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„Ich ging von dem Standpunkt aus, dass mein Leben nicht wertvoller sei, als dasjenige all der unschuldig Verfolgten, und dass, wenn ich anderen zu helfen in der Lage wäre, ich dachte da in erster Linie an Kinder, mein Leben so reich sei, dass ich dann hinnehmen müsste, was eben kommen würde.“

Diana Budisavljević, 27. Februar 1942

Inhalt

I. Der Beginn

II. Erste Schritte

III. Der erste Besuch in Loborgrad

IV. Feinde und Verbündete

V. Die fehlende Genehmigung und eine Verhaftung

VI. Die Befreiung der Kinder aus Loborgrad

VII. Hausdurchsuchung

VIII. Genehmigung von Vilko Kühnel

IX. Die verschwundenen Kinder von Kordun

X. Die Befreiung der Frauen aus Loborgrad

XI. Noch mehr Verbündete

XII. Der kroatische Pope und die Massaker von Glina

XIII. Der Erzbischof und die Caritas

XIV. Zwangsarbeiter

XV. Kozara

XVI. Kordun

XVII. Reise nach Stara Gradiška

XVIII. Das Kinderspital in Stara Gradiška

XIX. Die Kinder aus den Lagern

XX. Die Gründung von Jastrebarsko

XXI. Jasenovac und Mlaka

XXII. Die Hölle von Jastrebarsko

XXIII. Die letzte Fahrt nach Mlaka

XXIV. 68 tote Kinder in drei Tagen

XXV. Kolonisation

XXVI. Josipovac

XXVII. Sisak

XXVIII. Kinder und Mütter

XXIX. Neretva

XXX. Die Kartothek

XXXI. Verrat

XXXII. Das Ende

XXXIII. Epilog

Nachwort

Dank

Quellen

I.
Der Beginn

1

Am Morgen des 23. Oktober 1941 zog Diana Budisavljević die schweren Vorhänge im Wohnzimmer beiseite und servierte Tee. Sie und ihre Schwägerin Mira Kušević hatten es sich gemütlich gemacht. Mira wollte wissen, wie es den beiden Töchtern ging. Ob schon bald ein neues Enkelkind zu erwarten sei und wie sich die Schwiegersöhne so machten.

Diana stand eine ganze Weile beim Fenster und sah hinaus, während sie mit Mira redete. Sie war ein wenig ungeduldig. Ihre Schneiderin hatte versprochen, heute vorbeizuschauen. Eigentlich war sie schon viel zu spät dran.

Gerade als sich Diana setzen wollte, hörte sie, wie jemand die Stiege heraufkam. Es war die Schneiderin mit einer Mappe voller Muster und Stoffe. Sie legte ihren Mantel ab und breitete gleich ihre Schätze auf dem Wohnzimmertisch aus.

Während Diana auch ihrem neuen Gast eine Tasse Tee einschenkte, dachte sie kurz daran, was sie heute noch vorhatte. Ihr Mann war bei der Arbeit an der Universität. Er würde erst am Abend zurückkommen. Von ihren beiden Töchtern hatte sie heute noch nichts gehört. Sie fragte sich, ob eine der beiden vielleicht auch ein neues Kleid brauchte, überlegte kurz, ob sie sie anrufen sollte, entschied sich aber dagegen.

Diana nippte von ihrem Tee und hörte der Schneiderin zu, wie sie davon erzählte, welche Schnitte in dieser Saison als besonders elegant galten. Doch dann sagte die Schneiderin etwas, das der Unterhaltung eine andere Richtung gab.

„Der Krieg bringt die große Kälte. Und jetzt hat der Krieg auch Kroatien erreicht.“

Der letzte Winter war besonders streng gewesen. In Ungarn und in den bosnischen Bergen war die Temperatur auf minus 35 Grad gefallen. Man sagte, in Russland sei es noch viel kälter gewesen, und in ganz Europa seien viele Menschen erfroren.

„Eines ist sicher“, unterbrach Dianas Schwägerin Mira die Erzählung der Schneiderin. „Es werden wieder viele Menschen sterben. Hunderte, vielleicht Tausende. Jedenfalls noch viel mehr als im letzten Winter, auch hier in Kroatien.“

Diana stellte ihre Teetasse ab. Sie sah Mira an und fragte, wie sie das meine.

Schon jetzt müssten viele Menschen im Freien übernachten oder in desolaten Häusern, erzählte Mira. Sie müssten es doch selbst schon gemerkt haben, dass die Lebensmittel knapp waren und man oft nicht einmal Mehl oder Zucker bekam. Und da war noch etwas, das Mira Angst machte. Es wüssten doch alle, was mit den Juden geschehe, seit die Deutschen einmarschiert und die Ustaša an der Macht seien. Man könne es an jeder Straßenecke sehen, und die neuen Politiker machten keinen Hehl daraus, was sie vorhatten.

Es war ja nicht nur so, dass Juden die Parks und Restaurants in Zagreb nicht mehr betreten durften. Sie wurden verhaftet, und man steckte sie in Konzentrationslager. Sie hatten doch alle die Schlagzeilen gelesen. Schon vor Monaten hatte der neue Staatschef Ante Pavelić verkündet, man würde die Judenfrage ganz im Sinne der deutschen Verbündeten lösen.

Diana konnte sich daran erinnern. Es hatte viele solche Zeitungsartikel gegeben, und sie hatte auch von Angriffen gegen Juden hier in Zagreb gehört. In Osijek hatten Jugendliche sogar die Synagoge angezündet. Die Juden mussten einen gelben Stern tragen, wenn sie auf Straße gingen. Die Serben, die man jetzt Prawoslawen nannte, trugen als Erkennungszeichen ein „P“, und Roma und Sinti mussten ebenfalls Abzeichen tragen, damit man sie von Weitem erkannte. Die Welt hatte sich verändert, und das nicht nur weit weg im Deutschen Reich, sondern direkt hier in Zagreb.

Die Rassegesetze, die Ante Pavelić kurz nach der Machtübernahme erließ, orientierten sich in wesentlichen Zügen an den Nürnberger Gesetzen der Nationalsozialisten, mit der Ausnahme, dass Pavelić die Serben als minderwertige Rasse ganz besonders hervorstrich.

„Aber es gibt doch sicher jemanden, der den Gefangenen hilft?“, fragte Diana.

