hormongesteuerten jungen männlichen Elefanten umgerannt. Ein älteres Weibchen scheucht das Männchen weg, geht zu dem jungen Elefanten zurück und berührt sein verletztes Bein mit dem Rüssel. Elf Elefanten retten eine Gruppe von gefangenen Antilopen in KwaZula-Natal; die Matriarchin öffnet alle Schlösser des Gatters mit ihrem Rüssel und lässt das Tor aufschwingen, sodass die Antilopen entkommen können. Eine Ratte in einem Käfig weigert sich, einen Hebel für Futter zu drücken, wenn sie sieht, dass als Resultat davon eine andere Ratte einen elektrischen Schock erhält. Eine männliche Diana-Meerkatze, die gelernt hat, eine Münze in einen Schlitz zu stecken, um dafür Futter zu bekommen, hilft einem Weibchen, das diesen Trick nicht lernen konnte. Er steckt ihre Münze in den Schlitz und gibt ihr das Futter. Ein weiblicher Flughund hilft einem anderen, nicht verwandten Weibchen bei der Geburt, indem es ihr die richtige Stellung zeigt. Eine Katze namens Libby führt ihren älteren, tauben und blinden Hundefreund Cashew um Hindernisse herum zu Futter. In einer Gruppe von Schimpansen im Zoo von Arnhem in Holland werden Schimpansen bestraft, die zu spät zum Essen kommen; niemand bekommt zu essen, bevor nicht alle anwesend sind. Ein großer Rüde möchte mit einem jüngeren subdominanten Rüden spielen. Der große Hund fordert seinen jüngeren Partner zum Spiel auf und hemmt sich selbst, beißt seinen jungen Kumpan vorsichtig und erlaubt ihm, vorsichtig zurückzubeißen.

Zeigen diese Beispiele, dass Tiere moralisches Verhalten zeigen können, dass sie mitfühlend, empathisch, altruistisch und fair sind? Besitzen Tiere eine Art von moralischer Intelligenz?

Wir leben in einer »tierischen Zeit«. Dominique LaCapra, ein Historiker von der Cornell Universität, hat gesagt, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Tiere sein wird. Forschung über tierische Intelligenz und tierische Emotionen beschäftigt Forscher in den verschiedensten Disziplinen – von Evolutionsbiologie und kognitiver Ethologie zu Psychologie, Anthropologie, Philosophie, Geschichte und Religionsforschung. Es besteht ein gewaltiges Interesse am emotionalen und kognitiven Leben von Tieren: Jeden Tag gibt es neue, überraschende Berichte, die einige unserer Vorstellungen über Tiere ad absurdum führen. Zum Beispiel können Fische auf ihren eigenen relativen sozialen Status schließen, indem sie statusrelevante Interaktionen bei anderen Fischen beobachten. Fische haben auch gezeigt, dass sie einzigartige Persönlichkeiten besitzen. Wir wissen, dass Vögel sich Gedanken über zukünftigen Mahlzeiten machen können und dass ihre Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen, oft die von Schimpansen übersteigt. Ratten können ein hakenähnliches Werkzeug benutzen, um an Futter zu kommen, das außerhalb ihrer Reichweite ist. Hunde klassifizieren und kategorisieren Fotografien auf die gleiche Weise wie Menschen. Schimpansen wissen, was andere Schimpansen sehen können, und zeigen bei Computerspielen ein besseres Gedächtnis als Menschen. Tiere – von Elstern über Otter zu Elefanten – trauern um ihre Jungen und Mäuse besitzen Empathie. Jeder, der die wissenschaftliche Literatur oder die Populärliteratur verfolgt, merkt, das wir gerade extrem viel über Tierverhalten lernen.

Täglich kommen neue Informationen dazu und fegen überkommene Grenzen zwischen Menschen und Tieren hinweg. Wir sind gezwungen, unsere althergebrachten, engstirnigen und stereotypen Ansichten über das, was Tiere denken, tun oder fühlen, zu verändern. Wir waren zu kleinlich, zu sehr auf uns selbst fokussiert, aber nun zwingt uns die neuere wissenschaftliche Forschung, unseren Horizont hinsichtlich der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten anderer Tiere zu erweitern. Eine Annahme wird ganz besonders herausgefordert durch diese neuen Forschungsergebnisse – nämlich die Annahme, dass Menschen die einzigen moralischen Lebewesen sind.

In diesem Buch argumentieren wir, dass Tiere ein breites Repertoire an moralischen Verhaltensweisen besitzen und dass ihr gesamtes Leben durch diese Verhaltensmuster bestimmt wird. Überlegungen zu könnte und müsste, Überlegungen, was gut oder böse ist, spielen eine wichtige Rolle bei ihren sozialen Interaktionen, genauso wie sie es bei uns Menschen tun. Auch wenn Sie bei diesen Aussagen Skepsis empfinden, bitten wir Sie um einen offenen Geist und laden Sie ein, Tiere neu zu betrachten. Tatsächlich hoffen wir, dass selbst die skeptischsten Leser ihre Meinung über moralisches Verhalten bei Tieren ändern werden.

Tiere haben nicht nur einen Sinn für Gerechtigkeit, sondern auch einen Sinn für Empathie, Vergebung, Vertrauen, Gegenseitigkeit und noch einiges mehr. In diesem Buch haben wir aktuelle wissenschaftliche Forschung zur Moral bei Tieren zusammengefasst. Wir zeigen, dass Tiere ein reiches Innenleben haben, dass sie ein nuanciertes Repertoire an Emotionen besitzen, einen hohen Grad an Intelligenz (sie sind wirklich schlau und anpassungsfähig) und dass sie in ihren komplexen und wechselnden sozialen Beziehungen eine ausgeprägte Verhaltensflexibilität demonstrieren. Sie sind hochflexible soziale Akteure: Sie bilden feine Netzwerke von Beziehungen und leben nach Spielregeln, die die soziale Balance aufrecht halten (das, was wir soziale Homoeostase nennen).

