RAINER MARIA RILKE

Jeder Tag
ist der Anfang
des Lebens

Worte des Trostes

Herausgegeben von Ulrich Baer

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4490.

© Insel Verlag Berlin 2017

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: Spencer Jones, Corbis, Berlin

eISBN 978-3-458-74927-1

www.insel-verlag.de

Inhalt

Vorwort

»Das die Vergänglichkeit nicht Trennung ist.«

1. Adelmina Romanelli, 8. Dezember 1907

2. Gräfin Lili Kanitz-Menar, 16. Juli 1908

3. Elisabeth Freiin Schenk zu Schweinsberg, 23. August 1908

4. Sidonie Freiin Nádherný von Borutín, 1. August 1913

5. Ilse Erdmann, 9. Oktober 1915

6. Adelheid Franziska von der Marwitz, 14. Januar 1919

»Ist ja doch auch Einweihung ins eigne Leben.«

7. Lou Andreas-Salomé, 21. Januar 1919

8. Adelheid Franziska von der Marwitz, 11. September 1919

9. Anita Forrer, 14. Februar 1920

»Wo etwas ganz schwer und unerträglich wird, da stehen wir auch immer schon dicht vor seiner Verwandlung.«

10. Erwein Freiherr von Aretin, 1. Mai 1921

11. Nanny Wunderly-Volkart, 2. Juni 1921

12. Reinhold von Walter, 4. Juni 1921

13. Gertrud Ouckama Knoop, 4. Januar 1922

14. Gräfin Alexandrine Elise Klara Antonia von Schwerin, 16. Juni 1922

15. Elisabeth von der Heydt, 17. August 1922

16. Marguerite Masson, 4. Januar 1923

»Selbst die Zeit ›tröstet‹ ja nicht.«

17. Gräfin Margot Sizzo-Noris, 6. Januar 1923

18. Gräfin Margot Sizzo-Noris, 12. April 1923

19. Claire Goll, 22. Oktober 1923

20. Johanna Magdalena Schwammberger, 23. Dezember 1923

21. Rudolf F. Burckhardt, 14. April 1924

22. Catherine Pozzi, 21. August 1924

»Wir sind diese Verwandler der Erde.«

23. Witold Hulewicz, 13. November 1925

Die Briefempfängerinnen und -empfänger

Rainer Maria Rilke: Chronik seines Lebens

Vorwort

Der Dichter Rainer Maria Rilke wandte sich zeit seines Lebens in direkten und persönlichen Briefen an Menschen, die ihm nahestanden, ihn angeschrieben hatten oder denen er flüchtig begegnet war und zu denen er Zuneigung spürte. Seine Beileidsbriefe gehören zu den schönsten und auch schwierigsten Briefen in dieser riesigen Korrespondenz, die Rilke selbst als ebenso bedeutend wie seine Dichtungen und anderen Schriften betrachtete. In all seinen Briefen widmete er sich den Themen der Kunst, der Liebe und des Todes. Tod, Abschied und Verlust stellen den modernen Menschen in einer entzauberten Welt vor die Aufgabe, sich aller Dimensionen des Lebens innerlich bewußt zu werden. Weder Religionen noch die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts mit ihren Erlösungsversprechen von kollektiven Identitäten befreien uns von dieser Aufgabe. In seinen Kondolenzbriefen beschwört er seine Briefempfänger (und damit auch immer uns, denn Rilke schrieb seine Briefe im Bewußtsein der späteren Publikation), dem Schmerz, der uns im Leben überfällt, nicht auszuweichen.

