Aus dem Amerikanischen von René Ulmer

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Prey Drive

erschien 2013 im Verlag Sinister Grin Press.

Copyright © 2013 by Wrath James White

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Danielle Tunstall

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-543-7

www.Festa-Verlag.de

Für meine Mom

Meine aufrichtige Dankbarkeit gehört Monika O’Rourke. Nicht jede Frau kann eine solche Ansammlung albtraumhafter Perversionen mit der notwendigen Ruhe und Fassung lesen, um dabei noch grammatikalische Fehler zu finden. Für Tod Clark, dafür, dass er meine ganzen kleinen Missgeschicke gefunden hat. Besonders danke ich Shane und Travis für ihren Mut, dieses verdorbene Machwerk zu veröffentlichen. Ebenso danke ich Jamie La Chance. Ohne deine tatkräftige Unterstützung wäre der Vorgänger, Schänderblut, nie veröffentlicht worden. Darum ist es nur angemessen, dass du ein Testleser der Fortsetzung warst.

PROLOG

Der Staatsanwalt war ein pingeliger dürrer Mann mit einer schmalen, rechteckigen Brille, die seine grünen Augen riesig erscheinen ließ. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, dazu ein rosafarbenes Hemd und eine Krawatte. Er fummelte ständig an ihr herum, als würde er Gefahr laufen, von dem Ding sonst stranguliert zu werden. Während er inbrünstig redete, lief sein kahl rasierter Schädel rot an, also jedes Mal, wenn er den Geschworenen Josephs Verbrechen darlegte.

Früher an diesem Tag hatte der junge Bezirksstaatsanwalt den des Mordes angeklagten Joseph Miles auf eine Weise beschrieben, als wäre er die größte Bedrohung für die Sicherheit der Menschheit seit der Erfindung der Atombombe.

Seine nach vorne fallenden Schultern und die eingesunkene Brust vermittelten den Eindruck, er hätte gerade einen enorm kräftigen Schlag gegen den Oberkörper abbekommen und fürchte weitere Schläge, denen er durch diese verschüchterte Haltung zu entgehen hoffte. Im Gegensatz zu seiner restlichen Erscheinung war sein Kinn kräftig und markant. Er hielt es hoch erhoben, was ihm ein fast aristokratisches Aussehen verlieh.

Er war gerade mal 1,65 groß und fast schon mager. Es war gewissermaßen lustig, dass ein dermaßen kleiner Mann über eine derart volltönende und basslastige Stimme verfügte. Während der Pflichtverteidiger den psychologischen Experten ins Kreuzverhör nahm, starrte der Staatsanwalt Joe von der anderen Seite des Gerichtssaals aus konzentriert und herausfordernd an.

Die Richterin, eine dicke Schwarze mit grau gesprenkelten Dreadlocks, die sie als Pferdeschwanz trug, nickte Joes Anwalt zu. »Sie dürfen Ihr Kreuzverhör fortsetzen, Mr. Leyendecker.«

»Doktor, halten Sie es für möglich, dass irgendwer, auch der Angeklagte Joseph Miles, einen unwiderstehlichen Drang dazu verspüren kann, andere Menschen zu vergewaltigen, zu ermorden und zu verspeisen?«

Dr. Sabine, ein Inder, unter dessen buschigen Augenbrauen stechende Augen und ein freudloser Gesichtsausdruck lagen, als wäre er aus Stein gemeißelt, räusperte sich und trank einen Schluck Wasser, bevor er in kurzen, abgehackten Sätzen antwortete. Er bemühte sich dabei, seinen Akzent zu unterdrücken. »Es ist definitiv möglich, ja.«

»Würden Sie sagen, das war auch bei dem Angeklagten, Joseph Miles, der Fall?«

»Einspruch!«, fiel ihm der Staatsanwalt ins Wort.

Joes Anwalt nickte zustimmend, bevor die Richterin dem Einspruch überhaupt stattgeben konnte.

Joe hatte keine Ahnung, was von dem Gesagten unangebracht gewesen war, aber alle anderen schienen zu begreifen und zu akzeptieren, dass der Anwalt bei der Befragung des Psychologen irgendeine Grenze überschritten hatte.

Mr. Leyendecker versuchte es erneut. »Gibt es einen erkennbaren Unterschied zwischen einer Neurose und einer Psychose?«

»Diese Begriffe werden benutzt, um zwischen den Graden mentaler Erkrankungen zu unterscheiden. Was sie unterscheidet, ist die Fähigkeit einer Person, die Realität als Wahrheit zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren.«

»Und würden Sie sagen, dass jemand, der davon überzeugt ist, sich in einen Werwolf zu verwandeln, eine angemessene Reaktion auf die Realität zeigt?«

»Einspruch!«

»Ich ziehe die Frage zurück. Was genau unterscheidet diese beiden Begriffe, Doktor?«

»Manchmal ist es schwierig, eine klare Unterscheidung zu erkennen. Es handelt sich dabei nicht um Schwarz und Weiß. Es existiert eine Grauzone. Eine psychotische Person nimmt die Realität nicht so wahr, wie wir das tun. Eine schwache Psychose kann fälschlicherweise als Neurose interpretiert werden. Ebenso kann eine ausgeprägte Neurose als Psychose fehlinterpretiert werden. Im Großen und Ganzen können wir sie aber unterscheiden, auch wenn die Grenzen verschwommen sind und sich überschneiden. Grob ausgedrückt, nimmt eine psychotische Person die Welt falsch wahr, wohingegen eine neurotische Person sie korrekt wahrnimmt, aber sie reagiert falsch, nämlich übertrieben.«

»Ist der Angeklagte, Joseph Miles, neurotisch?«

»Ja, meiner professionellen Meinung nach ist er das.«

»In Ihrer zuvor getroffenen Aussage haben Sie gesagt, der Angeklagte tendiere zu paranoiden Wahnvorstellungen. Könnte das darauf hindeuten, dass Joseph Miles an einer Psychose leidet?«

»Einspruch!«, rief der Staatsanwalt. Er starrte Joseph nach wie vor an und beobachtete die Verhandlung lediglich aus dem Augenwinkel. Die Richterin sah er nur an, wenn er Einspruch erhob, wonach sein Blick wieder einzig und allein auf Joe lag. Ihn schienen Joes Reaktionen auf die Aussage des Psychologen mehr zu interessieren als die Aussage selbst.

