Hamilton, Peter F. Die unbekannte Macht

PIPER

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PIPER

 

Übersetzung aus dem Englischen von Axel Merz

 

ISBN 978-3-492-96561-3

April 2017

© Peter F. Hamilton 1996

Titel der englischen Originalausgabe: »The Reality Dysfunction, Part 1«, PanMacmillan, London 2012

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Erstmals erschienen bei Bastei Lübbe AG, Köln 2000

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1. Kapitel

Der Raum rings um den Schweren Schlachtkreuzer Beezling riss an fünf Stellen gleichzeitig auf. Für einen Augenblick hätte jeder, der in die sich ständig ausdehnenden Risse sah, einen wirklichen Blick in die Leere der Unendlichkeit werfen können. Die Pseudo-Gewebestruktur der Wurmlöcher war eine fotonentote Zone und von einer so vollkommenen Dunkelheit, dass sie das reale Universum zu verschlingen schien. Dann plötzlich rasten Schiffe aus den klaffenden Termini. Sie jagten mit einer Beschleunigung von sechs g davon und gingen auf Abfangkurs. Die Fahrzeuge unterschieden sich deutlich von den kugelförmigen garissanischen Raumschiffen, deren Spuren sie zwischen den Sternen hindurchgefolgt waren: elegante, stromlinienförmige Tränen. Sie waren größer und gefährlich. Machtvoll. Lebendig.

Captain Kyle Prager lag bequem in seiner abgeschirmten und gepanzerten Kommandokapsel im Herzen der Beezling. Er wurde unsanft aus einer einfachen Astrogationsübersicht gerissen, als der Bordrechner über Datavis den Annäherungsalarm auslöste. Pragers neuronale Nanonik übertrug die Informationen aus den externen Schiffssensoren direkt in sein Gehirn. Hier draußen in der weiten Leere des interstellaren Raums reichte das Licht der Sterne nicht aus, um Reflexionen im optischen Spektralbereich zu liefern. Prager stützte sich allein auf Infrarotsignaturen, verschwommene Bögen aus Rosa, welche die Diskriminierungsprogramme nur mühsam aufzulösen imstande waren. Auftreffende Radarimpulse wurden von den elektronischen Gegenmaßnahmen des Schiffs verwischt und zerhackt.

Kampfprogramme aus den Speicherclustern von Pragers Nanonik gingen in den Primärmodus über. Per Datavis übermittelte er dem Navigationsrechner eine rasche Serie von Instruktionen, während er verzweifelt auf weitere Informationen wartete. Die Flugbahnen der fünf Neuankömmlinge wurden projiziert und erschienen als purpurne Vektoren, die sich durch den Raum schwangen und sich bedrohlich auf der Beezling und ihren beiden Eskortfregatten vereinigten. Die fremden Schiffe beschleunigten noch immer, doch es war keinerlei Plasmaschweif von einem Reaktionsantrieb zu entdecken. Kyle Pragers Mut sank. »Voidhawks«, sagte er.

Auf der Liege neben Prager stöhnte der Energieknotenoffizier der Beezling, Tane Ogilie, bestürzt. »Woher konnten sie das wissen?«

»Die Aufklärung der Konföderierten Navy ist verdammt gut«, entgegnete Kyle Prager. »Sie wussten, dass wir einen direkten Vergeltungsschlag versuchen würden. Sie müssen unsere Schiffsbewegungen überwacht haben und sind uns gefolgt.« In seinem Bewusstsein baute sich ein dunkler Druck auf. Er konnte die Antimaterie-Einschließungskammern im Innern der Beezling fast spüren. Sie glitzerten rings um ihn wie kleine, teuflische rote Sterne.

Antimaterie war das eine universelle Anathema in der gesamten Konföderation. Ganz gleich, auf welchem Planeten oder welcher Asteroidensiedlung man damit aufgebracht wurde, überall war Antimaterie geächtet und allein ihr Besitz strafbar.

Die Strafe, falls sie von einem Schiff der Konföderation aufgebracht wurden, lautete auf sofortige Exekution des Schiffsführers; der Rest der Besatzung erhielt ein Einwegticket in einer Dropkapsel hinab zur Oberfläche einer Strafkolonie.

Doch es gab keine andere Wahl; die Beezling benötigte die fantastische Beschleunigungsreserve, die nur Antimaterie liefern konnte und die den herkömmlichen Fusionsantrieben der Adamistenschiffe weit überlegen war. Die Schiffe der omutanischen Verteidigungsflotte waren ganz sicher mit Antimaterie angetrieben. Sie benutzen Antimaterie, weil wir es tun, und wir benutzen Antimaterie, weil sie es tun. Eines der ältesten und schwächsten Argumente, welche die menschliche Geschichte hervorgebracht hatte. Kyle Pragers Schultermuskulatur entspannte sich in unfreiwilliger Resignation. Er hatte das Risiko gekannt und akzeptiert – oder wenigstens hatte er sich selbst und den Admiralen erzählt, dass er die Gefahr einzugehen bereit war.

Es würde schnell und schmerzlos sein, und unter normalen Umständen würde die Mannschaft überleben. Doch Kyle Prager hatte seine Befehle von der garissanischen Admiralität. Niemandem durfte der Zugriff auf den Alchimisten gestattet werden, den die Beezling mit sich führte; das galt erst recht für die Edeniten an Bord der Voidhawks. Ihre BiTek-Technologie war auch so mächtig genug.

»Sie haben uns in einem Verzerrungsfeld eingeschlossen!«, meldete Tane Ogilie. Seine Stimme klang schrill, er war der Panik nah. »Wir können nicht springen!«

Für einen kurzen Augenblick fragte sich Kyle Prager, wie es sein musste, einen Voidhawk zu kommandieren, Herr zu sein über die unglaubliche Kraftfülle und totale Überlegenheit. Es war fast ein Gefühl von Neid.

Drei der abfangenden Schiffe schwangen herum und machten Jagd auf die Beezling, während ihre beiden Eskortfregatten, die Chengho und die Gombari, nur je einen Verfolger besaßen.

Heilige Mutter Gottes, sie gehen in einer Formation gegen uns vor, als wüssten sie ganz genau, was wir an Bord haben.

