Band 2
Eine Geschichte für Kinder ab 10 Jahren
von
Eleonore Schmitt
© 2017 Eleonore Schmitt
Tom und Tina Bd. 2 – Jagd auf Juwelen
Umschlag, Illustration:
© clairevis/iStock/Thinkstock
Sonstige Illustrationen:
© Eleonore Schmitt
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN | |
Paperback | 978-3-7345-3431-7 |
Hardcover | 978-3-7345-3432-4 |
e-book | 978-3-7439-0734-8 |
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Endlich Ferien! Tina saß auf den Steinstufen vor ihrer Haustür und atmete tief ein. Das Gefühl grenzenloser Freiheit überkam sie. Sechs Wochen, in denen sie tun und lassen durfte, was sie wollte! Na ja, jedenfalls mehr oder weniger, von ein paar Alltagsaufgaben abgesehen.
Sie fühlte sich insgesamt königlich, da sie über ihre Urlaubszeit herrschen konnte, ohne lästige Hausaufgaben oder Vorbereitungen auf Tests einplanen zu müssen. Kein Zwang, keine Verpflichtungen, einfach nur Zeit. Und die lag wie ein neues, unbenutztes Heft vor ihr, um von ihr beschrieben und gestaltet zu werden. Welch ein Geschenk! Vor allem bei diesem herrlichen, klaren Sommermorgen.
Sie beobachtete den Schatten der Kiefern: Durch den leichten Wind bewegte er sich wie ein Gespenst am helllichten Tag hin und her, wobei es mit seinen „Geisterarmen“ über die Sandsteinplatten des Weges strich. Die Vögel zwitscherten ein vielstimmiges Morgenkonzert. Sogar das Schlagzeug fehlte nicht: Ein Specht klopfte sein Tremolo an einem Nadelbaum. Als ob das Orchester noch vervollständigt werden sollte, landete ein Grünfink direkt vor Tinas Füßen. Er schien sich darum zu bemühen, sein Solo extra für sie zu trällern.
Belustigt und zufrieden lehnte sich das Mädchen zurück, wobei es sich mit ihren Ellenbogen abstützte. Sie hielt ihr Gesicht in die wärmende Sonne und schloss die Augen. So konnte das Leben immer sein! Niemand der ...
„Na, du Träumerin! Du willst wohl die kompletten Ferien verschlafen!“ Toms Stimme schreckte Tina auf. Sie fuhr in die Höhe und schaute sich um, doch nirgendwo erblickte sie ihren Freund.
„Wo bist du?“, rief sie. Keine Antwort. Wieder sah sie sich um. Aber Tom schien unsichtbar zu sein wie Sterne am Tag. Wo mochte er sich nur versteckt haben? Sie versuchte, durch die nahe gelegenen Lorbeerbüsche zu spähen. Ohne Erfolg, der Junge blieb verschwunden. Seltsam! Hatte sie vielleicht geträumt?
Plötzlich wurde hinter ihr die Haustür aufgerissen. Tina fuhr herum. Im Rahmen stand Tom. Er grinste bis über beide Ohren. Offensichtlich herrschte auch bei ihm beste Ferienlaune.
„Wieso kommst du aus dem Haus? Du warst doch gerade noch hier draußen!“
„War ich nicht! Schließlich kann ich nicht zaubern.“
Das kam Tina allerdings völlig anders vor. „Aber du hast mit mir gesprochen!“
„Ja, von drinnen!“
„Das kapier ich nicht!“
„Durch die Gegensprechanlage! Ich hatte dich durchs Fenster gesehen, bin zur Wohnungstür gegangen und habe dich per Anlage begrüßt. Wozu ist die denn sonst da?“
Beide mussten lachen. Seit sie denken konnten, wohnten ihre Familien im gleichen Haus. Genauso lang waren sie schon dicke Freunde. Sie besuchten zusammen den Kindergarten, die Grundschule und inzwischen die weiterführende Schule. Weil sie alles miteinander unternahmen, erlebten sie folglich jedes Abenteuer Seite an Seite. Und Abenteuer schienen zu ihrem Alltag dazuzugehören wie die Butter zum Brot.
Jetzt hast du einen kleinen Einblick in das Leben dieser beiden 13-Jährigen bekommen. Vielleicht kennst du sie ja bereits von ihrem letzten Erlebnis, als sie auf einer Insel ein paar Terroristen dingfest gemacht hatten?