Mira stellte ihre Teetasse ab und beugte sich vor. „Ich habe da etwas gehört“, sagte sie verschwörerisch. „Wisst ihr, ich war bei Marija zu Besuch, Marija Ladević. Diana, du kennst sie. Und sie hat mir erzählt, dass die jüdische Gemeinde hier in Zagreb für die Gefangenen sammelt.“

In Loborgrad, im alten Schloss, hatte man angeblich ein Frauenlager errichtet. Ein Büro der jüdischen Gemeinde sammelte Kleider und Essen und schickte die Hilfsgüter ins Lager. Aber soweit Mira wusste, kümmerte sich niemand um die serbisch-orthodoxen Frauen und Kinder.

„Aber das kann ja nicht sein, dass Frauen und Kinder einfach so weggesperrt werden“, sagte Diana. Sie wollte das nicht glauben.

2

Am Nachmittag machten sich Diana Budisavljević und ihre Schwägerin Mira auf den Weg zur jüdischen Gemeinde. Das Büro lag in der Innenstadt in der Trenkova-Straße, und der Weg war nicht weit. Schon als sie in die Straße einbogen, sahen sie die Aufschrift im Schaufenster: „Skrb za logore“, was so viel heißt wie „Hilfe für das Lager“.

Der Mann, der die beiden Frauen empfing, war sehr höflich. Er bat sie herein und führte sie herum, erklärte, worin die Aufgaben des Büros bestanden. Die Gefangenen waren, was Essen und Kleidung anbelangte, weitgehend auf sich selbst gestellt. Die Ustaša, oder, wie im Fall Loborgrad, die Einsatzstaffel der Volksdeutschen, übernahm nur die Bewachung der Insassen. Mehr interessierte sie nicht. Deshalb hatte die jüdische Gemeinde einen Antrag an die Regierung gestellt, und so durften die Beauftragten des Büros „Skrb za logore“ nun Hilfsgüter im Lager verteilen.

Ob er irgendetwas über die serbischen Insassen erzählen könne, wollte Diana wissen. Ob er davon gehört habe, dass sich in Loborgrad nicht nur jüdische, sondern auch serbisch-orthodoxe Frauen befanden.

Nein, der Mann schüttelte den Kopf. Davon habe er noch nie gehört. Aber unmöglich sei es nicht. Er wolle sich jedenfalls umhören. Sie sollten doch bald wieder vorbeischauen, dann könne er sicher mehr darüber sagen.

Auf dem Heimweg unterhielten sich Diana und Mira, wie man weiter vorgehen sollte. Vielleicht konnte man die jüdische Gemeinde dazu überreden, auch die serbisch-orthodoxen Insassen zu unterstützen. Geld würde sich auftreiben lassen. Das Büro müsste nur mehr Hilfsgüter einkaufen und sie ins Lager schicken. Das konnte kein so großes Problem sein. Jedenfalls durfte man das nicht zulassen, dass Frauen und Kinder hungerten. Egal, welcher Religion oder welchem Volk sie angehörten.

Als sie sich trennten, hatte die Dämmerung schon eingesetzt. Dianas Mann Julije musste bald nach Hause kommen. Aber gleich am nächsten Tag wollte Diana wieder ins Büro der jüdischen Gemeinde gehen und nachfragen, ob man schon etwas herausgefunden hatte.

3

Wie sich Diana Budisavljević fühlte, was sie dachte, ist nur schwer aus ihrem Tagebuch, das sie ab Oktober 1941 führte, abzulesen. Ihre Eintragungen beschränken sich beinahe ausschließlich auf Fakten und Beobachtungen. So verrät uns das Tagebuch auch nichts darüber, welche Gedanken Diana durch den Kopf gingen, bevor sie wieder zum Büro der jüdischen Gemeinde aufbrach.

Sie musste aber an die Frauen und Kinder gedacht haben, von denen sie noch so wenig wusste. Das Schloss in Loborgrad konnte sich Diana vielleicht nur schemenhaft vorstellen. Es musste ein großes Gebäude sein, sonst wäre es kein Schloss, und darin hatte man die Frauen eingesperrt. Es gab zu wenig zu essen, und wie es mit der Heizung aussah, das wollte sich Diana gar nicht ausmalen.

Wenn der Winter wieder so eisig wurde wie der letzte, dann nutzte einem ein Dach über dem Kopf wenig. Man musste heizen, sonst kroch der Frost durch die Wände und bis hinein in die Betten.

Sie erzählte ihrem Mann noch nichts. Zuerst wollte sie mehr in Erfahrung bringen. Und als sie abermals die Tür zum Büro „Skrb za logore“ öffnete, hatte sie Glück. Der Mann, der ihr nun gegenüberstand, kannte die Zustände in Loborgrad. Robert Stein leitete das Büro „Skrb za logore“ und war für die Versorgung aller jüdischen Insassen in den Konzentrationslagern in Kroatien zuständig.

In Loborgrad, so erzählte er, waren ausschließlich Frauen und Kinder untergebracht. Und ja, es gab dort auch serbisch-orthodoxe Insassen. Wie viele das waren, konnte er nicht sagen, da sich die jüdische Gemeinde ausschließlich um jüdische Insassen kümmerte.

„Also sind die serbischen Frauen und Kinder ganz auf sich allein gestellt?“, fragte Diana.

„Soweit ich weiß, ja“, antwortete Stein, und er schilderte Diana, was er selbst gesehen hatte.

In dem Schloss gab es so gut wie keine Möbel. Viele der Frauen und Kinder schliefen auf Strohballen oder auf dem nackten Boden, weil es nicht genug Stroh gab, um sich ein Bett zu machen. Das Dach war undicht, und wenn es regnete, sammelte sich das Wasser in Pfützen, rann über die Treppen.

Robert Stein meinte, wenn sie helfen wolle, dann müsse sie sich an die Zuständigen im Hauptbüro der jüdischen Gemeinde wenden. Also machte sich Diana auf und ging zum Tomislav-Platz, wo sich die Zentrale der jüdischen Kultusgemeinde befand. Dort war man zunächst darüber erstaunt und gleichzeitig erfreut, dass sich jemand um die serbisch-orthodoxen Frauen kümmern wollte.

