Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch
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Erste Auflage 2017
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-132-8
eISBN: 978-3-95771-133-5
Roman noir
IMPRESSUM
Blutzucker
Autor
Leif Tewes
Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Schrift
Constantia
Covergestaltung
Marti O´Sigma
Coverbild
Marti O´Sigma
Lektorat
Britta Steinbach
Druck und Bindung
Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
März 2017
ISBN: 978-3-95771-132-8
eISBN: 978-3-95771-133-5
Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
BIOGRAPHISCHES
Aus dem Verlagsprogramm / Krimi
Es werde wie eine Bombe einschlagen, sagte sie und erzählte aufgeregt von ihrem Treffen, bei dem sie die letzten Beweise erhalten hatte. Seine Annahmen hätten sich bestätigt, jetzt konnte sie sich endlich an diesen Verbrechern rächen.
Dabei ging sie in dem kleinen stickigen Hotelzimmer auf und ab und gestikulierte, bis ihre Bluse zum Bauchnabel hochrutschte. Nur noch eine Fahrt zur Farm, Fernando würde sie begleiten, gleich am nächsten Morgen. Sie stellte sich auf ihre nackten Zehenspitzen und küsste ihn. Paul roch und schmeckte ihren Schweiß, ihre Augen glänzten. Diese tiefbraunen Augen, in die er sich verliebt hatte wie in den vergangenen zwanzig Jahren nicht mehr.
Morgen, hatte er gedacht. Nur noch Morgen, dann ginge es wieder nach Hause.
Doch am nächsten Tag steht er in einem kalten Kellerraum vor blutig verkrusteten und verkohlten Leichenteilen, zerfetzt von einer Autobombe, und soll die tote Frau identifizieren. Durch den Geruch abgestandener Seifenlauge dringt der kalte Gestank verbrannten Fleisches. Nur nicht in ihr Gesicht blicken. Die tätowierten Handschellen an ihren schmalen Handgelenken, die sie sich nach Genua hatte machen lassen, kann er weiterhin erkennen.
Er nickt und wendet sich ab.
Das ist Nicole.
»Ihr Schweine«, schreit er in den leblosen Raum, der blasse Arzt versteht ihn nicht. Nur der schweigsame Begleiter von der Botschaft zuckt zusammen.
Draußen empfängt ihn die schwüle Hitze wie eine verschwitzte Decke, seine Tränen vermischen sich mit Schweiß. Der Mann von der Botschaft begleitet ihn wortlos zum Fahrzeug, öffnet die hintere Tür und schließt sie sanft, nachdem er Platz genommen hat. Er müsse noch einige Dokumente unterschreiben, sagt der Mann während der Fahrt und fragt, wer die Familie benachrichtigen solle.
Vor der verdunkelten Scheibe zieht die ihm verhasste Stadt vorbei, die sein Leben zum zweiten Mal zerstört hat.
In der deutschen Botschaft, einem phantasielosen Glaskasten am Ostrand von Bogota, befragen sie ihn höflich. Warum sie unterschiedliche Hotels gebucht hatten? Habe sich so ergeben, lügt er. Ob er bei seinem Anruf bereits einen Verdacht gehabt habe, dass sie Opfer des Anschlags gewesen sei? Nein, er habe nur nicht gewusst, wohin er sich wenden sollte, als sie zur Verabredung nicht erschien.
Er will ihren Erklärungen glauben, sie sei nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Im Corolla des landesweit bekannten und nicht überall beliebten Menschenrechtsanwalts Fernando Alvirez. Was hatte sie überhaupt mit Alvirez zu tun? Er antwortet ausweichend, sie sei Journalistin und habe mit dem Anwalt irgendein Dorf außerhalb der Stadt besucht. Welches Dorf? Er wisse es nicht. Sie lassen ihn verschiedene Papiere unterschreiben, die er sich nicht durchliest, überreichen ihm eine Plastiktüte mit ihrer Armbanduhr und einem Paar Ohrringen, mehr haben sie leider nicht retten können, dann darf er gehen.
Die dünne Holztür zum Hotelzimmer steht offen. Zögernd geht er hinein und blickt in ein verwüstetes Zimmer. Die Matratze aufgeschlitzt, ihre wenigen Kleider aus dem Schrank gerissen, selbst die Schubladen der Nachttischchen sind herausgezogen, die Bibel liegt aufgeblättert davor. Die vergilbten Gardinen wehen sacht im schwachen Luftzug des sich knarzend drehenden Deckenventilators. Am Rucksack zwischen den beiden Sesseln sind alle Reißverschlüsse geöffnet, der Inhalt durchwühlt. Er setzt sich auf die Bettkante und schaut starr in das Chaos.
Nicht Nicole war zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Anwalt hatte zur falschen Zeit die falsche Begleitung. Ihren Laptop hatte die Explosion zerfetzt, doch sie waren gründlich und hatten das Hotelzimmer durchsucht. Er springt hoch und schaut in die kleine Tonvase auf dem Couchtisch, die Plastikblumen liegen über den dunklen Teppich verstreut. Der USB-Stick ist weg. Er hatte sie für paranoid gehalten, ihr gesagt, sie nähme sich und diese Geschichte zu wichtig, der Blödsinn mit getrennten Hotels und unterschiedlichen Flügen. Jetzt war sie trotzdem tot. Das ist das Problem an Paranoia: Mitunter hat sie recht.
Er geht in das muffige Badezimmer, das kleine Fenster klemmte vom ersten Tag an, die nackte Glühbirne flackert nach wie vor. Bilder von der letzten schnellen Nummer blitzen in diesem zittrigen Licht auf. Ihr Waschbeutel liegt auf den abgetretenen Fliesen, der Inhalt in der Badewanne verteilt. Schminke, Haarbürste, Tempotaschentücher. Er dreht sich um, hebt den Deckel des kleinen Mülleimers und reißt die Plastiktüte heraus. Der anderer USB-Stick ist noch da, am Boden mit Klebeband befestigt. Er zieht ihn ab, erst dann fällt sein Blick in den Müllbeutel. Eine kleine Pappschachtel und ein grober weißer Plastikstift, er fischt ihn heraus und dreht ihn. Das große blaue Kreuz im Sichtfenster brennt sich in die Netzhaut. Langsam sackt er auf die Knie, in der rechten Hand den Schwangerschaftstest fest umklammert.
Sein Schrei fegt aus dem Zimmer in den Hotelflur, dröhnt durch den Innenhof, vorbei an der Rezeption hinaus auf die Straße und vermischt sich erst an der nächsten Kreuzung mit dem Lärm qualmender Busse.
Er stirbt zum dritten Mal, und nun fühlt es sich endgültig an.
