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Die Handlung dieses Romans ist – bis auf die mit dem Kampf um die Südtiroler Autonomie zusammenhängenden Ereignisse aus dem Jahr 1964 – frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2009



© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com


Titelfoto: © Klaus G. Förg, Rosenheim

Lektorat und Satz: Bernhard Edlmann Verlagsdienstleistungen, Raubling

eISBN 978-3-475-54648-8 (epub)

Worum geht es im Buch?

Felix Leibrock

Almrausch

Ein Krimi aus Südtirol

In Bozen wird die Psychiaterin Dr. Gabriela Pacella ermordet in ihrer Praxis aufgefunden. Eine echte Bewährungsprobe für Felix Waldner, der erst vor kurzem zum Kommissar befördert worden ist. Nicht nur, dass bei der Polizia di Stato mancher dem noch wenig erfahrenen Kollegen mit Skepsis zu begegnen scheint. Auch die Ermittlungen erweisen sich als ziemlich kompliziert. Als auf einer Berghütte in einem Kochtopf der Kopf eines getöteten Tibetica-Händlers auftaucht, stellt sich die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen beiden Fällen.

Felix Leibrock hat, inspiriert durch tatsächliches Geschehen, einen Krimi geschaffen, der nicht nur Spannung bis zum Ende bringt – auch die Landschaft, in der die Handlung spielt, und das Zwischenmenschliche kommen ausgiebig zu ihrem Recht.

Danke

Mein Dank für das große Entgegenkommen, die Geduld bei meinen vielen Fragen zum Polizeisystem in Südtirol und die herzliche Atmosphäre gilt den Mitarbeitern der Staatspolizei in der Quästur Bozen, namentlich dem Questore Piero Innocenti, dem Vice Questore Aggiunto und Capo di Gabinetto della Questura Giancarlo Conte, dem Vice Revisore Infermiere Francesco Mattivi, dem Presidente Comitato locale I. P. A. Luciano Pistore sowie in ganz besonderer Weise dem Sostituto Commissario Dr. Karl Erlacher. Für die Vermittlung zu den Dienststellen in Südtirol bin ich Polizeioberrat Ralf Kirsten aus Weimar sehr verbunden. Außerdem möchte ich den Mitarbeitenden des Deutschen Bienenmuseums in Weimar und dem Landesverband der Thüringer Imker für ihre Auskünfte zur Imkerei danken. Sehr hilfreich waren mir die Gespräche mit Oswald Schweigl vom Naserhof im Passeiertal. Überhaupt danke ich den vielen mir nicht namentlich bekannten Menschen in Südtirol, die mir auf Wanderungen oder beim Törggelen, auf Berggipfeln oder bei der Apfelernte so viel Bemerkenswertes über ihr einzigartiges Land erzählt haben. Südtirol, das ist dort, wo der Himmel ganz nah ist.

Felix Leibrock

1

In einer Nacht im September 1964

»Endlich, ich hab schon gemeint, wir schaffen das nicht mehr.«

Die drei Männer warfen ihre Rucksäcke in die Stube unterhalb des Heubodens. Der Weg über den Jaufenpass, abseits der Straße, damit sie niemand entdecken konnte, hatte an ihren Kräften gezehrt. Vorbei am Naserhof, hatten sie die Hütte im Wald unterhalb der Stieralm gerade noch erreicht, bevor die Dunkelheit anbrach. Die Kerze, die sie anzündeten, warf nur ein schummriges Licht in die karge Stube. Nichts deutete auf die Dramatik der kommenden Stunden hin.

»Da, nehmt einen Schluck!« Einer der drei, er kam aus einem Bergdorf, hielt den übrigen eine Flasche Waldbeerenschnaps hin.

Gierig griff der Mann rechts neben ihm, ein Nordtiroler, zu und trank gleich mehrere Schlucke.

»Ich brauch erst ein Wasser«, erwiderte der Dritte im Bunde, ein Bozener. Er begab sich mit einer Taschenlampe ins Freie, lief hinauf zur Stieralm, wo durch eine hölzerne Rinne Wasser von einem Gebirgsbach in eine Viehtränke floss. Genussvoll wusch er sich den Schweiß aus dem Gesicht und dem Nacken und schlürfte dann mit hastigen Zügen das Wasser aus seinen zu einer Schale geformten Händen. Weit unten im Tal sah er ein paar Lichter funkeln.

Auf dem Rückweg zur Hütte hörte er ein Knacken im Gehölz. Sicher Rehe, sagte er sich. Trotzdem ging er, als er wieder an der Hütte angelangt war, einmal um sie herum. Er prüfte instinktiv, ob die hintere Tür wie üblich mit Schiebehölzern verriegelt war, damit der Wind sie nicht aufstoßen konnte. Durch diese Tür gelangte man in den mit Heu gefüllten Speicher. Der Bozener stellte fest, dass sie nicht verriegelt war.

Muss wohl der Bauer vergessen haben, dachte er sich. Er ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über das übrig gebliebene Heu huschen, das auf dem Boden lagerte. Nichts Auffälliges war zu erkennen.

»Hallo, isch da wer?«, rief er ins Heu hinein.

»Geh, was soll das? Wir sind doch hier herunten!«, kam schnell und mit sich fast überschlagender Stimme die Antwort des Nordtirolers vom unteren Raum der Hütte.

»Ah, passt alles, ich wollt nur einmal hören, ob ihr mich von hier heraußen versteht.«

Er drückte die Tür mit seinem Körpergewicht zu und schob die auf dem Boden liegenden Flachhölzer in die dafür vorgesehenen Halterungen. Als er wieder durch den vorderen Eingang in die Hütte trat, sah er, dass sich die beiden anderen bereits ein Nachtlager auf den Holzbänken bereitet hatten.