„Sie haben recht“, sagte der Mann, der Diana nun gegenüberstand. „Eine Hilfsaktion für die serbischen Frauen und Kinder ist dringend nötig. Aber die jüdische Gemeinde kann das nicht leisten. Wir wissen schon jetzt nicht, woher wir das Essen und die Kleidung bekommen sollen. Am besten wäre es, Sie selbst würden eine Hilfsaktion starten.“

„Ich? Um Gottes willen. Das kann ich doch nicht.“

„Aber wir würden Ihnen helfen“, fuhr er fort. „Wir haben die Erlaubnis, Hilfsgüter ins Lager zu bringen. Sie könnten sich uns anschließen.“

„Eigentlich habe ich nur daran gedacht, Geld zu spenden. Eine monatliche Spende. Ich habe so etwas ja noch nie gemacht. Für eine Hilfsaktion braucht man doch Erfahrung, und man braucht Leute, die einen unterstützen.“

Natürlich hatte der Mann von der jüdischen Gemeinde recht. Wenn Diana nichts unternahm, dann würde mit großer Wahrscheinlichkeit gar nichts geschehen. Die serbisch-orthodoxen Frauen und Kinder würden Hunger leiden und frieren. Doch Diana erschien diese Aufgabe wie ein riesiger Berg, der vor ihr aufragte, steil und unbezwingbar. Wie sollte sie auch nur einen Menschen dazu bringen, ihr zu helfen? Woher sollte das Geld kommen, die Kleider? Nein, sie war nicht die richtige Person für diese Aufgabe, und das sagte sie auch.

Dennoch ließ sie der Gedanke nicht los, und schon auf dem Heimweg begann sich, fast wie von selbst, so etwas wie ein Plan zu formen. Sie könnte Mira anrufen. Das wäre schon einmal ein Anfang, und dann müsste sie nach Mitgliedern der serbisch-orthodoxen Gemeinde suchen. Ihr Mann kannte sicher einige von ihnen. Er war ja selbst serbischorthodox, auch wenn er nicht in die Kirche ging und auch sonst wenig mit Religion im Sinn hatte.

4

Am Abend erzählte sie ihrem Mann vom Besuch bei der jüdischen Gemeinde und ihrem Gespräch mit Robert Stein. Sie konnte es in Julijes Gesicht sehen, wie sehr ihn die Beschreibung des Lagers schmerzte.

„Wir müssen helfen“, sagte er dann. „Wenn du dich an die jüdische Hilfsaktion anschließen kannst, ist schon viel gewonnen. Dann ist der Transport gesichert.“

Trotzdem mussten sie sich nach Verbündeten umsehen, und genau darin lag die Gefahr. Wenn Diana eine ihrer Freundinnen fragte oder Julije das Thema an der Universität zur Sprache brachte, bestand immer die Gefahr, dass einer darunter war, der sie bei der Ustaša anzeigte. Das konnte sehr schnell unangenehm werden.

„Aber man kann die Kinder doch nicht einfach sterben lassen“, sagte Diana. „Außerdem hilft die jüdische Gemeinde den Juden ja auch, und die haben sogar eine Genehmigung dafür.“

„Und du meinst, wenn die Serben jetzt das Gleiche machen, werden die Ustaša und die Sicherheitspolizei das akzeptieren? Ich glaube, dass ich selber Serbe bin, wird uns da nicht helfen.“

„Aber du bist doch in Kroatien geboren“, sagte Diana.

„Das damals noch Teil des Habsburgerreiches war. Aber das interessiert die neuen Herren nicht. Die interessiert auch nicht, was ich selbst dazu sage. Für die bin ich ein Serbe. Denen ist ganz egal, dass meine Mutter eine Deutsche war. Der Name reicht völlig, und weiter fragen sie nicht.“

An jenem Abend wogen Diana und Julije die Gefahr gegen die Liebe. Es war möglich, ja es war sogar sehr wahrscheinlich, dass früher oder später eine Abordnung von Ustaša-Soldaten die Wohnung stürmte. Vor einem Universitätsprofessor und angesehenen Chirurgen wie Julije hatten sie wohl mehr Respekt als vor einem serbischen Bauern, aber im Ernstfall würde ihm seine gesellschaftliche Stellung wenig helfen. Die Ustaša würden ihm vorwerfen, dass er und seine Frau den Aufbau des kroatischen Staates unterminierten und dass sie den Feind unterstützten. Dann würden sie und ihre Familie in einem Lager verschwinden.

Aber diese Gefahr drohte ohnehin. Die Ustaša waren unberechenbar. Auch wenn sie Julije jetzt noch in Ruhe ließen, konnte sich das morgen schon ändern. Wer wusste schon, was diesen Leuten einfiel? Vielleicht kamen sie auf die Idee, kroatische Menschen dürften ab jetzt nicht mehr von serbischen Ärzten behandelt werden. Auch dann drohte der Familie Budisavljević das Lager.

Das Gespräch zog sich lange hin. Die Nacht hatte ihren Höhepunkt schon überschritten, als Diana und Julije zu einem Ende kamen. Sie hatten all den Schrecken, der über sie hereinbrechen konnte, benannt. Sie wussten, dass ihr Leben in Gefahr war, dass ihre ganze Familie darunter leiden würde, wenn auch nur etwas schiefging. Dennoch entschieden sie sich für die Hilfsaktion. Sie konnten nicht zusehen, wie Kinder starben.

II.
Erste Schritte

1

Als Julije mit seinem Gast das Wohnzimmer betrat, unterbrach er Dianas Grübeln. Sie stand auf und kam mit ausgestreckten Händen auf ihren Mann zu, küsste ihn und wandte sich dann an seinen Begleiter. Dr. Marko Vidaković war ein alter Freund Julijes, Architekt und Städteplaner. Julije hatte ihn in der Stadt getroffen.

Auf dem Heimweg hatte ihm Julije vom Lager in Loborgrad und der jüdischen Gemeinde erzählt. Vidaković war schockiert. Natürlich hatte auch er davon gehört, was die neue Regierung vorhatte, und gerüchteweise waren auch Nachrichten über Massaker an serbischen Bauern in Bosnien zu ihm gedrungen, aber er hatte das nicht besonders ernst genommen. In Krisenzeiten wurde viel geredet, und Politiker und Militärs plusterten sich auf wie Pfaue.

Aber jetzt, als er aus vertrauenswürdigem Mund hörte, dass all der Schrecken tatsächlich existierte, zögerte er nicht. „Wir müssen die Hilfsaktion von Anfang an auf eine solide Basis stellen“, meinte er, erklärte sich bereit, die Kasse gemeinsam mit Diana zu führen, und zahlte auch gleich etwas ein.

Diana schrieb in ihrem Tagebuch, dass Dr. Marko Vidaković von diesem Tag an eine der wichtigsten Stützen ihrer Aktion war.

Das war der Beginn. Schon Stunden später tauchte ein älterer Mann in der Wohnung der Budisavljevićs auf. Er hieß Đuro Vukosavljević, war 78 Jahre alt und hatte eine Visitenkarte von Lazar Lađević, einem angeheirateten Verwandten Julijes bei sich. Auf dem Zettel stand, dass man dem Mann vertrauen konnte. Auch er blieb lange an Dianas Seite, war immer zur Stelle, wenn es darum ging, Kisten zu schleppen, Kleidung zu sortieren oder neue Unterstützer anzuwerben.