Wenn nicht, schadet das auch nicht. Ich stelle sie dir einfach vor, ehe wir sie bei ihrem nächsten Abenteuer begleiten. Denn dass sich etwas Spannendes bei ihnen anbahnt, glaube ich gewiss. Die beiden ziehen schließlich Aufregendes an wie eine Laterne die Mücken.
Tom ist ein ganzes Stück größer als Tina – obwohl sie gleich alt sind. Sein schwarzer Lockenkopf passt zu seiner dunklen Haut. Tina trägt ihr rotbraunes Haar halblang und wünscht sich insgeheim auch so einen gleichmäßig braunen Teint. Doch ihre helle Hautfarbe wird von zahlreichen Sommersprossen gesprenkelt, die sich wie ein Sternenhimmel vom Nasenrücken über ihre Wangen und über ihre Arme ziehen.
Normalerweise zeichnet sich Tina durch ihre Lebhaftigkeit aus, während Tom bedachter reagiert. Dadurch muss er manchmal die Kohlen für sie aus dem Feuer holen, wenn sie wieder über das Ziel hinaus geschossen ist und Dinge gesagt hat, die besser ungesagt blieben.
Du siehst, sie ergänzen sich fabelhaft und passen so gut zusammen, als hätte jemand in ihrem Leben Regie geführt. Wer weiß, ob das nicht tatsächlich so ist?
Aber genug der Vorstellung. Bevor die beiden uns davonlaufen, wenden wir uns ihnen lieber wieder zu.
„Hast du Lust, schwimmen zu gehen?“ Tom schaute Tina erwartungsvoll an.
„Au ja! Lass uns ins Freibad fahren!“
„Dann laufe ich hoch und packe meine Sachen.“
„Vergissnicht, was zum Essen mitzunehmen!“
Die Kinder sprangen ins Haus. Eine Viertelstunde später trafen sie sich wieder: Jeder trug einen Rucksack gefüllt mit Badeutensilien, leckeren Salamibroten, Obst und Limonade.
„Sollen wir über die Felder fahren? Dieser Weg ist viel interessanter!“ Tom blickte Tina fragend an.
„Und holpriger! Da haben wir wenigstens die Chance, uns einen Achter zu holen ... Aber o. k. Diese Route ist zwar weiter, doch schließlich gehört uns alle Zeit der Welt!“ Und genussvoll fügte das Mädchen hinzu: „Ferien!“ Sie breitete ihre Arme aus und schaute in den Himmel, der sich wolkenlos und strahlend blau über sie wölbte. Ein Flugzeug blinkte kurz im Sonnenlicht auf. Es war, als wollte der Pilot einen Gruß an sie schicken.
Tina dachte: Warum in die Ferne reisen und sich in das Gedränge der Urlaubsregionen stürzen, wenn es zu Hause so schön ist? Sie lachte in die Sonne. Mit was für einem herrlichen Sommertag begannen diese Ferien!
Tom hatte bereits sein Fahrrad aus der Garage geholt und schob nun ihres heraus. „Schluss mit dem Schwärmen! Wenn wir nicht bald losfahren, macht das Schwimmbad zu.“
Sie stiegen auf und traten kräftig in die Pedale. Schnell ließen sie die Ortsgrenze hinter sich.
„Schau mal, da oben. Dort fliegt ein Bussard!“ Tom wies auf einen kreisenden Vogel. „Er sucht sicher sein Mittagessen!“
„Solange er dabei nicht an uns denkt, ist es mir egal!“
Tina kannte Toms Interesse für Tiere. Sie hoffte immer, dass sie von seinen Natur-Forschungen verschont blieb. Sie selbst hegte eine etwas vorsichtigere Haltung allem Getier gegenüber. Tierische Lebewesen erschienen ihr unberechenbar, weshalb sich ein ängstliches Grummeln in ihrer Magengegend ausbreitete, sobald sie mit ihnen in Berührung kam.
Die Kinder radelten fröhlich über die Felder und genossen den leichten, kühlenden Fahrtwind, denn die Sonne tat ihr Bestes, um die Luft wie einen Backofen aufzuheizen. So bildeten sich bei Tina nach und nach Schweißperlen auf der Stirn, die sie mit einer flüchtigen Bewegung fortwischte.
„Puh, ist das heiß! Ich schwimme ja jetzt schon allerdings in meinen Klamotten!“ Das Mädchen hatte einen hochroten Kopf.