»Da drüben, in dem Schrank, da liegt noch eine Decke. Schauen wir, dass wir gleich schlafen, damit wir in aller Früh weiter in Richtung Bozen ziehen können.«

Aber wie sollte der Bozener schlafen? Er war aufgeregt. Was sie wohl in seiner Heimatstadt bei den Leuten erreichen würden? – Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche mit dem Waldbeerenschnaps.

»Sagt, was wird denn jetzt?«, fragte er dann in die Stille des Raumes. »Jetzt, wo der Kerschbaumer-Sepp verurteilt worden ist? Werden die, die an seine Stelle getreten sind, bereit sein, dass sie noch härter gegen den italienischen Staat vorgehen? Meint ihr wirklich, die sind fähig, auch den Tod von Menschen bei Anschlägen in Kauf zu nehmen?«

Der Bergdörfler drehte sich zu ihm um und sah ihn mit blitzenden Augen an.

»Im Grunde ist mir die Antwort darauf ziemlich egal. Wenn sie in die Hose machen, dann sagen wir uns von dem Kerschbaumer und seinen Leuten los.«

»Aber, also, ich mein’« – man merkte dem Bozener die Nervosität an – »schaden wir damit nicht der Sache der Unabhängigkeit? Schauen uns da die Leute im Ausland und auch in Südtirol nicht als Terroristen an? Dann sagen die sich doch von uns los!«

Der Bergdörfler winkte ärgerlich ab. »Wie ist es denn in Algerien? Dort kommt auch erst Bewegung hinein, seit Menschen durch Attentate gestorben sind. Nicht dass wir das gezielt planen, aber wenn es nicht anders geht, dann geht es nicht anders. Ich jedenfalls mache den windelweichen Kurs gegenüber der italienischen Regierung nicht mehr mit. So, und jetzt schlaf. Wir werden schon sehen, was bei der ganzen Sache rauskommt.«

Das hatte der Bergdörfler sehr bestimmt gesagt; man merkte ihm an, dass er nicht gewillt war, darüber noch länger zu diskutieren. Er drehte sich zur Seite, und schon nach wenigen Minuten war ein gleichmäßiges Schnarchen zu hören.

Auch der Nordtiroler lag still und schien zu schlafen. Doch sein Puls raste. Selbst die Schnäpse hatten ihm nicht die gewünschte Ruhe verschafft. Er hatte schließlich auch Ungeheuerliches vor in dieser Nacht.

Wieder griff der Bozener zur Waldbeere. Ich muss mich betäuben, dann kann ich schlafen, sagte er sich. Doch hatte er da nicht ein Flüstern gehört? Er hielt den Atem an. Zehn, zwanzig Sekunden. Aber es war still. Nur ein leichter Wind ging draußen.

Nach vielleicht einer Stunde holte auch er sich die Decke und legte sich auf die andere Holzbank. Langsam dämmerte er in den Schlaf.

Eine halbe Stunde später war ein wildes Schnarchen von zweien der drei Männer zu vernehmen.

»Komm, jetzt«, flüsterte eine Stimme auf dem Heuboden, »springen wir hinunter und rennen davon.« Die drei Männer hatten nichts gemerkt, dass da noch andere Personen in der Almhütte waren, oben, auf dem Speicher des Stadels.

Das Flüstern von dort erstarb, als sich der Nordtiroler unten aufrichtete. Nervös pirschte er sich zu seinem Rucksack vor. Vorsichtig nestelte er an den Verschlüssen, begab sich blitzschnell wieder zu seinem Liegeplatz, als das Schnarchen der beiden anderen kurz aussetzte. Nach wenigen Minuten war der Schnarchrhythmus der beiden anderen wieder gleichmäßig. Erneut krabbelte er zum Rucksack. Seine Hände zitterten. Jetzt hatte er das, was er gesucht hatte. Er erhob sich, zog sich ganz leise die Schuhe und die Jacke an. Er war bereit. Für einen Augenblick leuchtete er mit seiner Taschenlampe das Lager der beiden anderen ab. Blitzschnell drückte er die Lampe wieder aus, als eines der Schnarchgeräusche jäh abriss und in ein undefinierbares, schlaftrunkenes Gebrabbel und Gemurmel überging. Doch nur wenige Sekunden später setzte das Schnarchen wieder ein, und das Licht der Taschenlampe begann erneut seine Suche. Er führte die Lampe mit der linken Hand, während die rechte eine Pistole auf den Bozener richtete. Kaum, dass er es fertigbrachte, ruhig zu zielen. Zwei Mal, drei Mal setzte er neu an. Das Blut rauschte durch seine Schläfen.

Dann fielen mehrere Schüsse in schneller Folge, unregelmäßig. Sie trafen den Bozener mitten ins Herz.

Der Bergdörfler richtete sich auf, noch im Schlaf. Auch ihn traf jetzt der Lichtkegel. Kaum eine Sekunde später streckten ihn ein Schuss in die Brust und einer ins Gesicht nieder.

Schweiß lief dem Nordtiroler in zwei Rinnsalen die Wangen hinunter. Er beobachtete noch kurz den Todeskampf der beiden. Als das Röcheln aufhörte, verließ er hastig den Heustadel. Er leuchtete die Bäume entlang, erkannte die Viehtränke auf der Stieralm. Im Unterholz war ein Rascheln, über ihm der Flügelschlag eines Kauzes und das bissige Krächzen einer Krähe. Panik stieg nach dieser Bluttat in ihm auf. Wie von einem Dämon getrieben stürzte er mit aufgerissenen Augen zur Viehtränke, um sich Gesicht und Hände zu waschen. Morgen würde er dem Geheimdienst Vollzug melden. Sein Geld bekäme er von einem italienischen Verbindungsmann in Innsbruck. Stürmischen Schrittes entfernte er sich von der Almhütte talabwärts nach Saltaus, wo er festgenommen wurde. Doch hinter Meran, in Burgstall, stoppte das Auto. Er war frei. Erst als er einige hundert Meter Richtung Meran zurückgelaufen war, wo er den nächsten Zug Richtung Bozen und dann nach Innsbruck nehmen wollte, kam ihm die Erinnerung, kurz wie ein Blitz und nur unpräzis: Hatte er bei den Schüssen im Heustadel nicht einen leichten Aufschrei gehört? Wie von einem Kind oder einer Frau? Aber wie sollte das möglich sein? Vielleicht war es ein Vogel, der von einer Katze gerissen wurde! Oder alles Einbildung? Ach, egal, beruhigte er sich, Hauptsache, der Auftrag ist erfüllt!