An diesem Tag überschritt Diana Budisavljević die Grenze zwischen Sorge und Tat. Vielleicht ohne es zu bemerken, wurde sie zur Aktivistin. Schon am Nachmittag machte sie sich wieder auf den Weg zum Büro der jüdischen Gemeinde. Robert Stein hatte Listen besorgt. Für jeden serbisch-orthodoxen Insassen gab es ein eigenes Blatt, auf dem aufgeführt war, was besonders dringend benötigt wurde. Da gab es zum Beispiel eine Frau Pejović und ihre vier Kinder, die unter anderem um Schuhe baten.

Diana unterhielt sich eine Weile mit Stein, und er erzählte ihr, dass das Lager in Loborgrad nicht direkt der kroatischen Sicherheitspolizei RAVSIGUR und damit der Ustaša unterstand. In Loborgrad führte ein Volksdeutscher das Kommando. Er hieß Karl Heger und stammte aus Osijek. Stein meinte, das könne vielleicht im Hinblick auf die serbischen Frauen ein Vorteil sein. Denn auch wenn die Volksdeutschen mindestens ebensolche Judenhasser waren wie ihre reichsdeutschen Vorbilder, so war es doch möglich, dass sie den Hass gegen die Serben nicht mit den Ustaša teilten.

2

Als Diana am nächsten Vormittag die Unterlagen in Händen hielt, stockte ihr der Atem. Was bedeutete es, wenn all diese Dinge in einer Unterkunft fehlten? Wenn es nicht einmal Seife gab, um sich zu waschen? Hunderte Frauen und Kinder, zusammengepfercht in diesem Schloss, und es fehlte an allem.

Wie Robert Stein schon gesagt hatte, brauchten die Frauen dringend Stroh, um sich daraus Betten zu machen. Es war zwar erst Oktober, aber in den Nächten kroch die Kälte in das desolate Schloss, und die Kinder froren. Also benötigten die Menschen auch Mäntel und Decken, Hauben und Westen und vor allem Schuhe.

Noch während Diana überlegte, woher sie all diese Dinge bekommen sollte, wo man Stroh kaufte und wie man die Pakete dann ins Büro der jüdischen Gemeinde brachte, läutete es an der Haustür. Eine Frau stand davor und hielt Diana eine Tasche entgegen.

„Für die armen Frauen im Lager“, sagte sie und ging, sobald Diana die Tasche an sich genommen hatte. Diana folgte ihr zwei Schritte, aber die Frau lief davon.

In der Tasche befanden sich Kleider und Socken, und Diana hatte die Tasche noch kaum abgestellt, als es schon wieder läutete. Die nächste Dame stand da und drückte Diana einen Koffer in die Hand, und so ging das den ganzen Vormittag. Die Sammelaktion hatte sich herumgesprochen, und aus ganz Zagreb kamen Leute, um Decken, Jacken und andere Dinge abzugeben. Bald stapelten sich die Taschen, und Diana rief ihre beiden Töchter an. Sie mögen doch vorbeikommen und ihr helfen.

Auch Đuro Vukosavljević tauchte auf und übernahm das Sortieren. Er ging dann los und kaufte mit dem ersten Geld aus der Kasse Decken am Schwarzmarkt. Als er zurückkam, berichtete er davon, wie er von dem Händler in die Zange genommen und befragt worden war. Wozu er so viele Decken brauche, was er denn damit anstellen wolle. Ihm sei im Winter eben kalt, hatte Đuro geantwortet und bezahlt. Er könne sich doch in so viele Decken einwickeln, wie er wolle. Aber jetzt zitterte er.

Die Menschen seien misstrauisch, sagte er. Wenn hier den ganzen Tag Leute ein und aus gingen, wie konnte man sich da sicher sein, dass nicht ein Spitzel dabei war? Einer, der zur Ustaša lief und sie alle verriet?

Diana ging dieser Gedanke schon den ganzen Tag im Kopf herum, und nun hatte Đuro ihn ausgesprochen. Es war riskant, seine Türen für Fremde zu öffnen, ihnen zu vertrauen und von ihnen Hilfsgüter anzunehmen. Doch es ging nicht anders, sie brauchten ein Netz von Unterstützern. Wie in einem Schneeballsystem musste sich die Nachricht unter den Serben in der Stadt verbreiten, nur so konnten sie genügend Kleider für den Winter sammeln.

Aber Đuro hatte recht. Sie mussten vorsichtig sein. Die Menschen, die zu ihnen kamen und Spenden abgaben, waren es auch. Keiner von ihnen ließ sich eine Bestätigung für die Spenden ausstellen. Die meisten wollten noch nicht einmal ihren Namen nennen.

Bei vielen war das auch gar nicht nötig. Diana kannte sie. Die Familie Budisavljević hatte einen großen Kreis an Freunden und Bekannten. Man war einander bei Theaterpremieren und Konzerten begegnet. Einige von ihnen arbeiteten beim Roten Kreuz, zu dem Julije gute Beziehungen unterhielt. Das Gerücht über die Hilfsaktion sprach sich schnell herum, und die Menschen ergriffen die Gelegenheit und halfen.

Dianas Töchter, Ilse und Jelka, stellten einen Tisch in die Garage, direkt unter die Deckenleuchte. Dort sortierten sie die Kleidung, und jetzt sahen sie verwundert auf, als ihre Mutter mit dem Wohnzimmervorhang über dem Arm auf sie zukam.

„Wir haben keine Zeit“, sagte Diana. „Die erste Lieferung muss in den nächsten Tagen ins Lager gehen. Wir können nicht riskieren, dass alles konfisziert wird, wenn uns jemand an die Ustaša verrät.“

So fiel zuerst der Wohnzimmervorhang der Hilfsaktion zum Opfer. Daraus wurden Winterjacken für Kinder. Die seidenen Vorhänge aus dem Schlafzimmer verarbeiteten Diana und ihre Töchter zu Unterleibchen, und zwischendurch ging Diana immer wieder zum jüdischen Büro, um sicherzugehen, keinen Termin zu verpassen.

Am 6. November war es dann so weit. Die erste Lieferung für die serbischen Frauen und Kinder ging von Zagreb nach Loborgrad. „Es war für uns alle ein glücklicher Tag“, schrieb Diana in ihr Tagebuch. Damit begann die „Aktion Diana Budisavljević“.