Er formte im Geist den Selbstzerstörungskode und ging die Prozedur noch einmal durch, bevor er sie über Datavis in den Bordrechner speiste. Es war ganz einfach; man musste lediglich die Sicherungen in den Antimaterie-Einschließungskammern des Hauptantriebs deaktivieren, um den umgebenden Raum in eine Supernova aus harter Strahlung und Licht zu verwandeln.

Ich könnte warten, bis die Voidhawks andocken, und sie mitnehmen. Aber die Besatzungen machen lediglich ihre Arbeit, weiter nichts.

Das dürftige rote Abbild der drei verfolgenden Raumschiffe vergrößerte sich dramatisch, wurde heller, dehnte sich aus. Acht wabernde Energieblumen entfalteten sich vor jedem Einzelnen von ihnen; glitzernde, funkelnde Spitzen, die sich rasch vom Zentrum entfernten. Automatische Analyseprogramme aktivierten sich; Flugbahnprojektionen materialisierten und verbanden sämtliche vierundzwanzig Projektile in geschwungenen, laserdünnen Bahnen mit der Beezling. Die Abgasstrahlung der Feuerblumen war extrem radioaktiv. Die Beschleunigung betrug nahezu vierzig g. Antimaterieantriebe.

»Kombatwespen sind gestartet«, rief Tane Ogilie mit rauer Stimme.

»Das sind keine Voidhawks!«, stellte Kyle Prager mit grimmiger Wut fest. »Das sind verdammte Blackhawks! Omuta hat Blackhawks angeheuert!« Er gab per Datavis einen Befehl zum Ausweichmanöver in den Bordrechner, während er gleichzeitig hektisch die Verteidigungsmechanismen der Beezling aktivierte.

Es war beinahe kriminell nachlässig von ihm gewesen, die feindlichen Schiffe nicht gleich nach ihrem Auftauchen zu identifizieren. Kyle Prager überprüfte seine Nanonik: Seit dem Materialisieren waren sieben Sekunden vergangen. Wirklich erst sieben? Selbst dann noch war seine Reaktion erbärmlich schlampig gewesen in einer Arena, in der Millisekunden die wertvollste Währung darstellten. Sie alle würden dafür bezahlen müssen, vielleicht sogar mit dem Leben.

Eine Beschleunigungswarnung ging durch die Beezling – audiovisuell und per Datavis. Die Besatzung war längst auf den Stationen und festgeschnallt, aber Mutter Maria allein wusste, was die Zivilisten an Bord gerade machten.

Die Beezling beschleunigte langsam aber stetig, und Kyle Prager spürte, wie die nanonischen Supplementmembranen in seinem Körper hart wurden, als sie die inneren Organe gegen die Beschleunigungskräfte abstützten und so daran hinderten, durch die Bauchhöhle gequetscht zu werden, während gleichzeitig ein unverminderter Blutfluss zum Gehirn sichergestellt und somit ein Black-out verhindert wurde. Die Beezling erzitterte heftig, als ihr eigenes Kontingent von Kombatwespen startete. Die Beschleunigung erreichte acht g und stieg weiter.

Im vorderen Besatzungsmodul der Beezling hatte sich Dr. Alkad Mzu damit beschäftigt, den Status des Schiffs zu überprüfen, während die Beezling mit eineinhalb g in Richtung der nächsten Sprungkoordinaten flog. Ihre neurale Nanonik verarbeitete die Rohdaten und lieferte ein Gesamtbild der externen Sensordaten des Raumschiffs zusammen mit den Flugbahnprojektionen. Das Bild entfaltete sich wie funkelnde Geisterschemen hinter ihrer Netzhaut, bis Alkad die Augen schloss. Die Chengho und die Gombari zeigten sich als intensive Schemen aus blauweißem Licht, und das Feuer ihrer Abgasstrahlen brachte das Sternenfeld im Hintergrund zum Verblassen.

Sie befanden sich in einer engen Formation. Die Chengho war zweitausend Kilometer entfernt, die Gombari nur knapp über dreitausend. Alkad wusste, dass eine überlegene Astrogation erforderlich war, um nach einem Sprung von zehn Lichtjahren in einem Abstand von weniger als fünftausend Kilometern voneinander aus dem Sprungpunkt zu kommen. Garissa hatte sehr viel Geld investiert, um seine Navy mit der besten erhältlichen Hardware auszurüsten.

Geld, das man besser für die Universitäten oder für das nationale Gesundheitswesen aufgewendet hätte. Garissa war nicht gerade eine ausgesprochen reiche Welt. Und wie das garissanische Verteidigungsministerium an derart große Mengen Antimaterie gekommen war, hatte Alkad tunlichst zu fragen vermieden.

»Noch ungefähr dreißig Minuten bis zum nächsten Sprung«, sagte Peter Adul. Alkad löschte das Datavis. Die visuelle Sensordarstellung der Schiffe verschwand von ihrer Netzhaut und wich dem spartanischen graugrünen Komposit der Kabinenwände. Peter stand in der offenen ovalen Luke. Er trug den typischen dunkel türkisfarbenen Schiffsoverall mit gepolsterten Gelenken, die ihn im freien Fall davor bewahren sollten, schmerzhaft irgendwo anzustoßen. Er lächelte Alkad einladend an. Sie erkannte die Besorgnis hinter den hellen, lebendigen Augen.

Peter war fünfunddreißig, einen Meter achtzig groß und besaß eine Hautfarbe, die womöglich noch dunkler war als Alkads eigener ebenholzfarbener Teint. Er arbeitete in der mathematischen Fakultät der Universität, und sie waren seit achtzehn Monaten zusammen. Peter war nicht der ausgelassene, kontaktfreudige Typ, sondern still und hilfsbereit. Ein Mann, dem es tatsächlich nichts auszumachen schien, dass sie klüger war als er – und diese Sorte war dünn gesät. Selbst die Aussicht, dass man Alkad auf immer und ewig für die Schaffung des Alchimisten verdammen würde, schien ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil, er hatte sie sogar zu der ultrageheimen Basis auf dem Navy-Asteroiden begleitet und ihr bei der Entwicklung der Mathematik des Apparats geholfen.

»Ich dachte, wir könnten sie zusammen verbringen«, sagte er.