Wir werden uns auch mit der Evolution von Moral befassen. Eine Titelgeschichte im Time Magazine, Dezember 2007, fragte »Was macht uns moralisch?« Der Text fasste den aktuellen Stand der Forschung über die Evolution von menschlicher Moral zusammen. In diesem Zusammenhang wurde auch kurz die Möglichkeit von moralischem Verhalten bei Tieren erwähnt. Wenn wir davon ausgehen, dass sich Moral bei Menschen in der Evolution entwickelt hat, landen wir unweigerlich bei der Frage nach Moral bei anderen Tieren. Seit langer Zeit geht man davon aus, dass Menschen und andere Tiere bestimmte anatomische Strukturen und physiologische Mechanismen gemeinsam haben. Insbesondere haben Menschen und andere Säugetiere bemerkenswert ähnliche Nervensysteme.

Für diejenigen unter Ihnen, die sich in der Evolutionsbiologie etwas auskennen: Es geht um evolutionäre Kontinuität. Evolutionäre Kontinuität bedeutet, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Tierarten eher quantitativer denn qualitativer Art sind. Dies wird gestützt durch eine große Bandbreite von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten bei verschiedenen Spezies. Wir glauben, dass es keinen moralischen Graben zwischen Menschen und anderen Tieren gibt und dass Aussagen wie »die Verhaltensmuster von Wölfen oder Schimpansen sind lediglich Bausteine für menschliche Moral« uns nicht richtig weiterbringen. Im Endeffekt sind Unterschiede in der Quantität nicht besonders aussagekräftig, denn jede Tierart ist fähig, »das Richtige und Wichtige zu tun«. Die Biologie führt uns zu der Schlussfolgerung: Moral hat sich in der Evolution entwickelt und »sie« (andere Tiere) haben sie genauso wie »wir«.

Wir werden auch kurz auf das Thema der Gruppenselektion eingehen, denn unsere Diskussion von moralischem Verhalten hat Auswirkungen auf diese Debatte. Während wir dieses Buch fertigstellten, erschien eine Reihe von Artikeln mit Schlagzeilen wie »Überleben des Nettesten« oder »Überleben des Selbstlosen«, in denen gesagt wurde, dass Tiere tatsächlich »für das Überleben der Gruppe, in der sie leben, arbeiten«.

Neben der Zusammenfassung neuer Forschungsergebnisse über Tiere liefert das Buch auch diverse große Herausforderungen zur Fragestellung, wie soziale Tiere verstanden und untersucht werden sollten. Wir stellen die Vorherrschaft des Konkurrenz-Paradigmas in Frage, welches die Diskussion über die Evolution von sozialem Verhalten bislang dominiert hat. Die Vorherrschaft dieses Paradigmas in der Ethologie und Evolutionsbiologie führt nicht nur in eine falsche Richtung, sondern ist in sich falsch. Momentan findet ein Paradigmenwechsel statt, von der »grausamen Natur« hin zur tierischen Gerechtigkeit. Die unzähligen Momente, in denen wir sehen, wie individuelle Tiere zusammenarbeiten, sind nicht nur Fassade für Kooperation, Fairness oder Vertrauen, sondern »echt«. Kooperation, Fairness und Gerechtigkeit müssen in die evolutionäre Gleichung mit aufgenommen werden, um die Entwicklung von sozialem Verhalten bei zahlreichen Tierarten verstehen zu können. Für dieses Verständnis ist es auch wichtig, sich mit sozialem Spielverhalten zu beschäftigen – einer Aktivität, die eigentlich von fast allen Wissenschaftlern übersehen wurde, die sich bislang mit der Evolution von Moral befassten. Spielverhalten zeigt deutlich, dass sich Moral auch bei anderen Tieren als Menschen entwickelt hat.

Um unsere Aussagen zu belegen, werden wir zahlreiche Beispiele von anderen Tierarten anführen, nicht nur von Menschenaffen, sondern vor allen Dingen von sozialen Fleischfressern wie Wölfen. Tatsächlich findet man auch bei Menschenaffen eine große Reihe von Verhaltensvariationen, zum Beispiel wenn man Schimpansen und Bonobos (Zwergschimpansen) miteinander vergleicht. Das Fehlen eines konstanten Musters bei den Primaten macht die vergleichende Untersuchung schwierig. Wir schlagen vor, dass Moral speziesspezifisch betrachtet werden sollte; als Anerkennung, dass normierte Verhaltensweisen bei einzelnen Tierarten unterschiedlich sind. Und selbst innerhalb einer Tierart kann es Unterschiede geben, wie bestimmte Verhaltensmuster entstanden sind und gezeigt werden können. Das, was in einem Wolfsrudel richtig ist, muss es in einem anderen Wolfsrudels nicht unbedingt sein, weil es sich um individuelle Persönlichkeiten handelt, mit individuellen sozialen Netzwerken. Es gibt nicht die eine Wolfsnatur, sondern viele unterschiedliche. Genauso wie der bekannte Biologe Paul Ehrlich sagt, dass es nicht eine einzige menschliche Natur gibt, sondern viele.

Wir gehen davon aus, dass die Evolution von moralischem Verhalten eng mit der Evolution von Sozialität verbunden ist und dass soziale Komplexität ein deutlicher Marker für moralische Komplexität ist. Wir geben Beispiele von nuancierter Moralität, wenn wir unterschiedliche Spezies betrachten, Spezies, die entweder alleine leben oder in beständigen, sozialen Gruppen mit lang anhaltenden Beziehungen. Wir erwarten zum Beispiel, stärker nuancierte und fein abgestimmte moralische Verhaltensweisen bei Wölfen zu finden, als bei den weniger sozialen Kojoten oder Rotfüchsen.