Mit einer halbleeren Flasche 20-jährigen Rums vor sich sitzt er an der Bar des Nobelhotels Estelar La Fontana. Nach über zwanzig Jahren wieder hier, diesmal hat er die Suite selbst bezahlt. Es hatte ein versöhnliches Wiedertreffen mit der Stadt und dem Leben werden sollen. Die zugige Tür zur Vergangenheit endgültig schließen, durch die so lange jede Lebendigkeit verschwunden war. Sich den Ängsten stellen, hatte damals der Therapeut gesagt. Sie umarmen, annehmen und am Ende beherrschen. Bullshit. Das wenige, das er seitdem umarmen konnte, lag nun bröselig in einem kalten Keller.
Hätte er Nicole nur nie davon erzählt, nicht nachgegeben, damals, auf diesem schaukelnden Schiff, oder besser noch: Hätte er nur nie an ein neues Leben geglaubt. Dann würde sie noch leben. Sie beide würden noch leben.
Nein, sie drei würden noch leben. Und nur, weil …
Er schenkt nach und verschüttet dabei den teuren Rum. Bewundernswert, mit welcher inneren Kraft sich die vergossene Flüssigkeit zusammenhält und aufbäumt, wie die Moleküle in unsichtbarer Absprache gemeinsam einen neuen Weg suchen, bis der kahlköpfige Barkeeper kommt, wortlos mit einer routinierten Handbewegung die Theke sauber wischt, das Vergossene tötet und den Lappen wieder über die Schulter schwingt.
Mit einem Schluck trinkt Paul das Glas leer, verzieht das Gesicht und schenkt diesmal vorsichtiger nach.
Er hatte an die zweite Chance geglaubt. Ein Leben, ein zweites, mit ihr. Wichtig kam er sich vor, nicht nur wie ein erfolgreicher Chemiker, sondern wie ein Weltverbesserer. Er, der Insider, sie, die unbarmherzige Aufdeckerin. Wie sie mit ihrem Idealismus und ihrer gnadenlosen Energie diesem Skandal nachging, recherchierte, dokumentierte, formulierte, ihn zu dieser Reise überredete mit leuchtenden Augen und Feuer in ihrer Stimme. Und er hatte sie nicht gestoppt. Weil er seine Angst überwinden wollte. Weil er zu feige war, weil er sie nicht enttäuschen wollte. Und weil sie ihm ein Versprechen gab.
Jetzt ist Nicole tot. Wie Karin. Erneut zwanzig Jahre in einer dämmrigen Höhle verbringen wie in einem nuklearen Winter? Warten, das irgendwas passiert? Atomen beim jahrzehntelangen Zerfall zuschauen? Seinem eigenen Verfall?
Der Rum versagt ihm diesmal die Unterstützung, trifft keine Entscheidung, so sehr er auch darauf hofft. Er wartet, dass der nächste Schluck im Magen vom Blut aufgenommen und ins Gehirn geschleudert wird, um dort eingeschlafene Synapsen aufzuwecken. Er dreht die Flasche unentschlossen zwischen den Fingern, bis er die Gravur ertastet: »Dictador Solera Reserva 20«. So ein Diktator macht sich das Leben einfach, überlegt er. Der handelt. Rücksichtslos, konsequent. Gegen jeden Widerstand. Aus Eigennutz, machtberauscht, in seinem eigenen Paralleluniversum, fern aller Regeln unserer Welt, auf alle Gesetze und Moralen scheißend.
Wenn es nur so einfach wäre.
Mit besoffener Wut schlägt er so hart auf die Theke, dass der Barkeeper erschrocken aufblickt. Paul blickt finster zurück.
Vielleicht, murmelt er, ist es so einfach.
Denn diesmal kennt er den Feind.
Pauls zweites Sterben hatte süß begonnen. Sein Vorgesetzter, Stefan Meininger, hatte an einem Mittwochvormittag zwei Jahre zuvor in seinem Büro gestanden. Zwar einen Kopf kleiner als Paul, aber sein Auftritt, der nie knittrige Anzug und die schnelle Aussprache versprühten die Energie eines Jungbullen, obwohl er nur fünf Jahre jünger war. Er sollte um 13:00 Uhr in den Besprechungsraum »Cordoba« kommen und sich auf einen Vortrag über »Stevia« vorbereiten.
Schon wieder, wollte Paul fragen, aber Meininger war gegangen, ohne die Bürotür zu schließen. Die Schritte des zierlichen Mannes hallten durch die halbe Etage. Er legte einen Laborbericht zur Seite und wandte sich seinem Computer zu. Das Thema hatte Meininger ein Jahr zuvor an ihn herangetragen, doch auf seine aufwändig recherchierten Unterlagen nie reagiert. Wie so oft.
Warum jetzt?
Paul suchte in seiner Dateiablage nach den alten Dokumenten. Schnell etwas zusammenkopieren, ein bisschen was über die Pflanze »Stevia rebaudiana«, deren Anbaugebiete und Formen, chemische Eigenschaften, Nutzungsmöglichkeiten als Ersatz für Saccharose und wie gefährlich sie der Zuckerindustrie werden konnte. Er erstellte eine PowerPoint Datei und kopierte einzelne Folien aus den bestehenden Präsentationen, sortierte sie neu und baute viele Bilder ein. Manager brauchten Charts und Grafiken, keinen langatmigen Text.
Er startete mit einem bildreichen geschichtlichen Abriss. Wie der Zuckerrohranbau im 8. Jahrhundert im Orient begann, die Kreuzritter auf den Süßstoff trafen, Venedig den Zuckerhandel im Mittelmeerraum kontrollierte und damit reich wurde. Wie der Zucker im 12. Jahrhundert nach England kam, die Portugiesen sich 400 Jahre später auf das weiße Gold konzentrierten und in Brasilien die ersten Zuckerrohrplantagen bauten, während die Spanier vergeblich nach dem gelben Gold suchten. Wie durch Tee und Kaffee der Zuckerbedarf weiter stieg. Wie Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. die erste Rübenzuckerfabrik finanzierte und so eine Alternative zum teuren Zuckerrohrimport entwickelt wurde. Ein Liniendiagramm zeigte, wie 1885 der Rübenzucker die Produktionsmenge des Rohrzuckers überholte. Zum Warmwerden, dachte Paul, sind historische Zusammenfassungen und alte Schwarzweiß-Fotos hilfreich. Klingt so nach Tradition und Kultur und nicht nach Milliarden-Gewinnen mit einem ernährungstechnisch überflüssigen Nahrungsmittel.