Sie grinste zu ihm hoch und schlüpfte aus dem Haltenetz, während er sich auf die Kante der Andruckliege neben ihr setzte. »Danke. Den Navy-Typen macht es nichts aus, wenn sie während eines Kurswechsels eingepfercht werden wie in einem Käfig. Aber es zerrt definitiv an meinen Nerven.«

Zahlreiche Geräusche von den Lebenserhaltungssystemen des Schiffs durchdrangen die Kabine, Besatzungsmitglieder, die sich leise auf ihren Stationen unterhielten, unverständliche Worte, die durch die langen, beengten Niedergänge hallten. Die Beezling war nur zu dem Zweck konstruiert worden, den Alchimisten ins Ziel zu bringen. Das Design des Schiffes beschränkte sich allein auf Standfestigkeit und starke Antriebe; die Bedürfnisse der Besatzung hatten auf der Prioritätenliste der Navy einen der unteren Plätze eingenommen.

Alkad schwang die Beine über die Kante der Andruckliege und spürte, wie ihre Füße von der starken Gravitation auf das Deck gezogen wurden. Sie lehnte sich gegen ihn, dankbar für die Wärme des körperlichen Kontakts und für seine Gegenwart.

Er legte den Arm um ihre Schulter. »Wie war das noch gleich mit der Aussicht auf den bevorstehenden Tod und den aufwallenden Hormonen?«

Sie lächelte und drückte sich enger an ihn. »Wie war das noch gleich bei euch Männern, dass ihr nur aufwachen müsst, damit die Hormone wallen?«

»Ist das ein Nein?«

»Das ist ein Nein«, antwortete sie entschlossen. »Die Kabine hat keine Tür, und wir würden uns in dieser Gravitation nur verletzen. Außerdem haben wir reichlich Zeit, wenn wir zurück sind.«

»Ja.« Falls wir zurückkommen. Doch das sagte Peter nicht laut.

Genau in diesem Augenblick ging der Beschleunigungsalarm los. Sie erschraken, und eine wertvolle Sekunde verging, bevor sie den ersten Schock überwunden hatten und reagierten.

»Schnell zurück in deine Liege!«, schrie Peter, als die Schwerkraft zunahm. Alkad versuchte, die Beine zurück auf die Liege zu schwingen. Sie schienen aus Uran zu bestehen, so schwer waren sie. Muskeln und Sehnen drohten unter der Anstrengung zu reißen, während sie gegen das Gewicht ankämpften.

Komm schon. Es ist ganz einfach. Das sind doch nur deine Beine. Heilige Mutter, wie oft hast du schon die Beine ins Bett gehoben? Nun komm schon!

Neuralnanonische Nervenimpulsüberlagerungen schikanierten ihre Oberschenkelmuskeln. Alkad gelang es, ein Bein zurück auf die Andruckliege zu schwingen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte die Beschleunigung bereits sieben g erreicht.

Sie hing mit dem linken Bein auf dem Boden fest. Ihr Fuß rutschte über das Deck, während das gewaltige Gewicht ihres Oberschenkels nach unten drückte und ihr Kniegelenk aufreißen ließ.

Die zwei gegnerischen Schwärme von Kombatwespen prallten aufeinander; Angriffs- und Verteidigungsdrohnen brachen auf, und jede einzelne entließ ein ganzes Sperrfeuer aus Submunition. Der Raum kochte von gerichteten Energiestrahlen. Elektromagnetische Pulse rasten das Spektrum hinauf und hinunter in dem Versuch, den Gegner abzulenken, zu täuschen und zu schädigen. Eine Sekunde später waren die Raketen an der Reihe. Massive kinetische Geschosse rasten wie antike Schrotsalven auf die gegnerischen Reihen zu. Die leichteste Berührung reichte aus, um bei den irrsinnigen Geschwindigkeiten Projektil und Ziel in Feuerblumen aus sich ausdehnendem Plasma zu verwandeln. Fusionsexplosionen folgten, blendende Fackeln aus blauweißem Licht. Antimaterie addierte ihre Vehemenz zu dem allgemeinen Getümmel und produzierte in dem ionischen Mahlstrom noch größere Explosionen.

Der leuchtende Nebel zwischen der Beezling und ihren Angreifern besaß grob linsenförmige Gestalt und einen Durchmesser von mehr als dreihundert Kilometern. Er war durchsetzt von zyklonischen Ansammlungen, die an ihren Rändern gewaltige Katarakte aus Feuer ausspuckten. Kein Sensor der Welt wäre imstande gewesen, dieses Chaos zu durchdringen.

Die Beezling schwang heftig herum, und die Deflektorspulen ihres Antriebs arbeiteten mit maximaler Kraft. Das Schiff nutzte den vorübergehenden blinden Fleck zu einer Kursänderung. Eine zweite Schar von Kombatwespen jagte aus ihren Schächten im unteren Rumpfbereich des Schweren Schlachtkreuzers, gerade rechtzeitig, um die neuerliche Salve der Blackhawks aufzufangen.

Als die schreckliche Beschleunigung einsetzte, hatte sich Peter unter Einsatz aller Kräfte von der Beschleunigungsliege gerollt, auf der er gesessen hatte, und war schwer auf das Deck von Alkads Kabine geprallt. Hilflos hatte er mit ansehen müssen, wie Alkads linkes Knie langsam unter der erdrückenden Schwerkraft nachgegeben hatte, und ihr Wimmern hatte ihn mit Schuldgefühlen überflutet. Er hatte ein Gefühl, als wollte das Kompositdeck sich durch seine Wirbelsäule nach oben rammen. Sein Hals war ein einziger Schmerz. Die Hälfte der Sterne, die er vor den Augen sah, stammte vom Schmerz. Der Rest war zusammenhangloser Unsinn aus dem Datavis.

Der Bordrechner hatte das externe Schlachtfeld zu sauber angeordneten Diagrammen reduziert, die gegen dringende Warnmeldungen von Peters Metabolismus ankämpften. Er war außerstande, seine Gedanken darauf zu konzentrieren. Es gab wichtigere Dinge, um die er sich sorgen musste, beispielsweise wie zur Hölle er seinen Brustkorb nach oben zwingen sollte, damit er wieder atmen konnte.

