Johannes Kiersch | Erhard Dahl | Peter Lutzker
Fremdsprachen
in der Waldorfschule
Rudolf Steiners Konzept eines
ganzheitlichen Fremdsprachenunterrichts
Verlag Freies Geistesleben
Vorwort
1. Die Entwicklung der neueren Fremdsprachendidaktik und die gegenwärtige Situation des Fremdsprachenunterrichts der Waldorfschule
2. Rudolf Steiners Ideen zur Sprachwissenschaft
Anthroposophie, Philosophie, Anthropologie:
Steiners Begriff von Wissenschaft
Suchen nach der «Wirklichkeit» der Sprache
Zur Sprachgeschichte
Zur Physiologie der Sprache
3. Ziele des Sprachunterrichts in der Waldorfschule
4. Steiners Ausführungen zur Methodik des Fremdsprachenunterrichts im Überblick
5. Menschenkundliche Voraussetzungen
Die drei ersten Jahrsiebte im Überblick
In der ersten Entwicklungsperiode:
Sprache aus Sinneswahrnehmung und Bewegung
In der zweiten Entwicklungsperiode:
Sprache als rhythmisches Leben
In der dritten Entwicklungsperiode:
Individualisierte Sprache
Der Sprachsinn und sein Organ
Erinnern und Vergessen
Lebendige und tote Begriffe
Antizipierendes Lernen
6. Unterrichtspraktische Fragen
Der Anfangsunterricht
Erstes Schreiben und Lesen
Rezitieren und Singen
Schauspiel und dramatische Improvisation
Lektürebehandlung
Konversation
Wortschatzarbeit
Übersetzen
Die Lehrbuchfrage
Grammatikunterricht
Kreatives Schreiben
Die Frage nach dem Lehrplan
Begabungsdifferenzierung und Gruppenbildung
Gesichtspunkte zur Wahl einer Sprache
Hausaufgaben
Digitale Medien
Prüfungszwang und Leistungsfreiheit:
Wie halten wir es mit dem Abitur?
7. Zur Lehrerbildung
Anmerkungen
Literatur
Fußnote
Impressum
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Die Entwicklung der Fremdsprachendidaktik wurde in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten beeinflusst durch internationale Forschungen in den Bereichen der Psycholinguistik, Neurolinguistik, Lernpsychologie und des natürlichen Zweitsprachenerwerbs. Es kam zu einer Vielzahl differenzierter Forschungsergebnisse, die zu verschiedenen Orientierungen innerhalb der Fremdsprachendidaktik führten. Besonderes Gewicht erhielten
a) die Lernstrategien, die Einsicht in fremdsprachliche Lernprozesse ermöglichen sollten
b) das Konzept der Lernerautonomie
c) der Ansatz, der in der Aneignung einer fremden Sprache einen individuellen kreativen Konstruktionsprozess erkennt
d) die stärkere Bewusstmachung des eigenen Lernhandelns
e) der Diskurs zum interkulturellen Lehren und Lernen.
Ein wenig vereinfacht könnte man also von einer starken Konzentration des wissenschaftlichen Interesses auf die Erforschung der Kognitionsprozesse im Fremdsprachenunterricht sprechen. Im Vergleich zu der Vielzahl dieser dem kognitiven Paradigma folgenden Forschungsbeiträge sind solche, die nicht von einem auf Kognition reduzierten Menschenbild ausgehen und der affektiven Komponente des Fremdsprachenlehrens und -lernens sowie der Leiblichkeit des Schülers Bedeutung verleihen möchten, verhältnismäßig gering.
Der Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule, der für alle Kinder in der ersten Klasse mit zwei fremden Sprachen beginnt, gründet auf einem anthropologischen Ansatz. Es wird versucht, eine ganzheitliche Begegnung mit der fremden Sprache herbeizuführen. Nicht ein «Lerner» steht dem Lehrer gegenüber, sondern ein lebendiges Wesen, der junge Mensch. Seine Leiblichkeit, seine Emotionen und sein Geist sind gleichrangig am Spracherwerb beteiligt und bedürfen deshalb der Ansprache im Unterricht. Maßgebend für die dabei angewandten Methoden sind gewisse Positionen auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft, der Physiologie und der pädagogischen Psychologie, die auf Rudolf Steiner (1861 − 1925), den Begründer der Waldorfpädagogik, zurückgehen. Sie haben seit 1919 die Tradition der Schulpraxis im Einzelnen bereichert,1 sind aber bisher noch nirgendwo in ihrer Gesamtheit systematisch dargestellt worden. Inzwischen hat sich die Waldorfbewegung auf weltweit deutlich mehr als tausend Schulen ausgedehnt. Veränderte gesellschaftliche Bedingungen und ein akuter Mangel an qualifizierten Lehrkräften haben an vielen Orten zu Schwierigkeiten gerade im Sprachunterricht geführt, die eine Neubesinnung auf die Tragfähigkeit des Überlieferten notwendig machen.
