Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Über Sonderlinge, Rebellen und Wahnsinnige im kaiserlichen Hause
ISBN 978-3-492-96484-5
März 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2005
© Verlag Carl Ueberreuter, Wien 2000
Covergestaltung: semper smile, München
Coveragabbildung: akg-images/Cameraphoto
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
»Was diese Erzherzoge und Erzherzoginnen treiben, ist geradezu unerhört! Sie wollen auf jeden Fall der Öffentlichkeit beweisen, dass die Dynastie dekadent, degeneriert ist. Sie brauchen sich nicht so anstrengen, wir wissen alle schon längst, dass mit den Habsburgern nicht mehr viel anzufangen ist!«
»Wer sich aber wundern sollte, dass nach so vielen Geschichtsschreibern auch mir die Abfassung einer solchen Schrift in den Sinn kommen konnte, der lese zuvor alle Schriften jener anderen durch, mache sich darauf an die meinige und dann erst wundere er sich.«
Während des »langen 19. Jahrhunderts«[2] brachte die Dynastie der Habsburger eine ungewöhnlich große Anzahl von Familienmitgliedern hervor, deren Verhalten im In- und Ausland für beträchtliches Aufsehen sorgte. Der britische Staatsmann Winston Churchill, Enkel des 7. Herzogs von Malborough, mokierte sich einmal lautstark über die »idiotischen habsburgischen Erzherzoge«, womit er allerdings einer durchaus gängigen Einschätzung Ausdruck verlieh. Kaisertreue und monarchische Gesinnung konnten auch in Österreich nicht verhindern, dass die eingangs zitierte Einschätzung des Ministerpräsidenten Ernest von Koerber, wonach mit den »degenerierten« Habsburgern »nicht mehr viel anzufangen« sei, von vielen geteilt wurde. Die Tatsachen sprachen einfach für sich bzw. gegen einige Mitglieder dieser uralten Adelsfamilie, die Österreich seit Jahrhunderten – »aus der Tiefe der Zeiten her«[3] – regierte. Ein persönlicher Berater von Kaiser Franz Joseph schrieb in seinen unter dem Schutze der Anonymität publizierten Erinnerungen: »Es unterliegt keinem Zweifel, die Habsburger waren ein zu altes Geschlecht und es erging ihnen wie dem Weine, der, wenn er zu lange liegt und nicht sorgfältige, auffrischende Pflege findet, einfach Essig wird.«[4]
Aus dynastischen Erwägungen und primitivem Standesdünkel wurden von der Familie Habsburg seit Jahrhunderten wahre Orgien der Inzucht gefeiert, deren Ergebnisse sich in Schwachsinn, physischen Gebrechen, Charakterschwächen, intellektueller Impotenz und allerlei Geisteskrankheiten manifestierten. Bei manchen Prinzen und Prinzessinnen bewirkte diese fahrlässige Schwächung der Erbmasse lediglich einen vergleichsweise harmlosen Hang zur Extravaganz, bei anderen fielen die Folgen wesentlich dramatischer aus. Die mehrere Generationen fortdauernden Verwandtenehen zwischen der österreichischen und der spanischen Linie des Hauses schwächten die Dynastie nachhaltig und führten dazu, dass den Habsburgern ab dem 16. Jahrhundert schlicht und einfach die Ahnen abhanden kamen. Wer aber nun der Meinung anhängt, wonach die Jahrhunderte unter Umständen auch ein Fürstengeschlecht wie die Habsburger klüger machen könnten, unterliegt einem folgenschweren Irrtum. Ein aus dem Jahre 1839 stammendes »Familienstatut«, das wohlweislich vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde, normierte, dass kein Familienmitglied ohne die Erlaubnis des Kaisers heiraten durfte. Dabei war die Auswahl ohnehin beschränkt, da sich ein Habsburger nur »standesgemäß« verehelichen durfte, womit ausschließlich Mitglieder jener Familien infrage kamen, die bis zurück zu den Urgroßeltern aus einem regierenden Haus entstammen mussten. Die Konsequenz dieser lächerlichen und aberwitzigen Selektion, dieser gemeingefährlichen Inzuchtgarantie, war, dass auch und insbesondere im 19. Jahrhundert zahlreiche Habsburger geistig und physisch schwerst beeinträchtigt waren. Der geistesschwache und zudem an Epilepsie erkrankte Kaiser Ferdinand I. – nach den Worten seiner Schwägerin Sophie »ein Trottel als Repräsentant der Krone«, nach jenen des Briten Lord Palmerston »eine vollkommene Null, beinahe ein Idiot« – gilt als eines der traurigsten Beispiele.
Die katholische Kirche verbot zwar die Eheschließung unter Blutsverwandten, doch wenn es sich um eine fürstliche Verbindung handelte, wurde die Ausnahme zur Regel erhoben und automatisch die Dispens erteilt. Es ist kein einziger Fall bekannt, dass die Kirche ihre Zustimmung zu einer solchen Heirat verweigert hätte. Vor allem zwischen den erzkatholischen Familien der Habsburger und der Wittelsbacher war es immer wieder zu politisch motivierten Ehen gekommen. Der bayerische König Maximilian Joseph verheiratete seine Tochter Karoline Auguste an den österreichischen Kaiser Franz I., dessen äußerst beschränkter Sohn Erzherzog Franz Karl, Kaiser Ferdinands Bruder, die bayerische Prinzessin Sophie ehelichte, eine Stiefschwester von Karoline Auguste, die nun auch die Schwiegermutter der jungen Braut wurde.