Plötzlich und vollkommen überraschend änderte sich die Richtung der Gravitationskraft. Peter ließ das Deck hinter sich und krachte gegen die Kabinenwand. Seine Zähne durchbohrten glatt die Lippen; er hörte, wie seine Nase mit einem hässlichen Knirschen brach. Heißes Blut schoss ihm in den Mund. Panik ergriff Besitz von ihm. Unter diesen Bedingungen war es absolut unmöglich, die Blutung zu stoppen. Er würde zu Tode bluten, falls das hier noch viel länger dauerte.

Dann kehrte die alte Gravitationsrichtung wieder zurück, und er wurde erneut auf das Deck gedrückt. Er schrie vor Angst und Schmerz. Die Datavis-Visualisierungen aus dem Bordrechner waren zu einem unheimlich ruhigen, moiréartigen Muster aus roten, grünen und blauen Linien geworden. Von den Rändern seines Gesichtsfelds her breitete sich Dunkelheit aus.

Der Zusammenprall der zweiten Welle von Kombatwespen ereignete sich entlang einer breiteren Frontlinie. Die Sensoren und Prozessoren auf beiden Seiten wurden von dem lebhaften Nebel und den ungezähmten Energieausbrüchen darin überlastet oder brannten durch. Neue Explosionen leuchteten vor dem Hintergrund der Zerstörung. Einige der angreifenden Kombatwespen durchbrachen den Verteidigungskordon. Eine dritte Welle von Kombatwespen verließ die Schächte der Beezling.

Sechstausend Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt erblühte ein weiterer Plasmanebel, als die Chengho den Schwarm Kombatwespen abwehrte, den ihr einsamer Verfolger auf sie geschleudert hatte.

Die Gombari hatte nicht so viel Glück. Ihre Antimaterie-Einschließungskammern wurden von auftreffenden Waffen zerfetzt. Die Sensorfilter der Beezling aktivierten sich augenblicklich, als ein neuer kurzlebiger Stern aufglühte. Kyle Prager verlor seine Datavis-Visualisierung über einen Bereich, der fast das halbe Universum ausmachte. Er sah nicht, wie der Blackhawk, der die Fregatte vernichtet hatte, einen Wurmloch-Zwischenraum aufriss und auf der Flucht vor dem tödlichen Strahlungsregen, den sein Angriff freigesetzt hatte, darin verschwand.

Die Kombatwespe, die sich mit sechsundvierzig g der Beezling näherte, analysierte die Formation der sich nähernden Robotverteidiger. Raketen und ECM-Gondeln rasten davon, um für mehr als eine Zehntelsekunde einen ungewissen Kampf aus Ausweichmanövern und Täuschung zu beginnen. Dann war der Angreifer durchgebrochen, und nur noch ein einziger Verteidiger stand zwischen ihm und dem gegnerischen Schiff. Der Verteidiger schlug einen Abfangkurs ein, doch er war zu langsam; er war gerade erst aus seinem Startschacht abgeschossen worden und beschleunigte mit kaum mehr als zwanzig g.

Grafische Situationsanalysen überlagerten Kyle Pragers Gesichtsfeld. Die Positionen der Blackhawks, ihre Flugbahnen. Die Vektoren der Kombatwespen. Zur Verfügung stehende Reserven. Er überflog alles, mental unterstützt vom Taktikprogramm seiner neuralen Nanonik, und traf seine Entscheidung: Er warf die Hälfte der verbliebenen Kombatwespen in die Offensive.

Die Beezling dröhnte wie eine Glocke, als die Dronen starteten.

Hundertfünfzig Kilometer von ihrem Ziel entfernt erkannten die Kampfprozessoren der angreifenden Wespe, dass sie es nicht ganz bis zu dem feindlichen Schiff schaffen würde, bevor der Gegner sie abfing. Sie rechneten die verbliebenen Möglichkeiten durch und trafen ebenfalls eine Entscheidung.

Hundertzwanzig Kilometer vom Ziel entfernt luden sie eine Deaktivierungssequenz in die Hardware der sieben Antimaterie-Einschließungskammern, welche die Kombatwespe mit sich führte.

Fünfundneunzig Kilometer vom Ziel entfernt schaltete sich das magnetische Feld der ersten Einschließungskammer ab. Sechsundvierzig g Beschleunigung brachen durch. Das gefrorene Pellet aus Antimaterie wurde in die Rückwand der Kammer geschmettert. Lange vor dem tatsächlichen Aufprall schaltete sich das magnetische Feld der zweiten Kammer ab. Innerhalb eines Zeitraums von hundert Pikosekunden deaktivierten sich alle sieben Kammern und erzeugten so eine ganz spezifisch geformte Explosionswelle.

Achtundachtzig Kilometer vor dem Ziel hatten die Antimateriepellets eine entsprechende Masse an Materie vernichtet und einen titanischen Energieausbruch bewirkt.

Die Spitze des Plasmaspeers, der sich auf diese Weise bildete, war tausendfach heißer als das Innere eines Sterns. Sie raste mit relativistischen Geschwindigkeiten auf die Beezling zu.

Sensorcluster und Wärmeleitpaneele verdampften augenblicklich, als der Strom dissoziierter Ionen in die Beezling krachte.

Die Molekularbindungsverstärker arbeiteten mit Überlast, um die Integrität der Siliziumhülle aufrechtzuerhalten – ein Kampf, den sie gegen derartige Gewalten nur verlieren konnten. Der Durchbruch erfolgte an einem ganzen Dutzend verschiedener Stellen gleichzeitig. Das Plasma schoss ins Innere und strich über die komplexen, empfindlichen Systeme wie eine Schweißflamme über Schneekristalle.

Die glücklose Beezling erlitt einen weiteren Schicksalsschlag. Eine der Plasmafackeln traf auf einen Deuteriumtank und bahnte sich einen Weg durch Schaumisolation und Titanhülle. Die kryogenische Flüssigkeit kehrte blitzartig in ihren natürlichen gasförmigen Zustand zurück, wobei gigantische Drücke freigesetzt wurden. Sie zerrissen den Tank. Splitter rasten in alle Richtungen. Eine acht Meter durchmessende Sektion der Schiffshülle wölbte sich nach außen, und ein vulkanischer Geysir aus Deuterium protuberierte an zerfetztem Siliziumstreben vorbei nach draußen und auf die Sterne zu.