Die vorliegende Darstellung erhebt in dieser Situation nicht den Anspruch, eine vollständige Zusammenfassung wissenschaftlich gesicherter Tatbestände zu sein. Sie verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: die verstreuten Hinweise Rudolf Steiners zum Unterricht in den neueren Fremdsprachen2 möglichst vollständig zu sammeln, die Konturen des darin verborgenen Gesamtentwurfs einer anthroposophisch fundierten Didaktik und Methodik dieses Unterrichts behutsam nachzuzeichnen und letztlich die dabei gewonnenen Ergebnisse − in durchaus vorläufiger Weise − mit den aus unserer Sicht außerordentlich relevanten Einsichten der neueren wissenschaftlichen Sprachlehrforschung zu verbinden.
Das Buch wurde zum ersten Mal im Jahre 1992 veröffentlicht, als erster Teil des Abschlussberichts eines dreijährigen Forschungsvorhabens, das durch eine Gruppe von Fachkollegen, überwiegend aus Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen, seit März 1987 betrieben worden war. Ein zweiter, stärker praxisbezogen konzipierter Teil war damals in Vorbereitung, konnte aber durch den tragischen Tod des Kollegen Chris Lowdon, der durch eine umfangreiche Reihe von Unterrichtsbesuchen Material dafür gesammelt hatte, nicht realisiert werden.
Neben Chris Lowdon waren an der ersten Ausgabe dieses Buches die folgenden Kollegen beteiligt: Silvia Albert, Ulrike Garrido-Weidemann, Ursula Nicolai, Gabriele Ould-Ali, Anemone Steche, Dorothee von Winterfeldt, Abdesslam Bereksi, Geoff Hunter, Uwe Kirsch, Hans-Wolfgang Masukowitz, Mathias Riepe, Thomas Schererz, Norman Skillen, Robert Sim und Hartmut Werner. Für wertvolle Ratschläge und Anregungen war Gertraud Flegler, Helga Lauten, Magda Maier, Brigitte Morgenstern, Erhard Dahl, Christoph Jaffke, Georg Kniebe, Ernst-Michael Kranich, Rudi Lissau, Peter Lutzker, René Ricard und Wolfgang Schad zu danken, für die großzügige Finanzierung des gesamten Forschungsvorhabens dem Rudolf Steiner-Fonds für wissenschaftliche Forschung (Nürnberg), der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, der Gemeinnützigen Treuhandstelle (Bochum) und − last not least − der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen (Stuttgart).
Für die jetzige zweite Auflage dieses Buches wurden inhaltliche Aktualisierungen, weiterführende Ergänzungen sowie Hinzufügungen von Erhard Dahl und Peter Lutzker vorgenommen. Für alle Abweichungen vom Text der ersten Auflage tragen sie die Verantwortung.
Johannes Kiersch, Erhard Dahl, Peter Lutzker
Kaum ein Unterrichtsgebiet hat eine so dramatische, von Meinungsumschwüngen und Kontroversen gekennzeichnete Entwicklung durchgemacht wie das der modernen Fremdsprachen. Und fast alle während dieser Entwicklung zutage getretenen didaktischen Auffassungen sind noch heute im Gespräch, auch an Waldorfschulen. Es mag deshalb nützlich sein, die wichtigsten davon kurz in Erinnerung zu rufen und sie mit der gegenwärtigen Situation des Fremdsprachenunterrichts in der Waldorfschule in Beziehung zu setzen.3
Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hielt sich der zunächst nur in bescheidenem Umfang erteilte Unterricht in den modernen Fremdsprachen an die Grammatik-Übersetzungs-Methode des altsprachlichen humanistischen Gymnasiums, ein rein kognitives Verfahren, das die Kenntnis des grammatischen Regelwerks der Sprache und das konstruierende Übersetzen besonders wichtig nahm. Wegen seines elitären Anspruchs wird ihm hier und da noch heute ein höherer Bildungswert zugemessen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wurden dann zuverlässige Kenntnisse auch der Alltagssprache wichtiger. So betonten die Vertreter der direkten Methode, in Deutschland besonders der Anglist Wilhelm Viëtor mit seiner Streitschrift Der Sprachunterricht muss umkehren (1882), stärker den «natürlichen» Spracherwerb und den Umgang mit der unmittelbar gesprochenen oder aus dem Hören aufgenommenen lebendigen Sprache. Der neue Ansatz fand Beifall, blieb aber umstritten. Mit Berufung auf die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts und dessen Auffassung von der Sprache als Wesensausdruck des Volksgeistes trat wenig später die kulturkundliche Methode hervor, die der schönen Literatur und dem Umgang mit unverfälschten Originaltexten wieder mehr Gewicht geben wollte. Sie wird heute eher skeptisch beurteilt, zum einen, weil viele Versuche einer philosophisch orientierten «Volksseelenkunde» sich als wenig haltbar erwiesen haben und weil die Gefahr besteht, dass die rein sprachlichen Übungsziele des Unterrichts durch problematische Wesensbetrachtungen zu Unrecht in den Hintergrund geraten können, zum anderen, weil inzwischen jede Bemühung um ein Verständnis der Eigenart eines Volkstums durch die einschlägige Ideologie des Nationalsozialismus belastet ist.