Der älteste Sohn dieses wahrlich nicht viel versprechenden Paares bestieg im Jahre 1848 als Franz Joseph I. den Thron. 1854 heiratete er seine Cousine Elisabeth, genannt Sisi, die zweitälteste Tochter seiner Tante Ludovika. Die Gräfin Larisch-Wallersee, eine »unstandesgemäße« Tochter von Sisis Bruder Ludwig und der Schauspielerin Henriette Mendel, die nach dem Tod des psychisch und physisch schwer angeschlagenen Kronprinzen Rudolf am Wiener Hof in Ungnade gefallen war, schrieb über diese beiden Dynastien: »Die Mitglieder des königlichen und herzoglichen Hauses Wittelsbach sind, alles in allem genommen, sicherlich interessanter und geistvoller als die Habsburger. Wohl arten auch die Sonderlichkeiten der Bayern bisweilen in Wahnsinn aus, doch ist der Unterschied zwischen den beiden Familien der, dass bei den Habsburgern der Irrsinn sich meistens in Unmoral, Selbsterniedrigung und gemeinen Ehen äußert, während er den Wittelsbacher in einen romantischen Dulder verwandelt, der in Welten hoch über allen Banalitäten des Lebens schwebt. Durch die königliche Familie haben sich immer Spuren von Wahnsinn gezogen, Sonderlinge hat es immer in der herzoglichen Linie gegeben. Aber keiner von uns hat jemals die grausigen Schandtaten der Habsburger verübt.«[5]
Die erstmals 1913 erschienenen Memoiren der Gräfin Larisch, deren 23-jähriger Sohn Hans Georg sich im Jahre 1909 erschoss, nachdem er in einem Buch über die Rolle seiner Mutter im Mayerling-Drama erfahren hatte, sind, wenn es sich um historische Details handelt, mit Vorsicht zu genießen, Enttäuschung und Antipathie schimmern wie ein Wasserzeichen durch ihre Erinnerungen. Wenn sich die Gräfin in der zitierten Passage über die »grausigen Schandtaten der Habsburger« ereifert, drängt sich ein Satz des Teiresias aus Hölderlins Nachdichtung der »Antigone« auf, der lautet: »Welche Kraft ist das, zu töten Tote?«
Das vorliegende Buch ist gewiss kein Beitrag zur Entmumifizierung einiger Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen, kein Rückfall in den »Habsburger-Kannibalismus« vergangener Jahrzehnte, die Feder wurde nicht in Jauche getaucht, in Weihrauch freilich schon gar nicht. Der byzantinische Stil mancher Autoren ist ebenso abzulehnen wie jener der pauschalen Aburteilung. Arthur Schopenhauer sagte einmal, dass der »natürliche Stil der Geschichtsschreibung der ironische« sei. Es ist somit die Ironie, die auf den nächsten Seiten Regie führt, nicht die Polemik. Das Buch steht unter dem Motto der Entsakralisierung und Entmythifizierung, der Enttabuisierung und Entzauberung, der Relativierung und Zurechtrückung. Ich schreibe über aristokratische Arroganz, über Anmaßungen und Zumutungen, über Standesdünkel, fanatisches Gottesgnadentum und die Obsession der Auserwähltheit, über den Wahnsinn dynastischer Inzucht und den Wahnsinn als deren katastrophale Folge, ich schreibe über kleine Schwächen und große Laster, über erzwungene Ehen und außereheliche Affären, über Bigotterie und unerträgliche Doppelmoral.
Ab und dann, wenn auch nur selten, umlichterte gleich einem bengalischen Flammenstreifen sogar ein Anflug von geistiger Größe die Familiengeschichte der Habsburger, was in der franziskojosephinischen Ära jedoch als eine Art genealogischer Betriebsunfall bewertet wurde. Von den unkonventionellen Denkern, den Reformern und Rebellen wollte der Kaiser nichts wissen. Über permanenten Ehebruch und Ausschweifungen aller Art sah er hingegen großzügig hinweg, solange das durchlauchtigste Treiben im Verborgenen stattfand und die Öffentlichkeit keinen Wind davon bekam. Wenn ein Erzherzog allerdings aufbegehrte oder sich gar anschickte, sich den Wünschen der Majestät zu widersetzen, reagierte Franz Joseph mit stählerner Faust. Gegenüber den Mitgliedern seines »Hauses«, um 1864 zählte man 66 Erzherzoge und Erzherzoginnen, war er geradezu unerbittlich. Das vom Fürsten Metternich erdachte »Familienstatut« eröffnete dem Kaiser als Familienoberhaupt umfangreiche »hausrechtliche« Möglichkeiten. Diese grotesken »Hausgesetze«, die ursprünglich die Position des schwachen Kaisers Ferdinand stärken sollten, sicherten ihm volle Souveränität und Gerichtsbarkeit über jeden Habsburger zu. Verfehlungen der hohen Herren wurden demnach nicht von einem staatlichen Gericht, sondern vom Kaiser bzw. dem Obersthofmarschallamt sanktioniert. Zudem stand ihm das »Recht einer besonderen Aufsicht« zu, welches sich »insbesondere auf Vormundschaften, Kurateln und Verehelichungen, überhaupt aber auf alle Handlungen und Verhältnisse der Familienmitglieder« bezog, die »auf Ehre, Würde, Ruhe, Ordnung und Wohlfahrt des durchlauchtigsten Erzhauses einen Einfluss haben können«. Dem Monarch kam ferner das Recht zu, über die Erziehung der Prinzen und Prinzessinnen sowie deren Umgebung zu bestimmen, außerdem durfte kein Habsburger ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Familienoberhauptes ins Ausland reisen. Diese quasidiktatorischen Vollmachten äußerten sich für die Mitglieder des so genannten »Erzhauses« in einer beinahe alle Lebensbereiche umfassenden Totalität.