Noch immer erfüllten die Explosionen von Kombatwespen den umgebenden Raum mit Lichtblitzen und Elementarteilchen, doch die Beezling war ein regloses Wrack im Zentrum eines sich auflösenden Halos – der Rumpf aufgerissen, der Reaktionsantrieb außer Funktion –, und sie taumelte durch das All wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln.

Die drei Kommandanten der angreifenden Blackhawks beobachteten, wie die letzte Welle von Kombatwespen ihre eigenen Schiffe anpeilte und rachedurstig über den Abgrund rasten. Tausende von Kilometern entfernt erzielte ihr Kollege einen schweren Schlag gegen die Chengho. Doch da hatten die Kombatwespen der Beezling bereits die Hälfte der trennenden Distanz überbrückt.

Organische Energiemusterzellen übten eine zerreißende Kraft auf das Gewebe des umgebenden Raums aus. Die Blackhawks schlüpften in das entstehende Wurmloch und kontrahierten die Fugen hinter sich. Die Kombatwespen der Beezling verloren ihr Ziel aus den Augen. Bordeigene Prozessoren leiteten ein Suchprogramm ein und weiteten es immer stärker aus in dem vergeblichen Bemühen, die verschwundenen Signaturen wieder aufzuspüren, während sie sich weiter und weiter von dem kampfunfähigen Kriegsschiff entfernten.

Nur unwillig kehrte das Bewusstsein in Dr. Alkad Mzus zerschlagenen Körper zurück; es war nicht halb so willkommen, wie es hätte sein sollen – obwohl es bedeutete, dass sie noch am Leben war. Ihr linkes Bein war eine einzige Quelle von bösartigem Schmerz. Sie erinnerte sich an das Knacken der Knochen, als ihr linkes Knie ganz aufgerissen war. Dann hatte sich die Richtung des Gravitationsfeldes mehrfach unberechenbar geändert – weitaus effektiver als jeder Folterknecht. Alkads neurale Nanonik hatte zwar den schlimmsten Schmerz gedämpft, doch erst das letzte Aufbäumen der Beezling hatte die segensreiche Ohnmacht gebracht.

Wie in Mutter Marias Namen konnten wir das nur überleben?

Sie hatte geglaubt, auf einen möglichen Fehlschlag der Mission gefasst zu sein und darauf, in Erfüllung ihrer Pflicht zu sterben. Ihre Arbeit an der Universität daheim auf Garissa hatte ihr nur zu deutlich gemacht, welche Energien erforderlich waren, um ein Raumschiff durch einen ZTT-Sprung zu bringen, und was geschehen würde, falls die Knotenpunkte unvermittelt instabil wurden. Es schien der Navy-Crew nicht das Geringste auszumachen – vielleicht verbargen sie es auch nur einfach besser. Alkad hatte auch gewusst, dass eine kleine Wahrscheinlichkeit bestand, von omutanischen Kriegsschiffen abgefangen zu werden, sobald die Beezling über ihrem Zielplaneten herauskam. Doch selbst das wäre nicht so schlimm gewesen: Das Ende, sollte eine gegnerische Kombatwespe den Verteidigungsschild durchbrechen, wäre augenblicklich gekommen. Alkad hatte sogar damit gerechnet, dass der Alchimist versagen könnte. Doch das hier … mitten im All zur Strecke gebracht zu werden, wo sie weder physisch noch mental auf ein derartiges Ereignis vorbereitet gewesen waren, und dann doch noch zu überleben, ganz gleich, wie knapp sie davongekommen sein mochten … Wie konnte die gute Mutter Maria nur so herzlos sein? Außer vielleicht, selbst sie fürchtete den Alchimisten?

Überreste von Diagrammen schwebten hartnäckig durch die schwachen Gedanken ihres Bewusstseins. Vektorlinien durchschnitten die Koordinaten ihres ursprünglichen Sprungpunkts siebenunddreißigtausend Kilometer voraus. Omuta war ein kleiner, unauffälliger Stern direkt vor diesen Koordinaten. Zwei weitere Sprünge, und sie wären in der Oortschen Wolke des Systems herausgekommen, dem dünnen Halo aus Eisstaub und schlummernden Kometen, welche die Grenze zwischen Sonnensystem und interstellarem Raum markierten. Sie hätten sich aus dem galaktischen Norden genähert, von weit außerhalb der Ekliptik, um jedes Risiko einer Entdeckung so klein wie möglich zu halten.

Alkad hatte bei der Planung der Mission geholfen. Sie hatte ihre Meinung vor einem Raum voller Stabsoffiziere der Navy verkündet. Die Offiziere hatten sich in ihrer Gegenwart sichtlich unwohl gefühlt, ein Syndrom, das Alkad bei mehr und mehr Menschen hatte beobachten können, je weiter ihr Projekt in der geheimen militärischen Basis fortgeschritten war.

Dr. Alkad Mzu hatte etwas geschaffen, das der Konföderation neuen Anlass zu Furcht gegeben hatte. Etwas, das selbst die unvorstellbare Zerstörungskraft von Antimaterie übertraf. Einen Sternentöter.

Und dieser Sternentöter war ebenso Furcht erregend wie Ehrfurcht gebietend.

Alkad hatte sich damit abgefunden, dass nach dem Krieg Milliarden von Planetenbewohnern zum Himmel hinaufblicken und darauf warten würden, dass das funkelnde Licht, das einst Omutas Sonne gewesen war, vom Nachthimmel verschwinden würde. Und dabei würden sie sich an Alkads Namen erinnern und sie in die Hölle wünschen.

Und alles nur, weil ich zu dumm war, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Genau wie all die anderen verträumten Trottel im Verlauf der menschlichen Geschichte, die sich an der simplizistischen Eleganz ihrer sauberen, verführerischen Gleichungen erfreut und nicht einen Gedanken an die blutigen, mörderischen physikalischen Anwendungsmöglichkeiten verschwendet hatten, die als ultimative Realität hinter ihnen steckten. Als hätten wir nicht bereits genug Waffen. Aber so ist nun einmal die menschliche Natur. Wir müssen immer noch eins draufsetzen, müssen den Terror und das Entsetzen immer noch um eine Stufe steigern. Und wozu das alles?