Wesentlich gefördert durch die behavioristische Lernpsychologie (J. B. Watson, F. B. Skinner), entwickelte sich in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg in den USA die audiolinguale Methode, die in den Sechzigerjahren in die audiovisuelle Methode einmündete und als solche in den Medien bis heute eine gewisse Rolle spielt, obwohl sich die während der Bildungsreform um 1970 in sie gesetzten Hoffnungen auf die zuverlässige Automatisierung des Sprachenlernens durch Sprachlabors und Lernmaschinen als vergeblich erwiesen haben.4 In den Lehrbüchern des Fremdsprachenunterrichts haben sich die behavioristischen Ansätze in Form charakteristischer Übungstypen bis heute gehalten: als «pattern drills» in vielen Variationen; Satzschalttafeln und Substitutionsübungen; Ergänzungsübungen (Lückentexte); Dialogreproduktion; Satzbildung aus Einzelelementen.5
Im Bereich der Höheren Schulen beeinflusste die vermittelnde Methode seit der Wende zum 20. Jahrhundert und dann bis in die Sechzigerjahre hinein den neusprachlichen Unterricht. Sie versuchte, das Bildungsinteresse des alten Gymnasiums mit den Vorzügen der direkten Methode ebenso wie mit den audiolingualen Lerntechniken zu verbinden. Zwar fiel die Unterrichtspraxis dabei vielfach in den Grammatik-Übersetzungs-Stil zurück, doch ergab sich auch ein gewisser Methodenpluralismus, der ein angemessenes pädagogisches Eingehen auf die Situation bestimmter Schülergruppen erleichterte.
Seit den Sechzigerjahren setzte auch in Deutschland in größerem Umfang eine produktive Sprachlehr- und -lernforschung ein. Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft wurde zunehmend maßgeblich auch für Schulunterricht und Lehrerbildung. So konnten die Mitte der Siebzigerjahre in Gang kommenden Diskussionen um eine kommunikative Didaktik und Methodik von Anfang an auf hohem theoretischem Niveau geführt werden.6 Angeregt durch die Diskussion über eine kommunikative Didaktik gab die fremdsprachendidaktische Forschung dieser Didaktik eine eigene Prägung. Das bisherige Ziel des Unterrichts, nämlich die Sprachbeherrschung, verwandelte sich in die Anbahnung von kommunikativer Kompetenz. Der Fremdsprachenunterricht wandte sich verstärkt den Sprechabsichten bzw. dem unmittelbaren Sprachbedürfnis und -vermögen der einzelnen Schüler* zu und legte Wert auf Motivation und tätig handelndes Lernen. Der Lehrer war «Helfer im Lernprozess», nicht mehr nur «Wissensvermittler bzw. Medienexperte».7 Die Sozialformen des Unterrichts wurden bedacht und erforscht (Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit gegenüber der Dominanz des Frontalunterrichts), der sinnvolle, dem individuellen Interesse und Verständnisvermögen der Schüler entgegenkommende Inhalt des Unterrichts wurde wieder wichtig. Einerseits erreichte diese Orientierung auf den Schüler jedoch nicht wirklich das eigentliche Unterrichtsgeschehen in vielen deutschen Klassenzimmern; andererseits wurde jede Orientierung in der Forschung in der Folgezeit insofern vorangetrieben und gleichzeitig verwandelt, als nun das Hauptinteresse den Lernprozessen der Schüler während der Sprachaneignung galt. Fast zwangsläufig ergab sich hieraus eine Fokussierung auf die kognitiven Leistungen des Menschen. Mit dieser Konzentration auf die kognitive Dimension des Sprachenlernens gerieten die leibliche Basierung der Sprache und die emotionale Komponente des Fremdsprachenerwerbs aus dem Blickfeld. Aus der Person des Schülers, die bei den Vertretern der kommunikativen Didaktik in den Vordergrund gerückt worden war, wurde gewissermaßen der Faktor Lerner.
Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird der empirischen Erforschung von Kommunikations- und Lernstrategien große Bedeutung beigemessen. Das Identifizieren und Klassifizieren von Lernstrategien führte die Sprachlernforschung zu der Erkenntnis, dass das Lernen einer Fremdsprache kein linearer Prozess ist, sondern ein Prozess der ständigen höchst individuellen Konstruktion der zu erlernenden Fremdsprache und der fortwährenden Restrukturierung der bereits erworbenen Sprachkenntnisse. Die Kenntnis davon, dass die Aneignung einer fremden Sprache ein individualisierter Prozess mit einem individuellen Lerntempo ist, lässt die gängige Auffassung, dass das vom Lehrer weitergegebene Wissen weitgehend identisch ist mit dem vom Schüler hervorgebrachten Wissen (und dieses innerhalb des dafür vorgesehenen Unterrichtszeitraums bei ihm entsteht), als sehr fraglich erscheinen. Die Selbstorganisation des Schülers, sein individuelles Lerntempo sowie sein Bedürfnis, Lernstoff vorzufinden, den er mit eigenen Erfahrungen, mit dem eigenen Wissen verbinden kann, hat weitreichende Folgen für die Gestaltung des Unterrichts.