Im Oktober 1889, nur wenige Monate nach dem mysteriösen Tod des Kronprinzen Rudolf, setzte Erzherzog Johann Salvator (Johann Orth) einen in der Geschichte der Habsburger einmaligen Akt. Er schrieb dem Kaiser einen Brief, in dem er darum bat, aus dem Erzhaus ausscheiden zu dürfen. Franz Joseph reagierte prompt, er warf den toskanischen Verwandten aus dem Familienverband. Noch dramatischer ging der Austritt von Johanns Neffen, Erzherzog Leopold Ferdinand Salvator (Leopold Wölfling), der später u. a. als Würstelverkäufer arbeitete, vonstatten. Als der junge Habsburger dem Kaiser eröffnete, dass er eine ehemalige Prostituierte zu heiraten gedenke, ließ dieser den Prinzen in eine geschlossene Anstalt sperren. Leopold folgte 1902 dem Beispiel seines Onkels, er trat aus dem Kaiserhaus aus, worauf er vom gestrengen Familienoberhaupt »aus der Liste der Lebenden« gestrichen wurde. 1911 wiederholte sich das Szenario. Mit Erzherzog Ferdinand Karl, einem Neffen Franz Josephs, trat innerhalb weniger Jahrzehnte bereits der dritte Habsburger aus dem Kaiserhaus aus, ein Vorgang, der immer auch als Hinauswurf interpretiert werden muss. Nachdem ihm der kaiserliche Oheim die Heirat mit der Bürgerlichen Bertha Czuber mehrmals verboten hatte, zog sich der Erzherzog als Ferdinand Burg ins Privatleben zurück. Alle drei Herren wurden zudem des Landes verwiesen, Herr Burg durfte nur noch ein einziges Mal in seine Heimat zurückkehren. 1914 gestattete ihm der greise Monarch, an der Beerdigung des ermordeten Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand, Ferdinand Karls ältestem Bruder, teilzunehmen. 14 Jahre zuvor hatte Ferdinand Karl noch persönlich beim Kaiser gegen die unstandesgemäße Ehe des Bruders mit der Gräfin Sophie Chotek, die immerhin aus böhmischem Uradel stammte, protestiert, da er eine solche Verbindung aus dynastischen Erwägungen für inakzeptabel hielt. Zwar bekam Franz Ferdinand, dessen Standesdünkel im Normalfall ebenso entwickelt war wie jener des Kaisers, zuletzt doch die Erlaubnis zu dieser »morganatischen Verbindung«, aber seine Gattin wurde seitens des Hofes bei jeder Gelegenheit gedemütigt, die gemeinsamen Kinder wurden noch vor deren Geburt von allen Vorrechten ausgeschlossen.
Ein habsburgischer Thronfolger durfte beschränkt sein, ein Schwachkopf gar, unzurechnungsfähig, selbst ein Wüstling vom Format des Erzherzogs Otto wäre in Frage gekommen. Otto, ebenfalls ein Bruder von Franz Ferdinand, hatte wie Ferdinand Karl gegen die Hochzeit des Thronfolgers opponiert, obwohl doch gerade dieser Prinz, der bis heute als Personifizierung dynastischer Degeneration gilt, Verständnis hätte haben müssen. Ottos Exzesse sind legendär, selbst die ausländische Presse beschäftigte sich mehr als einmal mit dem Lebensstil dieses Habsburgers, den schließlich die Syphilis hinwegraffen sollte. Härte zeigte der Kaiser auch gegenüber seinem homosexuellen bzw. bisexuellen Bruder Ludwig Viktor, genannt »Luzivuzi« oder »Bubi«, einem Liebhaber von Frauenkleidern, der nach einem einschlägigen Zwischenfall in einer öffentlichen Badeanstalt, wo sich »Luzivuzi« an einen jungen Burschen herangemacht hatte, der sich beim jüngsten Bruder des Kaisers daraufhin mit einer schallenden Ohrfeige zu bedanken wusste, auf Schloss Kleßheim bei Salzburg interniert wurde. Dort starb der Geisteskranke im Jahre 1919.
Schwachsinn, Geisteskrankheit, Primitivität, Rebellion, Außenseitertum u. a. m. werfen lange Schatten auf den Glanz und die Würde des »Hauses Österreich«, denn Grenzüberschreitungen aller Art passen nicht so recht in die üblichen Schablonen. Doch warum soll eine Familie, nur weil sie den geschichtsmächtigen Namen Habsburg trägt, von Abweichungen von der Norm oder auch Absonderlichkeiten verschiedenster Spielarten ausgenommen sein? Und vor allem: Warum sollte man verschweigen, dass gerade in der Familie Habsburg derartige Absonderlichkeiten besonders oft auftraten? Nur deshalb, weil diese in der gängigen Geschichtsschreibung für gewöhnlich marginalisiert wurden? Dafür besteht nun wirklich kein Anlass.