3

In diesen Tagen spazierte Diana oft zwischen ihrer Wohnung und dem jüdischen Büro hin und her. Manchmal fuhr sie auch mit dem Wagen und brachte Kartons mit Winterkleidern und Decken. Die Transporte nach Loborgrad funktionierten, und Diana war voller Pläne.

Dort im Büro erfuhr sie von einer Frau, die man aus Loborgrad nach Zagreb gebracht hatte. Sie lag im Krankenhaus, und Diana machte sich auf, sie zu besuchen.

Das Krankenzimmer war hell, aber überbelegt. Die Frauen lagen oder saßen in den Betten. Kinder spielten am Fußboden, und alle redeten durcheinander. Die Unterhaltung war mühsam. Immer wieder wies die Frau ihre Kinder zurecht. Sie sollten doch nicht so laut sein. Man verstehe sein eigenes Wort nicht. Und gleichzeitig fiel es ihr schwer zu reden. Sie war erschöpft und wollte sich nicht an das Lager erinnern.

Dort hausten etwa 200 serbische Frauen und ihre Kinder. Bis zu 70 Personen mussten sich ein Zimmer von nicht einmal vier mal vier Meter teilen. Mittlerweile gab es zwar so etwas wie Betten, aber diese Pritschen waren überfüllt. Die Kinder schliefen drunter und drüber, ineinander verkeilt. Für die Erwachsenen war es noch schwieriger, ein bisschen Ruhe zu finden. Nur wenn man völlig erschöpft war, beinahe ohnmächtig, konnte man die Augen schließen und ein wenig dösen.

Alles starrte vor Dreck. Die Pritschen und der Boden, die Wände und die Fenster waren mit einer Schicht aus Schmutz überzogen. Wenn so viele Menschen auf so engem Raum zusammenleben, dann kann man vor Gestank bald kaum mehr atmen.

Die Frau aus dem Lager erzählte von den verstopften Aborten und von dem Bach vor dem Schloss, in dem sie sich manchmal unter Aufsicht waschen durften. Die Wachen beobachteten sie, und wenn ihnen eine gefiel, dann nahmen sie sie mit.

Ob wenigstens die Strohballen im Lager angekommen waren, wollte Diana wissen. Die Frau schüttelte den Kopf. Es kam fast nichts an. Die Frauen wussten, dass für sie gesammelt wurde. Aber weder Kleider noch Decken erreichten das Lager.

Obwohl jeder wusste, dass die jüdische Gemeinde eine Genehmigung hatte, bekamen auch die jüdischen Frauen, es waren über tausend, kaum etwas. Der Lagerleiter, dieser Karl Heger, und sein Bruder Vlado fingen die Lieferungen am Tor ab und schafften alles fort. Es gab Gerüchte. Heger brachte die Sachen nach Zagreb zurück, hieß es. Dort verkaufte er sie dann am Schwarzmarkt. Sein Bruder Vlado stahl nicht nur die Lieferungen der jüdischen Gemeinde, er ging auch regelmäßig zu den Frauen und durchsuchte sie nach Wertgegenständen.

Diana fragte weiter. Wenn der Lagerkommandant schon die Decken und das Stroh beschlagnahmte, wie war es dann mit den Medikamenten?

Nein, nichts davon erreichte die Gefangenen. Es gab nur ein paar Deka Maisbrot alle zwei Tage, eine dünne Suppe und für die kleinen Kinder etwas Milch. Zu viel, um zu sterben, und zu wenig, um zu überleben.

„Eine Möglichkeit gibt es aber vielleicht“, sagte die Frau. „Die Serbinnen haben unter sich eine Anführerin gewählt. Radojka Vasiljević.“ Sie kümmerte sich sehr um ihre Mitgefangenen. Wenn man die Kleider direkt an sie schicken würde, vielleicht kamen die Hilfsgüter dann doch bei den Frauen an.

Lange hörte Diana zu, und je mehr die Frau erzählte, desto mehr sank Dianas Hoffnung. Es hatte keinen Sinn, Kleider zu sammeln, wenn der Lagerleiter sie konfiszierte und zurück nach Zagreb brachte, um sie zu verkaufen oder an die Ustaša zu verschenken. Ob es etwas half, die Pakete an diese Radojka zu adressieren? Diana zweifelte daran, aber es war die einzige Alternative, die ihr im Moment einfiel. Deshalb ging sie direkt vom Krankenhaus ins Büro der jüdischen Gemeinde und gab die Anweisung, alle weiteren Lieferungen für die serbisch-orthodoxen Insassen ab sofort an Radojka Vasiljević zu schicken.

„Und außerdem muss ich unbedingt selbst in das Lager“, sagte sie zu Robert Stein, der gerade den Namen der serbischen Frau notierte.

„Das ist schwierig“, meinte Stein. „Und es ist auch sehr gefährlich.“

„Warum bringt mich nicht die jüdische Gemeinde ins Lager?“

Robert Stein lachte gequält. „Das kommt nicht infrage.“

„Wovor fürchten Sie sich?“

„Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn Sie verhaftet werden.“

„Aber Sie kennen doch sicher jemanden, der mir helfen kann.“

„Möglicherweise. Aber ich rate Ihnen davon ab. Es kommen eben nicht alle Lieferungen an. Damit müssen wir leben. Besser, wir können den Frauen ein bisschen helfen als gar nicht.“

„Das kann ich nicht akzeptieren“, sagte Diana. „Auf keinen Fall.“

Robert Stein druckste herum. Er kenne da jemanden, der ihr vielleicht helfen würde. Aber er könne seine Hand für diesen Mann nicht ins Feuer legen. Gut möglich, dass er mit der Ustaša unter einer Decke stecke.

Diana wollte den Namen wissen. Sie würde dann selbst entscheiden, ob sie den Mann kontaktieren wollte oder nicht.

„Na gut“, sagte Stein. „Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Er ist Arzt. Sein Name ist Dr. Janko Pajaš. Ich glaube, er will helfen. Aber wie gesagt, was weiß man schon? Er leitet ein Altenheim in Loborgrad, und er arbeitet für die Gesellschaft für sozialen Schutz. Wenn er Sie nicht ins Lager bringen kann, dann niemand.“

III.
Der erste Besuch in Loborgrad

1

Julije Budisavljević kannte Dr. Janko Pajaš, und er rief ihn an. Sie vereinbarten ein Treffen, und Dr. Pajaš kam am Nachmittag vorbei. Als er sah, welche Geschäftigkeit sich hier entfaltete, wie hier Strohballen und Decken gestapelt wurden, war er schnell bereit, die Aktion zu unterstützen. Während er beobachtete, wie Diana eine Decke aus einem Samtvorhang nähte, erzählte er von Loborgrad.