Dreihundertsiebenundachtzig Dorados. Große Asteroiden, die fast ausschließlich aus Metall bestanden. Sie kreisten im Orbit um eine rote Zwergsonne neunundzwanzig Lichtjahre von Garissa entfernt. Scoutschiffe aus beiden Systemen waren beinahe gleichzeitig darüber gestolpert. Wer tatsächlich der Erste gewesen war, würde vermutlich bis in alle Ewigkeit ungeklärt bleiben. Beide Regierungen hatten die Asteroiden für sich beansprucht: Der Reichtum in den einsamen Metallbrocken bedeutete einen berauschenden Auftrieb für den Planeten, dessen Gesellschaften und Konzerne derart reichhaltiges Erz fördern und raffinieren würden.

Zuerst hatte es nur ein paar kleine Streitereien gegeben; eine Reihe von Zwischenfällen. Prospektoren und Vermessungsschiffe, die man zu den Dorados geschickt hatte, waren von ›Piraten‹ angegriffen worden. Wie immer war der Konflikt eskaliert. Nicht mehr die Schiffe waren das Ziel gewesen, sondern ihre auf den Asteroiden befindlichen Basen. Die in der Nähe liegenden Industrieanlagen hatten sich als verlockende Ziele dargeboten. Die Vollversammlung der Konföderation hatte versucht zu vermitteln, doch ohne jeden Erfolg.

Beide Seiten hatten mobilgemacht und die Reserven einberufen. Sie hatten angefangen, die unabhängigen Händler unter Vertrag zu nehmen mit ihren schnellen, gut ausgerüsteten Schiffen, die mit Startschächten für Kombatwespen ausgestattet waren. Schließlich, im vergangenen Monat, hatte Omuta eine Antimateriebombe gegen eine industrielle Asteroidenansiedlung im Garissasystem eingesetzt. Sechsundfünfzigtausend Menschen waren gestorben, als die Biosphärenkuppel aufgerissen war und sie in den offenen Raum hinausgeschleudert hatte. Die Überlebenden, weitere achtzehntausend Menschen mit geplatzten, flüssigkeitsgefüllten Lungen, dekomprimierten Kapillaren und abgelöster Haut hatten die medizinischen Einrichtungen des Planeten bis zum Zusammenbruch überlastet. Siebenhundert von ihnen waren in die Kliniken der Universität eingeliefert worden, wo es nur Betten für dreihundert gegeben hatte. Alkad hatte mit eigenen Augen das Chaos und den Schmerz erlebt, und sie hatte die gurgelnden Schreie gehört, die niemals endeten.

Jetzt also war die Zeit der Vergeltung gekommen. Weil, wie jeder wusste, das nächste Stadium ein planetares Bombardement sein würde. Überrascht hatte Dr. Alkad Mzu bemerkt, wie ihr nationaler Patriotismus scheinbar mühelos die distanzierte akademische Reserviertheit ablöste, die ihr Leben bis zu jenem Tag bestimmt hatte. Ihre gesamte Welt wurde bedroht.

Die einzig glaubhafte Verteidigung bestand darin, Omuta zuerst zu treffen, und zwar richtig. Alkads kostbare hypothetische Gleichungen waren von der Navy aufgenommen worden, die sich hastig darangemacht hatte, aus ihrer Theorie funktionierende Hardware zu bauen.

»Ich wünschte, ich könnte etwas tun, damit du nicht mehr so viel Schuld empfindest«, hatte Peter zu ihr gesagt. Das war an dem Tag gewesen, als sie den Planeten verlassen hatten, als sie beide auf einem Raumhafen der Navy gesessen und darauf gewartet hatten, dass ihr Shuttle startbereit gemacht wurde.

»Würdest du dich vielleicht nicht schuldig fühlen?«, hatte sie ärgerlich entgegnet. Sie hatte nicht reden wollen, aber darauf konnte sie auch nicht schweigen.

»Sicher. Aber nicht so sehr wie du. Du nimmst die Schuld für den gesamten Konflikt auf dich. Du solltest das nicht tun. Wir beide, wir alle, jeder einzelne Mensch auf diesem Planeten, wir werden vom Schicksal getrieben.«

»Wie viele Despoten und Kriegsherren haben im Verlauf der Jahrhunderte genau diese Worte benutzt?«, hatte sie widersprochen.

Sein Gesicht hatte einen zugleich traurigen und mitfühlenden Ausdruck angenommen.

Alkad war weich geworden und hatte seine Hand genommen. »Trotzdem, ich bin dir dankbar, dass du mitgekommen bist. Ich glaube nicht, dass ich es ganz allein bei den Militärs aushalten könnte.«

»Das geht schon in Ordnung, weißt du«, hatte er entgegnet. »Die Regierung wird sicherlich keine Einzelheiten veröffentlichen. Und ganz bestimmt nicht den Namen des Erfinders.«

»Du glaubst, ich könnte hinterher wieder zu meiner Arbeit zurück?«, hatte sie mit viel zu viel Bitterkeit in der Stimme gefragt. »Als wäre überhaupt nichts gewesen?« Sie wusste, dass es bestimmt nicht so kommen würde. Sicherheits- und Abwehrdienste von mindestens der Hälfte aller konföderierten Regierungen würden herausfinden, wer Alkad Mzu war – falls sie es nicht schon längst wussten. Ihr Schicksal würde nicht von irgendeinem Minister des politisch unbedeutenden Garissa entschieden werden.

»Vielleicht wird es nicht ganz so wie früher sein«, hatte er geantwortet. »Aber die Universität wird es noch immer geben. Die Studenten. Das ist es doch, wofür du und ich leben, oder nicht? Das ist der wahre Grund, aus dem wir hier sind. Um das alles zu schützen.«

»Ja«, hatte sie erwidert, als würde dieses eine Wort reichen, um einen Fakt daraus zu machen. Sie hatte aus dem Fenster gesehen. Die Basis lag in der Nähe des Äquators, und die Sonne schien so grell, dass der Himmel ein einziges konturloses Weiß war. »Zu Hause ist jetzt Oktober. Der gesamte Campus ist knöcheltief von Federsamen übersät. Ich habe das Zeug immer als ein verdammtes Ärgernis betrachtet. Wer ist bloß auf die Idee gekommen, eine afrikanisch-ethnologische Kolonie auf einer Welt zu gründen, die zu drei Vierteln aus gemäßigten Klimazonen besteht?«

»Also das ist ein überkommener Mythos, dass wir nur in tropischen Höllenlöchern leben können. Unsere Gesellschaft ist es, die zählt. Wie dem auch sei, ich mag den Winter. Und du würdest verrückt werden, wenn es überall auf der Welt das ganze Jahr über so heiß wäre wie hier.«

»Du hast recht.« Sie lachte gezwungen.