»Der Tod ist nicht über unsere Kraft«, schreibt Rilke in einem der hier gesammelten Briefe. Er bittet die Briefempfängerin, sich nicht aus dem Leben zurückzuziehen aus Angst vor dem fast unerträglichen Schmerz, den der Verlust einer geliebten Person ausmacht. Bleiben Sie im Leben, setzen Sie fort, was die verstorbene Person nicht vollenden konnte, legen Sie Hand an die Kleider und Dinge, die so unsäglich stumm herumstehen und das Fehlen der geliebten Person nur unterstreichen. So rät Rilke eindringlich den Menschen, die jemanden unwiederbringlich verloren haben. Rilke kennt den Schmerz des Verlusts und weiß vom Alleinsein. Er beschönigt in diesen Briefen nichts, sondern ermahnt und bittet die Briefempfänger, sich dem Leben wieder anzuschließen. Sich nicht in Schmerz und bitterer Einsamkeit abzukapseln, sondern zu erkennen, daß das Leben auch und vielleicht sogar hauptsächlich Veränderung und Wandel ist. Sich dem Leben anzuschließen ist für ihn keine Ausflucht oder Verdrängung, keine Leugnung des Todes und Verlusts. Vielmehr ist es die Möglichkeit, den Schmerz, dem man sich ohnehin nicht entziehen kann, tiefer zu ergründen. Zu spüren, wie weit er geht in unserem Inneren, wo die Grenzen zwischen seelischem und körperlichem Schmerz verwischen, und in diesem Aushalten und Durchmachen des Verlusts sich bewußt werden, daß die geliebte Person ja in uns, in unserem Gedächtnis und Gedenken und täglichem Verhalten, weiterlebt.

Rilkes Beileidsbriefe trösten nicht, sie helfen. »Wehe denen, die getröstet sind«, zitiert Rilke die französische Theaterautorin Marie Lenéru, denn Trost ist oft nur eine Ablenkung und Zerstreuung statt wahres Heilen, und oft werden Trostversuche von trauernden Menschen als Aufforderung mißverstanden, die verlorene Person zu vergessen. Rilke ermutigt und bestärkt seine Briefempfänger, den Schmerz auszuhalten, um durch dieses akute Empfinden den Kontakt zurück ins Leben zu finden. Die Zeit, so schreibt Rilke, tröstet ja nicht, sondern »sie räumt höchstens ein, sie ordnet«. Man findet sich allmählich zurecht in der neuen Zeit und in einer Welt ohne die geliebte Person, doch Trost bereitet das nicht. Man lernt das Fehlen kennen wie eine Narbe, die heilt, doch nie verschwindet und manchmal ganz unerwartet schmerzt. Und man lernt, daß der Tod uns nicht übersteigt, sondern uns in tiefere Schichten des Lebens hineindrängt.

Ich habe sehr lange gebraucht, diesen Gedanken, daß der Tod uns tiefer in das Leben drängt, zu verstehen. Als mein Vater zu früh und nach schwerer und entwürdigender Krankheit einen leidvollen Tod starb, fehlten mir die Worte. Es war wenige Wochen nach den Angriffen des 11. Septembers, den ich in New York erlebt hatte, und die Luft, die wir atmeten und (wie Rilke nach dem Ersten Weltkrieg schreibt) »mit dem Gegendruck unserer Adern und Nerven aushalten, war noch voller Rückschläge«. Statt das Leben gewähren zu lassen und zuversichtlich zu sein, daß es mir vieles – darunter Gutes und Schlechtes, aber nichts so meine Kräfte Übersteigendes – zuspielen würde, mußte ich mich anstrengen, auch nur einen normalen Tag zu erleben. Da war wenig unverkrampft und natürlich zu haben, und es gab in den Monaten der Trauer kaum Momente, in denen mir die Luft nicht wie verknappt und noch zitternd erschien.

Ich suchte Rat, Trost, Hilfe, doch da war nichts. Erst in Rilkes Briefen fand ich Zuspruch. Durch eine schwierige Zeit, in denen mir das bewußt gelebte Leben zu entgleiten drohte, hielt ich an diesen Briefen fest. Ich begriff keinesfalls alles, was der Dichter vor einem Jahrhundert an lang vergessene Menschen geschrieben hatte. Wie sollte mich der Schmerz tiefer ins Leben einführen, wo die Trauer mich doch wie betäubt durch Tage und Wochen gehen ließ? Ich las Rilkes Briefe wieder und wieder, und ganz allmählich führten mich seine Worte in Richtung des tatsächlichen Lebens, jenes Lebens voller Überraschungen und Unbekanntem, aus dem ich mich nach dem 11. September und dem Tod meines Vaters aus Furcht vor noch mehr Schmerz und Verlust zurückgezogen hatte. Rilkes Worte waren nicht mehr und nicht weniger als das: Wegweiser zurück ins Leben.