Er kannte das Schloss gut. Als Vorstand der „Gesellschaft für sozialen Schutz“ hatte er bis September ein Altenheim geleitet, das im Schloss untergebracht gewesen war. Aber dann kam Vilko Kühnel von der Ustaša-Polizei. Er leitete dort die „jüdische Abteilung“. Kühnel befahl die Räumung des Schlosses. Das Heim musste sich eine neue Unterkunft suchen, und Dr. Pajaš fügte sich der Gewalt.

Doch das war nicht das Ende der Geschichte. Die Ustaša wiesen Pajaš an, das Lager Loborgrad als Arzt zu betreuen. In dieser Funktion musste er an einer Begehung teilnehmen. Eine Kommission sollte darüber befinden, ob sich die Räumlichkeiten und die Grünanlagen überhaupt eigneten, um so viele Menschen aufzunehmen.

Die Besichtigung war selbstverständlich eine Farce. Die Ustaša hatten bereits vor Wochen beschlossen, mindestens 1500 Frauen und Kinder im Schloss unterzubringen. Da half es wenig, als Dr. Pajaš sich dagegen aussprach und vor den Folgen warnte. Zu diesem Zeitpunkt war schon ein Zug mit plombierten Waggons mit jüdischen und serbischen Gefangenen aus dem Lager Kruščica in der Nähe von Travnik nach Zagreb unterwegs.

Dr. Pajaš gab zu bedenken, dass höchstens 300 Personen in dem Schloss untergebracht werden konnten, ohne den Ausbruch von Seuchen zu riskieren. Es war einfach nicht möglich, annehmbare hygienische Bedingungen für 1500 Menschen auf so engem Raum zu schaffen.

Das beeindruckte die anderen Mitglieder der Kommission nicht. „Es ist mir völlig gleichgültig, wie die Juden sich da fühlen“, sagte Božidar Gregl von der Polizeiverwaltung Zagorje in Varaždin. „Wenn sie krepieren, gibt es bald mehr Platz.“

So hatte das Frauenlager in Loborgrad seinen Anfang genommen. Heute, fast zwei Monate nach dieser Begehung, war das Lager genau jene Hölle, die Dr. Pajaš vorausgesehen hatte. „Wissen Sie, man hat den Wachen erzählt, dass das gar keine richtigen Menschen sind. Die Juden und die Serben seien nur Abschaum. Tiere und Untermenschen. Und so behandeln sie sie auch. Deswegen kommt auch nichts von dem hier bei den Frauen an.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm auf die Strohballen, die Kisten voller Decken und Kleider. „Das alles sammeln Sie in Wahrheit für Karl Heger und seine Bande.“

2

Noch am selben Tag ging Diana zur jüdischen Gemeinde und stoppte alle Hilfslieferungen. Sie war wütend darüber, dass man ihr nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatte. Aber Robert Stein verteidigte sich. Er hätte ihr gesagt, dass vieles nicht bei den Frauen ankam, und außerdem sei er machtlos. Gerade eben, keine Stunde bevor Diana im Büro aufgetaucht war, hatte sich Karl Heger höchstpersönlich hier eingefunden.

„Fällt Ihnen etwas auf?“, fragte Robert Stein.

Diana sah sich um und bemerkte die leeren Regale, die leeren Bodenflächen, wo sich sonst Strohsäcke und andere Hilfsgüter stapelten.

„Er ist hier hereingestürmt, hat sich umgesehen, und wir mussten alles auf seinen Lastwagen aufladen. Alles“, sagte Stein.

Viele der Pakete stammten aus Dianas Garage. Als sie nun so dastand und daran dachte, was alles verloren war, kämpfte sie mit den Tränen. All die Decken und Wintermäntel. Die Schuhe. Die meisten der Schuhe hatte sie gerade erst gekauft. Die Wäsche, die Kleider, alles verloren. Das durfte nicht sein.

3

Sie musste unbedingt selbst in das Lager in Loborgrad. Wenn sie das Schloss mit eigenen Augen sah, mit den Menschen sprechen konnte, dann würde sie eine Lösung finden. Davon war Diana überzeugt. Doch das war nicht so einfach. Es dauerte Tage, bis Dr. Pajaš wenigstens eine mündliche Zusage der jüdischen Abteilung der Ustaša-Polizei erhalten hatte.

Die Zusage war an mehrere Bedingungen geknüpft. Sie durften nicht mit dem eigenen Wagen fahren. Die Ustaša stellte ein Auto zur Verfügung, und für dieses Auto mussten sie Miete bezahlen. Diana übernahm diese Kosten, und sie kam auch für das Benzin auf. Außerdem mussten sie sich am Tag ihrer Reise im Büro der Ustaša-Polizei melden.

Als es so weit war, fuhren Dr. Pajaš und sein Sohn in aller Frühe bei Diana vor. Sie luden Hilfspakete ins Auto, darunter eine Kiste mit Baumwollkopftüchern, die ein Fabrikant aus Zagreb zur Verfügung gestellt hatte. Dann fuhren sie weiter zu Dr. Pajaš’ Wohnung, wo sie wieder Schachteln und Ballen voller Kleider einluden. Dort wartete auch Anka Meleš auf sie, eine Rotkreuzschwester, die sie auf ihrer Fahrt begleiten sollte.

Der Morgen zog an Diana wie ein Sturm vorbei, und erst im Büro der Ustaša-Polizei stieg wieder Angst in ihr hoch. Da stand sie Vilko Kühnel gegenüber, jenem Mann, der für die Qualen der Frauen in Loborgrad verantwortlich war. Er hatte das Schloss ausgesucht, und er hatte die Frauen dort untergebracht.

Doch Kühnel begegnete Diana und Anka überaus freundlich. Er stellte ihnen Besuchsgenehmigungen aus und wünschte eine gute Fahrt. Es schien, als würde er die Hilfsaktion gutheißen, auch wenn er es nicht direkt aussprach.

Dieser Eindruck trug Diana über die lange Strecke von Zagreb nach Loborgrad. Bis zum eisernen Tor vor dem Schloss. Dort wurden sie von einem Wächter gestoppt und nicht weiter vorgelassen. Die Besuchsgenehmigungen der Ustaša-Polizei beeindruckten den Mann am Tor genauso wenig wie Dr. Pajaš’ Versicherung, dass alles mit höchster Stelle abgesprochen sei.