Er seufzte und studierte ihr Gesicht. »Wir haben es auf ihren Stern abgesehen, Alkad, nicht auf Omuta selbst. Sie haben eine Chance. Sie haben sogar eine ziemlich gute Chance.«

»Auf Omuta leben siebenundfünfzig Millionen Menschen. Ohne jedes Licht, ohne Wärme.«

»Die Konföderation wird ihnen helfen. Zur Hölle, als die Große Expansion ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurden jede Woche mehr als zehn Millionen Menschen von der Erde deportiert!«

»Die alten Transportschiffe sind längst verschrottet worden.«

»Trotzdem deportiert die irdische GovCentral noch immer jede Woche gut eine Million Menschen. Die Konföderierte Navy besitzt Tausende von militärischen Transportern. Sie können es schaffen.«

Alkad nickte schwach. Sie wusste, dass es hoffnungslos war. Die Konföderation war nicht einmal imstande, zwei unbedeutende Regierungen zu einer Übereinstimmung und einem Friedensvertrag zu bringen, auch wenn die beiden Völker es wollten. Wie gering standen dann erst die Chancen, dass die Generalversammlung in der Lage war, die nur widerwillig freigegebenen Ressourcen von mehr als achthundertsechzig verschiedenen bewohnten Sternensystemen koordiniert zu verteilen?

Das Sonnenlicht, das durch die Bullaugen der Messe hereinströmte, wurde zu einem schwachen, rötlichen Schimmer und verblasste. Alkad fragte sich benommen, ob der Alchimist bereits mit seiner Arbeit angefangen hatte. Doch dann stabilisierten die Stimulationsprogramme ihre Gedanken, und sie erkannte, dass sie sich im freien Fall befand und ihre Kabine nur von einem schwachen, rötlichen Notlicht erhellt wurde. Ringsum schwebten Menschen durch die Luft. Die Besatzung der Beezling, die sich leise und mit besorgten Stimmen unterhielt.

Etwas Warmes, Feuchtes streifte an ihrer Wange vorbei. Klebrig. Instinktiv riss sie die Hand hoch. Ein ganzer Schwarm dunkler Motten schwebte durch ihr Gesichtsfeld. Sie glitzerten schwach im Licht. Blut!

»Peter?« Sie glaubte seinen Namen zu schreien, doch ihre Stimme war sehr schwach. »Peter!«

»Ruhig, ganz ruhig.« Das war ein Besatzungsmitglied. Menzul? Er hielt ihre Arme, um zu verhindern, dass sie in dem beengten Raum gegen Decke, Boden oder Wände prallte.

Schließlich sah sie Peter. Zwei weitere Besatzungsmitglieder schwebten über ihm. Sein gesamtes Gesicht war in einen medizinischen Nano-Verband gehüllt, der aussah wie dickes grünes Polyethylen.

»Ach du liebe Mutter Maria!«

»Er wird wieder«, sagte Menzul hastig. »Er kommt durch. Es ist nichts, womit die Nanos nicht fertig werden könnten.«

»Was ist passiert?«

»Wir wurden von einem Geschwader Blackhawks angegriffen. Eine Antimaterieexplosion hat die Hülle durchschlagen. Wir wurden ziemlich durchgeschüttelt.«

»Was ist mit dem Alchimisten?«

Menzul zuckte die Schultern. »Er ist noch heil. Als ob das jetzt noch eine Rolle spielen würde.«

»Warum?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort nicht hören wollte.

»Die Explosion hat dreißig Prozent unserer Sprungknoten zerstört. Die Beezling ist ein Militärschiff. Wir können springen, solange nicht mehr als zehn Prozent der Knoten außer Betrieb sind. Aber dreißig … Sieht ganz so aus, als säßen wir hier draußen fest, sieben Lichtjahre vom nächsten bewohnten Sonnensystem entfernt.«

In diesem Augenblick befanden sie sich genau sechsunddreißigeinhalb Lichtjahre von ihrer G3-Sonne und dem heimatlichen Planeten Garissa entfernt. Hätten sie die verbliebenen optischen Sensoren der Beezling auf den schwachen Lichtpunkt weit hinter sich gerichtet, und hätten diese Sensoren genügend Auflösungsvermögen besessen, dann hätten sie in sechsunddreißig Jahren, sechs Monaten und zwei Tagen einen kurzen Anstieg der scheinbaren Helligkeit feststellen können, als die Söldnerschiffe von Omuta fünfzehn Antimaterie-Planetenbomben über ihrer Heimatwelt abluden. Jede einzelne der Bomben besaß eine Sprengkraft im Megatonnenbereich, vergleichbar dem Asteroideneinschlag, der zum Aussterben der Dinosaurier auf der Erde geführt hatte. Garissas Atmosphäre war für alle Zeiten zerstört. Superstürme tobten über die Planetenoberfläche und würden noch in Jahrtausenden wüten. Die Stürme allein waren nicht tödlich. Auf der Erde hatten die abgeschirmten Arkologien die Menschen mehr als fünf Jahrhunderte vor dem durch Überhitzung außer Kontrolle geratenen Klima beschützt. Doch im Gegensatz zu einem Asteroideneinschlag, wo die Energie allein auf kinetischem Weg durch Hitze freigesetzt wird, hatte jede einzelne der Planetenbomben so viel Strahlung freigesetzt wie eine kleinere Sonneneruption.

Innerhalb acht Stunden hatten die rasenden Stürme den radioaktiven Niederschlag über den gesamten Planeten verteilt und ihn vollkommen unbewohnbar gemacht. Bis zur totalen Sterilisation dauerte es zwei weitere Monate.