Eine kleine Anmerkung zur Terminologie: Menschen sollten stolz sein, dass sie Bürger im Tierreich sind. Aber um sprachlichen Konventionen zu genügen, sind wir geneigt zu vergessen, dass Menschen auch Tiere sind. Dementsprechend werden wir das Wort »Tier« benutzen, um damit nicht-menschliche Lebewesen zu beschreiben. Immer von nicht-menschlichen Tieren zu sprechen, ist auf Dauer ermüdend.

Die Leser werden sich vielleicht wundern, warum wir zusammenarbeiten – Marc Bekoff, ein kognitiver Ethologe, und Jessica Pierce, eine Philosophin. Wir trafen uns das erste Mal bei gerösteten Artischocken und einem guten Merlot auf einer Dinnerparty, die von einem gemeinsamen Freund, Lynne Sullivan, veranstaltet wurde. Wir begannen eine Diskussion über verschiedene Aspekte von tierischer Kognition und der Evolution von moralischem Verhalten, und es wurde schnell klar, dass wir gemeinsame Interessen haben. Eine Zusammenarbeit würde verschiedene Fachbereiche zusammenbringen und verschiedene Ansichten. Wie das Buch deutlich macht, erfordert jede Beschäftigung mit der Evolution von Moral eine Diskussion und Debatte über verschiedene Disziplinen hinweg, und dies ist genau das, was wir tun. Während wir an diesem Buch arbeiteten, wurde uns klar, dass Menschen aus verschiedenen Disziplinen auch bestimmte Begriffe verschieden benutzen, und insofern zwang uns unsere Zusammenarbeit, die Begriffe zu erklären, die sich auf verschiedene Aspekte von sozialem Verhalten beziehen.

Wir sind sehr begeistert von unserem interdisziplinären Projekt und laden andere ein, uns bei der Weiterentwicklung der Forschung über tierische Moral zu begleiten. Das Wissen über tierische Moral steckt momentan noch in den Kinderschuhen. Ein tieferes Verständnis von tierischer Moral benötigt Geduld und harte Arbeit von Forschern, die bereit sind, die Grenzen ihrer Disziplinen zu überschreiten, und von Nicht-Forschern, die uns an ihren Geschichten über unsere moralischen Verwandten teilhaben lassen.

Die Informationen in diesem Buch haben grundlegende Auswirkungen auf unser moralisches Verhältnis zu Tieren und unsere Verantwortung für Tiere. Wir werden auf diese Auswirkungen nicht weiter eingehen, aber wir halten es für sehr wichtig, dass das, was Tiere denken und fühlen, berücksichtigt werden muss bei der Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen.

Im ersten Kapitel werden wir einen Überblick über die aktuelle Forschung zu moralischem Verhalten bei Tieren geben. Wir betrachten das soziale Verhalten von verschiedenen Tierarten und erzählen Ihnen, welche davon nach unserer Meinung moralische Tiere sind. Wir definieren Moral und geben unsere Definition für eine speziesspezifische Berücksichtigung von moralischem Verhalten.

In Kapitel 2 stellen wir die Grundlagen für tierische Gerechtigkeit vor und beschreiben, wie Wissenschaftler das Verhalten von Tieren interpretieren. Wir stellen die Disziplinen vor, die die wichtigsten Elemente zum Verständnis von tierischer Moral beigetragen haben: kognitive Ethologie (Forschung über die Gedanken von Tieren), soziale Neurowissenschaften, Moralpsychologie und Philosophie. Forscher in all diesen Gebieten haben dazu beigetragen, einige der Mysterien über kognitive und emotionale Fähigkeiten von Tieren aufzudecken und zu zeigen, welche Rolle diese bei einer Diskussion über moralisches Verhalten spielen. Wir beschäftigen uns mit dem Analogieschluss in der Wissenschaft und der Richtigkeit eines vorsichtigen Anthropomorphismus. Wir stellen individuelle Selektion und Gruppenselektion vor, gehen auf mögliche Verbindungen zwischen Intelligenz und Sozialität ein und machen uns Gedanken über moralische Intelligenz.

Das Herzstück dieses Buches ist die Gruppe von moralischen Verhaltensweisen, die in drei großen Clustern zusammengefasst werden können. Cluster sind Gruppen von verwandten Verhaltensweisen, die gewisse Aspekte gemeinsam haben, und wir verwenden dieses Prinzip, um unser Material zu strukturieren: der Kooperations-Cluster (Altruismus, Gegenseitigkeit, Ehrlichkeit und Vertrauen), der Empathie-Cluster (Sympathie, Mitgefühl, Trauer und Trösten) und der Gerechtigkeitscluster (Teilen, Gleichheit, Fairness und Vergebung). Jeder Cluster wird in einem eigenen Kapitel behandelt und durch Fakten begründet. Am Ende von Kapitel 5 machen wir uns Gedanken über die Verbindung zwischen den drei Clustern. Wir bieten ein zusammengefasstes Bild von moralischen Verhaltensweisen, um dem Leser zu helfen, unsere Schlussfolgerung nachzuvollziehen, dass Tiere moralische Lebewesen sein können.

Im letzten Kapitel werden wir etwas philosophisch und behandeln die tieferen Konsequenzen der tierischen Gerechtigkeit. Hier geht es hauptsächlich darum, Moral besser zu verstehen, und was passiert, wenn wir Moral so definieren, dass sie auch Tiere umfasst. Wir gehen auch noch einmal auf die Konsequenzen von tierischer Gerechtigkeit hinsichtlich einiger philosophischer Probleme ein: freier Wille, Gewissen, Selbstbeurteilung und Selbstbestimmung.

