Der Verlag bedankt sich ganz herzlich bei Dany Laferrière für die Rechte an seinem Vorwort.
Vorwort © Dany Laferrière
Übersetzung © Beate Thill
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ISBN: 978-3-88423-561-4
Gedanken zur Rede
»Über die Universalität der französischen
Sprache« von Antoine de Rivarol
Aus dem Französischen von Beate Thill
Gedanken zur Rede »Über die Universalität der französischen Sprache« von Antoine de Rivarol
Über die Universalität der französischen Sprache
Die Begründung der Berliner Akademie für die Vergabe des Preises an Rivarol
Gedanken zur Rede
»Über die Universalität der französischen
Sprache« von Antoine de Rivarol
DIE HERKUNFT
Von Rivarols Rede über die Universalität der französischen Sprache aus dem Jahr 1783 habe ich mein Leben lang Gutes und Schlechtes gehört. Aber bis heute hatte ich sie nie gelesen. In meiner Jugend war es wohl zu früh, da ich zu sehr mit den Geschichten beschäftigt war, die mir Neuland eröffneten. Danach war es zu spät, denn jede Propaganda ist mir verdächtig, seit eine Diktatur mich damit bombardierte die meinte, so ihre Berechtigung beweisen zu müssen.
Wenn wir Bücher verpassen, liegt es oft an unserem eigenen Tempo. Was wir lesen, hängt viel mehr vom Zufall ab als vom Zeitgeschmack. Außerdem lebte ich in Haiti, zu Anfang der turbulenten Siebziger Jahre, als der Indigenismus, eine lokale Form der Négritude, neu erstarkte, und er empfahl, der französischen Sprache den Rücken zu kehren. Das Kreolische stand damals hoch im Kurs. Wir droschen auf die französische Sprache ein – aber nicht auf die Klassiker, die diese Sprache hervorgebracht hat – wir waren ja nicht verrückt! Der Cid, das Lieblingsstück der haitianischen Jugend, wurde sehr gut ins Kreolische übersetzt, während dies bei der subtileren Andromache misslang. Daraus schlossen wir, dass unsere heldische Natur Corneille näher stand als Racine. Einige, die empfänglicher waren für die Feinheiten Racines, suchten die Schuld beim Übersetzer (man zeigte auch mit dem Finger auf die Regie) statt beim Autor. Eine wütende Debatte entzündete sich an den Begriffen »Natur« und »Kultur«. Ist es möglich, Gefühle zu empfinden, die der eigenen Natur entgegengesetzt sind? Um ihr Ziel zu erreichen, so dachten wir damals, musste jede fremde Kultur den Weg über die Volkssprache nehmen.
Diese Geisteshaltung machte uns nicht gerade empfänglich für den universalistischen Diskurs von Rivarol. Ich habe sogar gehört, wie ein junger Haitianer am Siedepunkt einer Diskussion im Institut Français von Port-au-Prince einem Redner aus Paris, zurief: »Monsieur, würden Sie bitte Ihre Zunge aus meinem Mund nehmen!« Der Saal explodierte. Nach diesem Moment der Heiterkeit kehrte man zu dem alten Streit zurück, der die Sprache mit der Kolonisation verknüpft. Die einen sagten, das Französische sei unsere Kriegsbeute, die anderen meinten, wir müssten uns endlich von diesem Überrest aus der Kolonialzeit befreien. (Keine Kolonialmacht hat je die Sprache eines Kolonisierten übernommen, einzig Rom hat das Griechische adoptiert). Genau in diesem Moment musste ich Port-au-Prince verlassen, um in Montreal in einen anderen Streit zu geraten, wieder betraf er die französische Sprache, aber diesmal befand sie sich in der unterlegenen Position. Nicht mehr das aufständische Kreolisch, sondern das Englische war hier der Gegner, der seine Überlegenheit darin zeigt, dass er sie nicht einmal zu beweisen versucht. Wole Soyinka hat das ausgedrückt, als er die Diskussion um die Négritude abschloss mit dem Satz: »Ein Tiger verkündet nicht seine Tigritude, er stürzt sich auf sein Opfer und verschlingt es.« Ich schlug mich sofort auf die Seite des Französischen, das ohne Wenn und Aber zu meiner Sprache wurde.