Da könne ja jeder daherkommen, meinte der Wächter, und die Ustaša-Polizei habe hier gar nichts zu melden. Das Lager unterstehe der deutschen Einsatzstaffel, und nur der Lagerleiter selbst habe die Entscheidungsgewalt, wer das Lager betreten dürfe und wer nicht.

Dann solle der Wächter doch den Lagerleiter herholen. Dann werde man ja sehen, insistierte Dr. Pajaš. Außerdem, wer auch immer das Sagen habe, es stehe dem Wärter nicht zu, dem Lagerarzt den Zutritt zu verwehren.

Das Streitgespräch ging in dieser Weise eine ganze Zeitlang hin und her, und es schien Diana, als würde der Wärter seine Macht auskosten und so lange wie möglich warten, bevor er seinen Vorgesetzten verständigte. Dr. Pajaš blieb die ganze Zeit über höflich, aber manchmal mischte sich ein schneidender Unterton in seine Fragen. Seine Geduld neigte sich dem Ende zu, und das bemerkte nun auch der Wärter. Noch einmal drohte er Dr. Pajaš und den Frauen. Er sagte, er werde den Kommandanten verständigen und ihm sagen, dass sich Fremde im Lager befänden. Aber dann ließ er den Wagen endlich passieren.

4

Als sie den Wagen vor dem Schloss parkten, wurden sie sofort von bewaffneten Männern umringt. Es schien, als hätte der Funkspruch des Wärters alle Männer der deutschen Einsatzstaffel aufgeschreckt und in Alarmbereitschaft versetzt. Sie standen da, die Hände am Gewehr oder an der Gürteltasche mit der Pistole und sahen Dr. Pajaš und den beiden Frauen dabei zu, wie sie die Hilfsgüter aus dem Wagen luden.

Dann tauchte Karl Heger auf. Er ließ sich die Besuchsgenehmigungen zeigen, studierte die Stempel und die Unterschriften und reichte sie dann wieder an Diana und Anka.

Er könne sie nicht von ihrem Besuch abhalten, sagte er. Aber er bestehe auf ihrer Verschwiegenheit. Sollten sie auch nur mit irgendjemandem außerhalb des Lagers darüber reden, würde er es hören, und das würde ihnen mit Sicherheit leidtun.

Dann drehte er sich um und ging weg. Sie sahen ihn an diesem Tag nicht wieder, aber seine Männer blieben die ganze Zeit in ihrer Nähe.

Diana hielt sich an Dr. Pajaš. Sie folgte ihm durch die Gänge des Schlosses und besuchte mit ihm zuerst die Frauen der serbischen Abteilung. Doch sie hatte kaum Gelegenheit, mit den Frauen zu sprechen. Die Bewaffneten waren allgegenwärtig und unterbrachen jedes Gespräch. Dennoch konnte sich Diana ein Bild von der Situation verschaffen.

Es war noch viel schlimmer, als sie sich das vorgestellt hatte. Als sie versuchte, sich einem Kind zu nähern, wich dieses schreiend zurück. Dr. Pajaš erklärte ihr, dass es hier viele solcher Fälle gab. Den Kindern war die Angst eingeprügelt worden. Wenn sie einen Fremden sahen, flüchteten sie. Sie wussten ja nicht, ob man ihnen helfen oder sie quälen wollte.

Einmal, so hatte er es jedenfalls gehört, war ein Mädchen gestolpert und dabei soll es gegen Karl Heger gefallen sein. Das machte Heger wütend, und er prügelte das Mädchen mit seinem Gewehrkolben zu Tode.

Diana hatte Zeit sich umzusehen. Als sie an einem Fenster stand, entdeckte sie auf der Wiese eine Kolonne von Frauen. Auf der einen Seite der Wiese lag ein Holzhaufen. Die Frauen nahmen die Scheite in den Arm, trugen sie über die Wiese zur anderen Seite und stapelten sie dort auf. Ein paar Wächter standen dabei, rauchten Zigaretten und trieben die Frauen immer wieder an, wenn sie einmal nicht im Laufschritt über die Wiese hetzten.

„Das geht den ganzen Tag so“, sagte Dr. Pajaš. „Sie tragen das Holz hin und her, bis sie zusammenbrechen. Völlig sinnlos.“

„Und dagegen kann man nichts tun?“, fragte Diana.

Dr. Pajaš schüttelte den Kopf und widmete sich seiner nächsten Patientin.

5

Am Nachmittag, nachdem das Wachpersonal gewechselt hatte, konnte Diana sich ein wenig freier im Lager bewegen. Im Hof traf sie endlich auf serbische Frauen und sprach mit ihnen. Von den Hilfsgütern der letzten Tage und Wochen war so gut wie nichts bei den Frauen angekommen. Die Gerüchte über Heger bestätigten sich. Er und sein Bruder ließen die jüdischen Helfer nur selten und ungern ins Lager. Was auch immer an Hilfsgütern geliefert wurde, seien es Strohballen, Kleidung oder Essen, musste bei der Lagerverwaltung abgegeben werden.

Heger versicherte den Helfern immer wieder, er würde dafür sorgen, dass die Dinge gerecht verteilt würden. Aber das geschah nicht. Kaum waren die Lieferwagen der jüdischen Gemeinde außer Sichtweite, verluden die Wachen die Pakete auf ihre eigenen Lastwagen und brachten sie weg.

Die Frauen wussten nicht genau, was mit den Dingen geschah. Manchmal konnten sie Gespräche der Wachen belauschen, und da hatten sie gehört, dass Heger die Hilfsgüter teils direkt an die Ustaša weitergab, einen anderen Teil verkaufte und den Rest an die Volksdeutschen verteilte.

In den Nächten, so erzählten die Frauen, war es besonders schlimm. Die Wachen stürmten in die Räume und scheuchten alle auf. Die Frauen mussten in einer Reihe antreten, und dann suchten die Männer die hübschesten aus. Auch die jungen Mädchen wurden nicht verschont. Wenn sie ihnen gefielen, schleiften die Wärter auch Vierzehnjährige an den Haaren aus dem Schloss.

„Es ist kein Geheimnis, was mit den Mädchen passiert“, sagte eine der Frauen. „Auch wenn sie es uns aus Scham nicht erzählen. Sie sagen nur, sie müssen Pfannkuchen backen, und die Soldaten essen sie dann auf. Aber wir wissen es alle, und wir fürchten uns davor.“

Die Geschichte mit den Pfannkuchen stimmte. Nach dem Krieg untersuchten die Kommunisten die Angelegenheit und befragten einige Täter, Mitläufer und Überlebende. Wie von den serbischen Frauen angedeutet, feierten die Wachmannschaften wahre Orgien. Von Heger heißt es, er habe sich selbst immer gerne an sexuellen Übergriffen beteiligt. Manche vermuten sogar, das sei neben dem Diebstahl von Hilfsgütern seine Lieblingsbeschäftigung gewesen.