Lassen Sie uns nun mit unserer Reise in die Welt der tierischen Gerechtigkeit beginnen. Die Zeit ist gekommen, um die Diskussion über moralisches Verhalten bei Tieren voranzutreiben, sodass wir erkennen, wo wir jetzt stehen und in welche Richtung wir in Zukunft gehen sollten. Wir sind nicht die einzigen moralischen Lebewesen.

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© Thomas D. Mangelsen/Images of Nature

Afrikanische Elefanten wandern in einer Reihe im Amboseli Nationalpark, Kenia. Elefanten sind hochsoziale und emotionale Tiere, die in großen Familiengruppen leben, welche von einem alten und erfahrenen Weibchen (der Matriarchin) angeführt werden.

1 Moral im Tierreich

Eines soll gleich zu Anfang klargestellt werden: In diesem Buch wird die Meinung vertreten, dass Tiere Empathie füreinander empfinden, dass sie einander fair behandeln, dass sie kooperieren und dass sie sich gegenseitig in Notsituationen helfen. Kurz gesagt: Tiere besitzen Moral beziehungsweise Moralvorstellungen.

Wissenschaftliche Fachmagazine und Alltagsmedien erzählen uns immer wieder von überraschenden und erstaunlichen Dingen, die Tiere tun, wissen oder fühlen. Wenn man sich aber nur etwas Mühe gibt, genauer hinsieht und aufmerksamer beobachtet, wie Tiere ihren Alltag und ihr soziales Miteinander regeln, sieht man, dass diese Dinge eigentlich gar nicht so überraschend und erstaunlich sind. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Binti Jua, einem weiblichen Flachlandgorilla aus dem Brookfield-Zoo in Illinois, USA. Der Name Binti Jua ist Suaheli und bedeutet »Tochter der Sonne«. Eines Tages im Sommer 1996 kletterte ein dreijähriger Junge über die Mauer, die das Gorillagehege umgrenzte, und fiel sechs Meter tief auf den Betonboden. Während immer mehr Zuschauer gafften und die Mutter des Jungen vor Schreck schrie, näherte sich Binti Jua dem bewusstlosen Jungen. Sie nahm ihn vorsichtig mit den Armen auf, während ihr eigenes Junges, Koola, sich an ihrem Rücken festklammerte. Andere Gorillas näherten sich neugierig, aber Binti Jua vertrieb sie knurrend. Sie trug den Jungen zu einem der Eingänge und wartete dort auf den Tierpfleger.

Die Geschichte sorgte weltweit für Schlagzeilen und Binti Jua wurde als tierische Heldin gefeiert. Sie bekam sogar eine Medaille der »American Legion«, Amerikas größter Kriegsveteranenvereinigung. Zusätzlich heizte die Geschichte die Diskussion darüber an, was in den Köpfen von Tieren vorgeht – welche Gefühle und Emotionen sie haben. Führte Binti Jua wirklich eine bewusste Handlung aus, oder war ihr Verhalten einfach das Resultat von Training durch die Tierpfleger?

Noch Mitte der 1990er Jahre bestanden unter den Wissenschaftlern erhebliche Zweifel darüber, ob Tiere, sogar so intelligente Tiere wie Gorillas, die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten besitzen, um in bestimmten Situationen mit so etwas wie Intelligenz und Mitleid zu reagieren. Die Skeptiker unter den Wissenschaftlern argumentierten, dass Binti Jua’s Heldentat das Resultat ihres Lebens und ihrer Erfahrungen in Gefangenschaft war. Binti Jua war vom Zoopersonal mit der Flasche großgezogen worden. Sie hatte nicht lernen können, zum Beilspiel durch Abgucken bei den anderen Gruppenmitgliedern, wie sich eine Gorillamutter verhält. Menschen hatten ihr dies beigebracht – unter anderem durch den Gebrauch einer Puppe. Ihr war sogar beigebracht worden, ihr »Baby« zu einem Tierpfleger zu bringen. Bei dem Zwischenfall hat sie vermutlich nur dieses trainierte Verhalten abgespult und den Jungen für eine Puppe gehalten ... so die Skeptiker.

Andere Wissenschaftler argumentierten, dass zumindest bei einigen Tierarten, besonders den Primaten, Fähigkeiten wie Empathie, Altruismus und Mitleid vorhanden sein können. Binti Jua könnte intelligent genug sein, um zu verstehen, dass der Junge Hilfe brauchte. Diese Wissenschaftler argumentierten mit einer kleinen, aber wachsenden Sammlung an wissenschaftlichen Arbeiten, die den Schluss zulassen, dass Tiere ein emotionales und kognitives Leben haben. Dieses Leben ist vermutlich etwas anders als unseres und deshalb nicht so einfach zu begreifen und zu verstehen.

Wir werden nie wissen, warum genau Binti Jua damals tat, was sie tat. Aber heute, Jahre später und viele faszinierende Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Intelligenz und der Emotionen von Tieren weiter, sind wir der Antwort ein Stück näher gekommen.

Die grundsätzliche Frage ist: Können Tiere wirklich aus Mitleid, Empathie und Altruismus handeln? Die Zahl der Skeptiker wird kleiner. Mehr und mehr Wissenschaftler beantworten diese Fragen mit einem eindeutigen »Ja, Tiere können Empathie und Mitleid empfinden und Altruismus zeigen«. Binti Jua hat nicht nur einen Jungen gerettet, sondern sie hat auch Überzeugungsarbeit geleistet. Sie hat einige unserer Kollegen von überholten Ansichten befreit und die Tür geöffnet für die wichtige und nötige Diskussion über das kognitive und emotionale Leben der Tiere.

Gerechtigkeit im Tierreich –
was bedeutet das eigentlich?