Formuliert man die methodisch-didaktischen Folgen dieser neuen Entwicklungen differenziert aus, so zeigt sich auch eine Anzahl von bemerkenswerten Parallelen zu Steiners Auffassungen vom Fremdsprachenunterricht, auf die nachher eingegangen wird. Beispielhaft sei erwähnt, dass Steiners Ausführungen zum Lehrplan des Fremdsprachenunterrichts dazu neigen, nicht einengend zu sein, dass planerische Festlegungen ihm hinderlich zu sein scheinen; dass dieser Unterricht etwas Freieres haben sollte; dass er nicht klassenmäßig durchgeführt zu werden braucht; dass Lehrinhalte nicht einer starren Festlegung gehorchen müssen; dass ein «loser Lehrplan» genügt; dass reiche Lerninhalte anzubieten sind, um eine «aktive Individualisierung» zu ermöglichen, und dass das individuelle Tempo bei der Verarbeitung des Gehörten und Gelesenen geduldig zu respektieren ist.
Und welche weiteren Entwicklungen in der Forschung sind für die nächsten Jahrzehnte zu erwarten? Man wird beobachten müssen, ob sich die Sprachlehr- und -lernforschung von ihrer Fokussierung auf die Erforschung der Kognitionsprozesse ein wenig wird lösen können und dadurch ein personalistisches Verständnis des Lehr- und Lernprozesses an Beachtung gewinnen wird. Die oben angedeutete Hinwendung zum individuellen Lernvorgang müsste eigentlich der Erforschung auch aller nichtkognitiven Seiten des Spracherwerbs und der Integration der Forschungsergebnisse in eine umfassende Theorie des unterrichtlichen Fremdsprachenlernens Vorschub leisten. Hierzu wären sicherlich auch weitreichende Verbindungen zu der Embodiment-Forschung sowie zu performativen Ansätzen herzustellen. Aus diesen Perspektiven wäre auch der zunehmend verbreitete Einsatz von computergestütztem Lernen im Sprachunterricht zu erforschen.
Manches spricht auch dafür, dass der rasche Fortschritt der experimentellen Neuropsychologie die Aufmerksamkeit der Fachwelt noch stärker als bisher auf das Zusammenspiel der wachbewussten mit den halb- oder unbewussten Lerntätigkeiten konzentrieren wird, auf das Ineinandergreifen kognitiver Prozesse, wie sie etwa beim landläufigen Grammatikunterricht im Vordergrund stehen, und all der «träumenden» oder «schlafenden» Seelenvorgänge, die eher beim natürlichen Spracherwerb, beim handlungsbezogenen, spontanen Gespräch oder in ähnlichen Situationen zum Zuge kommen. Auf dieses Zusammenspiel werfen etwa die Forschungen über die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hirnhälften und ihre Mitwirkung beim Spracherwerb oder über den Zusammenhang von Sprachwahrnehmung und unbewusster Körperbewegung schon jetzt manches Licht.
Auf einer mehr praxisbezogenen Ebene haben in den letzten fünfzig Jahren die ganzheitliche «humanistische» Psychologie Nordamerikas,8 zusammen mit den weitgehend intuitiv entwickelten Außenseitertechniken, die als alternative Methoden bekannt geworden sind,9 viele neue und kreative Impulse in die Fremdsprachendidaktik eingebracht. Sie bieten eine Fülle von Anregungen für eine vielseitige, kreative Weiterentwicklung der bisher diskutierten Mainstream-Methoden und stellen zugleich notwendige und erst in den Anfängen erschlossene neue Forschungsfelder dar.
Allerdings sperren sich die meisten Vertreter der Erziehungswissenschaft immer noch dagegen, solche Komponenten des komplexen Sprachlernvorgangs, wie z. B. «Emotionalität» und «lernender Leib», als gleichberechtigt neben leichter messbaren kognitiven Prozessen zu betrachten Die Erziehungswissenschaft ist heute weitgehend eine empirische Erziehungsforschung, die selbstverständlich nur empirisch abgestützte Erkenntnisse aus den «harten» Daten gelten lässt. Nicht empirisch überprüfbaren Erkenntnissen, wie z. B. langjährigen Erfahrungen von Lehrern, philosophischen Erziehungslehren und pädagogisch-anthropologischen Sichtweisen, wird in der Regel wenig oder keine Relevanz zugesprochen.
Es scheint notwendig, einen Dialog zwischen den «Lagern» zu ermöglichen, der z. B. mit einem integrierenden Diskurs über die leiblichen, affektiven und kognitiven Dimensionen der Sprache und des Sprachenlernens beginnen könnte.