Es waren diese Worte aus einem Brief von Rilke aus dem Jahre 1908, den ich zufällig in einem alten Buch gefunden hatte, die ich wieder und wieder vor mir hersagte:

»Was aber den Einfluß des Todes eines nahestehenden Menschen auf diejenigen betrifft, die er zurückläßt, so scheint mir schon seit lange, als dürfte das kein anderer sein als der einer höheren Verantwortung; überläßt der Hingehende nicht sein hundertfach Begonnenes denen, die ihn überdauern, als Fortzusetzendes, wenn sie einigermaßen ihm innerlich verbunden waren? Ich habe in den letzten Jahren so viel nahe Todeserfahrungen erlernen müssen, aber es ist mir keiner genommen worden, ohne daß ich nicht die Aufgaben um mich herum vermehrt gefunden hätte. Die Schwere dieses Unaufgeklärten und vielleicht Allergrößten, das nur durch ein Mißverständnis in den Ruf gekommen ist, willkürlich und grausam zu sein, drückt uns (so mein ich immer mehr) gleichmäßiger und tiefer ins Leben hinein und legt uns die äußersten Verpflichtungen auf die langsam wachsenden Kräfte.«

Daß Schmerz und Trauer, wenn wir nur den Mut haben, diese auch nur einen Moment länger auszuhalten und zu ergründen, uns »gleichmäßiger und tiefer ins Leben hinein« drücken – an diesen Worten hielt ich mich fest. Ich verstand sie nicht, doch sie machten es möglich, im sprachlosen Nichtverstehen einen Halt zu finden. Der Weg, so schreibt Rilke in all seinen Kondolenzbriefen, führt ins Leben zurück.

Die Zeit tröstete nicht; nach einem guten Jahr, als ich mich nicht besser fühlte, sah ich keine andere Möglichkeit, als mich dem Schmerz als Weg zurück ins Leben zu widmen. Langsam wurden mir Rilkes Worte verständlicher, hilfreicher, ohne mir jedoch die romantische Illusion des Trostes zu geben, daß alles wieder gut wird. Statt dessen wurde mir in der ständigen Lektüre dieser Briefe bewußt, daß der Tod nicht über unsere Kraft geht: »er ist der Maßstrich am Rande des Gefäßes: wir sind voll, sooft wir ihn erreichen –, und Voll-sein heißt für uns Schwer-sein … das ist Alles.«

Dieser Band mit Rilkes Kondolenzbriefen mag anderen Lesern helfen, den Weg aus Trauer und Schmerz zurück ins Leben zu finden. Die Briefe dienen auch als Vorlage, wie man trauernden Menschen in schweren Zeiten Zuspruch leisten kann, ohne den Schmerz zu verklären oder sich auf religiösen Glauben, den Rilke als fruchtlose Weltabkehrung verwarf, zu stützen. Mehrere von seinen Briefen beginnen mit recht unerheblichen Neuigkeiten und Berichten darüber, was er gerade tut: seine Besucher, seine Reisen, Überlegungen und Pläne zur Arbeit und Gedanken zu Blumen, Landschaften und dem Briefeschreiben selbst. Mit diesen belanglosen Worten nähert sich Rilke vorsichtig der trauernden Person und ruft sich wieder ins Gedächtnis, bevor er den Todesfall direkt anspricht. Erst wenn er sich wieder präsent gemacht hat in dem Leben, in das Rilke die Trauernden zurückholen möchte, wendet er sich den Adressaten respektvoll, doch direkt zu. Dann findet er Worte, die den Schmerz immer wieder neu und ungewöhnlich bescheiben.