Noch vor eineinhalb Jahrzehnten, als Binti Jua den Jungen rettete, wurde die Vorstellung von »Moral im Tierreich« mit hochgezogenen Augenbrauen und einem »Du machst Witze, oder?« abgetan. Zahlreiche seitdem durchgeführte Forschungsarbeiten zeigen heute, dass Tiere nicht nur altruistisch handeln, sondern dass sie Empathie empfinden, vergeben können, ehrlich sind, und dass sie ein Gefühl für »Gegenseitigkeit« haben im Sinne von »Hilfst du mir, helfe ich dir«. All diese Eigenschaften und Fähigkeiten sind Kernelemente für das, was wir als »menschliche Moral« bezeichnen; es ist also durchaus berechtigt, auch bei Tieren von Moral zu sprechen. Die Entwicklung von Moralvorstellungen ist eine überlebenswichtige Strategie bei sozialen Lebewesen und hat in der Evolution nicht nur beim Menschen stattgefunden.

Mit unserer Aussage zur Moral stützen wir uns auf anerkannte und etablierte Forschungsprojekte und Untersuchungsansätze. Wir stellen einfach die provokante These auf, dass die vielen einzelnen Aussagen dieser Arbeiten ein interessantes und spannendes Muster ergeben. Wir provozieren bewusst, indem wir das, was wir im Tierreich sehen, als »Moral« bezeichnen. Unser Diskussionsansatz ist nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene provokant und kontrovers, sondern auch auf philosophischer. Deshalb werden wir die Diskussion philosophischer Aspekte in diesem Buch auch in den Vordergrund stellen.

Wir laden Sie auf eine Reise durch das ungemein spannende Seelenleben sozialer Tiere ein. Indem wir wissenschaftliche Arbeiten Schritt für Schritt diskutieren, zeigen wir, wie komplex und nuancenreich Emotionen bei Tieren sein können und welch hohen Grad an Intelligenz und Flexibilität Tiere besitzen. Sie sind unglaublich anpassungsfähig in ihrem Sozialverhalten. Sie bilden und unterhalten komplizierte Netzwerke sozialer Bindungen und geben sich innerhalb dieser Gruppierungen Verhaltensregeln, sodass ein fein ausbalanciertes soziales Gleichgewicht herrscht.

Die Guten und die Bösen:
Je mehr wir hinsehen, desto mehr sehen wir

Hier kommt eine weitverbreitete Kurzfassung von Charles Darwins Evolutionstheorie: Die natürliche Selektion ist ein Rüstungswettlauf, und es geht um die besten Plätze. Leben bedeutet »Jeder gegen jeden« im blutigen und rücksichtslosen Kampf um Fortpflanzung und Nahrung. Eltern fressen ihre Nachkommen und Geschwister bekämpfen sich bis aufs Blut (dieses Phänomen wird Siblizid genannt).

Wenn man die Natur durch diese enge Brille betrachtet, sieht man Tiere, die sich in der Evolution gegen eine grausame Umwelt behaupten. So etwas verkauft sich gut im Fernsehen, spiegelt aber nur einen Teil der tatsächlichen Realität wieder. Parallel zu Konflikten und Konkurrenz sieht man in der Natur eine außergewöhnlich große Zahl an kooperativen Verhaltensmustern und beobachtet gegenseitige Hilfe und Sorge für den anderen.

Dies soll an einem besonders bemerkenswerten Beispiel verdeutlicht werden. Die Primatenforscher Robert Sussmann und Paul Garber und der Genetiker James Cheverud kamen nach sorgfältiger Analyse zahlreicher sozialer Interaktionen von verschiedenen Primatenarten zu dem Ergebnis, dass das Gros dieser Interaktionen freundschaftlich und verbindend war und nicht agonistisch oder trennend. Körperpflege und kleine Spielsequenzen dominierten das Gruppenleben und nur gelegentlich wurde offensives, aggressives Verhalten oder Drohverhalten gezeigt. Bei Halbaffen, den ursprünglichsten Primaten, sind durchschnittlich 93,2 Prozent der sozialen Interaktionen freundschaftlich-verbindend. Bei den Neuwelt-Affen in den tropischen Wäldern von Südmexiko, Mittel- und Südamerika sind es 86,1 Prozent; bei den Affen in Süd- und Ostasien, Afrika, Gibraltar und dem mittleren Osten sind es 84,8 Prozent. Bislang unveröffentlichte Ergebnisse von Untersuchungen an Gorillas zeigten, dass 95,7 Prozent der Interaktionen innerhalb der Gruppe freundschaftlich-verbindender Natur sind.

Jane Goddall hat nach 25 Jahren Forschung über Schimpansen folgendes gesagt: »Man kommt leicht in Versuchung, Schimpansen als aggressiver einzuordnen, als sie tatsächlich sind. In Wahrheit sind freundliche Interaktionen viel häufiger als aggressive; leichte Drohgebärden werden öfter gezeigt als massives Drohen; Drohverhalten kann man insgesamt öfter beobachten als ernste Kämpfe; und schwere Wunden sind wirklich sehr selten.« Das eben Aufgezählte hört sich wirklich nicht nach einer Tierart an, die ihr tägliches soziales Leben über Konflikt und Kampf regelt.

Das soziale Leben vieler Tierarten wird stark von Kooperation und freundschaftlichem Verhalten bestimmt. Wölfe sind ein gutes Beispiel dafür. Lange dachten Forscher, dass die Größe eines Wolfsrudels von der Menge vorhandener Beutetiere bestimmt würde. Typische Beutetiere für Wölfe sind Elche oder Hirsche. Wölfe sind kleiner als diese Beutetiere, und es braucht mehr als einen Wolf, um einen Elch zu erlegen. So war die Annahme naheliegend, dass sich das spezielle Rudelleben der Wölfe in Abhängigkeit von der Größe der Beutetiere entwickelt hat.