Joe fühlte sich auf seinem Stuhl nicht wohl. Er war für seinen massigen Körper zu klein, und der volle Gerichtssaal lenkte ihn ab. Der Duft von Haut, Schweiß, Parfüm, Aftershave, menstrualem Blut, Seife, Shampoo, Samen und Angst – köstliche, betörende Angst – bildete einen erregenden Dunst, der seinen Geruchssinn in Flammen setzte und seine Speicheldrüsen wie auch seine Libido auf Hochtouren arbeiten ließ. Joe musste immer wieder schlucken, um nicht vor sich auf den Tisch zu sabbern.

Joe nahm noch einen Geruch wahr, den er nur zu gut kannte. Es war der Duft weiblicher Erregung. Es war der Geruch vaginaler Sekrete, die das weibliche Geschlechtsorgan benetzten und auf das Eindringen eines harten Schwanzes vorbereiteten. Ein paar der Frauen im Zuschauerraum wurden durch das alles hier geil.

Das Verlangen, sich den Zuschauerrängen zuzuwenden, in der Menge nach der Quelle jedes einzelnen Geruchs zu jagen, jeden einzelnen köstlich menschlichen Geruch bis zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen und ihn zu schmecken, zu verschlingen und ihn zu einem Teil von sich selbst zu machen, war überwältigend. Joe rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Er schloss die Augen, atmete tief ein. Aber kaum dass sich seine Lider senkten und ihn die Dunkelheit umfing, bahnten sich sinnliche Bilder von Gewalt und Wut ihren Weg durch die beruhigende Schwärze. Das Monster erwachte mit einem Brüllen, drängte nachdrücklich gegen die Knöpfe seines Overalls, verlangte seine Freilassung.

Mit einem Zittern unbefriedigten Verlangens kämpfte Joe darum, seine Wut wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit großer Mühe gelang es ihm, doch diese Anstrengung war ihm als deutliches Leid anzusehen. Joe sah zum Bezirksstaatsanwalt zurück, der ihn mit konzentriert gerunzelter Stirn anstarrte. Joe bekam den Eindruck, dass der Mann versuchte, seine Gedanken zu lesen. Er sah wieder zu seinem halbwegs begabten Anwalt, der sich redlich bemühte.

Die Richterin hatte dem Einspruch des Bezirksstaatsanwalts nicht stattgegeben und Mr. Leyendecker setzte seine Befragung von Dr. Sabine fort.

»Würden Sie bitte die Frage beantworten, Dr. Sabine? Könnten die symptomalen Angstzustände, die Sie dem Gericht erklärt haben, die paranoiden Wahnvorstellungen, die Mr. Joseph Miles gezeigt hat, zu abweichendem und abnormalem Verhalten führen?«

»Nein, ich fürchte, das kann ich nicht beantworten. Ich verstehe nicht ganz, was Sie mit ›abweichend und abnormal‹ meinen.«

»Andere Menschen zu essen, ist doch abweichend und abnormal, oder sehen Sie das anders?«

»Einspruch!«

»Stattgegeben.«

»Ist es im Falle des Angeklagten möglich, dass seine normale Impulskontrolle aufgrund der paranoiden Wahnvorstellungen niedriger war und er darum außerstande war, den unwiderstehlichen Impuls für Kannibalismus und Sadismus zu kontrollieren?«

»Einspruch!«

»Einspruch stattgegeben.«

»Dr. Sabine, würden Sie eine Psychoneurose als mentalen Defekt bezeichnen?«

»Ich würde es als mentale Störung bezeichnen.«

»Nicht als Defekt?«

»Defekt ist kein psychologischer Begriff.«

»Also ist es ein Störung?«

»Ja.«

»Gab es bei Ihrer Untersuchung des Angeklagten Joseph Miles Anzeichen für eine solche Störung?«

»Ja.«

»Würden Sie sagen, die kannibalischen Neigungen des Angeklagten sind eine mentale Störung?«

»Einspruch«, sagte der Staatsanwalt erschöpft. Dieses Mal nahm er nicht einmal den Blick von Joseph Miles.

»Stattgegeben.«

»Wenn die Beweise die Annahme des Herrn Staatsanwalt rechtfertigen würden, dass der Angeklagte das Fleisch der Verstorbenen über einen Zeitraum von drei bis vier Tagen vivisektiert und verzehrt hat und während dieses Zeitraums davon überzeugt war, unter dem Einfluss einer ansteckenden Krankheit zu leiden, die seinen Aussagen zufolge Menschen in Monster verwandelt – wie Lykanthropie oder Vampirismus … Wenn man beweisen könnte, dass der Angeklagte während der Folterung und Verstümmelung der verstorbenen Alicia Rosado nicht nur keinerlei Reue gezeigt hat, sondern dass es ihm sexuelle Freude bereitet hat, die mit einem Orgasmus vergleichbar ist … Würde ein solches Verhaltensmuster darauf hindeuten, dass er wahnsinnig ist?«

»Einspruch!«

»Dem Einspruch wird stattgegeben.«

»Glauben Sie, dass der Angeklagte jetzt oder zum Zeitpunkt seiner Verbrechen im Dezember 2008 an irgendeiner Form von mentaler Erkrankung leidet oder gelitten hat?«

»Ja, ich würde sagen, es war eine neurotische Wahnvorstellung.«

»Keine psychotische Wahnvorstellung?«

»Einspruch! Danach wurde bereits gefragt und es wurde beantwortet.«

»Stattgegeben«, antwortete die Richterin mit einem herablassenden Winken. Die Aussage schien sie zu faszinieren und die Unterbrechungen, egal wie berechtigt, waren einfach nur nervig.

Der Strafverteidiger kehrte Dr. Sabine den Rücken zu und ging zu den Geschworenen, sah nacheinander jedem Einzelnen von ihnen in die Augen, als würde er die Frage ihnen und nicht dem Mann im Zeugenstand stellen.

»Bitte, gestatten Sie mir noch eine letzte Frage, Dr. Sabine. Ich hätte gern Ihre professionelle Meinung, basierend auf Ihrer Beurteilung meines Klienten, des Angeklagten Joseph Miles. Basierend auf den Aufnahmen der Überreste des Opfers« – er deutete auf einen Bildschirm, auf dem Alicias Leiche zu sehen war. Es war nicht mehr als ein Haufen abgenagter Knochen, manche von ihnen aufgebrochen, um das Mark herauszulutschen – »und basierend auf Ihrer heute von Ihnen in diesem Gerichtssaal vorgebrachten Aussage … Glauben Sie, dass ihr Zusammentreffen mit ihm in diesem Sex Club im South of Market District von San Francisco, woraufhin sie ihn in sein Apartment begleitet hat, irgendein anderes Ende hätte nehmen können?«

Joe betrachtete die Fotos von Alicias Überresten, erinnerte sich daran, wie sehr sie ihm geschmeckt, wie lodernd ihre Seele danach in seinem Bauch gebrannt hatte. Er erinnerte sich an den Ausdruck tief empfundener Liebe auf Alicias hübschem Gesicht, als ihr Geist denselben Weg wie ihr Fleisch gegangen war, Stück für Stück verschlungen, um ein Teil von ihm zu werden.