Dann eine Darstellung der chemischen Zusammensetzung des Zuckers - ein Molekül Glucose, ein Molekül Fructose, Summenformel C12H22O11 - und dessen Funktion im menschlichen Körper. Das alles kannten die Zuhörer, vermutete er. Genauso wie die frühe Regulierung des europäischen Zuckermarktes. Aber diese guten alten Zeiten waren vorbei. Er fand Prognosen, wie sich die Märkte bereinigen und die Preise weiter fallen würden. Das wäre der Teil der Präsentation, bei dem die Zuhörer nachdenklich auf ihre Notizblöcke schauen würden.
In einem weiteren Kapitel fasste er die gesundheitlichen Auswirkungen des Zuckerkonsums zusammen. Schaubilder zeigten, wie die Anzahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher seit den 90er Jahren um die Hälfte zugenommen hatte und die stark steigenden Diabetes Typ 2-Erkrankungen. Die Zuckerindustrie hatte verhindert, den Zusammenhang wissenschaftlich beweisbar nennen zu dürfen, die gängige Ausrede beinhaltete beharrlich »fettreiche Ernährung« und »mangelnde Bewegung«.
Diesen letzten Satz löschte er wieder.
Mit sanften Überblendungen baute er die Diagramme über Diabetes-Erkrankungen für Deutschland, Europa und die gesamte westliche Welt auf, die neben den Daten des asiatischen Raums jedoch verblassten. Ein weltweites Problem. Er fand das Protokoll einer WHO-Konferenz, auf der festgestellt wurde, dass Übergewicht den Hunger als größtes Ernährungsproblem abgelöst hatte und Diabetes in Afrika mittlerweile dramatischere Auswirkungen als Aids verursachte.
Auf der Welt gab es mehr Dicke als Hungernde.
Paul überlegte, wie eine Misereor-Kampagne zu »Übergewicht in den Entwicklungsländern« im Werbespot dargestellt werden würde. Und wer da spenden würde. Kopfschüttelnd schloss er das Kapitel.
Das zentrale Thema war ja Stevia rebaudiana, einer unscheinbaren hochstängeligen Kulturpflanze in eintönigem Grün, die in Südamerika seit fast hundert Jahren angebaut wurde. Die noch nicht ausgestandene Bereinigung des Zuckermarktes und die stetig wacher werdenden Verbraucher führten zu erhöhter Aufmerksamkeit für jedwede Neuerung im Markt der Süßstoffe. In den USA war der Absatz der zuckergesüßten Limonaden in den letzten fünfzehn Jahren um zwanzig Prozent eingebrochen. Auf vier Folien zeigte er den komplexen chemischen Prozess zur Gewinnung der Süßstoffe aus der Pflanze. Der Weg war lang bis 2011 zur Zulassung der Steviolglycoside als E960 – die Blätter der Pflanze waren als Lebensmittel nicht zugelassen - mit geringen Höchstmengen bei teuren Anpassungen in den Produktionslinien. Ein weiteres »E« in der Zutatenliste, Nährwertkennzeichnungspflicht, und dennoch war ein vollständiger Ersatz von Zucker in gesüßter Ware noch lange nicht möglich. Die massiv höhere Süßwirkung als Zucker bei dramatisch geringerer Nährstoffwirkung formulierte die Marketingabteilung in einer ersten Idee mit »Schlemmen ohne Reue«. Scheiße, die gut riecht, wäre wirklich mal was Neues, überlegte er.
Ihm fiel auf, dass er trotz all dieser Fakten seine Essgewohnheiten nicht geändert hatte und noch immer gerne ein Nutella-Brötchen zum Sonntagsfrühstück aß.
Auf den letzten Folien stellte er die Auswirkungen der Substitution von Rübenzucker durch Steviolglycoside dar. All die dann wertlosen Beteiligungen an Zuckerfabriken in Europa, die Kosten für die Anpassung von Rezepturen und Produktionsstraßen, Marketingbudgets, langwierige Zulassungsverfahren. Das jahrzehntelang abgeschottete Zuckergeschäft brach zusammen und der Ersatz durch Stevia machte es nicht besser, nur teurer. In den USA konnten die Maisfabriken durch die Umstellung auf steuerlich gefördertes Bioethanol den seit einiger Zeit sinkenden Maissirup-Umsatz auffangen, der ohnehin durch den erwarteten massiven Export von Isoglucose in die EU wieder steigen würde. In Europa gab es für die niedergehenden Rübenbauern keinen Ausweg, der Maissirup war einfach zu billig. Die Amis hatten erneut gewonnen.
Diese eine Tabelle, auf der er vor einem Jahr die Probleme und Kosten zusammengestellt hatte, vermutete er, war der Grund gewesen, dass seine Zusammenstellung ignoriert worden war.
Warum nun doch? Er blätterte alle Folien durch, es waren über dreißig. Er schaute auf die Uhr. Keine Zeit für Feinschliff. Er zog die Datei auf einen USB-Stick, nahm sein dunkelblaues Reserve-Sakko vom Wandhaken, strich einige Fusseln ab und verließ das Büro.
Im siebten Stock stieg Meininger zu ihm in den Fahrstuhl und wollte wissen, ob er fertig geworden sei. Paul nickte und fragte, wer sich denn nun für das Thema interessiere. Großes Programm, meinte Meininger und lächelte. Paul blickte zur Seite. Er hasste dieses Lächeln, bei dem der Großteil der dreiundvierzig dafür zuständigen Muskeln steif blieb. Vorstand, zweite Führungsebene, fuhr Meininger fort, und neue Kollegen von Clingo, diesem Pharmakonzern, den sie Anfang des Jahres gekauft hatten. Paul schaute seinen Vorgesetzten wieder an. Ja, sagte Meininger, mit den Pharmakollegen verändere sich für manche Geschäfte der Blickwinkel.
Im elften Stock ruckte der Fahrstuhl, die Türen öffneten sich. Paul machte lange Schritte, um gleichzeitig mit Meininger den Besprechungsraum »Cordoba« zu erreichen. Die Tür stand offen, Paul sah rund zwanzig Männer leise redend an einem ovalen Tisch sitzen. Halt, nein, eine Frau war dabei. Meininger stellte ihn als Paul Hartmann, Teamleiter F&E und Lebensmittelchemiker vor, während Paul den Stick in den vorbereiteten Laptop steckte, die Verbindung zum Beamer prüfte und die Präsentation öffnete. Dann erst schaute er über den dunkel schimmernden Tisch in die Gesichter der Teilnehmer. Nur wenige kannte er, alle wirkten wie aus einem Genlabor für Führungskräfte. Dunkle Anzüge, dezente Krawatten – selbst die Frau trug ein Halstuch –, weg gefärbtes Grau, bis auf den Vorstandsvorsitzenden am Kopfende, der ihm knapp zunickte und sich zurücklehnte.