Eines Morgens kaufte ich mir eine Schreibmaschine, eine alte Remington 22. Auf ihr habe ich in Montreal, Port-au-Prince und Miami Romane getippt, die von meinen Erlebnissen als Exilant, Reisender, Leser und Schriftsteller in Amerika handeln. Die Eroberung des Alphabets lässt mich nicht mehr los, im Nahkampf mit der Maschine erzähle ich immer weiter. Unter meinen Fingern ist eine völlig neue Grammatik aufgeblüht. Es hat mich sehr berührt, alles in einer Sprache ausdrücken zu können, die nicht die meiner Mutter ist. Nach vielen durchwachten Nächten habe ich gelernt, dass man nicht in seiner Muttersprache schreibt, sondern in einer neuen Sprache, die sich aus Ängsten, Tinte, Blut und Festtagen des Innenlebens speist. Die Zeit für 25 Bücher ist meinem geselligen Leben gestohlen, ich schrieb sie alle in der französischen Sprache, die ich in Haiti lernte. Fast überall auf der Welt stellen mir Leute, auch wenn sie kein Wort Kreolisch kennen, immer wieder die Frage, warum ich nicht in meiner Muttersprache schreibe. Damit Sie es lesen können, möchte ich häufig antworten, aber ich will niemand zu nahe treten. Zuweilen wirft man mir auch in Haiti vor, nicht auf Kreolisch zu schreiben. Allen, die meine Texte gerne in ihrer Sprache lesen möchten, kann ich nur sagen, sollen sie mich doch übersetzen, denn jedes Buch träumt davon, eine neue Haut zu bekommen. Aber all dies beweist, dass der alte Streit um die Sprache auch heute noch explosiv ist.
DAS DILEMMA
Bis jetzt habe ich Vorworte gemieden, aus Furcht, ich könnte das gleiche – wenn auch glänzende – Schicksal wie Thomas Lechaud erleiden, der während seines langen Lebens als Literat nur Vorworte geschrieben hat. Bei jedem neuen Gedichtband war ganz Port-au-Prince auf das Vorwort von Thomas Lechaud gespannt. Ich habe nur zwei geschrieben, das erste für eine Gedichtsammlung von Schulkindern aus dem Süden Haitis, da mich ihre Treuherzigkeit trotz der verwüsteten Landschaft rührte. Nach dem Desaster des Erdbebens sprachen die jungen Dichter nur vom Geschmack der Früchte und von der Zartheit der Blüten. Das zweite Vorwort stellte ein Buch vor mit Berichten und Analysen über dieses schwierige, chaotische und aufregende Land.
Und nun das Angebot, ein Vorwort zu der Rede zu schreiben, die Rivarol, wie ich annehme, vor der Berliner Akademie gehalten hat, und die schon im Titel das Universum umspannt. Was ist von diesem Auftrag zu halten, ist er gut gemeint oder eine Falle? Wenn ich Rivarols Ansichten teile, mache ich mich in den Augen all derjenigen verdächtig, die meinen, dass der Sieg der französischen Sprache auf ihre Kosten ging. Zu diesen Unzufriedenen, die man hauptsächlich in den ehemaligen Kolonien findet, kommt die große Zahl der Gegner einer Monokultur im Mutterland, die auf ihrem Siegeszug fast alle Regionalsprachen Frankreichs ausgelöscht hat. Wenn ich hingegen Rivarol mit flammenden Worten niedermache, werden gewisse Nostalgiker des Sprachimperiums sich fragen, was ich im Raum der französischen Literatur zu suchen habe. Ich nehme den Auftrag dennoch an, und sei es nur zu dem Zweck, die berühmte Rede genauer zu betrachten.
DAS HOTEL
Ich lese gerne im Flugzeug, schreibe aber besser im Hotelzimmer. Ständig unterwegs, bin ich ein bewegliches Ziel. Eben komme ich an in einem Hotel in Wien, dem Institut Français genau gegenüber. Ein schmales Bett in einem sauberen Zimmer mit hoher Decke. Da mich inzwischen die Landschaft mehr interessiert, besuche ich keine Sehenswürdigkeiten oder Museen. Ich packe den Koffer aus, bevor ich mich auf die Suche nach einem ruhigen Café und einem kleinen Park mit Blumen begebe, wo ich mich hinsetzen und die Leute beobachten will. Nur zu dem Friedhof unternehme ich einen Spaziergang, denn er gibt mir wie kein anderer Ort Auskunft über die soziale Struktur einer Stadt. Es genügt, die Namen auf den Grabsteinen zu lesen, um das Geflecht der Verbindungen zu erkennen, die es den mächtigen Familien erlauben, sich am Eingang des Friedhofs zu halten, und die Toten aus der Arbeiterschicht oder der Fremde in den hinteren Teil zu verdrängen. Das Hotel liegt gleich neben der Universität, wo ich mich in einem Wald der nackten Beine verirre, von Studentinnen, die aus ganz Österreich und sicher auch aus Deutschland hergekommen sind. Das Begehren ist eine universelle Sprache. Ich frage mich, ob Rivarol während seines Aufenthalts in Berlin auch einen Blick auf die jungen Mädchen geworfen hat. Vielleicht war er zu sehr beschäftigt, die Rede zu überarbeiten, die ganz Europa unmissverständlich klarmachen sollte, dass nur die französische den Titel einer Universalsprache verdiente. Ganz offensichtlich ist meine Arbeitsweise von der Rivarols völlig verschieden. Wir haben auch völlig unterschiedliche Ziele. Er hat den staatsmännischen Blick, während ich einen persönlichen Weg aufzeigen möchte. Aufseiten der ehemaligen Kolonialmächte besteht der Traum von einer Sprache für den ganzen Planeten unverändert weiter, darin liegt bis heute die Mission der Kulturinstitute im Ausland. Nur ist die Konkurrenz inzwischen härter.