Außerdem soll nicht verschwiegen werden, dass die von zumeist reaktionären Privatlehrern überwachte Ausbildung der Erzherzoge, die vor allem streng und schikanös war, sehr zu wünschen übrig ließ und auch in diesem Umstand eine Art Teilschuld an der Unfähigkeit der kaiserlichen Hoheiten wurzelte. Baron Albert Margutti erklärte dazu einmal: »Man verstand es in der kaiserlichen Familie bedauerlicherweise nicht, die Prinzen einen Lehrgang durchmachen zu lassen, sondern begnügte sich damit, ihnen einige ad usum Delphini hergerichtete allgemeine Kenntnisse beizubringen, welche sie dann, schlecht und recht, halbwegs befähigten, die militärische Laufbahn einzuschlagen, die man für die allein selig machende hielt …«[6]
Auf den folgenden Seiten soll nicht dem Dichterwort gefrönt werden, wonach »das Strahlende zu schwärzen« und »das Erhabene in den Staub zu ziehen« wäre, sondern vielmehr der Überzeugung, dass die sich über selektiv bearbeitete Biografien verschiedener Habsburger und Habsburgerinnen definierende Vergegenwärtigung der so genannten »guten alten Zeit« wesentlich dazu beitragen kann, eine Art intellektuelle Immunisierung gegenüber verklärten Geschichtsbildern und Retrospektiven, restaurativen Ansprüchen, anachronistischen Rechtfertigungen und neu entdeckten »Verpflichtungen« herbeizuführen. »Wenn man in die Geschichte zurückblickt«, erklärte z. B. noch in den 1990-er Jahren Karl Habsburg-Lothringen, der von einem überreich gefüllten Fettnäpfchen ins andere zu treten geruhende Ideenlieferant des über den zukünftigen »Chef des Hauses« Spott und Hohn ausgießenden Feuilletons, »sieht man, dass so ein großer ›Clan‹ auch immer Verpflichtungen und Rechte in politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht hatte. … Dies hat sich bis heute nicht geändert – wenn man auch sagen muss, dass sich aufgrund der gegenwärtigen Umstände die Rechte drastisch eingeschränkt haben.«
Wohlgemerkt, Herr Karl Habsburg spricht hinsichtlich seiner »drastisch eingeschränkten Rechte« – nach acht Jahrzehnten Republik – von »gegenwärtigen Umständen«! Ein Teil der so genannten »Hocharistokratie« nimmt nach wie vor den Standpunkt ein, sie habe Vorbildcharakter, trage kraft Geburt und Tradition ein höheres Maß an Verantwortung für die Gemeinschaft als andere Zeitgenossen und wäre – sagen wir es geradeheraus – »etwas Besseres«, so als würden aus dem Abyssus der Zeit die Jahrhunderte geschichtsmächtig in ihrer Brust schlagen und mit jedem Takt an eben diese viel beschworene »Verantwortung« erinnern, welche gleich einer schicksalhaften Fügung in freilich an Konnotationen reiche Familiennamen eingebrannt zu sein scheint. Bewusst oder unbewusst steht das knarrende Tor ins Gestern einen Spalt weit offen und dahinter ist das leise, nur mühsam unterdrückte Scharren eines notdürftig verschleierten Geburtsgnadentums zu vernehmen. Ehrgeiz und Fähigkeiten fließen nur selten zusammen, hierin finden sich Vergangenheit und Gegenwart. Oftmals jedoch fehlte es in dieser an Denk- und Merkwürdigkeiten reichen Familie Habsburg-Lothringen an beidem, am Wollen und am Können.
»Was meine Ansicht betrifft, so wollte ich lieber, dass man meinen Sohn erwürge, als ihn jemals in Wien als österreichischen Prinzen erzogen zu sehen.«
Das Karussell europäischer Großmachtpolitik drehte sich seit jeher über die Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle jener Nachkommen der allerhöchsten Familien hinweg, die nicht selten als hochwohlgeborenes Menschenmaterial den stets noch höher angesiedelten dynastischen Interessen zum Opfer fielen. Die »Staatsräson«, eine euphemistische Floskel für die frivole Entfaltung diplomatischer Aktivitäten, genoss absoluten Vorrang. Wenn es um das »Wohl des Hauses« ging, mithin um die Absicherung von Macht und Einfluss bzw. deren Mehrung, um Geld und Territorium, gab es für die Prinzen und Prinzessinnen, die obendrein in der Regel noch blutjung waren, nur eine einzige Norm: unbedingten Gehorsam! Dies galt speziell für die Töchter der herrschenden Dynastien. Die Staatskanzleien glichen einem Verschubbahnhof machtpolitischen Kalküls, von dem aus die schon durch ihre Erziehung emotional meist völlig deformierten Mädchen als menschliche Ware an ihren Bestimmungsort verschickt wurden. Fürst Metternich erklärte einmal in diesem Sinne: »Wir heiraten, um Kinder zu haben, und nicht, um die Sehnsüchte des Herzens zu stillen.«
Eine dieser Töchter, die 1755 geborene Maria Antonia, wurde am 16. Mai 1770 per Prokuration (durch einen Stellvertreter) mit dem französischen Dauphin vermählt, der vier Jahre später als Ludwig XVI. den Thron besteigen sollte. Die Habsburgerin war damals erst 15 Jahre alt. Ihr Gatte war ein primitiver Phlegmatiker, nur mäßig gebildet und blind für die unsagbaren Leiden der dahindarbenden, rechtlosen Untertanen. Seine Leidenschaft galt der Saujagd, mit harten körperlichen Arbeiten trachtete er seine langjährige Impotenz zu kompensieren. Die romantischen Hoffnungen, die kein Geringerer als der alternde Philosophenfürst Voltaire in ihn gesetzt hatte, vermochte der dekadente Bourbone nicht einmal im Ansatz zu erfüllen. Verschwenderischer Luxus in der königlichen Traumwelt von Versailles hatte den Staat in den Bankrott geführt, Missernten führten zu furchtbaren Hungersnöten. Doch alle Reformideen wurden seitens des Hofes, der Aristokratie und der »Hohen Geistlichkeit« arrogant verworfen. Just diese erzreaktionäre Beharrlichkeit war der Humus, in welchem die von den ersten Denkern Europas gestreute Saat der Aufklärung gedeihen konnte. Doch der König und die Königin glichen einem Pfauenpärchen, das von alldem keine Notiz zu nehmen geneigt war. »Madame Déficit« wurde Maria Antonia alias Marie Antoinette, der »strahlende Mittelpunkt des vergnügungs- und verschwendungssüchtigen Hofes«[7], vom Volksmund bezeichnet; ihre Überheblichkeit war tatsächlich sprichwörtlich.
Nachdem sich der dritte Stand 1789 zur Nationalversammlung erklärt und mit der Ausarbeitung einer Verfassung begonnen hatte, war es »die Österreicherin«, die für die harte Gangart plädierte und anstatt Verhandlungen der kathartischen Kraft der Bajonette vertraute. Doch daraus wurde nichts. Am 14. Juli 1789 erfolgte der Sturm auf die Bastille, der an Symbolik reiche Sturm auf die alte Ordnung. Ganze sieben Gefangene galt es zu befreien. Als der Herzog von Liancourt zum König eilte, um ihn über die beunruhigenden Ereignisse zu unterrichten, rief der bestürzte Louis: »Aber mein Gott, das ist ja eine Revolte!« – »Nein, Sire«, entgegnete Liancourt kühl, »das ist die Revolution!« Etwa drei Monate später musste die königliche Familie nach Paris übersiedeln, dem »Druck von Galerie und Straße« nachgeben. Dies war die eigentliche Ouvertüre der Französischen Revolution.