Paul begann nervös, las von den Folien ab, klickte zu schnell und musste mehrmals zurückblättern. Beim Kapitel über Brasiliens Klage als größter Zuckerproduzent der Welt vor der WTO und die vernichtende Entscheidung, dass die EU die Zuckermarktordnung eindampfen musste, hörte er vereinzeltes Stöhnen. In zwei Jahren würde sie auslaufen, keinerlei Schutz mehr durch Zölle, Quoten und Subventionen. Seit Jahrzehnten hatte die EU einen Festpreis für Zuckerproduzenten garantiert, nahezu jedes europäische Land, von Finnland bis Griechenland, baute Zuckerrüben an. Auf Diagrammen zeigte er den sinkenden Zuckerpreis und die einbrechende Anzahl der Rübenplantagen, das Foto aufgebrachter Rübenbauer auf einer Kundgebung »Rettet den Zucker« verursachte wieder vereinzeltes Stöhnen.
Die Zahlen seines Arbeitgebers waren den meisten Anwesenden offenbar bekannt, er sah vielfaches Nicken, als er aufzeigte, wieviel Millionen Tonnen Zucker WorldFood jährlich einkaufte, zu welchen Preisen und in welchen Produkten er verwendet wurde. Säfte, Cerealien, Milchprodukte, Süßigkeiten, Ketchup, Dosensuppen, Fertignahrung, die Liste war lang. Zu sprunghaft gestiegenen Balken konnte er die Namen der Fabriken und Hersteller benennen, die WorldFood gekauft hatte.
Als es um die gesundheitlichen Auswirkungen des Zuckerkonsums ging, sich die Diabetes Typ 2-Zahlen aus Asien im Tortendiagramm aufbauten, bemerkte er eine veränderte Stimmung bei den Zuhörern. Sie tauschten Blicke, einige nickten sich zu, schrieben etwas auf.
Paul blätterte zu den Rübenzucker- und Rohrzucker-Alternativen und zeigte Produktionszahlen des deutlich billigeren »High Fructose Corn Syrup« aus den USA. Es gab Rückfragen, wie denn der europäische Markt davor geschützt werden könne, wenn Brüssel bald die Einfuhrhöchstgrenzen kippen und die Gewinnspanne für Zucker um vierzig Prozent sinken würde. Er blickte hilflos zu Meininger, der wiederum zum Vorstandsvorsitzenden schaute. Brüssel, so dieser, sei in Arbeit. So richtig beruhigend schien das jedoch nicht zu wirken, hier und da hörte er leises Stöhnen.
Beim Kapitel Stevia wurde es unruhig im Raum. Meininger bedeutete ihm, die Vor- und Nachteile Stevias gegenüber Erythritol, dem in Asien bereits seit längerem aus Strohpilzen genutzten Zuckerersatz, schneller zu übergehen. Den meisten war anscheinend bekannt, dass dieses Zeug eine deutlich geringere Süßwirkung hatte und das günstigste Herstellungsverfahren durch Patente blockiert und so hundertmal teurer als Zucker war.
Die letzte Folie, eben diese Tabelle mit Vor- und Nachteilen, beziffert in Euro, leuchtete gleich einer blutenden Wunde. Eine kurze Diskussion zwischen dem Finanzvorstand und Meininger über die Anpassungskosten der Produktion konnte er nicht unterbinden. Er setzte sich. Nach einer Weile sprach ihn ein ihm unbekannter Mann an, der auffallend viel notiert hatte. Lokowski, Forschungsleiter Clingo, stellte er sich vor und wollte wissen, welche Tests er mit Stevia bereits durchgeführt hätte. Paul antwortete knapp: Extraktion, Enzymzusätze, Kombination mit Rohrzucker, Messung Prostaglandine. Ob er mutagene Auswirkungen getestet hätte. Nein, solche Untersuchungen seien sehr aufwändig. Sollte kein Problem sein, warf der Finanzvorstand ein. Ob er Steviolglycoside aus genmanipulierten Varianten im Labor nachweisen könne, hakte der Forschungsleiter nach. Paul überlegte kurz. Käme auf die Art der Manipulation und die Mittel im Labor an. Wenn er nicht wüsste, wonach er suchen sollte, könnte er auch nichts finden.
Der Mann nickte und notierte erneut etwas. Ob er schon andere Extrakte außer Steviosid gewonnen hätte. Paul verneinte und fügte hinzu, bis jetzt sei keineswegs alles probiert worden, was seiner Meinung nach möglich wäre. Der Mann nickte wieder.
Paul traute sich ihn zu fragen, ob denn Steviolglycoside bei der Behandlung von Diabetes-Erkrankungen oder zu deren Prävention hilfreich seien. Ihm war so, als sei die Stille nach dieser Frage bedeutend. Lokowski schaute auf seinen Block und dann zum Vorstand.
Das, antwortete der Vorstandsvorsitzende, sei eine der Fragen, die zu klären seien. Es gebe längst genug Produkte mit Zuckerersatzstoffen für Diabetiker, leider aber noch keinen Trend, in welche Richtung sich der Markt entwickle. Und wie sich Stevia auf die Erkrankung auswirke oder ob präventiv Diabetes Typ 2 verhindert werden könne, wisse man ebenfalls noch nicht. Was für die Gesundheit der Menschheit hilfreich sei, könne einem Pharmaunternehmen mit einer führenden Marktposition für Insulinprodukte jedoch gefährlich werden.
An dieser Stelle nickte Lokowski bedächtig. Der Vorstandsvorsitzende schwieg eine Weile, bevor er sich für die kompakte und fachlich gut zusammengestellte Präsentation bedankte. Herr Meininger würde in Kürze mit neuen Aufgaben auf ihn zukommen.
Paul bedankte sich für die Aufmerksamkeit, zog den USB-Stick vom Laptop und verließ, während höflich auf den Tisch geklopft wurde, den Raum. Er brauchte nur bis zum Fahrstuhl, um das Problem zu begreifen:
Was tat ein Pharmaunternehmen, das von Diabetikern lebte, in einer Welt ohne Zucker?
Er wollte diese Frage Meininger stellen, als er am nächsten Tag zu ihm gerufen wurde, aber gerade als Paul vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte, begann Meininger umgehend zu reden.
Wie sich durch die Akquisition von Clingo andere Perspektiven eröffnen würden, bisher unerreichbare Märkte, zusätzliche Geschäftsfelder mit neuen Chancen. Nach einer Weile unterbrach Meininger sich selbst und blickte Paul fragend an.