2. Kapitel

Die Heimatwelt der Ly-Cilph befand sich in einer Galaxis, die weit entfernt lag von derjenigen, in der eines Tages die menschliche Konföderation beheimatet sein würde. Genau genommen war es keine richtige Welt, sondern ein Mond, einer von neunundzwanzig Monden im Orbit um einen Super-Gasriesen, eine bemerkenswerte Kugel von zweihunderttausend Kilometern Durchmesser: ein verhinderter brauner Zwergstern.

Nachdem das Wachstum des Gasriesen abgeschlossen war, hatte es an genügend Masse gemangelt, um die Fusion in Gang zu bringen. Nichtsdestotrotz hatte die unerbittliche gravitationale Kontraktion einen massiven thermischen Ausstoß erzeugt.

Die vorgebliche Nachtseite strahlte nahe dem roten Ende des sichtbaren Spektrums und produzierte ein schwaches Glutlicht, das in kontinentgroßen Flecken fluktuierte, während die dichten, turbulenten Wolken in niemals endenden Zyklonen wüteten. Auf der Tagseite, wo die limonengrünen Strahlen des K4-Primärsterns auftrafen, zeigten sich die Sturmbänder in einem weichen, lachsfarbenen Pink.

Der Gasriese besaß fünf größere Monde, mit der Heimatwelt der Ly-Cilph als Viertem von den obersten Wolkenschichten aus und zugleich dem Einzigen mit einer eigenen Atmosphäre. Die verbleibenden vierundzwanzig Satelliten waren ausnahmslos öde, luftleere Felsen: eingefangene Asteroiden, Müll, der bei der Entstehung des Sonnensystems übrig geblieben war, keiner von ihnen mit mehr als siebenhundert Kilometern im Durchmesser. Sie reichten von einem verbrannten Steinball, der in gerade tausend Kilometern Höhe über den Wolken kreiste und dessen Metallerze verdampft waren wie die flüchtigen Bestandteile eines Kometen bis hin zu einem eisüberzogenen Planetoiden in einem umgekehrten Orbit in fünfeinhalb Millionen Kilometern Entfernung.

Der Raum in der näheren Umgebung war in höchstem Maße gefährlich. Eine weitläufige Magnetosphäre beengte und kanalisierte die ungeheuerlichen Ströme geladener Partikel, die der Gasriese ausstieß, und erzeugte auf diese Weise einen tödlichen Strahlungsgürtel. Die drei großen Monde, die in einem engeren Orbit als die Heimatwelt der Ly-Cilph um den Gasriesen kreisten, befanden sich ausnahmslos innerhalb dieses Strahlungsgürtels, und sie waren vollkommen steril. Der Innerste der drei war durch einen gewaltigen Fluxkanal an die Ionosphäre gefesselt, durch den immense Ströme flossen. Der Mond zog außerdem einen Plasmawulst in seiner orbitalen Bahn hinter sich her, einen extrem dichten Partikelring, der allseitig von der Magnetosphäre umschlossen war.

Augenblicklicher Tod für jegliche Form von lebendem Gewebe.

Die von Gravitationswellen festgehaltene Welt der LyCilph bewegte sich siebzigtausend Kilometer oberhalb der dünnen äußeren Ausläufer der Magnetosphäre, außerhalb der Reichweite der schlimmsten Strahlung. Gelegentliche Schwankungen innerhalb der Fluxlinien bombardierten die obersten Atmosphärenschichten mit Protonen und Elektronen und sandten gewaltige, lautlose Böen aus sonnenhellen zuckenden und zitternden Borealislichtern über den rostig roten Himmel.

Die Atmosphäre bestand aus einem Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch, zusammen mit verschiedenen schwefelhaltigen Komponenten und einer ungewöhnlich hohen Konzentration an Wasserdampf. Dunst, Nebel und hohe Wolkenschichten waren die Norm. Die Nähe zu dem infraroten Leuchten des Gasriesen erzeugte ein ewig währendes tropisches Klima, bei dem die feuchte, warme Luft der nahen Seite ständig in Bewegung war und zur planetenfernen Seite davonschoss, wo sie wieder abkühlen und ihre thermische Ladung in den Raum abgeben konnte, um gleich darauf vermittels Stürmen, die beide Polkappen einhüllten, zur Nahen Seite zurückzukehren. Das Wetter war eine trostlose Konstante. Ständig stürmte, ständig regnete es, und die Stärke der Regengüsse und Sturmböen wurde einzig und allein von der jeweiligen orbitalen Position bestimmt. Die Nacht kam stets abrupt und an einem Ort. Auf der Fernen Seite, wenn Gasriese und Planet in einer untergeordneten Konjunktion waren, und auf der Nahen Seite, wenn die höllische rote Wolkendecke das kleine Zeitfenster auf die Sonne verbarg.

Es war ein Zyklus, der nur alle neun Jahre einmal durchbrochen wurde, wenn eine neue Kraft auf die ewige Gleichung einwirkte. Immer dann, wenn alle vier Monde in Konjunktion standen, brachen Chaos und Verwüstung über die Heimatwelt der Ly-Cilph herein, und Stürme von biblischer Gewalt tobten über die Oberfläche.

Wärme und Licht hatten Leben auf dieser Welt entstehen lassen, wie es auf zahllosen anderen Welten im gesamten Universum ebenfalls geschehen war. Es hatte keine Seen und keine Meere gegeben, als die ersten nomadisierenden interstellaren Samen auf den unberührten Planeten gefallen waren und sich in der schlammigen Schicht aus Chemikalien festgesetzt hatten, die sich im morastigen Wasser fand. Gezeitenkräfte hatten eine glatte Oberfläche geschaffen und die Berge eingeebnet, die in grauen Zeiten entstanden waren. Flüsse, Seen und Flutebenen bedeckten das Land. Sie dampften vor Feuchtigkeit und wurden ununterbrochen beregnet. Damals gab es noch keinen freien Sauerstoff in der Atmosphäre, sondern nur an Kohlenstoff gebundenen. Ein massives Stratum weißer Wolken sorgte dafür, dass die infrarote Strahlung nur schwer wieder entkommen konnte, selbst mitten auf der Fernen Seite. Die Temperaturen waren unerträglich hoch.