„Tröste dich, wir sind bald da.“
Damit fuhren sie um die letzte Kurve. Vor ihnen lag das Schwimmbad. Aber o weh! Eine riesige Menschenschlange wartete davor. Es schien, als ob die gesamte Stadt die gleiche Idee gehabt hätte wie sie selbst. Der Parkplatz glich einer Blechlawine. Er war so überfüllt, dass die Autos schon die ganze Straße entlang parkten. Entnervte Parkplatzsucher quetschten sich in engste Lücken. Manche hupten, wenn die Wartenden ihnen in die Quere kamen. Nein, Ferienspaß sah anders aus, dieses hier war Stress pur!
„Das darf nicht wahr sein! Da brauchen wir ja Stunden, bevor wir dran kommen!“ Tina hatte scharf abgebremst. Entsetzt schaute sie auf die vielen Kinder und Erwachsenen, die beladen mit ihren Strandtaschen sowie aufgeblasenen Plastikkrokodilen in der Sonne unfreiwillig gebraten wurden.
„He, pass auf!“ Gleichzeitig mit der warnenden Stimme hörte sie ein knirschendes Geräusch, spürte einen Schlag und verlor ihr Gleichgewicht, da ihr Fahrrad einen Satz machte. Unsanft landete sie im Gras.
Erschrocken schaute sie sich um. Es kam ihr vor, als hätte eine unsichtbare Hand sie nach vorne geworfen. Aber Gespenster gab es schließlich nicht, oder?
„O, Verzeihung! Das wollte ich nicht!“
Hinter ihr stand das „Gespenst“: ein schwarzhaariger Junge, der sich das schmerzende Knie rieb. Ein Mädchen, das fast genau so aussah wie er, kam auf ihrem Fahrrad heran.
1„Tipik!“, rief sie. Doch dann wandte sie sich Tina und Tom zu: „Ach, entschuldigt bitte! Jetzt habe ich vergessen, deutsch zu reden!“ Wieder sah sie den fremden Burschen an und schimpfte: „Typisch! Musst du immer so rasen?“
„Hör auf - ich bin schon genug gestraft worden!“ Dabei hielt er sich erneut seine Wade.
Tom hatte sein Rad abgestellt, um Tina auf die Beine zu helfen. „Ich glaube, es ist nichts Schlimmes passiert. Also hört auf zu zanken. Wer seid ihr überhaupt?“
„O ja, wir sollten uns vorstellen! Das ist Nilgün“, der Junge wies auf das Mädchen, „und ich bin Ünal!“
Auch unsere beiden Freunde nannten ihre Namen. Dann fragten sie: „Wo kommt ihr her?“ „Wir wohnen seit gestern in dem Dorf da hinten.“ Nilgün zeigte über die Felder.
„Dann seid ihr die Familie, die in das gelbe Haus gezogen ist?“
„Ja - woher weißt du das?“
„Wir leben in dem Haus daneben.“
„Das ist ja wunderschön!“
„Sagt mal, wie kommt es, dass ihr so ausgesprochen gewählt redet?“
„Danke! Das Lob gefällt mir! Wir sind erst seit wenigen Wochen in Deutschland und haben vorher in unserer Heimat, der Türkei, Deutsch gelernt. In einem Kurs, der eher die Sprache für Geschäftsleute unterrichtete als die Alltagssprache. Sonst gab es keine Möglichkeit für uns, vor dem Umzug Deutsch zu lernen.“
„Wow, ihr könnt aber echt gut Deutsch sprechen! Ihr seid wohl Sprachgenies?“
„Unsere Eltern meinten, wir sollten von Anfang an mit den anderen reden können. Deshalb haben sie viel Wert darauf gelegt, dass wir die Sprache ordentlich lernten. So haben sie uns schon frühzeitig zu dem Unterricht geschickt.“
Die Geschwister sahen sich an. „Das bedeutete echten Stress!“
„Aber er hat sich gelohnt!“ Tom war beeindruckt von dieser Leistung. Seine Fremdsprachenkenntnisse waren eher bescheiden, obwohl er nun seit zwei Jahren Französisch pauken musste. Vielleicht lag es daran, dass er die Sprache nur theoretisch lernte und keine wirkliche Notwendigkeit dafür sah? Sozusagen Schwimmübungen auf dem Trockenen?
Er hörte, wie Tina ebenfalls beeindruckt sagte: „Ihr müsst super Eltern haben! Wie alt seid ihr eigentlich?“
„Dreizehn Jahre!“
„Beide?“
„Ja, wir sind Zwillinge!“
„Deshalb ähnelt ihr euch so! Übrigens sind wir alle gleich alt.“ Tina lachte die anderen an.
