Eckard Minx
Friederike Müller-Friemauth
Lernkurven aus dem Foresight-Prozess des Kleinwagens Smart
© 2017 Eckard Minx, Friederike Müller-Friemauth
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback: | 978-3-7345-9225-6 |
Hardcover: | 978-3-7345-9226-3 |
e-Book: | 978-3-7345-9227-0 |
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Bildnachweise:
Titel: Fotolia 108043214
Autorenseite E. Minx: Jessen Oestergaard
Prof. Dr. Eckard Minx
Honorarprofessor an der HTW Berlin und der HBK Braunschweig; Gründer und Managing Partner von „Engelke Minx & Partner“ – DIE DENKBANK, Berlin.
www.die-denkbank.de
Prof. Dr. Friederike Müller-Friemauth
Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Strategisches Marketing und Innovationsmanagement an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management, Köln; Mitgründerin von „Kühn Denken auf Vorrat“ – Ökonomische Zukunftsforschung, Odenthal bei Köln.
www.denkenaufvorrat.de
www.preconomics.de
The Smart is exceptional within the automotive industry – a radical innovation that appeared on European markets in 2001 as a result of more than 20 years of mobility research. In this study the genesis of the small town car is traced as an example for a complex corporate foresight process, in order to reassess some of the central hypotheses about conditions and quality standards of intragroup foresight. The focus is on similarities and differences to the dominant economic discourse on strategic management of innovation and future. From the authors’ point of view these relations will finally be classified and evaluated in a critical epilogue on science.
Jeder intelligente Narr kann Dinge größer, komplexer und gewaltiger machen.
Es gehört eine Menge Inspiration und Mut dazu, sich in die gegenteilige Richtung zu bewegen.
Albert Einstein
Das Thema Zukunft hat sich in den letzten Jahren wieder ins wirtschaftswissenschaftliche Interesse geschoben – das war nach der Jahrtausendwende noch anders. Seitdem jedoch die gleichsam vom Himmel gefallene Finanzkrise 2008 der Prognostik einen herben Dämpfer verpasst hatte, veränderte sich der Fokus auf Vorschauen und Prognosen. Maßgeblich Nassim Taleb (2010) traf den Zeitgeist, sorgte mit seiner konzeptionellen Neubegründung unvorhersehbarer Störereignisse für viel Aufmerksamkeit – und gleichzeitig für einen ersten Erklärungsversuch der Krise, der auch zukunftsforscherische Ansprüche bedient. Mit dem NSA-Skandal und der internationalen Debatte über Digitalisierung und Datensicherheit erfolgte ein zweiter Aufmerksamkeitsschub für globalwirtschaftliche Zukunftsbelange; und schließlich sorgen Griechenlandkrise wie Flüchtlingsströme dafür, dass sich Zukunft als Themenstandard im Diskurs komplexer Steuerungsprobleme nachhaltig zu etablieren scheint. Hinzu kommt die anhaltende Faszination am ökonomischen Geschehen im Silicon Valley: Inzwischen pilgern nicht nur prominente Unternehmensführer ins gelobte kalifornische Land, sondern auch Politiker. Das Interesse an dezidiert zukunftsorientierten Innovationsmodellen wächst – ökonomische Zukunftsthemen wie etwa Industrie 4.0 werden durch die Bundesregierung inzwischen politisch verstärkt (Förderprogramme) und, auch aus diesem Grund, medial entsprechend inszeniert. Zukunft ist wieder sexy.
Heimisch geworden ist die Zukunftsforschung – hier speziell die unternehmensbezogene, organisationsinterne Zukunftsforschung (Corporate Foresight) – in der betriebsorientierten Wirtschaftswissenschaft allerdings trotzdem nicht. Die Gründe dafür sind vielschichtig und liegen sowohl im disziplinären Selbstverständnis der Betriebswirtschaftslehre als auch in demjenigen der zukunftsforschenden Disziplin: Beide haben sehr unterschiedliche Schwerpunkte, Methoden und Forschungsziele. Vor allem aber liegt es an nahezu unvereinbaren Wissenschaftskulturen diesseits und jenseits des Atlantiks. Während es immerhin weitgehende Einigkeit über Forschungsinteresse und Objektbereich gibt (methodisch kontrollierte Beforschung von künftigen Handlungs- und Möglichkeitsräumen mit unternehmerischer Relevanz1) klaffen die soziokulturellen Haltungen diesem Objektbereich gegenüber weit auseinander. Bei diesen Differenzen geht es im Kern um kulturell bedingte Zeitkonzepte, Geschichtsbegriffe und das sich daraus ergebende Planungsverständnis. Um den hier im Zentrum stehenden Foresight-Prozess des Kleinwagens Smart nicht nur zukunftsforscherisch, sondern auch sozioökonomisch – nämlich als Forschungsprojekt innerhalb des deutschen Daimler-Konzerns – einordnen und bewerten zu können, müssen wir einleitend diese Kluft beider Soziokulturen streifen, wenn auch nur kursorisch. Im zweiten Hauptteil steht die Entwicklung des Stadtwagens Smart im Vordergrund. Anschließend ziehen wir im dritten Teil, insbesondere mit Blick auf die unterschiedlichen Forschungskulturen von Betriebswirtschaft und Zukunftsforschung, eine vorläufige Bilanz und geben einen kurzen Ausblick.