»Komm, wir springen jetzt runter.« Die Stimme auf dem Heuboden zitterte vor Angst, flüsterte aber nicht mehr.

Als sie vom Speicher des Stadels in den unteren Raum sprangen, hörten sie, wie jemand zu stöhnen begann. Einer der beiden Männer lebte noch! Entweder war der Schütze zu nervös gewesen, oder der Bergdörfler hatte sich gut totgestellt.

Die vom Heuboden gesprungen waren, stolperten jetzt über den Leichnam des Bozeners, richteten sich erschrocken auf und zündeten ein Streichholz an. Für einen Augenblick sahen sie in ein Paar vor Schreck geöffnete Augen. Das ganze Gesicht des Bergdörflers, der sich mühselig ein wenig aufgerichtet und an die Wand gelehnt hatte, war von Blut beschmiert, und auch das Hemd war rot durchtränkt.

»Los, raus!« Die Stimme, die das Signal zum Sprung vom Heuboden gegeben hatte, flüsterte jetzt wieder. Sie rissen die Stadeltür auf und rannten, so schnell sie es in der Dunkelheit vermochten, auf die Lichter im Tal zu.

Später schleppte sich der angeschossene Bergdörfler von der Stieralm Richtung Jaufenpaß davon. Zurück dorthin, von wo er mit zwei Kameraden aufgebrochen war. Der eine war jetzt tot, und der andere, der war kein Kamerad, nein, er war ein Verräter. Nie hätte der Bergdörfler das gedacht.

2

Montag, 17. März

»Aua!«

Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten hatte ihn jetzt eine Biene gestochen. Florian Waldner war mit der Imkerei sichtlich überfordert und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den linken Daumen.

»Papa, was hast denn schon wieder?« Der neunjährige Martin Waldner schaute neugierig aus der Ferne zu seinem Vater, der im Bienenhaus zugange war.

»Geh, bring mir bitte noch mal die Salbe gegen die Stichwunden, Martin.«

Als Martin aus dem Haus zurückkam, hatte sein Vater das Bienenhaus verlassen und sich an den Gartentisch gesetzt, an dem Martin in einem Buch blätterte. Er strich behutsam etwas Salbe auf die leicht gerötete Stichwunde.

»Sag, Papa, macht dir das mit den Bienen überhaupt Spaß?«

Florian Waldner ließ sich mit der Antwort Zeit. Wenn er ehrlich war, hatte er sich selbst bis vor kurzem überhaupt nicht in der Rolle des Imkers vorstellen können. Doch als sein Vater vor einigen Wochen überraschend an einem Herzinfarkt verstorben war, da stand die Frage im Raum, was denn aus den Bienen würde. »Das war doch dem Vater sein ganzer Stolz«, hatte ihm seine Mutter damals verzweifelt ans Herz gelegt. Ob er sich denn gar nicht vorstellen könne, dessen Hobby weiterzuführen, im Gedenken an ihn. »Damit wenigstens seine Bienen weiterleben.«

Florian Waldner empfand dieses Ansinnen als gewaltige Belastung: den Vater weiterleben zu lassen, indem er sein Hobby übernahm. Aber was, wenn er das ablehnen würde? Wäre er dann nicht undankbar? Würde er dann nicht – nein, er wollte den Gedanken gar nicht zu Ende denken. Er hatte keine andere Wahl.

»Noch macht es mir keinen richtigen Spaß«, antwortete er gedankenversunken, »aber wenn ich erst einen Imkerhut und diesen Schleier und die Imkerbluse habe, werde ich nicht mehr gestochen. Dann kann das durchaus interessant sein.«

»Der Opa ist immer nur mit seiner Pfeife und ohne Hut und Bluse zu die Bienen gegangen, Papa.«

»Ja, das stimmt, aber erstens hatte der Opa jahrzehntelange Erfahrung, und zweitens: Es muss heißen ›zu den Bienen gegangen‹ und nicht ›zu die Bienen‹.«

Martin fixierte seinen Vater mit zusammengekniffenen Augen und beschäftigte sich dann wieder mit seinem Buch.

Florian Waldner schaute von seinem Gartenstuhl aus auf das Bienenhaus. Der Tod des Vaters, er war nur eine der einschneidenden Veränderungen, die die letzten Monate gebracht hatten. Dazu kam die Trennung von seiner Frau Sophia nach zwölf Jahren Ehe. Sie hatte sich in einen Maler verliebt, einfach so. Und dann hatte es diesen heftigen Streit gegeben, als er von einer Weiterbildung vorzeitig zurückkam und dieser Maler in seinem Fernsehsessel lag und sich das Spiel des AC Milan gegen Juve anschaute. Als ob dieser Kerl in seiner Wohnung zu Hause wäre. Nur mühsam konnten sie die Wogen damals glätten, vorerst.