»Haben Sie denn Fragen oder einen Standpunkt dazu?«
Nun, eine Frage gab es da. Doch Paul schüttelte lahm den Kopf, es schien ihm nicht der richtige Moment. Den gab es sowieso nie.
»Ich bin Lebensmittelchemiker und kann Grillfleisch nach Kaffee riechen lassen, aber für das sogenannte Business Development oder Product Management sind andere zuständig, oder?«
Meininger lehnte sich vor, selbst im Gegenlicht konnte Paul die roten Flecken in seinem Gesicht sehen.
»Herr Hartmann, Sie sind einer der wenigen Lebensmittelchemiker in diesem Konzern mit weltweit immerhin 130.000 Angestellten. Also gewissermaßen Mitglied einer Elite. Ihre Aufgabe ist nicht nur das Forschen und Entwickeln nach Auftrag, sondern auch die aktive Mitarbeit an strategischen Entwicklungen!«
Er lehnte sich wieder zurück und fuhr mit der Hand durch die Luft.
»Diese Präsentation hätte ich ja sonst von einem Werkstudenten halten lassen können, war eh grad mal das Niveau einer Klassenarbeit in der Realschule.«
»Naja«, warf Paul leise ein, »ich hatte ja nur wenige Stunden Zeit und …«
Meininger unterbrach ihn mit einer Handbewegung, stand schwungvoll auf und drehte sich zum Fenster.
»Darum geht es nicht.« Er sprach, ohne Paul anzublicken. »Wie lange arbeiten Sie schon für WorldFood?«
»Acht Jahre«, antwortete Paul.
Meininger nickte. »Seit wann bin ich Ihr Vorgesetzter?«
»Seit knapp drei Jahren.«
Meininger nickte wieder.
»Und wie lange, glauben Sie, werde ich Ihr Vorgesetzter bleiben?«
Paul zuckte mit den Schultern und schwieg. Meininger drehte sich vom Fenster weg und schaute Paul an. Die roten Flecken hatten sich aufgelöst.
»Vielleicht weitere drei Jahre, länger nicht«, sagte er. »Ich habe andere Ziele als immer nur den gleichen Job, immer nur im gleichen Büro, immer nur das gleiche Geld. Doch dazu müssen Dinge ständig neu gedacht werden und auch mal quer und auch mal falsch rum.« Seine Stimme wurde lauter. »Was haben Sie denn an echten Innovationen in den letzten sechs Jahren in dieser Abteilung entwickelt?«
Paul zuckte zusammen. »Nun«, antwortete er nach kurzem Überlegen, »der von mir entwickelte Aromawert-Index hat dazu beigetragen, dass unsere Apfelsäfte bei höherer Kundenakzeptanz zu niedrigeren Kosten produziert werden können. Bestandteil meiner Arbeit war die Bewertung des Einflusses der Rearomatisierung und nicht-flüchtiger Geschmacksstoffe auf die Qualität von Apfelsäften aus Konzentrat unter besonderer Berücksichtigung des Konzepts der molekularen Sensorik.« Seine Stimme wurde fester. »Immerhin haben wir vor drei Jahren bei einem Vergleichstest den zweiten Platz erreicht, mit dem besonderen Hinweis auf den günstigen Preis. Das ist schließlich ein Erfolg, oder?«
Meininger hatte sich wieder gesetzt und nickte beiläufig.
»Ja klar, ich erinnere mich. Dolle Sache, keine Frage.« Er hob den Kopf. »Aber sehen Sie nicht das Große, das ›big picture‹?«
Paul schaute ihn wortlos an.
»Gut«, fuhr Meininger fort, »dann anders.« Er durchsuchte ein paar Schnellhefter, die auf seinem Schreibtisch lagen, öffnete einen und zog eine eng bedruckte Seite heraus.
»Mit welchen ihrer aktuellen Projekte leisten Sie Ihrer Überzeugung nach strategische und lukrative Beiträge für das Unternehmen?«
Paul beugte sich vor, nahm die Liste und überflog seine Projekte. Ein weiterer Auftrag im Bereich molekularer Sensorik, Optimierung von Tomatenerzeugnissen. Die Ergebnisse dieses Projekts wären eher für ihre Zulieferer wertvoll. Zum Thema Apfelsaft gab es ein anderes offenes Projekt, das sollte längst abgeschlossen sein. Dann die Entwicklung und der Einsatz von Peptidasenpräparaten aus gekeimtem Getreide zur Detoxifizierung zöliakieauslösender glutenhaltiger Lebensmittel. Ein schwieriges Verfahren, setzt sehr spezielles Getreide und einen komplizierten Verarbeitungsprozess voraus. Er tippte auf dieses Projekt.
»Wenn das hier klappt«, sagte er, »wäre das ein großer Markt. Eine halbe Million Menschen allein in Deutschland müssen eine glutenfreie Diät einhalten und dürfen kein normales Brot essen. Für diese Zielgruppe könnten wir eine ganz neue Produktlinie herstellen.«
Er reichte Meininger das Blatt über den Schreibtisch.
Meininger las kurz, nickte erst und schüttelte dann den Kopf.
»Das meine ich«, sagte er mit der Verzweiflung eines Grundschullehrers beim Thema Mengenlehre. »Sie sehen in der teilweisen Befriedigung eines kleinen Bedürfnisses einer kleinen Randgruppe ein großes Ziel. Ich jedoch suche nach einem großen Bedürfnis einer großen Zielgruppe, und zwar nun aus dem Blick eines Lebensmittel- und Pharmakonzerns.«
Paul zuckte mit den Schultern. »Ich habe deren Forschungsleiter in unserem Meeting zum ersten Mal gesehen.«
»Naja«, ergänzte er nach einer kurzen Pause, »einen Zielkonflikt sehe ich da schon.«
Meininger hob ruckartig den Kopf.
»Ach«, fragte er und zog dabei die Augenbrauen hoch, »einen Konflikt?«
»Nun«, antwortete Paul. Er sprach wieder leiser. »Immerhin haben zuckerhaltige Lebensmittel mit vierzig Prozent einen erheblichen Anteil am Konzernumsatz. Unsere Zuckerfabriken müssen ausgelastet werden. Wie wir gegen den Isoglucose Import bestehen können weiß ich nicht und zudem steigt das Gesundheitsbewusstsein der Konsumenten. Ich kann mir vorstellen, wenn dann auch noch diese Ampelkennzeichnung kommt, werden sich unsere Zuckersachen noch schlechter oder überhaupt nicht mehr verkaufen.«
Er legte eine Pause ein und schaute Meininger an. Meininger nickte. »Ja, stimmt und weiter?«, fragte er, nun wie der Grundschullehrer beim Einmaleins.