Die zwei Neuankömmlinge strahlten zurück. Doch dann verfinsterte sich Ünals Gesicht. „Zu viele Menschen stehen da!“ Er zeigte auf die Wartenden vor der Kasse. Die drei anderen schauten ebenso frustriert zum Eingang.
„Was sollen wir jetzt machen?“
Tina seufzte. „Ich stell‘ mich jedenfalls nicht dort an! Meine Ferienzeit verplempere ich nicht in einer Schlange!“
„Das wäre das erste Mal, dass du freiwillig ein Tier aufsuchen würdest!“
Tina musste über Toms freundschaftlichen Seitenhieb lachen. Doch dann hob sie energisch ihr Fahrrad auf. „Am liebsten würde ich mir eine schöne, schattige Wiese suchen, mich darauf legen und irgendwann ein Picknick machen.“
„Wo willst du hier Schatten finden? Weit und breit gibt es nur Felder!“
„Ich weiß, wo keine Sonne ist! Kommt mit.“ Ünal wendete sein Fahrrad. „Was ist? Traut ihr mir nicht?“
Tom blickte Tina fragend an. Diese zuckte unschlüssig mit den Schultern.
„Wie lange müssen wir denn radeln? Wir sind alle schon ziemlich verschwitzt.“
„Es dauert nur wenige Sekunden!“
„Sekunden?“, riefen die anderen im Chor.
„Stimmt das nicht? Der große Zeiger wandert einen Strich weiter.“ Dabei wies er fragend auf seine Uhr.
„Minuten! Du meinst Minuten!“, verbesserte ihn seine Schwester.
„Ja, ja, nur wenige Minuten. Gestern habe ich eine schöne Wiese gesehen - mit genug Schatten!“ Er grinste schelmisch, weshalb die anderen das Gefühl nicht loswurden, dass er etwas Außergewöhnliches im Sinn hatte.
Ünal sauste in ziemlichem Tempo los. Tina, als die Langsamste, kam kaum mit. Es ging querfeldein. Wenn nur ihre Räder von den Schlaglöchern keine Delle bekamen! Dieser Ünal war nicht nur ein Sprachgenie, sondern daneben anscheinend auch ein geübter Rennfahrer.
Nach ein paar Minuten kam ein alter Zirkuswagen in Sicht. Der Junge fuhr um ihn herum auf die andere Seite, bremste und ließ sein Fahrrad fallen. Als seine Kameraden ankamen, pfiffen sie erstaunt.
„Der ist ja genial!“
„Toll! Genau richtig für uns!“
„Wohnt hier jemand?“
Auch die anderen stiegen von ihren Rädern. Vor ihnen stand der schönste Wagen, den sie je gesehen hatten. Er war zwar bereits in die Jahre gekommen - das verrieten sein alter Kutschbock und die mit rostigem Eisen ummantelten Holzräder - aber sonst war er gut in Schuss. Außerdem war er wie ein Bild bemalt. Die Längsseite zierte ein Sonnenblumenfeld, das täuschend echt aussah.
„Ist der offen? Lasst uns mal reingehen!“ Nilgün wandte sich neugierig zur Tür an der schmalen Rückseite.
„Klopf vorsichtshalber an!“
Doch auf das Pochen antwortete niemand. Langsam zog sie die Tür auf. Muffige Luft schlug ihnen entgegen, ähnlich wie aus einem alten Kellergewölbe.
Sie kletterten hinein. Ihre Augen mussten sich erst einen Moment an das Halbdunkel gewöhnen. Es war ein geräumiger Innenraum, jedoch völlig leer. Nachdem die Vier durch die Fenster nach draußen über die Felder geschaut hatten, sprangen sie zurück an die frische Luft.
„Toll ist er ja, aber wo ist der heiß ersehnte Schatten, außer da drinnen?“
„Der kommt gleich! Ich muss nur kurz zaubern!“
Ünal robbte unter den Wagen.
„Was? Sollen wir uns jetzt alle darunter legen?“, entsetzte sich Nilgün, „wir sind doch keine platten Flundern!“
„Quatsch! Ich hole nur eine Kurbel.“ Der Junge erschien wieder mit einer Eisenstange. Er hob sie hoch und steckte ihr hakenartiges Ende unterhalb des Daches in eine Öse. Dann drehte er sie. Langsam rollte sich eine Markise heraus.
„Mensch, Ünal, du bist einfach klasse! Woher kennst du dich so gut aus? Ihr wohnt doch erst so kurz hier!“
„Ich habe gestern gleich die Umgebung abgesucht - und dabei habe ich diesen Wagen gefunden.“
1 »tipik« ist türkisch und heißt »typisch«