Aber wenn er ehrlich war, so sagte sich Florian Waldner, während er die Sonnenbrille aufsetzte, hatte auch er sich von seiner Frau in den letzten Jahren entfremdet. Ihre Ansprüche waren gewachsen: Urlaub in der Karibik, ein eigenes Haus, das Drängen, er solle in seinem Beruf bei der Polizei etwas für die Karriere tun und sich bei seinen Vorgesetzten anbiedern, damit es endlich klappe mit einer Beförderung. Wenn Martin nicht gewesen wäre, dann hätte vielleicht auch er die Reißleine gezogen. Oder lag es daran, dass er als Südtiroler vielleicht doch besser keine Italienerin hätte heiraten sollen? Seine Eltern waren nur anfangs ein bisschen reserviert gegenüber Sophia gewesen. Aber Sophias Eltern ihm gegenüber auch. Wie zwei fremde Parteien hatten sich die beiden Familien bei der Hochzeitsfeier im Brixener Finsterwirt gegenübergesessen. Doch mit der Zeit hatte man sich aneinander gewöhnt. Er begann sich auf die Begegnungen mit seinen Schwiegereltern, die ihn mit viel Wärme und Fürsorge umgaben, sogar zu freuen.

Andererseits hatte er sich immer öfter die Frage gestellt, ob er für die Rolle des Vaters und Ehemanns überhaupt geeignet war in seinem Beruf als Polizeibeamter im höheren Dienst. Er hatte als solcher flexible Arbeitszeiten. Das konnte heißen, dass er, wie heute, am Nachmittag eines ganz normalen Werktags zu Hause war und sich um die Bienen kümmerte. Viel öfter aber hieß es Wochenenddienste und Arbeit bis in die späten Abendstunden. Inzwischen kam zu der zeitlichen Belastung auch noch die Gefahr, der er jetzt als Erster Kriminalhauptkommissar ausgesetzt war.

Jetzt als Erster Kriminalhauptkommissar. Wie eine Fügung des Schicksals empfand er es, dass am selben Tag, an dem er bei Sophia aus der gemeinsamen Bozener Wohnung ausgezogen war, auch das Schreiben mit seiner Beförderung kam: Er war vor einem Dreivierteljahr vom Inspektor zum Ersten Kriminalhauptkommissar bei der Polizia di Stato in Bozen aufgerückt. Genau das, was Sophia so energisch von ihm gefordert hatte, war jetzt eingetreten. Aber um diese Beförderung zu schaffen, hatte er sich vielleicht zu wenig um Sophia gekümmert.

Es war ein Teufelskreis. Als freiberufliche Cellistin hatte sie viele Bekannte in Künstlerkreisen. Er hatte sich wenig dafür interessiert. Und eines Tages erzählte sie wieder von diesem Maler, Osvaldo, der schon einmal seinen Fernsehsessel okkupiert hatte. Er habe ihr kostenlosen Malunterricht angeboten, sie habe Talent. In Ravenna halte er diesen zweiwöchigen Kurs mit maximal fünf Teilnehmern ab. Und sie möchte er dabeihaben. Da das in den Schulferien sei, könne Martin in dieser Zeit zu seinen Großeltern nach Mailand oder nach Brixen. Das sei alles zu regeln.

»Kostenlos«, hatte Florian Waldner getobt, »kostenlos, der wird schon seine Gegenleistung verlangen.«

Sophia hatte daraufhin wortlos das Wohnzimmer verlassen und war die ganze Nacht über verschwunden. Am nächsten Tag fand er einen Zettel im Briefkasten: Ich glaube, es ist besser, wir trennen uns, zumindest vorübergehend. Dann werden wir sehen. Ciao. S.

Das Schicksalsmotiv aus Beethovens fünfter Symphonie riss Waldner aus seinen Gedanken. Es war der Signalton seines Handys. Nur irrtümlich hatte er diesen Klingelton einmal eingestellt, dann aber nicht mehr die Geduld gehabt, die Gebrauchsanleitung zu studieren und den Ton zu ändern.

»Ja, ich bin in einer guten halben Stunde da.«

Er drückte das Handy aus, eilte ins Haus und zog anstatt der blauen Jogginghose mit den weißen Streifen eine schwarze Jeans an. Während er die braune Wildlederjacke überstreifte und den Kragen nach oben stellte, rief er seiner Mutter noch zu, sie möge sich um Martin kümmern. Um halb neun müsse der Bub dann ins Bett, er hoffe, bis dahin zurück zu sein. Und morgen, da nehme er ihn in der Frühe mit nach Bozen. Dort werde ihn seine Mutter wieder in Empfang nehmen.

Dr. Gabriela Pacella, eine 55-jährige Psychologin und Fachärztin für Nervenkrankheiten, war in ihrer Praxis in Bozen tot aufgefunden worden. Todesursache vermutlich Genickbruch. Das waren die dürren Fakten, die ihm Inspektor Peter Runggaldier am Telefon kurz mitgeteilt hatte.

Der erste Mordfall, bei dem ich die Ermittlungen leiten und für sie hauptsächlich verantwortlich sein werde, ging es Waldner durch den Kopf. Sofern das der Staatsanwalt wirklich so anordnete.

Er schwankte zwischen Stolz und Angst, während er in den sechsten Gang hochschaltete, um mit 150 Stundenkilometern auf der Brennerautobahn Richtung Bozen zu fahren. Bisher, so sortierte er seine Gedanken, war er in zwei Mordfällen als Inspektor an Ermittlungen beteiligt gewesen. Nie vergessen würde er die Bilder des 13-jährigen Mädchens aus Padua, das ein sadistisch veranlagter Kinderschänder missbraucht und dann zerstückelt hatte, um die einzelnen Körperteile an verschiedenen Orten im Wald zu verscharren. Ein Pilzesucher hatte den Täter bei einer dieser Vergrabungsaktionen beobachtet; dennoch hatten sich die Ermittlungen über Wochen hingezogen, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und enormem Druck von Seiten der Staatsanwaltschaft auf die ermittelnden Polizeibeamten. Wohl in keinem Land der Welt war man bei Gewalt gegen Kinder so nervös wie in Italien.