In Österreich herrschte zu diesem Zeitpunkt noch der Reformkaiser Joseph II., der Bruder Marie Antoinettes. Im Februar 1790 folgte ihm sein durchaus konstitutionell gesinnter Bruder Leopold II. nach und dessen ältester Sohn – auch Leopold hatte 16 Kinder –, der 1768 geborene Franz, wurde aufgrund des Gesetzes der Primogenitur, worunter man den Vorzug des erstgeborenen Sohnes bei der Erbfolge versteht, sein Nachfolger. Am 5. Juli 1792 wurde der 24-Jährige als Franz II. zum römisch-deutschen Kaiser gewählt. Indessen überstürzten sich in Frankreich die Ereignisse, im September d. J. kam es zur Ausrufung der Republik. Auf Antrag des Bürgers Robespierre wurde Ludwig XVI., nunmehr nur noch der »Bürger Capet«, mit einer einzigen Stimme Überhang zum Tode verurteilt. Am 21. Jänner 1793 führte man den gestürzten König von Gottes Gnaden zur Guillotine. Wenige Monate später herrschte in Paris ein diktatorisches Regime, das die Prinzipien der Revolution, »Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit«, schmählich verraten hatte. Ein allgegenwärtiges Revolutionstribunal praktizierte Justizterror der übelsten Sorte und veranlasste bis Juli 1794 allein in Paris 1251 Vollstreckungsurteile durch die Guillotine. Eines der Opfer war die stolze Marie Antoinette, die am 16. Oktober zur Hinrichtung geführt wurde. Der Prozess gegen die Habsburgerin wurde von Beginn an unfair geführt, die Niedertracht ihrer Ankläger ging sogar so weit, dass ihr der Vorwurf gemacht wurde, sie hätte ihr Kind sexuell missbraucht. Marie Antoinette war bis zuletzt auf die Wahrung ihrer Würde bedacht, die »Witwe Capet« wollte »als Königin sterben«. Als sie auf dem Schafott ihrem Henker versehentlich auf den Fuß trat, soll sie gesagt haben: »Entschuldigen Sie mich, Herr, es geschah nicht absichtlich …«
Niemand konnte in dieser Stunde ahnen, dass nur 17 Jahre später wieder eine Prinzessin aus dem Hause Habsburg den Thron Frankreichs besteigen würde. Ihr Name war Marie Louise, Franz’ I./II. 1791 geborene Tochter. Und wie ihre Verwandte Marie Antoinette wurde sie Opfer der habsburgischen Heiratspolitik. Napoleon I. Bonaparte, seit 1804 Kaiser der Franzosen, hatte sein Interesse an der Erzherzogin bekundet, wobei er vor allem bei Metternich auf offene Ohren stieß. Der korsische Revolutionsgewinnler sehnte sich geradezu obsessiv nach einem männlichen Erben, nach einem Bewahrer der Dynastie, welche tausend Jahre herrschen sollte. (In Parenthese sei hier angemerkt, dass dieser Irrtum in der Geschichte öfter anzutreffen ist, vom christlichen Chiliasmus bis zum Schattenreich des Blutlandkartenmalers aus Braunau.) Napoleons erste Frau, Joséphine Beauharnais, konnte ihm diesen Wunsch nicht erfüllen, weshalb er sich 1810 offiziell scheiden ließ. Die neue Gattin des »Usurpators von Europa« musste nicht nur gesund und kräftig sein, sondern, um mit Napoleon zu sprechen, »von edelster Geburt«. Nur zwei Herrscherhäuser kamen deshalb für den wählerischen Kaiser in Frage: die Romanows und die Habsburger. Nachdem die russische Großfürstin Anna, eine Schwester des Zaren, die Avancen des Kaisers in deutlicher Form abgelehnt hatte, verblieb das uralte Geschlecht der Habsburger. Napoleon dachte nur an einen Nachfolger, die Vorzüge seiner Auserwählten waren ihm relativ gleichgültig, einen Thronfolger musste sie ihm gebären, das war alles. Über Marie Louise bemerkte Napoleon wenig feinfühlend: »Das ist gerade der Uterus, den ich zum Heiraten brauche!«
Die Kaisertochter vertraute ihrem geliebten Vater viel zu sehr, als dass ihr in den Sinn gekommen wäre, dass dieser sie in eine ausschließlich politisch motivierte Ehe drängen würde. »Und Papa ist viel zu gut«, schrieb sie, »um mich in einer so wichtigen Angelegenheit zu etwas zu zwingen.«[8] Doch der »gute Kaiser Franz« kümmerte sich keinen Deut um das Wohlergehen seiner Tocher, ihr Glück bedeutete ihm nichts. Als alles schon entschieden war, zeigte sich der Kaiser sogar noch zu feige, um Marie Louise über die bereits beschlossene Heirat in Kenntnis zu setzen. Die Schuld schob er schließlich auf Metternich, dieser, so erklärte er seinem völlig aufgelösten und weinenden Kind, habe sie aus eigenen Stücken dem Korsen versprochen und er, der Kaiser, könne jetzt nichts mehr daran ändern. Die Hochzeit erfolgte per procurationem am 10. März 1810 in Wien. Drei Tage später trat Marie Louise mit 85 Kutschen die Reise nach Frankreich an. Während sich die verschacherte Kaisertochter wie »ein dem Minotaurus geweihtes Opfer«[9] fühlte und Maria Karolina von Neapel erklärte, des »Teufels Großmutter« zu werden, hielt Napoleon am Tage von Marie Louisens Ankunft in Paris fest: »Wir sind nun eine Familie, Kaiser Franz wird dereinst der Beschützer meiner Kinder sein.«[10] Napoleon konnte damals nicht wissen, wie Recht er mit dieser Bemerkung haben sollte.