Ich gehe über die Straße ins Institut Français, wo ich an diesem Abend zu einem Vortrag geladen bin. Ein verwittertes Palais in einem wundervollen Park mitten in Wien. Mit seinem hohen Zaun erinnert das Anwesen an den Garten der Finzi Contini, wie ihn sich Vittorio de Sica vorstellte. Mit seinem Flair eines edlen Clubs lädt es nicht dazu ein, durch die Pforte zu treten. Ich frage mich, was diese »Universalität« in Rivarols Augen zu bedeuten hatte. Sollte man überall Französisch sprechen, oder vielmehr überall anerkennen, dass es die beweglichste, melodischste, am wenigsten provinzielle von allen Sprachen ist? Sie gehört auch zu den schwierigsten, wenn man sie gut sprechen will. Rivarols und Racines Sprache sucht so subtile Dinge auszudrücken, dass man sich fragt, ob sie nicht besser auf den Salon beschränkt bliebe. Während man Rabelais in die Küche schicken müsste, damit er sich mit den Leuten dort unterhält.
Ich steige die große Treppe hinauf. Riesige, ein wenig kahle Räume, der berühmte rote Salon, daneben ein Büro, auf den Tischen häuft sich auch im digitalen Zeitalter noch das Papier. Rivarol würde sich mühelos zurechtfinden in dieser papierverschlingenden Verwaltung, wo in der feuchten Wiener Sommerhitze nach wie vor alles niedergeschrieben wird. Es ist Umzugsstimmung, die Franzosen müssen den Gürtel enger schnallen, Paris kann sich ein solches Anwesen nicht mehr leisten. Die Regale werden geräumt, während man kühne Ausstellungen plant und dieses Jahr eine noch glänzendere Buchmesse, mit einem letzten Versuch, den ungenutzten Garten einladender zu gestalten. Man stellt sich vor, die Bäume wären Baobabs, unter den sich nach Baudelaire dürstende Wienerinnen zum Gespräch einfinden, oder Auslandsfranzosen, angelockt vom Charme der Welt von gestern, den die Romane von Stefan Zweig ausdünsten wie giftiges Parfüm. Man befürchtet, dass das Palais am Ende in die Hände eines Neureichen gerät, der sein Geld mit Erdöl gemacht hat. Das Palais selbst fürchtet nichts, solange sein Garten es umgibt. Er scheint zu groß zu sein, als dass man die Geräusche von der Straße hört. Unter diesen Bedingungen kann die Welt sich verändern, ohne dass man es merkt. Mir ist, als erlebte ich gerade den Abzug der französischen Truppen aus ihrer Wiener Garnison, nachdem sie sich in einen Krieg verwickelt hatten, der zu einem guten Teil durch die Rede Rivarols in Berlin im Jahr 1783 provoziert wurde…
DAS BETT
Ich strecke mich mit einer Flasche schlechtem österreichischem Wein am Fuß des Bettes aus, um endlich in den Text von Rivarol einzutauchen. Die erste Seite ist reich an Informationen verschiedenster Art. Man erfährt, dass das Thema von der Berliner Akademie und nicht vom Autor vorgeschlagen wurde. Sofort erscheint mir Rivarols Arroganz weniger schlimm. Anfänglich hat man den Eindruck, Deutschland erkenne diese Universalität der französischen Sprache ohne Umschweife an, aber gleich darauf zeigen die drei pikanten, das vorgeschlagene »Sujet« flankierenden Fragen der Akademie, dass die Angelegenheit noch nicht entschieden ist. Eigentlich will Berlin hören, was Rivarol über jenes nicht verstummende Gerücht zu sagen hat, die französische sei eine universelle Sprache. Wenn die Argumentation schlüssig ist, will Deutschland sich beugen. Von Beginn an wird klar, Rivarol weiß, dass er mit seiner Rede eine entscheidende Schlacht schlagen muss, und dass in seinen Augen Berlin an diesem Tag das Zentrum Europas ist. Er lehnt es ab, die gleiche Rede in allen europäischen Hauptstädten zu halten. Er ist kein Rockstar auf Tournee, sondern ein General, der die Übergabe des Feindes gnädig annehmen wird.