Langzeitstudien von David Mech haben gezeigt, dass diese Annahme falsch ist. Die Größe eines Wolfsrudels wird durch soziale und nicht »futterabhängige« Faktoren reguliert. Mech fand heraus, dass die Größe eines etablierten Rudels von der sozialen Kompetenz seiner individuellen Mitglieder abhängt. Die Anzahl an Individuen, mit denen jeder einzelne Wolf eine enge soziale Bindung eingehen kann (Faktor »soziale Attraktivität«), steht gegen die Anzahl an Individuen, die ein einzelner Wolf als Konkurrenten tolerieren kann (Faktor »soziale Konkurrenz«). In etablierten Rudeln sind diese beiden Elemente fein ausbalanciert. Rudel und ihre sozialen Spielregeln brechen bei zu vielen Mitgliedern zusammen.

Erst als Menschen anfingen, auf die »guten« Verhaltensweisen von Tieren zu achten – auf das, was Tiere tun, wenn sie nicht kämpfen –, haben sie bemerkt, wie reichhaltig das soziale Leben vieler Tierarten ist. In der Tat bestimmen Tiere ihr Leben schwerpunktmäßig durch »gute« (pro-soziale) Verhaltensmuster und Interaktionen. Mehr noch: zahlreiche pro-soziale Verhaltensmuster scheinen kein Abfallprodukt aus »kriegerischen Auseinandersetzungen« zu sein, sondern haben sich vermutlich in der Evolution eigenständig entwickelt. Die früheren engen Theorien zu »Verwandtenselektion« (kin selection) und gegenseitigem Altruismus wurden nun um die vielfältigen Bilder und Bedeutungen pro-sozialer Verhaltensweisen ergänzt. Es scheint, dass wir um so mehr erkennen, je intensiver wir hinsehen.

Heute existiert eine große Menge an Forschungsarbeiten zu pro-sozialen Verhaltensmustern und täglich kommen neue Erkenntnisse dazu. Untersuchungen zu Kooperation, Altruismus, Empathie, Gegenseitigkeit, Fairness, Anlehnungsbedürfnis, Vergebung, Vertrauen und Freundlichkeit werden bei den unterschiedlichsten Tierarten durchgeführt – von Ratten bis Affen.

Bemerkenswert ist, dass innerhalb dieses reichen Repertoires an pro-sozialen Verhaltensmustern einige Muster eine Art Moralkodex für Tiere zu begründen scheinen. Säugetiere, die in engen sozialen Gruppen zusammenleben, scheinen sich Verhaltensnormen zu geben: Bestimmte Verhaltensweisen sind anscheinend verboten und andere werden von den Gruppenmitgliedern erwartet. Die Tiere leben nach bestimmten Regeln zusammen, die eine relativ harmonische und friedliche Koexistenz ermöglichen. Kooperation wird groß geschrieben und die Tiere helfen sich gegenseitig. Manchmal wird für die Hilfe eine direkte Gegenleistung erwartet, manchmal wird geholfen, ohne dass Gegenleistung erwartet oder gefordert wird. Die Beziehungen basieren auf Vertrauen. Manchmal scheinen die Tiere Empathie oder sogar Mitleid für andere zu zeigen – nicht nur für enge oder entfernte Verwandte, sondern auch für Nachbarn oder sogar völlig fremde Individuen.

Diesen »moralischen« Verhaltensweisen gilt der Fokus in unserem Buch. Im Folgenden werden einige der überraschenden und spannenden Entdeckungen über Tierverhalten und tierische Moral aus den letzten Jahren vorgestellt.

Einige Tiere scheinen einen Sinn für Fairness zu haben. Sie folgen bestimmten Regeln und haben Vorstellungen davon, wer wann was verdient. Individuen, die gegen diese Regeln verstoßen, werden entweder körperlich oder durch soziale Ausgrenzung bestraft. Untersuchungen über das Spielverhalten sozialer Fleischfresser haben gezeigt, dass fair gespielt wird und »Regelverstöße« nur selten auftreten: »Wenn ich dich frage, ob du mit mir spielen willst, meine ich das auch so und will dich weder dominieren noch mich mit dir paaren oder dich fressen.« Selbst hochaggressive Kojotenwelpen lassen sich im Spiel hintenüber fallen, um ein Spiel mit ihren Geschwistern und die Spielstimmung fortzusetzen. Tun sie dies nicht, werden sie ignoriert und sozial ausgegrenzt.

Fairness scheint auch ein Bestandteil des sozialen Lebens von Primaten zu sein. Die Wissenschaftler Sarah Brosnan, Franz de Waal und Hillary Schiff beobachteten bei Kapuzineraffen Verhaltensmuster, die sie als »Abneigung gegen Ungerechtigkeit« bezeichneten. Kapuzineraffen sind hoch soziale und kooperative Tiere und das Teilen von Futter kommt bei ihnen sehr häufig vor. Diese Affen, besonders die weiblichen Tiere, achten sorgfältig auf Gleichbehandlung und faires Miteinander in der Gruppe. Individuen, die bei einem Tauschgeschäft übers Ohr gehauen wurden, indem sie ein geringerwertiges Futter bekamen, verweigerten die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern. Kurz: die Kapuzineraffen erwarteten eine faire Behandlung.