Am 1. April fand die Ziviltrauung statt, einen Tag später die kirchliche Trauung im Louvre. Zahlreiche Kardinäle sabotierten die feierliche Zeremonie, da sie des Kaisers zweite Ehe als ungültig betrachteten. Als die hohen geistlichen Herren nach der Hochzeit doch noch geschlossen am offiziellen Empfang teilnahmen, ließ Napoleon sie hinauskomplimentieren und rief in höchster Erregung, dass er von »diesen aufgeblähten Pfaffen« nichts mehr wissen wolle. Die Habsburgerin wurde in Paris zwiespältig aufgenommen. Napoleon tat alles, um ihr zu gefallen, und umschwärmte seine junge Frau. Einige Damen höherer Kreise hingegen kritisierten ihren »Kalmückenblick«, ihre zu breiten Schultern und Hüften, die auffällig üppigen Brüste. Die gestrenge Gattin eines französischen Generals meinte gar, dass ihr die Hässlichkeit Marie Louises »den Schlaf geraubt« habe.
Im Juli wurde die junge Kaiserin der Franzosen schwanger. Es wurde beschlossen, dass sie einen Sohn zu gebären habe. Der Korse hatte auch bereits einen protzigen Titel ersonnen: »König von Rom«. Am 19. März setzten die Wehen ein und prompt standen 22 ausgewählte Zeugen in einer diesem Anlass angemessenen Kleidung bereit. Als sich andeutete, dass sich die Geburt noch verzögern würde, richteten sich die Herrschaften auf eine längere Wartezeit ein, manche Würdenträger verschwanden für eine Weile im Bordell.
Um 9 Uhr 20 des nächsten Tages war es endlich so weit. Eine Geburtszange brachte Napoleons Sohn, der anfangs ganz blau im Gesicht war, zur Welt. Nachdem man den Neugeborenen mit etwas Branntwein stimuliert hatte, hob ihn der Kaiser triumphierend in die Höhe und rief: »Dies ist der König von Rom!« Im Rahmen einer Nottaufe erhielt der Knabe noch am selben Tag den Namen Napoleon Franz Carl Joseph. Unter den allgemeinen Jubel mischte sich auch Skepsis. Eine Dame in Wien soll in jenen Märztagen bemerkt haben: »Bah – der kleine König von Rom! In ein paar Jahren kommt er vielleicht hierher, um sich aus Mildtätigkeit aufpäppeln zu lassen!«[11]
So ähnlich kam es dann ja auch. Doch zunächst erfreute sich die französische Kaiserfamilie einer kurzen Phase geradezu bürgerlichen Glücks. Die Tochter des Kaisers Franz hatte für den »Usurpator Europas«, bei dessen Namensnennung sie sich vor noch nicht allzu langer Zeit bekreuzigt hatte, einige Zuneigung entwickelt. Sie nannte Napoleon »Popo« und küsste ihn leidenschaftlich vor dem versammelten Hofe. Politisch hingegen hatte sich Metternich gehörig verrechnet. Das eifrig zur Schau gestellte Familienglück der Bonapartes ließ sich für die österreichische Politik in keiner Weise nutzbar machen: »Das Haus Habsburg hatte seinen guten Namen und an Napoleon eine passable Bettgenossin verkauft, aber letztlich nichts dafür erhalten. Metternich, durch mehrere Aussprachen mit Napoleon ernüchtert, ahnte, dass der Friede Europas nicht von langer Dauer sein werde«, resümierte ein Autor trefflich.
Im Juni 1812 überschritt die riesige Streitmacht Napoleons den Fluss Njemen nordöstlich von Königsberg, der Russlandfeldzug der »Grande Armee« hatte begonnen. Etwa 700 000 Mann, die bisher größte Armee der Geschichte, setzte sich mit 28 Millionen Flaschen Wein und 2 Millionen Flaschen Schnaps im Gepäck in Bewegung. Zar Alexander I. »glaubte sich zum Kampf gegen den Antichristen durch Gott berufen«.[12] Mit derartigen Zuschreibungen wurde Napoleon zeit seines politischen Lebens reich bedacht, er galt als »Antichrist«, »Teufel«, »Werwolf«, »Verbrecher« u. a. m. Lange nach seiner Abdankung bemerkte sein kleiner Sohn gegenüber einem Erzieher, er wisse, dass in Frankreich einmal ein Kaiser geherrscht habe. »Wer war das?« Der Erzieher, er hieß Foresti, antwortete: »Das war Ihr Vater, der infolge seiner unglücklichen Neigung für den Krieg Krone und Reich verloren hat!« – »Ist mein Vater, der so viel Unheil angestellt hat, ein Verbrecher?«, wollte der aufgeweckte Knabe schließlich wissen. Foresti zog sich geschmeidig aus der Affäre und empfahl dem kleinen Prinzen, doch lieber zu beten.[13]
Mitte September zog die französische Armee in das von den Russen geräumte Moskau ein. Sofort ließ Napoleon an der Wand über einem pompösen Kamin ein Gemälde seines geliebten Sohnes anbringen. Bald schon fiel reichlich Schnee, der harte russische Winter brach herein. Außerdem brannte Moskau nach wie vor an ungezählten Stellen. Die Stadt musste geräumt werden und die »Grande Armee« verlor sich in der Weite des Riesenreiches. Sie wurde völlig aufgerieben. Von bigotten Zeitgenossen wurde daraufhin einmal mehr der »Herrgott« bemüht, der alleine den Antichristen in die Schranken zu weisen vermocht hatte: »Mit Mann und Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen«, hieß es. Napoleon verließ seine Truppen und kehrte in kürzester Zeit nach Paris zurück, wo ein General soeben den Staatsstreich versucht hatte. Zuvor waren Gerüchte in die Welt gesetzt worden, wonach der Korse gestorben sei. In beinahe schon infantiler Unbekümmertheit erklärte damals die Kaiserin, gerade so, als hätte sie nie etwas von Marie Antoinette gehört: »Was hätten sie mir schon antun können? Ich bin doch die Tochter des Kaisers von Österreich.«[14] Auch um ihren Sohn hatte sie sich nicht besorgt gezeigt. Für Bonaparte war dieses Kind bis zu seinem frühen Tod im Exil der Mittelpunkt seines Lebens, in ihm sollte und musste sein eigener Ruhm fortleben.