Ein wissenschaftliches Bemühen darum, Belange, die zeitlich vor uns liegen (könnten), antizipatorisch in den Blick zu nehmen, bedeutet im Gegensatz zu fast allen anderen Wissenschaftsdisziplinen, im analytischen Verfahren gerade nicht den sachlichen oder sozialen Sinn zu privilegieren („was kommt?“ beziehungsweise „was wird von wem wie entschieden?“), sondern den zeitlichen – und zwar systematisch. Für den klassischen Managementdiskurs ist das unverständlich; dieser Perspektivwechsel ist erklärungsbedürftig. Was bedeutet das konkret: Die betriebliche Analyse von der Sach- oder Sozialebene auf die Sinndimension Zeit zu verschieben?
Die konsequente Privilegierung von Zeitfragen verbindet die Zukunftsforschung immerhin mit einer altehrwürdigen Wissenschaft, nämlich der historischen. Von ihr unterscheidet sie sich aber auch radikal durch das prinzipiell Nicht-Erkennbare ihres Gegenstandsbereichs. Zukunftsforschung operiert mit und an einem Objekt, das niemals anwesend ist. Nun ist das kein Grund für prinzipielle Einwände gegen dessen Beforschung – denn auch „das Unbewusste“, kulturelle Phänomene, bestimmte biologische oder physikalische Prozesse sind immer oder häufig latent, nicht beobachtbar oder basieren auf heuristischen Fiktionen. Im Gegensatz zu diesen etablierten Wissenschaftszweigen fehlen für die Zukunftsforschung jedoch bis heute Konzepte und theoretische Fundamente, die Haltung und Perspektive dieser Disziplin methodisch grundieren und abgrenzen.2 Das spiegelt den Kern der Schwierigkeit: Es existiert kein kanonisch durchgearbeitetes, wissenschaftlich-institutionalisiertes und dadurch legitimiertes Wissen. Erschwerend hinzu kommt, dass der Grundimpuls dieser forscherischen Haltung gegenüber Problemlagen, die erst künftig auf uns zukommen, dem angelsächsischen Denken entspringt, genauer dem US-amerikanischen Pragmatismus3. In dieser das Land seit seiner Gründung prägenden Geisteshaltung wurzelt die berüchtigte, eben pragmatische ‚Hands-on‘-Mentalität der Amerikaner; sie stellt den ‚common sense‘ ins Zentrum (nicht „die“ Wahrheit und damit einhergehend elaborierte Theorieansprüche). Die Zukunftsforschung entstammt genau diesem Mindset: Eine Disziplin, die vorliegende Probleme auf eine Weise zu bewältigen sucht, mit der man praktisch weiterkommt: voranschreiten, die Entwicklung nach vorn treiben kann – und nicht in erster Linie, um ein vorliegendes, etwa sachliches Problem zu „lösen“.
Dieser Aspekt bezeichnet schon genauer das eigentlich Befremdliche an der Zukunftsforschung. Die Zukunftsforschung ist, neben wenigen Denkgebäuden maßgeblich aus den modernen Naturwissenschaften, mit einer der ersten Wissenschaftsbereiche, die konstitutiv auf der Grundannahme von Komplexität beruhen. Daher gilt wissenschaftstheoretisch die Prämisse, dass eine rein sachorientierte Problemlösung – wegen prinzipiell möglicher nichtbeabsichtigter Nebenfolgen, unkalkulierbarer Rückkopplungen oder eigendynamischer Dominoeffekte, die in dieser rein sachlichen Eindimensionalität kognitiv nicht kontrollierbar sind – unzulänglich ist (nämlich unterkomplex). Der Begriff der Komplexität bezieht sich nicht nur auf das unübersichtlicher-Werden sachlichsozialer Gegebenheiten, sondern auf eine bislang noch recht unklare Verschränkung mit Handlungsbedingungen, welche die Zeit vorgibt. In klassisch-wissenschaftstheoretischer Lesart formuliert: Die Berücksichtigung der Sachdimension von Sinn ist zwar notwendig, aber nicht mehr hinreichend. Die veränderte Zielstellung lautet daher nicht nur Probleme zu lösen, sondern auch Zukunft vorzubereiten, wahrscheinlich zu machen, zu beschleunigen, zu katalysieren, herbeizuführen. Konkret: Die jeweilige Problemlösung muss Zukunft offenhalten (Primärfunktion) und quasi nebenbei das Problem lösen (Sekundärfunktion).
Die Fluchtlinie dieses Denkens ist also primär eine zeitliche und keine sachliche – wie gesagt auf Basis der Überlegung, dass eine rein sachliche oder soziale Orientierung unter Handlungsbedingungen von hoher Dynamik und Komplexität unterbestimmt ist, ungewiss. Zukunftsforscherisches Planen erfordert eine spezifische, existenzielle Offenheit in Entscheidungsprozessen mit hoher Reichund Tragweite, die sich erst in zeitgenössischen Gesellschaften, in jüngerer Zeit, ab einer bestimmten Dichte an globaler Vernetzung und zuvorderst in Hochtechnologie-Sektoren (hohe Rückkopplungsintensität) zeigt. Wenn mögliche Begleiterscheinungen zukunftsorientierten Handelns in die Entscheidung nicht von vornherein mit einbezogen werden und die Entscheidung mit prägen, so die Überlegung, lassen sich mit herkömmlichen simple-touse-Entscheidungen zwar Probleme lösen, aber es lässt sich keine Zukunft sichern. Für die Nachbestellung von Büromaterial mag das unproblematisch sein, für Investitionen ins Zukunftsgeschäft aber nicht.
Hier ist nicht der Ort, die erkenntnislogischen Feinheiten dieser Denkoperation auseinanderzufalten. Uns ist der Hinweis wichtig, dass Zukunftsforschung erstens entlang einer langfristigen Richtung (Zeit) navigiert, nicht entlang von inhaltlichen Zielen Haltung anwenden (!)soziokulturelle Ungewissheit