Der andere Fall hatte sich in Trient ereignet. Ein Immobilienhändler hatte gegenüber zweien seiner Kompagnons Zahlungsrückstände. Bei einem Termin in seinem Büro, bei dem er ihnen das ausstehende Geld bar übergeben sollte, zog er statt des Geldes eine Pistole hervor und knallte die beiden Kompagnons kaltblütig ab, bevor er sich dann selbst richtete. Die Beweislage war eindeutig, Fingerabdrücke, die Schmauchspuren an der Hand des Immobilienhändlers, der Auffindungsort der Leichen – die Ermittlungen zu diesem Fall hatte Waldner unter der Rubrik »Lehrbeispiel zur Einführung in die Kriminalistik« gebucht.

Dennoch hatte er wenig Erfahrungen, nur reichlich theoretisches Wissen, das er sich während seiner 18-monatigen Ausbildung auf der Polizeioberschule in Nettuno angeeignet hatte. Immerhin, so beruhigte er sich, hatte er mit Dr. Alfieri einen erfahrenen Staatsanwalt an seiner Seite, mit dem er sich in seinem Vorgehen absprechen würde.

Er hielt den Carabinieri, die das mehrstöckige Wohn- und Bürohaus in der Sernesistraße mit einem Absperrband weiträumig gegen Neugierige abgesichert hatten, seinen Ausweis entgegen.

Mit »Herr Kriminalhauptkommissar« grüßten ihn die beiden Carabinieri daraufhin und griffen an ihre Dienstmützen.

Klingt gut, dachte sich Florian Waldner nicht ohne Stolz: Herr Kriminalhauptkommissar! Aber zugleich ärgerte er sich ein wenig, dass die Carabinieri schon vor ihm da waren. Mal sehen, wem der Staatsanwalt die Ermittlungen übergibt, ging es ihm durch den Kopf.

Auf der Treppe zur Praxis des Opfers im ersten Stockwerk kam ihm Dr. Alfieri entgegen. Waldner war nicht wenig verwundert, dass er offenbar die Besichtigung des Tatortes schon abgeschlossen hatte.

»Ich war auf dem Weg in mein Büro«, beantwortete Dr. Alfieri die offenkundige Frage, die im Gesicht Waldners stand, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. »Da habe ich den Notarzt und den Krankenwagen sowie die Carabinieri gesehen, wie sie in dieses Haus eilten. Natürlich bin ich sofort hinterher. Eindeutig ein Tötungsdelikt. Kommissar Waldner, übernehmen Sie mit ihren Leuten bitte die Ermittlungen und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich muss jetzt dringend ins Büro.«

Waldner nickte. Runggaldier begleitete ihn in das Arbeitszimmer der ermordeten Psychologin. Süßlicher Leichengeruch füllte den Raum. Das Opfer lag seitlich hingestreckt vor dem großen Bücher- und Aktenregal, das eine komplette Längsseite des Besprechungszimmers ausfüllte. Die Haare klebten durch das Blut, das aus einer Wunde am Hinterkopf ausgetreten war, in Büscheln zusammen. Die ebenfalls schon anwesenden Spurenermittler, die mit ihren weißen Ganzkörperanzügen ein bisschen an Astronauten erinnerten, fotografierten, nahmen Fingerabdrücke und befestigten Nummernschilder an verschiedenen Orte im Raum, um später den Ablauf der Tat rekonstruieren zu können.

Waldner hatte das Gefühl, sein Hals trockne aus. Er schluckte, was nicht ohne Schmerz abging. Weniger der Leichengeruch machte ihm zu schaffen als der Anblick der toten Frau: Das krustige Blut am Hinterkopf ließ die Wucht des Schlages und damit die Gewalt ahnen, die zum Tod geführt hatte. Wie viel Emotion, wie viel geballter Hass musste hinter der Tat stehen! In Waldners Kopf machte sich ein Schwindelgefühl breit. Reiß dich zusammen, kommandierte ihn eine innere Stimme, du darfst jetzt hier nicht zum Weichei werden, sonst ist dein Ruf in allen Abteilungen gleich ruiniert.

»Wie lange ist sie tot?«, fragte er verhalten den über die Leiche gebeugten Pathologen Dr. Vianello und grämte sich dabei: Auch der war also schon da! Es schien, als sei der zuständige Kommissar der Letzte gewesen, der zum Tatort gekommen war. Die Fahrt von Brixen, seinem derzeitigen Wohnort, nach Bozen, diese halbe Stunde, hatte ihm den Rückstand beschert. Zum Glück hatte Dr. Alfieri nicht darauf angespielt. Kein Zweifel, Waldner musste sich spätestens nach dem Sommer eine Wohnung in Bozen nehmen.

Dr. Vianello arbeitete im Bozener Sanitätsbetrieb und galt weit über die Grenzen Südtirols hinaus als Koryphäe. Mit seinen Vorträgen und Publikationen erreichte er aufgrund seiner anschaulichen Sprache ein großes Publikum auch außerhalb von Kriminologen- und Medizinerkreisen. In kniffligen Fällen rief ihn der Staatsanwalt gelegentlich auch zum Tatort, bevor die Leiche dann in die Pathologie des Krankenhauses zur gründlichen Autopsie überführt wurde. Zu Waldners Diensteinführung in der Quästur in Bozen war Vianello zugegen gewesen und hatte ihm ein Buch geschenkt: Die größten Kriminalfälle der Menschheitsgeschichte. Mist, habe ich noch gar nicht reingeschaut, fiel es Waldner ein, und er hoffte zugleich, Vianello werde ihn darauf nicht ansprechen.

»Ah, der Herr Jungkommissar!« Vianello schaute ihm fast heiter in die Augen.