Viele Tiere zeigen die Fähigkeit, Empathie zu empfinden. Sie erkennen und fühlen den emotionalen Zustand eines anderen Lebewesens, besonders eines Angehörigen der eigenen Art, und reagieren darauf entsprechend. Hal Markowitz’ Untersuchungen an Diana-Meerkatzen zeigen deutlich diese Fähigkeit zur Empathie, die man früher für etwas rein Menschliches hielt. In einer Studie wurde eine Gruppe von Diana-Meerkatzen trainiert, eine Münze in einen Schlitz zu werfen, um Futter zu erhalten. Das älteste Weibchen dieser Gruppe konnte die Aufgabe nicht lösen. Die Münze fiel ihr immer wieder auf den Boden. Ihr Partner beobachtete ihre erfolglosen Versuche. Bei drei verschiedenen Gelegenheiten näherte er sich ihr, nahm die heruntergefallene Münze, warf sie in den Schlitz und überließ ihr dann das Futter. Das Männchen hatte anscheinend die Situation so eingeschätzt, dass sie Futter wollte, es sich aber nicht selbst beschaffen konnte. Er hätte das Futter selbst fressen können, aber er tat es nicht.

Ähnliches wurde von Felix Warneken und Michael Tomasello am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig beobachtet. Hier halfen sich Schimpansen gegenseitig, um Futter zu bekommen. Wenn ein Schimpanse beobachtete, dass sein Nachbar das Futter nicht erreichen konnte, öffnete er dessen Käfigtür und ermöglichte ihm so den Zugriff.

Auch über Elefanten gibt es solche Berichte. Joyce Pool, die über Jahrzehnte afrikanische Elefanten beobachtete, erzählt die Geschichte eines jungen weiblichen Elefanten, der ein verletztes Bein hatte und humpelte. Als ein junger männlicher Elefant einer anderen Gruppe dieses verletzte Weibchen attackierte, verjagte ihn eine ältere Elefantenkuh, kehrte zu dem jungen weiblichen Elefanten zurück und berührte sein verkrüppeltes Bein mit dem Rüssel. Pool geht davon aus, dass die ältere Elefantenkuh damit Mitleid bekundete. Es gibt sogar Berichte über Mitleid und Empathie bei Ratten und Mäusen.

Altruistische und kooperative Verhaltensmuster finden wir bei vielen verschiedenen Tierarten. Eine klassische Studie zum Altruismus stammt von Gary Wilkinson und handelt von Fledermäusen. Vampirfledermäuse, die erfolgreich bei der Futtersuche waren und Blut von Rindern oder Eseln trinken konnten, teilten ihre Mahlzeit mit Fledermäusen, die nicht so erfolgreich waren. Mit größerer Wahrscheinlichkeit geben sie Blut an eine Fledermaus, von der sie zu früheren Zeiten ebenfalls Blut bekommen haben.

Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt ähnliches Verhalten bei Ratten. Dabei folgen die Ratten dem Prinzip der Gegenseitigkeit sehr allgemein: Wenn eine Ratte Futter von einer anderen unbekannten Ratte bekommen hatte, wird sie einer ihr unbekannten Ratte auch etwas abgeben. Solch eine generalisierte Gegenseitigkeit hielt man früher für eine typisch menschliche Eigenschaft.

Verhaltensmuster wie die eben geschilderten scheinen diejenigen Wissenschaftler zu verwirren, die nach wie vor dem alten Prinzip von »Natur ist Kampf ums Überleben« verhaftet sind. Aber verwirrend oder nicht – Moral und die entsprechenden Verhaltensmuster lassen sich bei einer Vielzahl von Tierarten und in unterschiedlichen sozialen Kontexten beobachten. Je mehr wir hinsehen, desto mehr sehen wir.

Was ist Moral und welche moralischen Verhaltensweisen zeigen Tiere?

Bevor wir besprechen, welche moralischen Verhaltensweisen Tiere zeigen können, müssen wir eine »Arbeitsdefinition« von Moral entwickeln. Wir definieren Moral als eine Sammlung von miteinander verbundenen soziopositiven Verhaltensweisen, die komplexe Interaktionen innerhalb der sozialen Gruppe regulieren und beeinflussen. Diese Verhaltensweisen sind eng mit Wohlbefinden und Leiden verknüpft und tragen Qualitätsbezeichnungen wie gut oder schlecht, richtig oder falsch. Moral beziehungsweise moralisches Verhalten ist ein wichtiges soziales Phänomen. Es entspringt aus Interaktionen zwischen individuellen Tieren einer Gruppe beziehungsweise der Population einer Art und besteht aus miteinander verwobenen Verhaltensfäden. Zusammen bilden diese Fäden einen komplizierten und wechselhaften Teppich an sozialen Verbindungen. Auf diese Art und Weise stellt Moral einen sozialen Klebstoff dar.

Tiere haben ein breites Repertoire an moralischen Verhaltensweisen. Es ist langwierig, anstrengend und umständlich, diese verschiedenen Verhaltensweisen in strukturierte Kategorien »hineinzuquetschen«, aber zur Übersicht müssen wir diese Elemente auf eine gewisse Art und Weise ordnen und damit quasi ein Bild der moralischen Verhaltensweisen von Tieren präsentieren. Wir versuchen, die moralischen Verhaltensweisen in drei grobe Kategorien einzuordnen, und haben unser Buch danach gegliedert. Wir nennen diese Kategorien »Cluster« und meinen mit »Cluster« eine Gruppe von miteinander verwandten Verhaltensweisen, die einen ähnlichen Zweck haben. Diese drei Cluster nennen wir »Kooperation«, »Mitleid« und »Gerechtigkeit«.

Zum Kooperations-Cluster gehören Elemente wie Altruismus, Gegenseitigkeit, Vertrauen, Strafe und Vergeltung. Der Mitleids-Cluster umfasst Sympathie, Empathie, Sorge, sich kümmern und helfen, Trauer und Trösten. In den Gerechtigkeits-Cluster gehören Fairness, Teilen, der Sinn für Gleichbehandlung, die Erwartung dessen, was man verdient und wie man behandelt werden sollte, Entrüstung, Vergeltung und Boshaftigkeit. Wir werden jeden dieser Cluster in den nächsten Kapiteln ausführlich besprechen (Kooperation in Kapitel 3, Mitleid in Kapitel 4, Gerechtigkeit in Kapitel 5).