Paul überlegte und fuhr fort. »Da wären Ersatzstoffe wie Stevia eine gute Möglichkeit, Zucker zu substituieren und …« Er stockte.
»Ja?« fragte Meininger laut. »Und was?«
»So genau weiß ich das nicht«, gab Paul zu und blickte nach unten. »Die Umstellung aller Produktionsprozesse auf Steviolglycoside ist aufwändig. Rezepturen müssen angepasst werden, wir brauchen Ersatz für das fehlende Volumen, andere Konservierungsmittel. Der Aufbau von Produktionsstätten für Stevia ist teuer, auf dem Weltmarkt bestimmen die Amerikaner und Chinesen den Preis. Und dann noch die EU-Höchstgrenzen, alles nicht so einfach.« Er blickte wieder hoch, Meininger schien genau zuzuhören.
»Und was Clingo davon hätte weiß ich auch nicht. Die sind ja mit ihren Insulinprodukten davon abhängig, dass möglichst viele unserer Kunden durch hohen Zuckerkonsum irgendwann zuckerkrank werden.«
Meininger lächelte. Nicht dieses steife einstudierte Meeting-Lächeln, sondern das Grinsen, das er von ihm kannte, wenn er bei 240 km/h auf der Autobahn einen BMW von der linken Spur vertrieb. Paul hasste es jedes Mal, wenn er dabei war.
»Das meine ich«, sagte Meininger in gütigem Ton, »wenn ich von Querdenken rede. Es geht nicht um ›Entweder-oder‹, sondern um ›Sowohl-als-auch‹.«
Er beugte sich vor und verfiel in sein berüchtigtes Dozieren. Der Kampf der Verbraucher und Ärzte gegen Zucker sei uralt, bereits in den 70ern hätte es in den USA die ersten Gegenkampagnen gegeben. Hätte die amerikanische Zuckerindustrie nicht mit einer genialen PR-Kampagne verhindert, dass die »Food and Drug Administration« eine Klage spinnerter Wissenschaftler zulässt, dann, dabei deutete er auf Paul und sich, würden sie hier nicht sitzen. Paul schaute etwas fragend, doch Meininger fuhr fort.
Er möge sich diese Schlagzeile zum Thema Zucker vor vierzig Jahren in der Herald Tribune vorstellen: »Poison or Food?« Die ganze Öffentlichkeit gegen eine milliardenschwere Industrie. Natürlich sei Zucker – gerade in den hohen konsumierten Dosen – schädlich für den Körper, aber all diesen Angriffen habe die amerikanische Zuckerlobby durch Gegengutachten von, nun ja, »motivierten« Wissenschaftlern begegnen können. Übergewicht sei mit dem bösen Fett erklärt worden, was wiederum diesen herrlichen Boom fettarmer Lebensmittel angefacht hatte, eine Win-Win-Situation also. Die amerikanische Zuckerlobby hätte damals einfach das erfolgreiche Konzept der Tabakindustrie kopiert, die jahrzehntelang verhindert hatte, dass Rauchen offiziell als Sucht und gesundheitsschädlich bezeichnet werden durfte. Der Kampf gegen die Zuckerkritiker sei keinesfalls gewonnen worden mit dem Nachweis, dass Zucker gesund sei, sondern mit dem Beweis seiner Unschädlichkeit. Dieser »GRAS«-Stempel der FDA, »Generally Recognized as Safe«, sei der Freifahrtschein gewesen, ach was, der Lottoschein mit den sechs Richtigen. Seitdem habe sich der Zuckerkonsum weltweit vervielfacht und damit auch die Gewinne solcher Unternehmen, für die sie beide arbeiteten.
Paul nickte leicht gelangweilt, kaum etwas davon war ihm neu. Er sah nur nicht den Weg, den Meininger mit seinem Abriss einschlagen wollte.
Damals sei diese Entweder-oder-Debatte, fuhr Meininger fort, mit simpler Zeitungswerbung und sprachgewandten Wissenschaftlern im Frühstücksfernsehen gewonnen worden, in diesen Zeiten haben sich die Verbraucher einfacher manipulieren lassen. Heute ginge das nicht mehr: medienstarke Aufklärer, soziale Netzwerke, informierte Verbraucherschützer. Sechs Millionen Hits für ein YouTube Video vom Antizuckerkämpfer Robert Lustig, das eineinhalb Stunden lang die Gefahren von Zucker und die Machenschaften der Zuckerindustrie leider glaubhaft darlegte, seien gar nicht lustig.
Meininger schien auf eine Anerkennung für sein Wortspiel zu warten, doch Paul blickte weiter unbewegt.
Der Kampf gehe mit »besonnenen« Wissenschaftlern und »kooperativen« Politikern noch eine Weile gut, siehe Klimawandel, Automobilindustrie etc. Laufend unsinnigere Marketingsprüche, Coca-Cola und McDonalds sponsern Adipositas-Kongresse, auf den Kaffeepausen-Keksen prangt das Logo eines Insulinproduzenten, jaja, möge er sich mal vorstellen. Noch schimpften Verbraucherschützer, wenn eine Verpackung kleiner werde bei gleichem Preis, wie leider neulich mit dem Wasser, und dabei hätten sie noch nicht bemerkt, dass die durchschnittlich servierte Menge Coca-Cola in den Fastfood-Restaurants in den letzten dreißig Jahren fast verfünffacht wurde. Trotzdem steige das Risiko, dass der Verbraucher irgendwann selbst entscheidet und auf einmal wirklich weniger Zucker konsumiert, in den USA sei das bereits hier und da der Fall. Und diesem Bedürfnis müsse das Unternehmen begegnen. Naturgemäß zum Vorteil des Unternehmens.
Meininger wurde still und schaute Paul mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Paul schüttelte den Kopf und murmelte: »Quadratur des Kreises.«
»Querdenken«, wiederholte Meininger. »Sowohl als auch.«
Dann beugte er sich vor und verriet endlich, worauf er hinaus wollte:
»Machen Sie Süße unsichtbar!«
»Hä?«, entfuhr es Paul.
Meininger holte aus. »Wir haben siebzig verschiedene Namen und Varianten von Zucker, zuckerhaltigen Stoffen und einen Haufen E-Nummern für Ersatzstoffe. Jetzt erfinden Sie in Ihrem Labor mal eine Süße, die tatsächlich unsichtbar ist. Von keinem Lebensmittellabor auffindbar und damit in keiner dieser unzähligen Kennzeichnungsverordnungen. Unsichtbar, klar?«
Paul war gewohnt, keine Fragen zu stellen, das »Warum?« rutschte ihm dennoch heraus.