Jungkommissar, die Anrede gefiel Waldner nun ganz und gar nicht. Zum einen hatte er gerade immerhin schon seinen 40. Geburtstag begangen. Und in Anwesenheit der anderen Mitarbeiter der Spurensicherung und des sogar etwas älteren Inspektors Runggaldier fand er sie alles andere als respektfördernd. Er überging die Bemerkung und wiederholte seine Frage: »Wie lange ist sie tot?«

»Das sage ich Ihnen erst, wenn Sie mir verraten, welcher Kriminalfall Sie am meisten fasziniert hat. Sie wissen schon: aus den Größten Kriminalfällen der Menschheitsgeschichte

Oh Gott, Volltreffer, genau die Frage wollte ich vermeiden, dachte sich Waldner. Zugleich wuchs in ihm so etwas wie Aggression gegen den Dottore. Wollte er ihn auf den Arm nehmen? Oder wollte er gleich die Rangordnung für alle Zukunft klarstellen: Der Kommissar war von der Gnade des Herrn Pathologen abhängig?

»Wie lange ist sie bitte tot?«

Er versuchte sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen.

»Na, jetzt einmal nicht so verbissen sein, junger Mann. Die Todeszeit ist im Moment natürlich schwer zu bestimmen, dazu kann ich erst morgen Früh in der Pathologie Genaueres sagen. Vermutlich war es Freitagnachmittag oder -abend. Und als Nächstes wollen Sie sicher die Todesursache wissen?«

Der Dottore schaute ihn herausfordernd an. War ja wohl nicht so schwierig vorauszusehen, die Frage, ärgerte sich Waldner. Er wollte dem Dottore nicht den Gefallen tun und fragte daher: »Gibt es Anzeichen, ob es mehrere Täter waren?«

»Das ist aber jetzt eine ungewöhnliche Frage an einen Pathologen«, gab der Dottore zurück, »ich kann nur sagen, dass der Tod vermutlich durch mehrere Schläge mit einem stumpfen Gegenstand von hinten auf den Kopf eingetreten ist. Die Schädeldecke zeigt schwere Frakturen und Quetschungen. Ob diese Schläge von einer Person durchgeführt wurden oder ob sich da mehrere abgewechselt haben, das steht außerhalb meiner Erkenntnismöglichkeiten.«

»Gut, danke, morgen melde ich mich bei Ihnen wegen des genauen Todeszeitpunktes«, brach Waldner das Gespräch ab und wandte sich Runggaldier zu, der sich bereits mit der Spurensicherung besprochen hatte.

»Eine Tatwaffe gibt es nicht, die muss der Täter mitgenommen haben«, berichtete er. »Da es keine Einbruchsspuren gibt, muss die Ermordete den Täter selbst hereingelassen haben. Oder er hat einen Schlüssel von der Praxis gehabt. Aber das ist eher unwahrscheinlich.«

Waldner war froh über den sachlichen Ton Runggaldiers. Er warf dem über die Leiche gebeugten Dottore Vianello einen Blick zu, doch der war vertieft in die Untersuchung des Rachens der Ermordeten.

»Wieso ist das mit dem Schlüssel unwahrscheinlich?«, hakte Waldner nach.

»Weil Anna Teisendorfer gesagt hat, außer ihr, der Dottoressa und der Raumpflegerin habe nur noch deren Mann einen Schlüssel von der Praxis. Anna Teisendorfer ist die Sekretärin von Frau Dr. Pacella. Wir haben hier ihre Telefonnummer gefunden und sie gleich angerufen. Wahrscheinlich wäre später noch eine ausführliche Befragung dieser Frau sinnvoll.«

»Weiß der Mann schon vom Tod seiner Frau?«

»Nein, das wäre vielleicht Ihre Aufgabe, Herr Waldner.«

Waldner schluckte. Mit der Überbringung von Todesnachrichten hatte er gleich gar keine Erfahrung. Wieder nur theoretische Kenntnisse. Er erinnerte sich an einen Kurs »Psychologie in der Polizeipraxis«, in dem es eine Einheit genau zu diesem Thema gegeben hatte. Doch was hatte er sich damals notiert? Nur vage entsann er sich an ein paar Details.

»Kann ich die anfassen?«, fragte er einen der Spurenermittler, der geschäftig das Bücherregal nach Fingerabdrücken absuchte, und deutete auf eine Reihe Aktenordner.

»Ja, haben wir schon überprüft«, gab ihm der Mann im weißen Ganzkörperanzug zurück, »in einem Aktenordner sind anscheinend Protokolle entwendet worden. Schauen Sie, da.«

Er blätterte Waldner die Protokolle vor, die fortlaufend nummeriert waren. Zwischen den Protokollen 183 und 185 fehlte eines, das letzte Protokoll war vom Freitagvormittag, 11.00 Uhr, und trug die Nummer 186. Es lag, wie der Spurenermittler dem Kommissar zeigte, auf dem Schreibtisch und war noch nicht gelocht und abgeheftet. Offenbar hatte die Dottoressa noch daran geschrieben.

Für einen Augenblick zögerte Waldner, die Einzelheiten der Protokolle zu lesen. Der Gedanke an die ärztliche Schweigepflicht, an die ja wohl auch eine Ärztin für Nervenkrankheiten gebunden war, überfiel ihn. Doch dann setzte sich sein Berufsinstinkt durch. Schließlich ermittelte er in einem Mordfall. Also begann er das Protokoll zu lesen, das auf dem Schreibtisch lag.