»Einspruch!«, schrie der Bezirksstaatsanwalt. Er stand von seinem Stuhl auf, streckte die Arme in Richtung der Richterin, als wollte er sie anflehen, einzuschreiten. Zum ersten Mal starrte er Joe nicht unentwegt an.

»Ich ziehe die Frage zurück, Euer Ehren. Ich habe keine weiteren Fragen an diesen Zeugen.«

In den nächsten Tagen hörte Joe noch mehr Zeugenaussagen, darunter auch von seinem ehemaligen Professor, Dr. John Locke.

»Dr. Locke, bitte nennen Sie dem Gericht Ihre Referenzen.«

»Ich habe einen Doktortitel in krimineller Psychologie und einen Magistergrad in Psychotherapie. Ich habe 15 Jahre lang in der Verhaltensanalyseabteilung des Federal Bureau of Investigation gearbeitet. Während meiner Zeit beim FBI habe ich fast 30 verurteilte Serienmörder befragt. Momentan unterrichte ich abnormale Psychologie an der State University.«

»Sie waren ein ganzes Semester lang einer der Lehrer des Angeklagten, stimmt das?«

»Ja.«

»Hatten Sie irgendwann während der Bekanntschaft mit meinem Klienten Grund, ihn zu beobachten?«

»Ja, den hatte ich.«

»Und zu welchem Schluss sind Sie aufgrund dieser Beobachtungen gekommen? Würden Sie Dr. Sabines Aussage zustimmen, dass Joseph Miles an einer Neurose leidet und nicht an einer Psychose?«

»Nein. Dem würde ich nicht zustimmen. Joseph ist nicht in der Lage, zwischen der Realität und seinen Wahnvorstellungen zu unterscheiden. Er ist davon überzeugt, ein hilfloses Opfer einer Krankheit zu sein. Seiner Überzeugung nach wird er ewig ein Sklave dieser Krankheit sein, bis er ihren Ursprung, den ersten Auslöser, gefunden hat. Das hat er getan, als er in der staatlichen Anstalt Damon Trent ermordet hat. Das hat er getan, als er seinen Vater ermordet hat. Von beiden Verbrechen wurde er bereits wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. Er hat versucht, sich auf die einzige Weise zu heilen, die er kannte: indem er den Ursprung der Infektion zerstörte. Er hat versucht sich zu heilen, bevor dieser unwiderstehliche Drang zu morden ihn dazu gebracht hat, die Frau zu töten, die er liebte – Alicia Rosado«, erklärte Dr. Locke.

Joe spürte bei der Aussage des Professors einen leichten Stich des Verrats. Er behauptete, dass Joe verrückt war, dass diese Krankheit eingebildet und kein tatsächliches Virus war. Obwohl Joe wusste, dass der Professor das sagen musste, um sein Leben zu retten, musste er sich dennoch die Frage stellen, ob sein Mentor wirklich an das glaubte, was er da sagte.

»Ist diese Psychose der Auslöser jeder Entscheidung, die der Angeklagte trifft? Beeinflusst sie jeden Aspekt seines Lebens?«

»Das kann ich nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Das muss nicht notwendigerweise der Fall sein.«

»Es muss nicht notwendigerweise, aber es könnte so sein?«

»Es könnte so sein.«

»Haben Sie ein persönliches Interesse am Ausgang dieses Verfahrens, Dr. Locke?«

»Ein persönliches Interesse? Nein. Mein Interesse ist rein beruflich. Ich möchte den Angeklagten analysieren.«

»Und eine Verurteilung ist für Sie belanglos, da Sie in jedem Fall Zugang zu ihm hätten?«

»Das ist korrekt.«

»Also kann man Ihre Meinung als rein objektiv betrachten, da sie ausschließlich auf Ihren Kenntnissen in Psychologie, Ihrer Erfahrung mit Sexualmördern aus Ihrer Zeit als FBI-Profiler und Ihrer Beobachtung meines Klienten basiert?«

»Das ist korrekt.«

Mr. Leyendecker ging wieder auf und ab.

»Der Angeklagte wird hier des Mordes ersten Grades an Alicia Rosado beschuldigt. Doktor, haben Sie sich ein Urteil darüber gebildet, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt der Verbrechen, derer man ihn beschuldigt, geistig zurechnungsfähig war oder nicht?«

»Ja, das habe ich.«

»Und darf ich fragen, wie dieses Urteil lautet?«

»Meiner Meinung nach war er zum Zeitpunkt des Mordes an dieser Frau geistig unzurechnungsfähig.«

Mr. Leyendecker sah erneut jedem Mitglied der Geschworenen in die Augen, als er seine abschließende Frage stellte.

»Und, Doktor, ist er jetzt, zu diesem Zeitpunkt, geistig zurechnungsfähig oder nicht?«

»Meiner Meinung nach ist Joseph Miles völlig unzurechnungsfähig.«

Im Zuschauerraum brach ein Tumult aus und die Richterin versuchte, die Leute mit Schlägen ihres Hammers auf den Tisch zur Ruhe zu bringen. Joe hatte kaum mitbekommen, dass er sich die ganze Zeit selbst befriedigt hatte, bis er aufbrüllte, als der Orgasmus seinen Körper wie eine Puppe im Maul eines bösartigen Hundes schüttelte und er auf den Tisch des Verteidigers ejakulierte. Die Gerichtsdiener stürmten auf ihn zu, wollten ihn unter Kontrolle bringen, während die Richterin erneut und diesmal lauter mit ihrem Hammer zuschlug und dabei den Kopf abbrach.

»Bringen Sie diesen Perversen aus meinem Gerichtssaal!«, brüllte sie, deutete mit dem Griff des abgebrochenen Hammers auf Joe, als wollte sie ihm das Holz direkt ins Herz rammen. Joes Erektion ragte aus seinem aufgeknöpften Overall, an der geschwollenen Eichel seines riesigen Schwanzes glänzten noch immer perlmuttfarbene Samentropfen.

Während man ihn aus dem Gerichtssaal zerrte, konnte Joe den Blick nicht von dem Bildschirm lösen, auf dem Alicias geöffneter Schädel mit sauber ausgeleckter Schädeldecke zu sehen war. Er erinnerte sich an den Geschmack der Gedanken seiner Geliebten. Es war die größte Ekstase gewesen, die er jemals erlebt hatte. Eine, zu der er sich zurücksehnte.