Diana schrieb kaum etwas über diese schrecklichen Dinge in ihrem Tagebuch. Sie erzählte damals auch niemandem von ihren Eindrücken. Zu sehr fürchtete sie, Heger könnte darin einen Bruch der Verschwiegenheitsvereinbarung sehen und ihr künftig den Zutritt zum Lager verwehren. Deshalb teilte sie ihren Mitarbeitern nur mit, was am dringendsten im Lager gebraucht wurde. Über die Lage der Frauen sagte sie nichts.

IV.
Feinde und Verbündete

1

Der Besuch im Lager wirkte nach. Die Bilder von den hungernden Kindern, die Gerüche und die bedrohliche Nähe des Lagerkommandanten Karl Heger verfolgten Diana. Aber sie gab sich keine Zeit, in diesen Schrecken noch einmal einzutauchen. Nun, da sie gesehen hatte, wie es um die Frauen stand, suchte sie nach einer Lösung.

Die Gewissheit, dass ihre Bemühungen des letzten Monats, die Gefahr, die sie auf sich genommen hatte, beinahe ohne jede Wirkung geblieben waren, quälte sie. Die vielen Strohballen, die Kleider, die sie und ihre Töchter genäht hatten, alles verloren.

So wollte sie nicht weitermachen. So, wie es jetzt war, konnte sie die Kleider auch verbrennen und das Stroh wegwerfen. Sie musste einen Weg finden, um die Hilfsgüter nicht nur nach Loborgrad zu bringen, sondern dort auch sicher an die Frauen zu verteilen.

Außerdem hing die Drohung der Ustaša über ihr, ihrer Familie und allen, die ihr halfen. Jederzeit konnte die Polizei vor der Tür stehen, konnten Soldaten das Haus stürmen und sie alle verschleppen.

Ein Bekannter riet ihr, sich doch an den evangelischen Bischof von Zagreb zu wenden. Bischof Philipp Popp habe gute Kontakte zur Wehrmacht und auch zu den Volksdeutschen. Die meisten Soldaten aus dem Deutschen Reich, so sie nicht Österreicher waren, hingen dem lutherischen Glauben an, und das galt auch für die Donauschwaben und andere deutschsprachige Minderheiten in Kroatien. Wenn das Lager in Loborgrad von Volksdeutschen verwaltet wurde, dann war Bischof Popp sicher eine gute Anlaufstelle.

Diana zögerte nicht. Sie suchte bei Bischof Popp um einen Termin an und erhielt ihn auch prompt. Doch bevor sie zur Residenz des Bischofs aufbrach, traf sich Diana noch mit einer Kinderärztin und Schwester Anka vom Roten Kreuz. Sie hatten die Idee, mit einem Rotkreuzwagen im Lager vorzufahren und belegte Brote auszuteilen.

Aber um ins Lager zu gelangen, brauchten sie wieder eine Genehmigung, und die musste von höchster Stelle kommen. Am besten von irgendeinem Ministerium. Der Weg zu dieser Genehmigung führte über mächtige Fürsprecher, und Bischof Popp war möglicherweise einer davon.

2

Bischof Popp glaubte Diana nicht. Er legte die Hand ans Kinn und sah Diana zweifelnd an. „Die Ustaša interniert Frauen und Kinder in einem Lager? Die Wehrmacht weiß davon, und die Volksdeutschen sind in diese Angelegenheit verstrickt? Das ist doch absurd. Es gibt doch keinen Grund, serbische Frauen und Kinder einzusperren.“

„Aber ich habe es selbst gesehen. Ich war in Loborgrad und habe mit den Frauen gesprochen“, sagte Diana.

„Und Sie sind sich sicher? Das ist wirklich ein Lager, in dem Frauen und Kinder eingesperrt sind?“

„Es besteht kein Zweifel. Der Lagerkommandant ist ein Volksdeutscher, und Sie, Herr Bischof, haben gute Kontakte zur Wehrmacht und zu den Volksdeutschen. Das habe ich jedenfalls gehört.“

„Sie überschätzen mich, meine Liebe“, sagte Bischof Popp. „Mein Einfluss reicht nicht sehr weit, und außerdem bin ich wohl der falsche Ansprechpartner.“ Er erging sich in einer langen Klage, wie sehr ihn das neue Regime an den Rand dränge und wie wenig die Protestanten im Unabhängigen Staat Kroatien zu sagen hätten.

Lang und breit referierte er über die Propaganda, die seit Monaten die Zeitungen und die Radionachrichten beherrsche. Der Unabhängige Staat Kroatien als katholisches Bollwerk gegen die Bedrohung aus dem Osten, das könne man überall hören.

Das mochte alles zutreffen, und auch Diana hatte die Propagandaartikel gelesen und Gerüchte gehört. Dass dem evangelischen Bischof bei seiner Sorge um die Protestanten die Hetze gegen die Serben verborgen geblieben war, konnte sie aber nicht glauben.

Eugen Dido Kvaternik, der Polizei- und Sicherheitschef, Chef der RAVSIGUR, hatte zu mehreren Gelegenheiten die Serben für die lange Knechtschaft des kroatischen Volkes verantwortlich gemacht. Auf dem Boden Kroatiens gebe es keinen Platz für Serben. Sie seien der Bodensatz des Balkans, hätten immer nur versucht, die große Kultur der arischen Kroaten zu unterlaufen. Damit müsse jetzt Schluss sein. Die Serben hätten drei Möglichkeiten. Sie konnten das Land verlassen, sie konnten zum Katholizismus konvertieren, oder man würde sie eliminieren. Wie sich herausstellte, wusste Popp sehr gut Bescheid. Er wusste auch, dass dieser Ausspruch von der Vernichtung der Serben ursprünglich von Außenminister Mile Budak stammte. Aber mittlerweile war er zum geflügelten Wort geworden.

Diana unterbrach den Bischof nicht. Je länger sie dasaß und der wütenden Rede lauschte, desto mehr sank ihre Hoffnung.

„Wenn die Serben glauben, sie können sich dadurch retten, dass sie den katholischen Glauben annehmen, dann bin ich aber wirklich nicht zuständig“, sagte Popp und verbreitete sich dann über die Verflechtungen der katholischen Kirche mit der Ustaša. Vor allem Franziskanermönche, so habe er gehört, würden sich an der Ausrottung der Serben beteiligen.