Aus den Stichworten ging hervor, dass der Patient Sebastian Mayr hieß, 23 Jahre alt und schon seit einiger Zeit bei Frau Dr. Pacella in Behandlung war. Er stammte von einem Winzerhof über St. Pauls. An seinem 20. Geburtstag hatte er Freunde eingeladen, sie hatten schon nachmittags viel Wein und Schnaps getrunken. Dann hatte er sie alle zu einer Spritztour auf dem Hänger eingeladen. Die jungen Frauen und Männer hatten sich alle auf die Ladefläche gesetzt, und seitlich neben ihm auf den Sitzen über den Radblechen hatten zwei seiner Freunde Platz genommen und ihm ständig auf die Schultern geklopft und übermütig ins Lenkrad gegriffen. Die Fahrt ging in Richtung des Waldbaches, doch kurz vor dem Ziel musste einer der Freunde oder er selbst an den Kipphebel gekommen sein. Die Ladefläche hob sich, und die meisten der jungen Leute purzelten von der Ladefläche. Ein Mädchen schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Sie starb wenige Tage später im Meraner Krankenhaus an Hirnblutung. Da der Hauptschuldige nicht eindeutig ermittelt werden konnte, war Sebastian Mayr mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.

Aber viel schlimmer waren seine Schuldgefühle. Nachts erschien ihm immer wieder das Mädchen. Oder er sah die verzweifelte Mutter, die zur Unfallstelle gekommen war, eilig mit dem Handy herbeigerufen und noch vor den Rettungskräften am Ort des Unglücks: Sie hielt die schwer verletzte Tochter im Arm, einer Pietà gleich, der Personifikation des Schmerzes. Dieses Bild hatte sich tief in die Seele des Sebastian Mayr eingebrannt.

Waldner überlegte. Dieser Patient hatte die Dottoressa vielleicht als Vorletzter lebend gesehen. Eventuell war dann nur noch der Mörder gekommen.

»Peter, Sie müssen die Nachbarn befragen, ob sie jemand am Freitag in das Haus gehen gesehen haben.«

»Ja, hatte ich ohnehin vor.«

Runggaldier verschwand im Treppenhaus. Ein Klingeln eine Etage höher war zu hören. Als er die Wohnung über der Praxis betreten hatte, bat Waldner die anwesenden Ermittler für einen Augenblick um absolute Stille. Doch war von Runggaldiers Gespräch eine Etage höher nichts zu hören. Das Haus war alt, die Mauern dick. Demnach hatten wohl auch die anderen Bewohner nichts von dem Gewaltverbrechen mitbekommen, das sich hier in den Praxisräumen ereignet hatte.

Waldner wandte sich dem Ordner zu, in dem das Protokoll Nummer 184 fehlte. Nummer 185 bezog sich auf eine psychotherapeutische Sitzung am Freitag um 8.00 Uhr. Es betraf eine zehnjährige Schülerin, die wegen eines nervösen Zuckens der Augenlider in Behandlung war. Nur wenige Worte über die angeordneten Stilleübungen waren vermerkt, dazu die Ausleihung einer CD notiert.

Protokoll Nummer 183 bezog sich auf eine therapeutische Sitzung am Donnerstag um 13.00 Uhr. Ein 17-jähriges Mädchen namens Julia Dorfmeister war mit ihrem 21-jährigen Freund bei der Psychologin gewesen, weil sie eine schwere Entscheidung getroffen hatte: Sie war aus dem elterlichen Haus ausgezogen. Ihr Vater und seine Lebensgefährtin hatten sie misshandelt und unter starken psychischen Druck gesetzt. Julias Vater hatte nach dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren eine neue Beziehung begonnen. Wie sich bald herausstellte, war die neue Partnerin eine Zeugin Jehovas, die es schnell verstand, auch Julias Vater zum Übertritt in diese Glaubensgemeinschaft zu bewegen. Das Protokoll verzeichnete all die Peinlichkeiten, die für die pubertierende Julia mit der religiösen Orientierung des Vaters und seiner Freundin verbunden waren: den Kleiderzwang – erlaubt waren nur weiße Blusen und schwarze Faltenröcke –, dass sie ihre erste Periode vor dem Leiter der Regionalgruppe der Zeugen Jehovas beschreiben musste und scharfe Ermahnungen erhielt, Sexualität sei etwas Schmutziges, und schließlich das Verbot all dessen, was den Gleichaltrigen Spaß machte: Tanzen, Discomusik, Computerspiele. Nicht einmal auf Geburtstagspartys durfte sie gehen, geschweige denn die eigenen Geburtstage feiern. Vor einer Woche hatte sie erstmals den Kontakt mit der Psychologin gesucht, ihr erzählt, dass sie jetzt einen Freund habe und er sie ermutige, sich aus der Sekte zu lösen und zu ihm zu ziehen. Das war dann sofort geschehen, und der Besuch in der Praxis am vergangenen Donnerstag war geprägt von zwiespältigen Gefühlen. Zum einen hatte sie Angst vor dem, was die Sekte, der Vater, seine Lebensgefährtin unternehmen würden. Andererseits war sie stolz und glücklich, endlich diesen Schritt gewagt zu haben. Sie wohnte jetzt in Bozen bei ihrem Freund, der in einem Sägewerk arbeitete und ihr auch finanziell Sicherheit bot. Man hatte für nächste Woche einen neuen Termin in den Räumen der Psychologin vereinbart.

Wer informiert jetzt diese Patienten, fragte sich Waldner. Runggaldier hatte Anna Teisendorfer erwähnt, die Sekretärin. Mit ihr musste er unbedingt sprechen, auch wegen der Systematik der Protokolle. Wie konnte man herausfinden, auf wen sich das Protokoll Nummer 184 bezog und was darin stand?

Waldner verabschiedete sich von den Ermittlungsbeamten, nicht ohne einen abschätzigen Blick auf Dr. Vianello zu werfen. Der Pathologe betastete, ganz in sich selbst versunken, die Kopfhaut der Ermordeten mit seinen spindeldürren Fingern.