»Schaffen Sie ihn hier raus! Jetzt! Die Verhandlung ist vertagt!«

Während der nächsten Tage trugen der Bezirksstaatsanwalt und Joes Pflichtverteidiger den Geschworenen ihre Abschlussplädoyers vor. Beide Seiten führten stichhaltige Argumente an und Joe überdachte seine vorherige Meinung, dass sein Anwalt nur halbwegs begabt war, noch einmal. Seine Verteidigung war brillant. Die Geschworenen brauchten keine Stunde, bis sie ihr Urteil verkündeten: unschuldig aufgrund geistiger Unzurechnungsfähigkeit. Joseph Miles wurde in die staatliche Anstalt für geisteskranke Straftäter eingewiesen. Vier Jahre später wurde er für voll zurechnungsfähig erklärt und ins Staatsgefängnis überführt, Hochsicherheitstrakt.

TEIL I

ROHES PHILIPPINISCHES KINILAW

5 gehackte Knoblauchzehen

2 in Stücke geschnittene Siling Mahaba

1 mittelgroße in Ringe geschnittene gelbe, rote oder weiße Zwiebel

1 in Stücke geschnittene Schalotte

4 in Stücke geschnittene Stauden Frühlingszwiebeln

1 kleines Stück gehackte Ingwerwurzel

½ Tasse Kokosnussessig

1 mittelgroße gehackte Kirschtomate

Salz und Pfeffer nach Bedarf

1 gehäuteter und gehackter großer beschnittener Penis

2 gehäutete und in hauchdünne Scheiben geschnittene Hoden

Das gehackte beste Stück des Mannes zwischen 30 Minuten und einer Stunde in Kokosnussessig marinieren, abtropfen lassen, dann mit den anderen Zutaten vermengen. Weitere 30 Minuten bis 1 Stunde kalt stellen. Gekühlt mit Getränk nach Wahl servieren.

1

Liebe Lana,

ich weiß, dass du mich für das, was ich deiner wunderbaren Schwester angetan habe, für ein Monster halten musst. Dein anhaltendes Schweigen bestätigt mir das und ich kann dir daraus kaum einen Vorwurf machen. Es muss dir ebenso schwerfallen, meine Taten zu begreifen, wie es mir fällt, sie zu erklären, aber ich versuche es trotzdem. Zumindest das schulde ich dir.

Das Schwierigste an dem, was ich bin, ist, dass niemand es als Krankheit anerkennt. Für die meisten bin ich einfach nur böse. Aber dir reicht diese Erklärung nicht. Böse ist kein Grund, den irgendein geistig gesunder Mensch versteht. Mein Fluch (und es ist nichts anderes) trotzt sämtlichen herkömmlichen Grenzen von Moral und Zivilisation. Er verwirrt den vernunftbegabten Verstand. Ich habe jahrelang über der Eigenart meiner Natur gebrütet und meine Schlussfolgerungen klingen sogar für mich irrational. Und das, obwohl jede Erfahrung, jeder Antrieb, jedes Verlangen meine Prognose bestätigt.

Ich bin krank und das hat mich zu einem Monster gemacht. Diese Krankheit hat mich zu einer Kreatur gemacht, die nur noch wenig mit der Menschheit gemeinsam hat, zu einem Paria. Ich bin genauso hoffnungslos nach dem Verzehr von menschlichem Fleisch süchtig wie ein Abhängiger nach seinem nächsten Schuss Heroin. Und trotzdem werden dem Säufer, dem Junkie, der Koksnase und sogar dem Vielfraß mehr Sympathie und Mitgefühl entgegengebracht, als ich jemals hoffen könnte zu bekommen, einfach weil ihre Triebe niemandem schaden oder das Leben kosten. Die einzigen Leidtragenden ihrer Triebe sind sie selbst und diejenigen, die sie lieben. Sie zerstören nur ihre eigenen Freunde und Familien, ihr eigenes Leben. Ich hätte gerne eine so harmlose Abhängigkeit. Ich würde meinen Fluch mit Freuden gegen ihren eintauschen.

Die Sucht, die mich so quält, ist wie der schreckliche Durst eines Vampirs in Verbindung mit dem gierigen Hunger eines Werwolfs und ich bin davon überzeugt, diese Flüche sind alle ein und derselbe. Weil niemand dieses Ding in mir begreift und niemand zuhören will, hat man mich für unzurechnungsfähig erklärt und zu einem Leben hinter Gittern verurteilt, anstatt mich hinzurichten! Man glaubt nicht, dass dieses Monster in mir dabei kaum Entscheidungsfreiheit oder freien Willen hat, dem Trieb nachzugeben oder nicht. Für mich wäre das, als würde ich beschließen, nicht zu trinken, obwohl meine Kehle wie ausgedörrt ist, oder nicht zu essen, wenn sich mein Magen vor Hunger schmerzhaft zusammenzieht. Ich habe keine wirkliche Wahl. Das Ding, das mich zu diesen verabscheuungswürdigen Taten getrieben hat, ist eine Krankheit, mit der man mich infiziert hat. Es beschreibt nicht, was ich für ein Mensch bin. Eigentlich bin ich eine umgängliche Person. Würde mich dieser schreckliche Fluch nicht dazu drängen, würde ich keiner Fliege etwas zuleide tun.

Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich nicht den Mann, der ich mal war, oder den, der ich früher sein wollte. Auch nicht den Mann, den Alicia damals kennengelernt hat, und ich denke, auch nicht den Mann, zu dem ich geworden wäre, wenn ich nie meinem persönlichen mörderischen Dämon, Damon Trent, begegnet wäre. Genauso wenig sehe ich den Mann, der ich hätte sein können, wäre ich nicht der Saat eines bösartigen Vaters entsprungen, eines sadistischen Päderasten, der selbst Damon Trent in den Schatten stellte. Ich weiß, für dich klingt das wie der Versuch, die Verantwortung für meine Taten auf andere abzuwälzen, aber das ist nicht der Fall. Ich weiß, dass ich die Verantwortung trage. Die Leben, die ich ausgelöscht habe, suchen mich heim, sogar die derjenigen, die nicht ganz so unschuldig waren. Ich bin ein Raubtier, das seine Beute betrauert, und dieses unsäglich schlechte Gewissen ist für mich der Beweis, dass ich immer noch ein menschliches Wesen bin. Ich trauere jeden Tag um Alicia. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie mir fehlt. Abgesehen von meiner Mutter ist sie die einzige Frau, die mich jemals von ganzem Herzen geliebt hat. Und ich habe sie auch geliebt – mehr, als ich jemals in Worte fassen könnte. Mein Verlangen nach ihr hat das Monster in mir zum Vorschein gebracht und ich habe uns beide enttäuscht, als ich zugelassen habe, dass es erst mich überwältigen konnte und dann sie.