Der Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule mit seinen eigenen und besonderen Traditionen etwa im Bereich des frühen Fremdsprachenlernens, im Felde der ästhetisch aufgefassten Grammatikbehandlung, der fremdsprachlichen Theaterpädagogik und der Literaturdidaktik wird möglicherweise ein interessanter und anregender Gegenstand der Betrachtung in einem solchen Diskurs sein können. Auch in dem Sinne, einen Beitrag zu diesem aus unserer Sicht gewünschten und erstrebenswerten Dialog leisten zu wollen, ist dieses Buch gedacht.
Für jeden, der sich mit der Klärung didaktischer Fragen im Bereich der Waldorfpädagogik befasst, wird es früher oder später notwendig, über den Zusammenhang von Wissenschaft im allgemein anerkannten Sinne des Wortes und anthroposophischer Geisteswissenschaft im Sinne Rudolf Steiners nachzudenken. Dieser Zusammenhang wird heute sehr unterschiedlich beurteilt. Einige Autoren streiten ab, dass Anthroposophie überhaupt etwas mit wissenschaftlichem Denken zu tun habe. Sie meinen, es handle sich dabei eher um metaphysische Spekulation, private Glaubensüberzeugung oder allenfalls um eine populär-philosophische «wissenschaftliche Weltanschauung».10 Andere räumen den Ideen Steiners hinsichtlich des Fortschritts der pädagogischen Wissenschaften einen gewissen Provokationswert ein, wie man ihn etwa einer exzentrischen Arbeitshypothese zugestehen würde.11 Wieder andere schätzen die praktischen Ergebnisse, mit denen sich Anthroposophie heute in der Welt bemerkbar macht, und sie lassen den Gedanken zu, dass hinter vernünftigen Taten womöglich auch eine vernünftige Begründung stecken könnte, eine «Wissenschaft» wie andere auch.
Nun hat Steiner zwei Jahre vor der Begründung der Waldorfschule in seinem wissenschaftstheoretischen Hauptwerk, dem Buch Von Seelenrätseln, gezeigt, wie er selbst den Sachverhalt beurteilt. Er postuliert eine völlige Vereinbarkeit seiner «Anthroposophie» mit vorurteilsfreier empirischer Forschung der üblichen Art, die er hier − in bewusster Abweichung vom gewohnten Wortgebrauch − als «Anthropologie» bezeichnet. Und zwar sieht er beide Forschungsweisen überall dort widerspruchsfrei ineinandergreifen, wo sie sich − jede in ihrer Weise − bis zu einer «Philosophie über den Menschen» hindurchgearbeitet haben.
«Die aus der Anthroposophie hervorgegangene Philosophie über den Menschen wird zwar ein Bild desselben liefern, das mit ganz anderen Mitteln gemalt ist als dasjenige, welches die vom Menschen handelnde, aus der Anthropologie hervorgegangene Philosophie gibt; aber die Betrachter der beiden Bilder werden sich mit ihren Vorstellungen in ähnlicher Übereinstimmung befinden können wie das negative Plattenbild des Fotografen bei entsprechender Behandlung mit der positiven Fotografie.»12
Steiner selbst fand eine solche «Philosophie über den Menschen» ganz besonders in der Phänomenologie Goethes veranlagt. Seine pädagogische Anthropologie führt in vielen Einzelheiten inhaltlicher wie methodischer Art auf Goethe zurück.13 Hinsichtlich einer humanistisch orientierten philosophischen Anthropologie14 wird auch Steiners Nähe zu den Klassikern dieser schon fast vergessenen Denkrichtung deutlich, zu Forschern wie Wilhelm Dilthey, Max Scheler, Helmuth Plessner und Adolf Portmann. Sie alle verfolgen in vieler Hinsicht ähnliche Ansätze wie Steiner.