Die Niederlage in Russland erwies sich als Anfang vom Ende. Napoleons wiederholte Versuche, den Schwiegervater in Wien für seine Sache zu gewinnen, scheiterten. 1813 setzten die so genannten »Befreiungskriege« ein. Preußen erklärte im März Frankreich den Krieg. Zuvor hatte der Zar ein Bündnis mit den Preußen abgeschlossen, dem wenig später auch England beitrat. Der Verlauf dieser Waffengänge tut hier nichts zur Sache. Erst als sich die letzten Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung zerschlagen hatten, wollte Kaiser Franz in den Krieg eintreten. Von den Plänen des österreichischen Monarchen, der lange darauf warten musste, den korsischen Emporkömmling stürzen zu sehen, hatte Napoleon schon Monate zuvor Wind bekommen. Bereits zu diesem Zeitpunkt ließ er sich – bebend vor Zorn – über »Papa François« aus, »dieses Skelett, das vom Verdienst seiner Ahnen auf den Thron gesetzt wurde«.
Bei Dresden errang Napoleon noch einen wichtigen Sieg, aus der drei Tage währenden »Völkerschlacht« bei Leipzig im Oktober, die ungefähr 100 000 Gefallene forderte, ging er jedoch als Verlierer hervor. Wieder in Paris angekommen kümmerte er sich nun intensiv um seinen Sohn, der folgenden Spruch auswendig lernen musste: »Schlagen wir Papa François! Schlagen wir Papa François!« Doch daraus sollte nichts werden. Am 24. Jänner 1814 verabschiedete sich der Kaiser der Franzosen von Marie Louise und dem König von Rom. Er sollte die beiden nie mehr wieder sehen.
Ungefähr zwei Monate später zogen die alliierten Truppen in Paris ein. Napoleon wurde von einer provisorischen Regierung unter dem ungemein wandlungsfähigen Charles Maurice de Talleyrand, den Goethe einmal als »Voltaire der Diplomatie« bezeichnete, abgesetzt. Kurz vor dem Einmarsch der Alliierten waren Marie Louise und ihr Sohn mit dem Staatsschatz und einigen Millionen Franc aus der Stadt geflüchtet. Gegenüber Bestrebungen, den kleinen Prinzen als Napoleon II. auf den Thron zu setzen, widersetzte sich Zar Alexander, womit die Rückkehr der Bourbonen eine ausgemachte Sache war. Daraufhin verzichtete Napoleon für sich und seinen Sohn auf den Thron und meinte resigniert, dass der Rang eines Erzherzogs von Österreich für seinen Sohn vielleicht mehr wert sei als der Thron Frankreichs. In einem Brief vom 9. Februar klang er noch anders, kämpferischer: »Was meine Ansicht betrifft, so wollte ich lieber, dass man meinen Sohn erwürge, als ihn jemals in Wien als österreichischen Prinzen erzogen zu sehen.«[15] Am 29. April trat der Kaiser der Franzosen die Verbannung auf Elba an, am 21. Mai erreichte Marie Louise Wien. Im unerlässlichen Polizeibericht stand zu lesen, dass sich »der kleine Prinz die Sympathien des Publikums so rasch erworben hat, dass nichts so bedauert wird, wie dass der Kaiser Napoleon sein Vater ist.«[16]
Die Mutter des Prinzen, Marie Louise, empfand Wien bald als unerträgliches Gefängnis, die bevorstehende Abreise nach Parma, das ihr kurz zuvor als Herrschaftsgebiet zugestanden worden war, sah sie mit Freude entgegen. Davon, dass sie Napoleon nach Elba folgen würde, war schon lange keine Rede mehr. Die Kaiserin hatte sich in einen anderen Mann verliebt, in den Grafen Neipperg. Helmholtz urteilte streng: »Sie flennte ein paar Tage wie ein Dienstmädchen, das von seinem Liebhaber versetzt wurde, dann verdrehte sie lüstern die Augen nach dem einäugigen Kammerherrn Neipperg.«[17]
In der Polyphonie der Großmächte hatte Napoleon jetzt keine Stimme mehr, das »Ungeheuer« war bezwungen. Auf dem Wiener Kongress sollte eine neue Ordnung, d. h. die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände, herbeigeführt werden. Nie wieder sollte eine Revolution aufbranden. Der Einfall, die monarchisch-dynastische Architektur Europas als Gegenstrategie zur Idee der Nation christlich zu legitimieren, stammte vom Zaren: Die »Heilige Allianz« war geboren. Initiator des Kongresses war der zum Fürsten aufgestiegene Metternich, der für die nächsten 30 Jahre die österreichische Politik prägen sollte. Am 18. September wurde der Kongress eröffnet. Metternich war neben Zar Alexander, dem britischen Außenminister Lord Castlereagh, der später mit einer Rasierklinge Selbstmord begehen sollte, und dem französischen Außenminister Talleyrand der Hauptdarsteller, Wien Ort der Verhandlungen und Vergnügungen. Jeder Tag kostete den Staat ein Vermögen.