Was ich getan habe, tut mir leid. Bitte finde die Kraft, mir zu vergeben.

Hochachtungsvoll,

Joseph Miles

Joe faltete den Brief und schob ihn in den Umschlag. Er wusste, sein Schreibstil klang seltsam gestelzt und antiquiert förmlich, doch dagegen konnte er nichts tun. Je länger er hinter diesen Mauern aus Beton und Stahl festsaß, umso mehr vergaß er, wie echte Menschen miteinander sprachen. Seine einzigen Referenzquellen waren Bücher von Mary Shelley, Bram Stoker, Leo Tolstoi und Charles Dickens. Neben anderen großartigen Vertretern der klassischen Literatur waren sie alles, was er zurzeit an Freunden hatte. Er war überzeugt: Besser, er klang wie sie als wie seine Mithäftlinge oder die vulgären Gefängniswärter.

Beim nächsten Treffen mit seinem Anwalt würde Joe ihm den Brief geben, damit er ihn genau wie die anderen an Lana weiterleitete. Er wollte nicht wissen, wo sie lebte, denn er traute sich selbst nicht. Er bezweifelte, dass er dem Drang widerstehen könnte, der Frau einen Besuch abzustatten, sollte er jemals aus diesem Höllenloch herauskommen. Der Gedanke, dass sie seiner geliebten Alicia auch nur im Geringsten ähneln könnte, wäre eine unwiderstehliche Versuchung. Sollte sie ihm zurückschreiben, wäre ihre Adresse auf dem Umschlag. Joe kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er die mit einer Einladung gleichsetzen würde. Er hatte sich fest vorgenommen, sollte sie ihm jemals auf einen seiner Briefe antworten, würde er den Umschlag vernichten. Seit seiner Inhaftierung hatte er ihr jede Woche einen Brief geschrieben, doch bislang hatte sie auf keinen davon geantwortet.

Joe legte den Umschlag auf das einsame Metallregal, das gegenüber seinem Bett an die Wand genietet war. Dann wickelte er ein Handtuch um diese Ablage, streckte die Beine von sich und machte sich an die ersten zehn von 20 Klimmzügen. Das Regal bog sich zitternd unter seinem Gewicht, aber es hielt.

Er war gerade beim vorletzten, die freigesetzte Milchsäure brannte durch seine Rückenmuskulatur und Oberarmmuskeln, als der Wärter im Kontrollturm seine Registrierungsnummer aufrief. Er hatte einen Besucher. Joe wusch sich Gesicht und Achselhöhlen im Waschbecken und schmierte sich hastig ein Deodorant unter die Arme. Im Super-Maximum – Supermax –, dem Sicherheitsflügel des Gefängnisses, saß man seinem Besuch durch kugelsicheres Glas getrennt gegenüber. Trotzdem wollte Joe so gut wie möglich aussehen und riechen. Hygiene war das letzte Überbleibsel seines früheren Lebens. Des Lebens, bevor das Monster die Kontrolle übernommen hatte.

Lionel Ray Miles war ein grausamer und nachtragender Mann gewesen, in dem die Milch menschlicher Freundlichkeit schon vor sehr langer Zeit geronnen war. Lange bevor ihm sein Sohn den Kopf abgerissen hatte, war er innerlich bereits tot gewesen. Nur wenige von denen, die ihn gekannt hatten, hatte die Art seines Todes überrascht. Gewalttätige Männer schieden gewaltsam aus dem Leben. Das bisschen Gute, das in ihm existiert hatte, hatte er an seinen Sohn Joseph weitergegeben. Aber dann hatte Lionel Ray auch das verdorben und Joseph zu einem Ungeheuer gemacht, und so hatten Josephs Verbrechen ebenso wenige, die die Familie gekannt hatten, überrascht – am allerwenigsten seine Mutter.

Agatha Miles war das perfekte Beispiel matronenhafter Liebe und Fürsorge, als sie den Besucherraum im Super-Maximum-Sicherheitsflügel des Staatsgefängnisses betrat. Joe hatte seine Mutter seit Jahren nicht gesehen. Kurz nachdem Joe das Haus verlassen hatte, um aufs College zu gehen, hatte sie seinen Vater verlassen. Er hatte stets das Gefühl, dass diese Trennung geplant gewesen war. Als hätte sie jahrelang vorgehabt, seinen Vater zu verlassen, die Familie aber nicht auseinanderreißen wollen. Aber als ihr Sohn ein Mann und aus dem Haus war, hatte sie offenbar beschlossen, dass es an der Zeit war.

Sie nahm hinter der gläsernen Trennwand Platz, hantierte mit der ledergebundenen Bibel in ihrem Schoß und wirkte sehr viel älter als in Joes Erinnerung. Ihr Haar war fast vollständig ergraut und von den Augenwinkeln aus erstreckten sich Spinnennetze aus Falten. Um ihren Mund herum hatten sich tiefe Linien in ihr Gesicht gegraben und sie hatte stark abgenommen. Sie war nicht mehr die mollige Frau mit den rosigen Wangen und dem unerschütterlich sonnigen Gemüt aus seiner Jugend, die sich lächelnd und mit Tränen in den Augen von ihm verabschiedet hatte, sondern blass und hager. Ihre Haut sah aus, als hätte man sie über ein Skelett gespannt. Jede ihrer Bewegungen, egal wie winzig, schien die Gefahr zu bergen, ihre spröden Knochen zu Staub zerfallen zu lassen.

Sogar das Abnehmen des Telefonhörers machte den Eindruck, eine Anstrengung für sie darzustellen. Joe hatte sie ohne Ehemann oder eine andere geliebte Person zurückgelassen, die sich um sie gekümmert hätte. Und die Auswirkungen waren katastrophal. Sie erweckte den Eindruck, als stünde sie bereits mit einem Bein im Grab. Agatha streckte die Hand nach Joe aus, legte die Finger flach an die Glasscheibe und drückte gegen die Barriere. Joe legte seine Hand ebenso ans Glas. Seine riesigen Finger ließen ihre zweigdünnen Glieder noch zerbrechlicher erscheinen. Er ließ seine Hand, wo sie war, als könnte er seine Atome mittels reiner Willenskraft durch die Barriere dringen lassen, um sich mit ihren zu verbinden. Er konnte nicht beurteilen, ob er Erfolg hatte, doch er konnte sie weder spüren noch riechen. Er stellte sich ihren Geist in kohlegrauer Farbe vor, die letzte Glut eines schon lange erloschenen Feuers mit mattem, unregelmäßig aufblitzendem elektrischem Blau, das sich wie Blitze in einer Sturmwolke zeigte, welche sich schließlich auflöste, ohne dass auch nur einer dieser Blitze am Himmel erschienen war. Er stellte sich vor, wenn er sie riechen könnte, würde ihrem Duft die Elektrizität, das Blut und das Aroma von fruchtigem Nektar fehlen, der ihn im Umgang mit den jungen Leuten am College fast um den Verstand gebracht hatte. Es wäre eher der Geruch von etwas Totem, bereits zu Staub Zerfallenem.