Versucht man nun aber, die empirisch fundierten anthropologisch-philosophischen Entwürfe solcher Denker im Sinne des angeführten Postulats in Von Seelenrätseln auf die anthroposophischen Forschungsergebnisse Steiners zu beziehen, treten eigentümliche Schwierigkeiten auf, die mit den jeweiligen Ausdrucksformen zu tun haben. Steiner hat seine Pädagogik niemals in systematischer Form selbst dargestellt. Vieles in den erhaltenen Aufzeichnungen von Vorträgen oder Gesprächen ist fragmentarisch, vieles ist zunächst rätselhaft und bedarf des geduldigen Kommentars. Schon darin liegen beträchtliche Schwierigkeiten für ein gültiges Verständnis. Noch hinderlicher aber ist es auch für den unbefangenen Betrachter, dass «anthroposophische» und «anthropologische» Hinweise und Wahrheiten bei Steiner immer wieder schwer unterscheidbar vermischt erscheinen. Manches ist bei ihm Tatsachenmitteilung wie in einem naturwissenschaftlichen Lehrbuch, manches will als Analogie, als Hinweis zum Betrachten, als Meditationsmotiv verstanden werden. Bei genauerem Zusehen wird man bemerken, dass in allen intimeren Darstellungen Steiners, wie z. B. in den Stuttgarter Lehrerkursen, vieles nur angemessen zu deuten sein wird, wenn man es im Sinne der verborgenen und von Steiner so aufschlussreich interpretierten Philosophie Goethes als «Symbol» auffasst. Goethe wusste, dass gerade die bedeutenden und bewegenden Wahrheiten des Lebens, um die es in der Schule geht, aus der unmittelbar gegebenen, sinnlich-konkreten Erfahrung eines glücklichen «Augenblicks» − im doppelten Sinn des Wortes − erschließbar werden, dass Ehrfurcht, geduldige Übung, Gelassenheit, ein vielseitiges Einfühlungsvermögen zu ihrer Eroberung und individuellen Einverleibung gefordert sind, ein Künstlertalent, nicht nur die enge Fähigkeit logischer Intelligenz. Er unterschied deshalb eine reduktionistische wissenschaftliche Rationalität der üblichen Art als Denken in «Allegorien» vom weltgemäßen Vernunftdenken in Form der «Symbolik», einer ganzheitlichen Weise der Weltauffassung, wie sie heute von Wissenschaftstheoretikern auch außerhalb der New-Age-Philosophie wieder für möglich gehalten wird.15 So etwas fordert uns eine völlige Neuorientierung unserer Denkgewohnheiten ab, vielleicht sogar − wissenschaftstheoretisch gesagt − eine Art Paradigmenwechsel. Erst wenn wir uns damit eine Zeit lang angefreundet haben, werden wir Goethe, und mit ihm dann auch Steiner, ganz verstehen.
Eine weitere Schwierigkeit tritt hinzu: Steiner unterscheidet streng zwischen wissenschaftlicher Forschung, die beim Begriff enden muss, wenn sie etwas leisten will, und pädagogischer Praxis, die vom Begriff zum Leben finden muss.16 Er sucht deshalb für die Lehrer seiner Waldorfschule nach keimhaften, unfertigen, auf individuelle und kontextbezogene Verifikation hin angelegten «lebendigen» Begriffen und findet dafür eine Ausdrucksform in mantrischen Wortprägungen oder «Begriffsbildern», die erst durch meditative Übung im Sinne anthroposophischer Selbsterziehung werden, was sie sein sollen: Werkzeug zur geistesgegenwärtigen Bewältigung einmaliger, unwiederholbarer pädagogischer Situationen.17 Ich habe an anderer Stelle im Einzelnen auseinandergesetzt, was es damit auf sich hat.18
Jedenfalls wird man nach alldem für die Erschließung von Steiner-Texten ein hinreichendes Maß von Umsicht und Behutsamkeit verlangen müssen. Im Folgenden soll vor allem versucht werden, den in Von Seelenrätseln dargestellten Gegensatz von «Anthroposophie» und «Anthropologie» und seine Überbrückbarkeit in einer «Philosophie über den Menschen» aufmerksam im Blick zu behalten.
Nach verbreiteter Auffassung ist die menschliche Sprache im Wesentlichen ein Verständigungsmittel. Die rationalistische Deutung des 18. Jahrhunderts, Rousseaus und seiner Zeitgenossen, wonach die Menschen ihre Sprache zum Zwecke des vernünftigen Gedankenaustauschs durch Übereinkunft festgelegt, gleichsam erfunden haben sollen, findet ihre Fortbildung in den Auffassungen neuerer sprachwissenschaftlicher Richtungen vom Wort als dem «signe arbitraire» (F. de Saussure), dem beliebig vereinbarten Zeichen, das mit der Sache, für die es steht, dem Wesen nach nichts zu tun hat.19 Vielfach wird die Sprache dann nur noch als Austausch von «Signalen», als ein kybernetisch zu deutendes System von Informationsübermittlungen gesehen. Dieser reduktionistischen Auffassung, die maßgeblichen Einfluss auf die Schulpraxis gewonnen hat, stehen Ergebnisse der an J. G. Herder und W. v. Humboldt anknüpfenden, auf umfassendere philosophische und anthropologische Besinnung gegründeten Sprachforschung gegenüber, wie sie etwa durch die Namen Ernst Cassirer, Benjamin Lee Whorf, Otto Friedrich Bollnow, Johannes Lohmann oder Mario Wandruszka bezeichnet werden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie das Wesen der menschlichen Sprache aus dem Ganzen der Menschennatur zu deuten versuchen. Dabei gewinnen psychologische und historische Beobachtungen besonderes