Meininger lächelte, wieder so ein echtes Lächeln. Dann erklärte er ihm seine Idee. Das Warum. Den Plan.
Als Paul Meiningers Büro verließ, war seine Frage, die er eingangs hatte stellen wollen, beantwortet. Jedoch anders, als er es erwartet hatte.
Das Treppenhaus hinab – ihm war, als hallte es mehr als sonst –, den langen kahlen Flur entlang. In dieses Stockwerk wurden selten Gäste geführt, daher hatte die Personalabteilung keine Kunstdrucke aufgehängt. Bis er in seinem Büro ankam, pendelten seine Gedanken zwischen den größtmöglichen Extremen hin und her. Schreiend auf die Straße rennen, kündigen und in einer Großbäckerei als Qualitätsbeauftragter anfangen oder eine echte wissenschaftliche und technische Herausforderung annehmen, Teil einer wirklich großen Sache werden, vom Vorstand auf der Weihnachtsfeier belobigt, ein eigener Parkplatz vor dem Bürohaus.
Dieser Meininger, musste er zugeben, war genial, aber über seine Grenze des Vorstellbaren hinaus skrupellos. Und nun sollte er für ihn die Lösung finden.
Kam nicht auch der Erfinder des Zyklon B aus Frankfurt? Und war dieses Gift anfänglich nicht auch in Zuckerfabriken hergestellt worden?
Er wollte nicht auf diese Party gehen, hasste Gesellschaften mit fröhlichen und unbekannten Menschen. Der dreißigste Geburtstag einer Mitarbeiterin aus dem Marketing war genau so eine Gesellschaft. Und wahrscheinlich war er mit Mitte-Ende Vierzig der Älteste. Er fühlte sich zwangsweise eingeladen, nur weil Joachim, die neue Liebschaft der Gastgeberin, einer seiner Mitarbeiter war. Ein guter Labortechniker, fand Paul, und ein Schnösel, allerdings brauchte er in dem gerade begonnenen Projekt guten Kontakt zu seinen Teammitgliedern. Er sah es vor sich, wie Joachim seine Freundin bat: »Lad bitte auch den Paul ein!« »Wieso denn, ich kenn den doch gar nicht.« »Komm schon, er ist mein Chef und wir sind an einer echt großen Sache dran und vielleicht wird das auch für mich groß.«
Joachim war in der Kantine an seinen Tisch gekommen, mit schwungvollem Schritt und dieser grundlosen Fröhlichkeit, wie sie Daueroptimisten oder Koksern eigen ist, wobei letzteres nur eine Vermutung war. Paul kannte keine Kokser. Jedenfalls hatte sein Mitarbeiter ihn zu dieser Party eingeladen, würde lustig werden, hatte er versprochen, junges Volk und gutes Essen. Paul murmelte erst, er überlege es sich noch und sagte dann doch zu. Was er schenken solle, fragte er Joachim. Ach, ein Buch, oder, wenn ihm nichts einfiele, ein Büchergutschein reiche, sie lese gerne.
Paul stöberte den ganzen Nachmittag im Internet, was gerade so angesagt war und gut besprochen wurde, er wollte sich nicht mit einem Gutschein blamieren. Ein Stück Papier gegen ein anderes tauschen, da könnte er auch gleich, wie früher sein Vater zu Weihnachten, eine Geldnote in einen Umschlag stecken.
So wählte er ein Buch eines Nobelpreisträgers, der irgendwo in der so genannten »Dritten Welt« das Microbanking eingeführt hatte. Arme Länder, böses Großkapital, gute Menschen, die hauptsächlich Frauen Geld liehen, weil die damit umgehen konnten, das könne eine Anregung für eine Werbetante sein. Außerdem, hoffte er, sagte ein Geschenk auch etwas über den Schenkenden aus.
Am Freitag vor der Party ging er nach der Arbeit schnell in das größte Kaufhaus der Stadt, um sich neu einzukleiden. Eine neue Hose, ein modernes Hemd, diesmal nicht kariert, braune Schuhe. Die Verkäuferin in der angenehm ruhigen Herrenabteilung erkundigte sich routiniert nach dem Anlass. Nur eine Geburtstagsfeier, antwortete er, und wunderte sich, dass er ihr die Wahrheit sagte. Und während er die Hose in der engen Kabine anprobierte, fragte er sich, warum er glaubte, ihr die Wahrheit nicht sagen zu sollen. Wieso dachte er, diese harmlose Verkäuferin anlügen zu müssen? Weil er so an das Lügen gewöhnt war? Weil er sich schämte, für eine Geburtstagsfeier keine geeignete Hose zu besitzen? Weil er befürchtete, sie könne denken, er sei ein vereinsamter Mann ohne Frau, die ihm die Garderobe für den Abend raussuchen würde?
Oder weil all das die Wahrheit war?
Die Verkäuferin ließ sich nicht anmerken, was sie dachte, beriet ihn ruhig und dennoch zügig; eine halbe Stunde später war er neu ausgestattet. Die Kleidung behielt er an, sie sollte am nächsten Abend nicht ungetragen wirken. Die alte Hose und das karierte Hemd trug er zur Reinigung, nachdem er im ebenfalls größten Buchhandelsgeschäft, das sich über drei Stockwerke und ein Kellergeschoß zog, das Geschenk gekauft hatte. Zu Hause öffnete er die Schutzverpackung des Buches, schrieb einen Geburtstagsgruß auf die erste Seite und las eine Weile, vorsichtig, damit keine Knicke ihn verrieten. Er wollte sich vorbereiten auf diesen Abend, denn er befürchtete, mit Erzählungen über seine Arbeit kein guter Gesprächspartner zu sein, zumal er ohnehin nicht viel darüber sagen durfte.
Am nächsten Tag stand er früh auf, saugte, wischte und räumte seine Zwei-Zimmer-Wohnung auf. Was seine Putzfrau am Montag wohl davon hielt? Womöglich fragte sie ihn, ob er eine Frau kennengelernt habe und sagte, dass es ihm gut täte und solche Sachen. Die Putzfrau war oftmals schlauer als sein Therapeut, zumindest schien sie mehr Menschenkenntnis zu haben. Kein Wunder, eine unaufgeräumte Wohnung enthielt mehr Wahrheit über einen Menschen als wohlüberlegte Antworten auf vorbereitete Fragen.