Runggaldier hatte die Anhörung möglicher Zeugen im Haus noch nicht zu Ende gebracht. Waldner war klar, dass sie jetzt für die anstehenden weiteren Befragungen Verstärkung brauchten. Da es einer sinnvollen Gepflogenheit entsprach, Zeugenbefragungen nie alleine durchzuführen, und er Runggaldier gerne bei Anna Teisendorfer dabeihaben wollte, rief er den jungen Kollegen Lorenzo Köstner an. Ihn kannte er von gelegentlichen Spielen in der Polizei-Fußballmannschaft. In einem weiteren Telefonat informierte er den Staatsanwalt über die bisherigen Erkenntnisse. Dann fuhr er mit Runggaldier los, an der Quästur vorbei, wo sie Köstner auflasen und Runggaldier ihm die bisherigen Befragungen im Praxishaus der Dottoressa schilderte. Sie ließen ihn an der Praxis aussteigen und fuhren weiter zum Wohnhaus der Psychologin.

Prof. und Dr. Pacella, stand auf dem Klingelschild an der luxuriösen Villa in Oberbozen. Der Professore Dr. Pacella, ein hochaufgeschossener, schlanker Mittsechziger mit schütterem Haar und Lesebrille, sah sich die Dienstausweise der Herren Waldner und Runggaldier sehr genau an, bevor er sie einließ.

»Ja, bitte, worum geht’s?«, fragte er sie erstaunt.

Das war genau der Augenblick, vor dem Waldner sich gefürchtet hatte. Es war wie beim Schwimmen in einem kalten See, was er nicht gerne, manchmal aber Martin zuliebe tat: Erst die eisige Temperatur an den Füßen, an den Beinen, aber das war noch gar nichts gegen die Kälte am Bauch, die es auszuhalten galt, indem man sich ganz ins Wasser warf. Einfach war das nicht, es kostete Überwindung.

Jetzt, bei der Frage des Herrn Professore, stand auch wieder so eine Überwindung bevor. Er wollte keine Standardsätze, nicht das, was in Fernsehkrimis in solchen Fällen gesagt wurde: »Wir haben Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen. Ihre Frau ist verstorben. Wir möchten Ihnen unser herzliches Beileid ausdrücken.« Wie ihn das immer anwiderte, diese Floskeln, dieses falsche Getue, diese fehlende Empathie.

»Was ist, meine Herren, warum sind Sie hier? Entschuldigen Sie bitte, aber ich schreibe gerade an einem Buch über neue archäologische Funde im Vinschgau, sensationelle Erkenntnisse, die im Zusammenhang mit dem Mann vom Hauslabjoch …«

»Professore, sind Sie der Ehemann von Frau Dr. Gabriela Pacella?«

Der Professore nickte irritiert.

Florian Waldner holte, ohne dass es die anderen merkten, tief Luft. »Wir haben Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen. Ihre Frau ist verstorben.«

Der Professore lachte auf. Er glaubte an einen Scherz. Aber die Miene der beiden Kriminalbeamten verriet etwas anderes, vor allem, als Waldner nachschob: »Wir möchten Ihnen unser herzliches Beileid ausdrücken.«

»Gestorben? Wie denn? Wieso denn?«, stammelte jetzt der Professore.

»Sie ist ermordet worden. Vermutlich hat sie jemand von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Das Ganze ist am Freitag schon geschehen. Haben Sie Ihre Frau denn nicht vermisst?«

Der Professore starrte ins Leere.

»Vermisst? Nein, äh, doch, natürlich. Also, ähm, es war so, ich war die letzte Woche auf einer Tagung in Helsinki und hatte am Freitagmittag mit meiner Frau telefoniert. Ich hatte ihr mitgeteilt, dass ich am Dienstag, also morgen, zurückkomme. Doch dann habe ich festgestellt, dass die Vorträge am letzten Tag für mich nicht so interessant sind, zumal einige ausfallen sollten, so dass ich schon heute Mittag zurückgekehrt bin. Eigentlich wollte ich meine Frau damit überraschen. Aber jetzt, ermordet sagen Sie? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Professore, Sie haben also am Freitag zum letzten Mal Kontakt mit Ihrer Frau gehabt?«

»Ja, das war bei uns so«, gab der Professore gereizt zurück, »wir haben das immer abgelehnt, dieses tägliche Telefonieren und Mailen. Beziehungen leben auch und gerade von der Distanz, von dem Sich-Freuen auf den anderen …«

»Darum geht es mir nicht, Professore«, unterbrach ihn Waldner, »ich möchte wissen, ob Ihnen an der Stimme Ihrer Frau am Freitagmittag etwas aufgefallen ist. Oder hat sie etwas von schwierigen Terminen, von unangenehmen Begegnungen erzählt? Irgendetwas Besonderes?«

»Nein, Kommissar Waldner, wir haben am Telefon immer nur kurz gesprochen. Es ging nur um Organisatorisches. Ich muss beim Reden den Menschen sehen, damit ich mir ein Bild vom anderen und von dessen Gemütszustand machen kann.«

Er durchbohrte jetzt Waldner, dann Runggaldier mit seinen Blicken.

Kann das stimmen, fragte sich Waldner und erinnerte sich an die stundenlangen Telefonate mit Sophia, als er seine Ausbildung in Padua machte und sie am Conservatorio in Mailand studierte.

Erst durch diese Telefonate waren sie sich eigentlich nähergekommen. Andererseits, wenn er an die Telefonate mit Martin dachte und an das, was der Professore da eben von sich gegeben hatte … Martin, wenn er bei seiner Mutter in Bozen war. Wenn er ihn nur kurz am Telefon sprechen konnte, weil sein Sohn schon über der Zeit war und schnell ins Bett musste. Wenn dieser dann das Gespräch mit einem »Gut Nacht, Papa, träum was Schönes« abbrach und er noch sekundenlang das Besetztzeichen anhörte, dieses harte und penetrante Getute, das ihm den Schmerz der Trennung von seinem Sohn nur noch spürbarer bewusst machte.

»Professore, Sie haben einen Schlüssel von der Praxis Ihrer Frau. Können Sie mir sagen, wo der sich befindet?«