Gewicht. Es zeigt sich (schon bei Herder), dass es ein Denken vor der Sprache nie gegeben hat. Der Mensch sprach, noch ehe er im heutigen Sinne denken konnte. Sprachentwicklung und Entwicklung des Weltbildes sind im Verlauf der Menschheitsgeschichte ebenso wie im Leben des einzelnen Menschen eng miteinander verwoben. Wir begreifen die Welt in besonderer Weise durch unsere besondere Sprache. So enthüllt sich Sprachgeschichte als Bewusstseinsgeschichte. Und da die Menschheit mit der Zeit eine Folge klar unterscheidbarer Bewusstseinsstufen durchlaufen hat, änderte sich zugleich ihr Verhältnis zur Sprache stufenweise. Besonders deutlich wird das bei dem für unser heutiges Bewusstsein entscheidenden Schritt vom «mythischen» zum «logischen» Denken im Beginn des griechischen Altertums.20 Unser modernes, rationales Bewusstsein hat sich erst sehr spät aus dem Eingebundensein in die lebendige Sprache herausgelöst, nach Lohmann erst seit Descartes und Kant, in vollkommener Form erst mit der Logik des frühen Wittgenstein.21 Steiner befindet sich mit seinen Ideen zur Sprachwissenschaft in Einklang mit diesen aus dem Geiste Herders und Humboldts gewonnenen Einsichten. Er kommt jedoch darüber hinaus zu einem eigenen Begriff vom Wesen der Sprache und einer diesem Begriff angemessenen Forschungsmethode, von der er glaubt, dass sie im wissenschaftlichen Leben der Gegenwart aufgegriffen werden könne, und die er deshalb auch im Rahmen von «Hochschulkursen» vor der Fachwelt zu vertreten sucht.22
Grundlage dafür ist die Erkenntnislehre des Buches Von Seelenrätseln (vgl. oben, S. 19) und die in diesem klassischen Grundwerk der anthroposophischen Pädagogik vorgetragene Lehre von den seelischen Funktionen des Denkens (Vorstellens), Fühlens und Wollens in ihren «physischen und geistigen Abhängigkeiten». Heute gilt allgemein als physiologische Grundlage des gesamten Seelenlebens das Nervensystem des Menschen. Steiner zeigt in Von Seelenrätseln, dass nur die seelischen Prozesse des Vorstellens ihre leibliche Grundlage in den Funktionen dieses Systems haben. Die Prozesse des Fühlens hängen seiner Auffassung nach vom rhythmischen Leben des Leibes ab, wie es sich besonders deutlich in der Atmung manifestiert, die Prozesse des Wollens vom Stoffwechsel- und Gliedmaßensystem.23 Zugleich treten die drei Arten seelischer Tätigkeit in unterschiedlicher Weise ins Bewusstsein ein. Nur das Vorstellen wird in der Helligkeit des Wachzustandes erfahren. Das Fühlen hat demgegenüber nur den Bewusstheitsgrad des Träumens. Das Wollen wird wie im Schlaf erlebt. Es erscheint der aufmerksamen Selbstbeobachtung «wie eine schwarze Fläche innerhalb eines farbigen Feldes».24
Erst bei eingehender Auseinandersetzung mit dieser weittragenden anthropologischen Entdeckung wird man bemerken, was es für die Sprachforschung und die praktische Anwendung ihrer Ergebnisse bedeuten kann, wenn Steiner im Frühjahr 1922 im Sinne eben dieser Entdeckung darauf aufmerksam macht, dass der eigentliche Gegenstand der Sprachforschung, das «Leben» der Sprache, gar nicht so ohne Weiteres objektiv gegeben ist, wie eine neurophysiologisch fundierte Linguistik das heute voraussetzt; dass vielmehr ein besonderer «Bewusstseinsprozess»25 notwendig ist, um an diesen Gegenstand heranzukommen. Diesen Bewusstseinsprozess beschreibt Steiner, in Anlehnung an die Metamorphosenlehre Goethes, als Übung im Entwickeln eines «imaginativen Vorstellens», das die Gestaltungs- und Umbildungsbewegungen der Sprache historisch und psychologisch als innerseelische Gegebenheiten aufzufassen vermag, ähnlich wie Goethe solche Bewegungen an der Pflanze oder am Tier studiert hat.
«Wer überhaupt die Sprache betrachten will, muss sie so betrachten, dass er die innerliche Metamorphose des Sprachorganisierens erlebt; denn dann erst hat er das vor sich, was eigentlich der Sprachprozess ist.»26
Im Lichte der genannten Entdeckung des Buches Von Seelenrätseln gesehen, handelt es sich darum, die Aufmerksamkeit nicht auf diejenigen Erscheinungen des Sprechens und der Sprachen zu beschränken, die unmittelbar ins Wachbewusstsein eintreten, auf eine in konturierten Begriffen beschreibbare lexikalische und grammatische «Objektivität», sondern sie auf den seelischen Prozess hinzulenken, der im Bereich des träumenden und des schlafenden Bewusstseins, im Gefühls- und Willensleben des Menschen oder der Menschheit, diese Erscheinungen überhaupt erst hervorbringt. Nicht die Beschreibung des Gewordenen aufgrund äußerer Beobachtungen ist hier das Erste, sondern die innerseelische Beobachtung des Werdens sprachlicher Phänomene. Deswegen fordert Steiner den künftigen Aufbau einer «psychologischen» Sprachwissenschaft.27 Er erweitert damit anfängliche Ergebnisse seiner anthroposophischen Geistesforschung über frühe Stadien der Sprachentwicklung in der Geschichte der Menschheit (vgl. unten, S. 28 ff.) in Richtung auf eine «anthropologisch»-empirische Sprachwissenschaft im Sinne des Buches Von Seelenrätseln.