Das Auto fuhr er in die Waschanlage, Komplettprogramm mit Felgen und irgendeinem besonderen Unterbodenschutz, sinnlos im Sommer, aber im Angebot. Danach saugte er den Wagen noch gründlich aus, den BMW 525i der E34-Serie hatte er sich für seinen ersten Job als Lebensmittelchemiker geleistet und seitdem pflegte er ihn wie eine Erinnerung. Am Nachmittag cruiste er mit dem frisch glänzenden Wagen und dem beruhigenden 6-Zylinder Sound durch das Umland. Ihm fiel der schlappe Klang des Autoradios bei lauten Rocksongs auf und er nahm sich vor, bei Gelegenheit ein neues zu kaufen.
Um sechs Uhr abends legte er eine DVD ein, er wollte nicht zu früh auf der Party erscheinen. Den Neo-Western kannte er schon, andererseits vergaß er bei Filmen oft das Ende. Endlich konnte er zur U-Bahn, kurz nach acht traf er ein. Die Wohnung im dritten Stock eines bislang unsanierten Altbaus im Nordend war überraschend groß und wie befürchtet: voller fröhlicher und unbekannter Menschen. Sein Mitarbeiter Joachim empfing ihn übertrieben herzlich an der Tür und schob ihn durch das Gedränge zur Gastgeberin. Paul gratulierte formell, dankte für die Einladung und überreichte sein Geschenk. Sie legte es, ohne die Verpackung zu öffnen, neben die anderen Päckchen auf eine Kommode im Flur. Joachim zog ihn in die enge Küche und zapfte ihm ungefragt ein Bier. Paul las die Bedienungsanleitung des selbstkühlenden Fasses. Die drei Schritte zum kühlen Bier in bunten Bildern und großer Schrift erinnerten ihn an eine Promotion zum Thema »Sorptionsspeicher mit dem Stoffpaar Zeolith–Wasser«, die er vor Jahren gelesen hatte.
Joachim drückte ihm das Glas in die Hand und verzog sich entschuldigend, es habe gerade wieder geklingelt.
Paul schlängelte sich durch die Wohnung, die Gäste unterhielten sich in kleinen Gruppen, auch im Schlafzimmer saßen Leute in Gesprächen vertieft auf dem Bett. Die Party wirkte wie eine Firmenfeier ansonsten nicht aneinander interessierter Abteilungen. Auf dem Balkon standen Raucher eng gedrängt und diskutierten gerade, ob der ökologische Fußabdruck von Fernreisen den charakterlichen Gewinn vom Kennenlernen fremder Kulturen aufwiege. Eine Frau mit grauem Haaransatz zitierte Goethe »Die Reise gleicht einem Spiel: Es ist immer Gewinn und Verlust dabei.« und »Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.« Ein verhärmt aussehender Hippie widersprach: Goethe hätte sich durch heutige TV-Dokumentationen genauso bilden können. Seine Meinung auf ihren Einwurf, Goethe hätte vor dem Fernseher »Iphigenie auf Tauris« nie fertiggeschrieben, hörte Paul nicht mehr.
Im Wohnzimmer saßen an einem langen Esstisch ein Dutzend Gäste und aßen Kartoffelsalat von Papptellern. Ein elegant gekleideter Mann redete über Probleme mit Handwerkern beim Umbau seiner Anwaltskanzlei, ortsansässige Betriebe würden einen nur übers Ohr hauen, und die »ordentlich arbeitenden Polen«, so seine Wortwahl, könne er nicht engagieren, weil die beharrlich ohne Rechnung arbeiten wollten. Zwei blonde Frauen mit norddeutschem Akzent unterhielten sich über ihre Aufstiegsschwierigkeiten im öffentlichen Dienst und darüber, dass der Staat immerfort zu wenig gegen die »gläserne Decke« tue, selbst im eigenen Hause.
Er ging zur Musikanlage, eine no-name Kompaktanlage mit angeklemmten Lautsprechern, und studierte das kleine CD-Regal. Typisch für eine unmusikalische 30-jährige, dachte er. Massentauglicher Hip-Hop, Top 40 der letzten Jahre, kein Stil erkennbar. Ihm fielen seine alten Rock-Schallplatten ein, die er bei jedem Umzug von Keller zu Keller geschleppt hatte.
Gerade dudelte ein Sommerhit-Sampler aus dem vergangenen Jahr, als eine Stimme hinter ihm »Schöner Mist« sagte.
Für einen Moment befürchtete er, er habe laut gedacht.
Wie ein beim Onanieren ertappter Drittklässler drehte er sich ruckartig um und verschüttete dabei etwas Bier. Ehe er sich entschuldigen konnte, sagte die Frau:
»Glück gehabt. Bier macht keine Rotweinflecken.«
»Dem fehlt das Aglykon«, erwiderte er reflexhaft und stellte das Bierglas im CD-Regal ab.
»Nicole«, sagte sie.
Paul wischte seine biernasse rechte Hand an der neuen Hose ab und dachte, als er ihre zarte Hand drückte, dass er diese Hose nun auch zur Reinigung würde bringen müssen. Nicole war schön, fand er. Jünger, aber er wirkte nicht alt neben ihr. Hoffte er. Dunkles knapp schulterlanges Haar, dieses Lächeln im schmalen Gesicht, faszinierende Augen und ein sehr buntes Kleid.
»Buntes Kleid«, sagte er.
Sie lachte. Nicht so schrill wie das Gegacker, das in Zyklen die Geräuschkulisse der Party durchdrang wie quietschende Räder einer Straßenbahn, auch nicht hämisch und herablassend wie sein Chef. Eher dezent, leicht und erheitert, in angenehmer Tonlage, als hätte jemand einen alten, aber guten Witz gerissen.
Er fing sich und stellte sich vor. Ob sie ebenfalls allein hier sei?
»Nein, eigentlich nicht oder vielleicht doch«, antwortete sie rätselhaft, dann lächelte sie. »Ein entfernter Bekannter hat mich eingeladen und aus Neugierde auf neue Gesichter und Geschichten bin ich mitgegangen.« Das sei ihr Job, erzählte sie, als Journalistin fremde Menschen ansprechen und am besten so, dass diese anfingen zu reden. Da hatte er bereits erzählt, er sei nur hier weil der Freund der Gastgeberin und so weiter. Schnell wechselte er das Thema.
»Was schreibst du denn so?«
»Kannst du was mit Globalisierungskritik anfangen?«
»Natürlich, ich habe gerade ein Buch über Microbanking gelesen«, flunkerte er, »ein erfolgreiches Konzept in armen Ländern Aber beruflich mache ich was ganz anderes.«
»Und was?«, wollte sie wissen.
»Oh, damit will ich dich erst gar nicht langweilen.«
»Wir werden sehen. Langeweile entsteht ja immer nur beim Betrachter, nicht in der Sache selbst.«