Natürlich wirft ein derartiges Verfahren viele Fragen auf. Gehören die Verhaltensmuster und Elemente, die hier in einem Cluster zusammengefasst wurden, tatsächlich in die gleiche Gruppe? Gehört Trösten tatsächlich in den Cluster Mitleid oder ist es besser bei Kooperation und Gegenseitigkeit aufgehoben? Gibt es Abstufungen zwischen den einzelnen Verhaltenselementen hinsichtlich ihrer Wertigkeit? Ist zum Beispiel Empathie eine notwendige Voraussetzung für Fairness? Wie sind die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Verhaltenselementen sowohl evolutionär als auch physiologisch? Haben sich diese Verhaltensweisen eventuell parallel entwickelt? Und ist unsere Annahme korrekt, dass moralische Tiere immer ein Verhaltensrepertoire haben, welches Elemente aus allen drei Clustern enthält?

Welches sind die moralischen Tiere?
Eine Gratwanderung auf dünner Linie

Viele Menschen wollen sofort wissen, welches denn die Tiere mit der »stärksten Moral« sind. Können wir eine Linie ziehen zwischen Tieren, die Moral besitzen, und solchen, die keine Moral haben? Wenn man berücksichtigt, welchen immensen Schatz an Wissen wir in den letzten Jahren angesammelt haben und vermutlich weiter ansammeln werden, wird es immer schwieriger, eine gerade Linie zu ziehen. Das Beste, was wir demjenigen empfehlen können, der wirklich solch eine Linie ziehen will, ist: Benutzen Sie einen Bleistift! Die Linie wird sich sicherlich in den nächsten Jahren nach unten bewegen und auf Dauer auch Tierarten einschließen, bei denen wir uns vorher nie vorstellen konnten, dass sie zu solch komplexen Verhaltensmustern fähig sind: zum Beispiel Ratten und Mäuse.

Wenn man sich den heutigen Stand der Forschung ansieht, findet man überwältigende Beweise für moralisches Verhalten bei Primaten (besonders den Menschenaffen, aber auch bei anderen Affenarten), sozialen Fleischfressern (besonders gut untersucht bei Wölfen, Kojoten und Hyänen), Meeressäugern (Delfinen und Walen), Elefanten und einigen Nagetieren (zumindest Ratten und Mäuse). Dies ist keine vollständige Liste aller Tiere mit moralischem Verhalten; sie führt einfach die Tiere auf, deren soziales Verhalten besonders intensiv untersucht wurde, sodass genügend Datenmaterial vorhanden ist, um solche Schlüsse ziehen zu können. Es gibt andere Tierarten, zum Beispiel Paarhufer und Katzen, für die einfach nicht genügend Datenmaterial existiert. Aber es wäre nicht überraschend, wenn auch diese Arten moralisches Verhalten entwickelt hätten.

Untersuchungen an Primaten liefern momentan die sichersten Daten zum moralischen Verhalten bei Tieren. Wenn wir unsere enge verwandtschaftliche Nähe zu anderen Primaten betrachten, erscheint die Annahme berechtigt, dass zwischen diesen Arten und dem Menschen größte Übereinstimmung im Verhalten existiert. Und tatsächlich haben Jessica Flack und Frans de Waal argumentiert, dass nicht-menschliche Primaten mit großer Wahrscheinlichkeit Vorstufen für menschliches Moralverhalten zeigen. Allerdings ist das Suchen nach Vorstufen von menschlicher Moral, obwohl es interessant ist, nicht das Gleiche, als wenn man direkt nach moralischem Verhalten bei Tieren suchen würde. Dazu kommt, dass sich die Annahme, menschliches Verhalten und Primatenverhalten seien sehr ähnlich, als falsch erweisen kann. Zum Beispiel haben der Nobelpreisträger und Ethologe Niko Tinbergen und der bekannte Feldbiologe George Schaller angeregt, dass wir eine Menge über die Evolution von menschlichem Sozialverhalten lernen können, wenn wir sozial lebende Fleischfresser untersuchen. Bei diesen Tierarten ähneln Sozialverhalten und Gruppenorganisation dem der früheren Hominiden auf vielfältige Weise (Arbeitsteilung, Teilen von Nahrung, Brutpflege sowie Dominanzhierarchien zwischen und innerhalb der Geschlechter). Aus diesem Grund erweitern wir das Forschungsparadigma zur Moralität bei Tieren weit über die Primaten hinaus.

Moral und moralisches Verhalten kommen unter Umständen nur bei Säugetieren vor, und Säugetieren gilt der Fokus in unserem Buch. Trotzdem würde es an diesem Punkt vorschnell erscheinen, anderen Tierarten das Fehlen von Moral zu unterstellen. Wir haben einfach nicht genügend Datenmaterial, um deutliche Aussagen über kognitive und emotionale Fähigkeiten bei anderen Tierarten zu machen. Wir können also gar nicht genau sagen, ob Individuen dieser Arten Mitleid empfinden, sich fair verhalten oder Moral entwickelt haben. Zu diesem Zeitpunkt kann man darüber nur spekulieren. Zum Beispiel könnten bestimmte Vögel, wie die hochintelligenten Rabenvögel, eine Art von Moral entwickelt haben. In seinem Buch »Die Seele der Raben« hat der Biologe und Raben-Experte Bernd Heinrich beschrieben, dass sich Raben an individuelle Artgenossen erinnern können, die regelmäßig ihre Futterverstecke plündern, sofern sie diese direkt dabei erwischen. Manchmal beteiligen sich sogar andere Raben an der Attacke gegen den Plünderer, selbst wenn sie nicht gesehen haben, dass er das Versteck zuvor geplündert hat.