Seine Mutter senkte die Hand und Joe folgte ihrer Bewegung, seufzte aufgrund seines Versagens, eine Verbindung mit ihr einzugehen.

»Mein armer Joey. Ich hätte dich von dem Mann wegbringen sollen. Aber ich habe ihn geliebt. Ich weiß, das ist dir unbegreiflich, aber ich habe deinen Vater wirklich geliebt.«

Joseph Miles hatte den Tod seines Vaters nicht ein einziges Mal bedauert. Seine Mutter wegen ihres getöteten Ehemanns weinen zu sehen, empfand er als befremdlich.

»Er war ein Mörder, Mom. Er hat Kinder getötet.«

»Und du hast ihn und diese anderen Leute getötet. Sollte ich mich nun auch von dir abwenden, Joey?«

»Vielleicht solltest du das, Mom.«

Seine Mutter schüttelte den Kopf und einen Moment lang konnte er ihre alte Kraft aufflackern sehen. »Dein Vater war krank. In ihm wohnte eine Schwäche, eine Krankheit wie die, an der du leidest. Du weißt nicht, was er als Kind alles erlitten hat. Nicht einmal ich weiß alles, aber so schrecklich das auch war, was dir Damon Trent angetan hat, es war nichts im Vergleich zu dem, was dein Vater durchmachen musste. Wir haben versucht, dich zu beschützen, Joey. Wir wollten nicht, dass du so wie er wirst. Er wollte es nicht. Wenn Damon Trent nicht gewesen wäre …« Sie schüttelte erneut den Kopf, wischte sich mit einem Taschentuch eine Träne aus dem Augenwinkel.

Joes Gedanken waren wie eingefroren, konzentrierten sich auf das, was seine Mutter gerade gesagt hatte.

»Du wusstest, was Dad war? Du wusstest es?«

»Ich habe es vermutet. Ich wusste, dass er eine gemeine Ader hatte, und ich war mir sicher, dass er Leute getötet hat. Aber ich wusste nicht, dass es Kinder waren. Ich dachte, dass er vielleicht bei Kneipenschlägereien jemanden getötet hat oder sogar Prostituierte. Darum habe ich ihn überhaupt verlassen. Ich dachte, dass er sich vielleicht Huren kauft und ihnen wehtut. Das tun Männer manchmal. Aber ich habe nicht gewusst, dass es Kinder waren.«

Joe starrte seine Mutter an, sah sie mit anderen Augen. Das tun Männer manchmal. Sie ließ es so klingen, als wäre der Mord an einer Prostituierten für einen Mann so normal wie die Klobrille nicht herunterzuklappen. Möglicherweise war sie gar nicht das unschuldige, nichts ahnende Opfer, für das er sie gehalten hatte.

Joseph fragte sich, wie sehr seine Blutlinie verdorben war.

»Er war stolz, als du aufs College gegangen bist. Wusstest du das? Er hat ständig von seinem großen College-Jungen gesprochen. Wir haben gedacht, dass du Großes erreichen würdest. Als er in den Nachrichten gesehen hat, dass an einer Schule eine Frau ermordet wurde, hat er mich angerufen. Ich ahnte nicht einmal, dass er wusste, wie er mich finden konnte. Er war davon überzeugt, dass du es warst. Ich weiß nicht, woher, aber er hat es gewusst.«

Joe lächelte sachte, schüttelte den Kopf. Seine Mutter zu sehen, zu hören, dass sie all diese Jahre gewusst oder zumindest vermutet hatte, was sein Vater trieb – ohne etwas dagegen zu unternehmen –, und ihn trotz allem geliebt hatte, weckte in Joe die Erkenntnis, dass er nie eine Chance gehabt hatte. Er war schon im Mutterleib verflucht gewesen. Zudem fragte er sich, ob er möglicherweise der falschen Blutlinie nachgegangen war. Vielleicht lag der Ursprung des Fluchs nicht bei seinem Vater, sondern bei seiner Mutter? In seinem Verstand verfolgte er den Gedanken weiter und die Schlussfolgerung gefiel ihm ebenso wenig wie das, was diese von ihm verlangen würde.

»Ich liebe dich, Mom. Mach’s gut.«

Joe stand auf, richtete sich zu seinen hünenhaften 1,98 auf und rief nach dem Wärter. Während er den Besucherraum verließ, drehte er sich nicht noch einmal zu ihr um, obwohl er sich sicher war, sie erst bei ihrer Beerdigung wiederzusehen.

»Mach’s gut.«

Der Wärter brachte Joseph Miles in seine Zelle zurück. Joe wartete, bis er hörte, wie sich die Schritte im Flur entfernten, bevor er sich gestattete zu weinen.

2

Es war dunkel. Die Luft war vom Geruch von Josephs Schweiß geschwängert und jede Oberfläche in Reichweite bestand aus kaltem Metall und Beton. Er atmete seinen eigenen moschusartigen Gestank ein und stieß ihn in einer Wolke aus Mundgeruch wieder aus. Die Wärter hatten ihm seine Zahnbürste weggenommen, und seit man ihn unbekleidet in einer »Nacktzelle« in Einzelhaft gesteckt hatte, hatte er auch nicht mehr geduscht. Das »Verbrechen«, weswegen er bestraft wurde, war seine Weigerung, seine Zelle zu verlassen und duschen zu gehen. Das hatte ihnen bereits genügt.

Im Supermax war der bloße Gedanke an Einzelhaft lächerlich, da jeder Tag Einzelhaft war. Er war 23 Stunden am Tag eingesperrt. Das Einzige, was sie ihm mit dieser Bestrafung genommen hatten, waren seine tägliche Stunde auf dem Übungsplatz und seine Dusche dreimal die Woche.

Joe hielt sich die Hand vor die Augen, konnte seine Finger aber nicht erkennen. Zusätzlich zu seinem eigenen ranzigen, tierischen Gestank roch es in dem Raum nach Urin mit einer schwachen Note von getrocknetem Blut. Das versetzte Joes Nase in Aufruhr, versengte seine Nasenhaare, ließ seine Augen tränen. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal seit Tagen, dass das Licht aus war.