Beispiele für die von Steiner geforderte «psychologische» Sprachbetrachtung finden sich besonders in zwei seminaristischen Kursen für die Lehrer der neu begründeten Waldorfschule vom Herbst und Winter 1919/20, vereinzelt auch in späteren Vorträgen und in dem grundlegenden Aufsatz «Sprache und Sprachgeist» vom Juli 1922.28 Man kann es lernen, sich in das «Erleben der Lautbedeutung» einzufühlen. Dabei wird man merken, dass Konsonanten aus seelischen Gebärden hervorgehen, mit denen der Mensch sich in äußere Dinge gleichsam nachahmend hineinversetzt, Vokale hingegen ein inneres Erleben in Sympathie und Antipathie zur Grundlage haben, «sodass der Mensch in der Sprache so lebt, dass er im konsonantischen Wesen die äußere Welt nachbildet, aber metamorphosiert, dass er dagegen im Vokalischen sein eigenes inneres Verhältnis zur äußeren Welt darstellt».29 Man kann dem Bedeutungswandel nachgehen, den die Wörter einer Sprache im Laufe der Zeit durchgemacht haben,30 oder aufschlussreiche Charakteristika wie die Funktion einzelner Vor- und Nachsilben in ihrer bedeutungsbildenden Kraft verfolgen.31 Überall wird man dabei auf Eindrücke stoßen, die sich zunächst dem eindeutigen Zugriff der Definition entziehen, aber unmittelbar zur Empfindung sprechen. Der naive Betrachter mag damit zufrieden sein und sich ohne viel Nachdenken bereichert fühlen. Der Sprachforscher wird sich bemühen, bei der Deutung des Vorgefundenen bis zum klaren Begriff zu gelangen, aber er wird dabei «psychologisch» ansetzen: bei einer Beschreibung der innerseelischen Realität des die Wortbildung begleitenden Gefühls.
Besondere Bedeutung kommt deshalb der Untersuchung, aber auch der Pflege der Dialektsprache zu, auf die Steiner immer wieder hinweist,32 aber auch dem Sprachvergleich. Zwei Wörter, denen der Übersetzer die gleiche Bedeutung zumisst, können mit sehr unterschiedlichen «Erlebniskomplexen» in Beziehung stehen. Das Studieren solcher «Erlebniskomplexe» öffnet den Empfindungszugang zur eigentlichen Realität der Sprache.33 Steiner erläutert das am Beispiel von dt. Pflicht / engl. duty:
«‹Pflicht› wird erfüllt aus innerer Liebe und Hingebung, ‹duty› wird erfüllt aus dem Grunde, weil man, wenn man seine Menschenwürde fühlt, sich sagen muss: Du musst einem dich durchdringenden Gesetz angehören, musst dich hingeben einem Gesetz, das du intellektuell erfassest.»34
Von besonderem Interesse ist das bei Steiner mehrfach erscheinende Beispiel dt. Kopf / ital. testa. So in den Geisteswissenschaftlichen Sprachbetrachtungen:
«… es ist nur ein künstlicher Zusammenhang, den die lexikografische Übersetzung bietet; weil zuerst der Sprachgenius verfolgt werden muss, der eigentlich etwas anderes meint, als was unmittelbar wiedergegeben werden kann. Wir sagen im Deutschen Kopf = tête, testa im Romanischen. Warum sagen wir im Deutschen Kopf? Aus dem einfachen Grunde, weil wir im Deutschen einen plastischen Genius haben, weil wir das Runde bezeichnen wollen. Denn Kopf hängt mit kugelig zusammen, und wir sprechen im Grunde von demselben sprachbildenden Element her, wenn wir vom Kohlkopf sprechen und vom Menschenkopf. Kopf bezeichnet das Rundliche. Testa hängt aber zusammen mit der inneren Wesenheit des Menschen, mit dem Testieren, Bezeugen, Feststellen. So muss man Rücksicht nehmen, dass aus den verschiedenen Gesichtspunkten her die Dinge bezeichnet werden … So muss man zurückgehen zu dem, was als das gefühlte Element im Sprachbilden drinnen ist.»35
Hier wird deutlich, dass es durchaus nicht immer der etymologische Zusammenhang sein muss, um den es beim Einfühlen in den «Erlebniskomplex» im Sinne der «psychologischen Sprachforschung» oder «Bedeutungslinguistik»36 Steiners geht. Das neuhochdeutsche Wort «Kopf» wird sprachgeschichtlich vom althochdeutschen kopf, chyph = Bechercuptêtetestatestairdenes Geschirr, Topf, UrneBezeugen, Testierentestisder Zeuge