Die Teilnehmer am Kongress kosteten von allen Freuden, die Wien zu bieten hatte. »Wenn das so fortgeht«, jammerte der Kaiser, »da lass ich mich jubilieren« (in die Rente schicken, Anm. C. D.). Insbesondere Alexander gab sich exzessiv der Promiskuität hin, ein geläufiges Bonmot lautete, dass der Russe »für alle liebe«. Gegenüber einer Gräfin Széchényi-Guilford bemerkte er eines Abends: »Ich höre, Ihr Gemahl ist abwesend. Es würde mir ein Vergnügen bereiten, ihn zu vertreten.« – Die Dame reagierte vornehm und witzig: »Majestät verwechseln mich mit einer Provinz.« Lady Castlereagh erschien im »Kostüm einer Vestalin mit dem Hosenbandorden ihres Mannes um die Stirne und der Devise ›Honni soit qui mal y pense‹«.[18]
»Der Kongress kommt nicht vom Fleck«, erklärte der Fürst von Ligne, »er tanzt!« Der greise Feldmarschall spielte mit diesem Satz darauf an, dass die Positionen der Verhandlungspartner verhärtet waren und das diplomatische Tauziehen nur zäh voranging. Es kristallisierte sich schließlich eine Frontstellung zwischen Österreich, Frankreich und England einerseits bzw. Russland und Preußen andererseits heraus. Im Februar 1815 war die Situation bereits so verfahren, dass von der Möglichkeit eines neuen Krieges die Rede war. Dies konnte natürlich auch Napoleon auf Elba nicht verborgen bleiben.
Am 6. März erreichte Metternich die Hiobsbotschaft, dass der Korse zurückgekehrt sei, sein Name lag erneut wie ein gespenstischer Schatten über Europa. Die Alliierten in Wien fanden nun rasch wieder zueinander. Talleyrand blieb als einer der wenigen ruhig: Napoleons Rückkehr mag zwar eine Nachricht sein, verkündete er gelassen, Ereignis sei sie hingegen keines mehr. Ganz anders Marie Louise, sie soll in Tränen ausgebrochen sein. Erzherzog Johann tröstete sie: »Meine arme Marie Louise! Ich bedauere dich. Was ich dir und uns wünsche ist, dass er sich endlich den Hals bricht!«[19]
Napoleons Einzug in Paris war triumphal, er gab sich nun als Volkskaiser und sprach viel von den hehren Prinzipien der Revolution, die er so oft mit Füßen getreten hatte: Die Herrschaft der einhundertvierzehn Tage begann. Am 18. Juni 1815 war alles verloren. In Waterloo ertranken die Träume des Korsen im regennassen Schlachtfeld, vier Tage später dankte er ab, seinen Sohn hingegen proklamierte er als Napoleon II. zum Kaiser der Franzosen. Die Entscheidung zwischen »Napoleon II.«, dessen Mutter die Regentschaft übernehmen sollte, und Ludwig XVIII. war jedoch rasch zugunsten des Bourbonen gefallen.
Die Zukunft von Napoleons Sohn lag in Wien, Kaiser Franz befahl den 5-Jährigen zu sich. Bei Hofe wurde der Knabe »Prinz Franzi« gerufen. Einen »ganz und gar deutschen Prinzen« wolle er aus dem Kind machen, erklärte sein Erzieher Graf Dietrichstein, dem »Prinz Franzi« von allem Anfang an mit ausgeprägter Abneigung begegnete. Dietrichsteins Kollege Foresti wurde vom widerspenstigen Prinzen etwas besser aufgenommen. Da »Prinz Franzi« ständig von seiner Vergangenheit am Pariser Hof sprach (»Damals, als ich noch König war …«), verlangte Dietrichstein, dass alle französischen Angestellten aus dem Umfeld des Knaben zu verschwinden hätten. Marie Louise stimmte nur widerwillig zu. Anfang März 1816 reiste sie schließlich mit Neipperg nach Parma ab, ohne dies ihrem Kind zu sagen: »Ich bin abgereist, ohne Abschied zu nehmen, und war befriedigt von diesem Opfer.«[20]
Für den Jungen war die Abreise seiner Mutter begreiflicherweise ein Schock, er fühlte sich von allen allein gelassen. Trotzigkeit und Renitenz waren die logischen Folgen in dieser frühen Entwicklungsphase. Gegenüber den Mitgliedern der kaiserlichen Familie gab sich der Prinz liebenswürdig und strebsam, seinen Erziehern aber bereitete er stets Schwierigkeiten. Nachts erfand er Gespenster, von denen er lange nicht lassen wollte, und etwas später, als seine Erzieher darauf nicht mehr reagierten, fingierte er einen stark hinkenden Gang. Der 15-jährige Erzherzog Franz Karl brachte dem Prinzen so einige Schimpfworte bei, u. a. das unschickliche Wort »scheißen«, das er nun bei zahlreichen Gelegenheiten benützte.
Der Knabe schien sehr genau im Bilde gewesen zu sein, wer sein Vater war, welche Bedeutung er einmal genossen hatte. Obgleich niemand über die Vergangenheit reden durfte, waren in seinem Kopf die Einflüsterungen der französischen Gouvernanten noch immer lebendig. Kein Blatt vor den Mund nahm sich Kaiser Franz: »Dös war koa Guater!«, pflegte er in seiner breiten Wiener Mundart zu antworten, wenn die Frage des Prinzen auf seinen Vater kam. Der Großvater erwies sich in diesen Gesprächen als unsensibel und ungeschickt. Als der 8-Jährige fragte: »Wo ist denn mein Vater?«, antwortete der Kaiser: »Dein Vater ist eing’sperrt.« – »Warum ist er denn eing’sperrt?«, bohrte das Kind nach. Und die großväterliche Antwort fiel krude aus: »Weil er nicht gut tan hat, und wenn du nicht gut tuast, wirst halt auch eing’sperrt!«[21]
[22]