Die Wärter hatten sich angewöhnt, das Licht Tag und Nacht brennen zu lassen. Das war eine weitere Form raffinierter Folter, mit der diese Wichser versuchten, in seinem Verstand herumzupfuschen. Er schlang die Arme um sich, rubbelte über die Gänsehaut auf seinen Armen und Schultern. Die Temperatur lag nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt.

Er hörte Schritte, die sich seiner Zelle näherten. Mehrere – mindestens drei Leute. Die Tür wurde geöffnet und einer der Wärter blendete ihn mit einer Taschenlampe. Joe zuckte zusammen. Er saß nackt auf dem Boden, schirmte seine Augen vor dem Licht ab. Er hatte bis zur Erschöpfung trainiert und kniete nun in einer Pfütze aus seinem eigenen Schweiß. Sich bis zur totalen Erschöpfung zu verausgaben war der einzige Weg, wie er sich umgeben von den Schreien und Rufen der anderen Verdammten zum Schlafen zwingen konnte.

»Seht euch diesen verrückten Hurensohn an. Er sieht wie ein nasser Hund aus. Scheiße, stinkt das hier drin!«, sagte einer der Wärter.

In der Tür standen zwei Strafvollzugsbeamte, die ihn ebenfalls mit einer Taschenlampe beleuchteten. Zwischen ihnen stand ein großer Schatten. Ein Mann, der ohne Weiteres so groß wie Joe war, wenn nicht größer.

»Du hast Besuch, Joe. Ein neuer Zellengenosse.«

Der Wärter klang gut gelaunt und Joe wusste, was er vorhatte. Das war nicht sein erstes Rodeo.

»Da ist schon einer drin!« Die Stimme war hoch, weiblich, mit einem leichten Lispeln. Nachdem sich Joes Augen an das plötzliche Licht gewöhnt hatten, konnte er mehr als nur die Silhouette des Mannes erkennen. Genau wie Joseph war er nackt. Er hatte einen riesigen Schwanz, der ihm fast bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Der Mann war sehr muskulös, schwarz, mit langen geflochtenen Haaren, die ihm über die Schultern hingen. Joe konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber die Haltung deutete an, dass er alles andere als zufrieden war. Die Wärter nahmen ihm die Hand- und Fußfesseln ab.

»Das hier ist die einzige verfügbare Nacktzelle. Ihr beiden müsst einfach etwas zusammenrutschen.«

Er kannte die Stimme des Wärters. Er sah den fetten Strafvollzugsbeamten mit seinen rot angelaufenen Hängebacken und dem aufgedunsenen Schmerbauch förmlich vor sich. Dazu seinen Kurzhaarschnitt, durch den er fast kahl wirkte, und die lange Narbe, die sich über seinen Kopf bis zur Stirn zog. Sie war ein Andenken an den Angriff eines Insassen, der sich eine Zahnbürste angespitzt und so eine Stichwaffe gebastelt hatte. Er arbeitete nachts im Kontrollraum und war für alles verantwortlich. Vom Auf- und Abschließen der Zellen über das Licht bis hin zu der Frage, welche Fernsehprogramme sie sehen konnten.

»Ihr dürft ruhig kuscheln. Morgen früh holen wir einen von euch wieder raus.«

Es lag auf der Hand, was der Wärter vorhatte. Im Supermax nannte man es »Hahnenkämpfe«. Die Wärter schnappten sich zwei Häftlinge, die bekannt dafür waren, zu unprovozierter Gewalt zu neigen, und steckten sie zusammen in eine Zelle. Damit wollte man Problemhäftlinge erziehen und zudem war es eine leicht verfügbare Ablenkung. Er hatte sogar gehört, dass die Wärter gelegentlich Wetten auf die Kämpfe abschlossen. Joseph hatte schon ein paar Hahnenkämpfe mitgemacht. Als einer der bekanntesten und gefährlichsten Straftäter im Gefängnis hatte er bereits einen Geschmack des Schlimmsten bekommen, was die Anstalt zu bieten hatte. Die meisten der Strafvollzugsbeamten hassten und fürchteten ihn, also versuchten sie regelmäßig, ihn zu brechen, indem sie beispielsweise das Licht eine Woche lang brennen ließen; manchmal blieb der Fernseher stundenlang oder sogar tagelang bei voller Lautstärke auf irgendeinen religiösen Sender gestellt, und gelegentlich eben diese Hahnenkämpfe. Er fragte sich, was sein neuer Zellengenosse wohl angestellt hatte, um sich diese Zuwendung zu verdienen.

Die Zellentür schlug zu und wurde abgesperrt. Joseph stand auf. Er spürte, wie sich das Monster regte, härter und größer wurde, wie in ihm der Blutdurst aufstieg und an der Basis kribbelte. Wie gewöhnlich war sein Instinkt, zu töten, von sexueller Erregung nicht zu unterscheiden. Es war, als lebte in ihm ein weiteres Wesen, ein Parasit, der immer hungrig war und ständig forderte, gefüttert zu werden. Seit man ihn eingesperrt hatte, waren seine Gedanken und Fantasien immer animalischer geworden, reduziert auf die grundlegendsten Impulse: ficken, essen, töten – und nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Der schreckliche Hunger, den er bereits seit Monaten ertrug, war mittlerweile zu einem anhaltenden, ihn wahnsinnig machenden Schmerz geworden. Dieses Mal würden die Wärter etwas für ihr Geld zu sehen bekommen. Sie würden mehr bekommen, als sie sich jemals erträumt hatten.

Joe schwieg, lauschte auf das schwere, nervöse Atmen des Mannes, wartete, bis sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnten. Der Mann roch nach Schweiß, Samen und Parfüm. Der Geruch brachte ihn fast um den Verstand. Joes Magen knurrte.

»Wie heißt du? Wer bist du?«, fragte der Fremde.

Joe ging auf ihn zu, bis er knapp außerhalb seiner Reichweite stand. »Joseph. Joseph Miles.«

Er hörte, wie sich die Atmung des Mannes beschleunigte. Gut, dachte Joseph. Er weiß, wer ich bin. Er weiß, wozu ich imstande bin.

»J… Joseph Miles? Der … der Serienmörder? Der Kerl, der Leute isst?«, flüsterte der große schwarze Mann. Jetzt war seine Stimme von Panik gefärbt. Sein schriller Aufschrei kaum mehr als ein heiseres Quieken.

»Ja.« Joe ging noch näher heran und der Fremde zog sich vor ihm zurück. Zusätzlich zum Schweiß und Samen konnte Joe an dem Mann nun auch Blut und Fäkalien riechen. Er kannte dieses einzigartige Zusammenspiel von Düften sehr gut, denn es erinnerte ihn an seine erste Nacht mit Alicia. Es war der Duft von gewalttätigem Sex.

»Bleib mir bloß vom Leib, du Hurensohn! Ich schwör dir, ich reiß dir den Arsch auf und vergewaltige dich! Ich steh auf weiße Jungs. Wenn ich verliere, tritt man mir bloß in den Arsch, aber wenn du verlierst, bekommst du den Arsch voll! Das verspreche ich dir!«

Ein Gefängnis-Vergewaltiger. Das erklärte, warum ihn die Wärter hergebracht hatten. Sie wollten, dass er dem Kerl eine Lektion erteilte. Joe ging noch näher an ihn heran.

Der große Vergewaltiger ging so lange rückwärts, bis er mit dem Rücken an der einzigen Tür der Zelle stand. Joes Erektion war ein Speer, der die Luft vor ihm durchstach. Das Monster hatte Hunger. Fütterungszeit.

»Wenn du verlierst, werde ich deinen Arsch vernaschen«, warnte ihn Joe, »aber nicht so, wie du es magst, sondern wie ich es mag.«

Der Mann drehte sich um und hämmerte gegen die Zellentür. »Lasst mich hier raus, ihr Hurensöhne! Ihr kranken Bastarde! Ihr habt mich zu einem verfluchten Psycho gesperrt! Lasst mich raus!«

Mittlerweile stand Joe direkt hinter ihm.

Der Kerl drehte sich um, schlug in die Luft, verfehlte Joes Nase um Zentimeter. »Verpiss dich! Bleib mir vom Leib!«

»Nein.« Joe stürzte sich auf ihn. Er trat dem Vergewaltiger in den Magen, rechnete damit, dass ihm das den Wind aus den Segeln nehmen, ihn zusammensacken lassen würde, damit Joe hinter ihn kommen und ihn in einen Würgegriff nehmen konnte. Aber der Kerl war stark. Er steckte den Tritt gut weg. Zwar taumelte er zurück, aber sonst schien der Mann nicht verletzt zu sein. Plötzlich ging das Licht an, blendete Joe. Ein weiterer Trick, auf den die Wärter gerne zurückgriffen. Erst ließ man sie in der Dunkelheit versauern und mitten in einem Kampf schalteten sie auf einmal das Licht ein. Das erhöhte die Spannung für sie.

Ein Schlag schmetterte gegen Joes Kinn, dann noch einer und ein weiterer. In seinem Kopf zuckten Blitze und alles verschwamm, wurde grau und benebelt. Er wusste, dass er kurz davorstand, das Bewusstsein zu verlieren. Dann spürte er den kräftigen Arm des Mannes um seine Kehle und wie er zudrückte. Offensichtlich hatte er sich denselben Schlachtplan wie Joe zurechtgelegt.

»Ich bin Luscious, du kranker Schweinepriester. Spürst du das? Sobald ich dich schlafen gelegt hab, schieb ich dir das in deinen engen kleinen Arsch. Ich hab dich gewarnt, erinnerst du dich? Ich hab dir gesagt, was ich mit dir mache, wenn du dich mit mir anlegst!«

Joe konnte spüren, wie Luscious’ riesiger Schwanz gegen seine Kimme gedrückt steif wurde, seine Pobacken auseinanderschob und gegen seinen Anus drückte. Joe packte mit beiden Händen einen der Arme seines Möchtegernvergewaltigers, den, der auf seiner Kehle lag, zog ihn runter und kam so wieder zu Atem. Er grub das Kinn in den Spalt zwischen dem Unterarm und seiner Kehle, hielt so seine Luftzufuhr frei und verhinderte, bis zur Besinnungslosigkeit gewürgt zu werden. Dann griff Joe nach einer Hand des großen Mannes, einem seiner Finger, dem Mittelfinger, riss ihn zurück und brach ihn. Luscious brüllte vor Schmerz. Er kreischte wie eine Scream Queen aus einem Horrorfilm. Gleichzeitig biss Joe mit seinen spitz zugefeilten Zähnen in Luscious’ Unterarm. Er trieb seine Zähne tief in das Fleisch, warf den Kopf wie ein Hai im Fressrausch herum, durchtrennte Muskeln und Sehnen und spürte das warme Blut, als es in seinen Mund strömte. Das Monster schwoll an, wurde größer, pulsierte. Der Geschmack von Blut hatte das alte Verlangen geweckt.

Joe riss ein großes Stück Fleisch aus dem Unterarm, schluckte es, ohne zu kauen, und verbiss sich dann erneut in dem Arm. Luscious ließ Joe los, aber dieser ihn nicht. Der Geschmack von Fleisch hatte das Monster in einen Rausch versetzt. Zwischen seinen Beinen pulsierte sein steifer Schwanz, kribbelte wie kurz vor dem Orgasmus, hungernd nach mehr Fleisch.

»Ahhhhh! Aaaaaaaaaaahhhhhhhhhhh! Du hast mich gebissen! Du hast mich verfickt noch mal gebissen! Lass los! Lass mich verfickt noch mal looosss! Hiiiiiillllllfe! HIIIIIILLLLLFE! Wärter! WÄRTER!«

Joe warf den Kopf erneut herum, biss ein weiteres klaffendes Loch in den Unterarm des Vergewaltigers. Luscious hämmerte seine freie Hand gegen Joes Schläfe, zwang ihn dadurch, seinen Griff zu lösen, während er zurücktaumelte. Der Raum schwankte und drehte sich um Joe und der stand kurz davor, zusammenzubrechen. Doch sein Kopf klärte sich schnell wieder, als er bemerkte, dass der Schwarze erneut angriff. Dieses Mal hatte der große Vergewaltiger den Kopf gesenkt, hielt sich mit einer Hand den blutenden Arm und tauchte zu einem ungeschickten Football Tackle ab. Joe sprang mit ausgestreckten Beinen in die Luft, um zu vermeiden, dass ihn Luscious zu Boden riss und am Ende auf ihm lag. Er bezweifelte nicht, dass der Mann trotz seiner Verletzung noch immer gefährlich war. Er landete auf dem Schwarzen, schmetterte ihn mit dem Gesicht voran zu Boden. Dieses Mal gelang es ihm, sich hinter seinem Angreifer in Position zu bringen. Doch anstatt ihn zu würgen, biss er ihm in den Hals, kaute sich bis zur Karotisarterie durch, durchtrennte sie. Fleischstück auf Fleischstück riss er aus dem Hals des Mannes, während der Vergewaltiger unter ihm zappelte und versuchte, Joes gnadenlosem Angriff zu entgehen.