Josef Kraus
Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt
Und was Eltern jetzt wissen müssen
HERBIG
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2017 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.
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Satz und eBook-Produktion: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
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ISBN 978-3-7766-8263-2
Meiner Familie
und all denen,
die sich Sorgen um den
Zustand unserer Bildungsnation
machen
Inhalt
VORWORT
Wider eine Bildungspolitik, die keine Probleme löst, sondern Probleme schafft
KAPITEL 1
Falsche Strukturen
Wohin man schaut: Wohlfühl-Pädagogik!
Machtspiele: Eine Stiftung hält die Fäden in der Hand
»Kompetenzen« – Lehrpläne oder Leerpläne?
KAPITEL 2
Falsche Vorgaben
Online oder offline – Welche Bildung brauchen wir?
Das Gymnasium – eine Endlosbaustelle?
Ganztagsschule: Eine Schule, die keine sein darf?
Inklusion: Ideologie oder Kindeswohl?
KAPITEL 3
Falsche Sprache
Wie die Deutschen mit ihrer Sprache umgehen (sollten)
Rechtschreibung – Schlechtschreibung
Pädagogische Sünden wider die Sprache
KAPITEL 4
Was Eltern trotz allem tun können
ANMERKUNGEN
»Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen gerne zeitlebens unmündig bleibt; und warum es andern so leichtfällt, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.«
Immanuel Kant (1784)
VORWORT:
Wider eine Bildungspolitik, die keine Probleme löst, sondern Probleme schafft
Dieses Buch ist keine Gebrauchsanleitung für die Zerstörung eines ehemals weltweit angesehenen Bildungswesens, sondern eine – bisweilen grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben: Trümmer und Ruinen, die man mittels »Reformen« hinterlassen hat.
Seit den 1960er Jahren werden solche Reformen in Szene gesetzt, zumeist sind Deformationen daraus geworden. Damals unterwarf man Bildung bzw. das, was man dafür hielt, einem radikalen Egalisierungswahn. Kaum hatte sich das deutsche Schulwesen mit diesem Wahn arrangiert oder ihn halbwegs abgepuffert, folgte der nächste Wahn. Er trägt seit der Jahrhundertwende von 2000 die Namen »Pisa« und »Bologna«.
Dabei sind Pisa und Bologna doch »nur« Städte in Italien. Seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden. Die Luftlinie zwischen beiden misst rund 120 Kilometer. Für manche Deutsche, die in Sachen Bildung missionieren, sind Pisa und Bologna allerdings die vermeintlich notwendigen Neugründungsmythen deutscher Bildungspolitik. Damit ist der Abstand zwischen »Pisa« und »Bologna« für eine zunehmend hysterisch-hypochondrisch angesäuerte Bildungspolitik und »Bildungsforschung« die Entfernung von einer bildungspolitischen Fallgrube zur nächsten.
Deutschlands Bildungsdebatten und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen haben sich schlicht und einfach zwischen »Pisa« und »Bologna« festgefahren. Das gilt zum einen für viele der »Pisa«-Kapitäne. Diese verkünden unbeeindruckt Einheits- und Gesamtschule. Ihre Destinationen lauten: Mit dem deutschen »Pisa«-Ergebnis sei zugunsten eines »gerechten« Schulsystems endlich der Jüngste Tag für das gegliederte, begabungs- und leistungsorientierte Schulwesen angebrochen. Die andere Cockpit-Vereinigung ist die der »Bologna«-Crew. An wunderbaren Destinationen fehlt es auch hier nicht: »Bologna« samt Bachelor, Master, Workloads und Credit Points schaffe endlich Effizienz, Mobilität, Modularisierung, Kompatibilität, Praxistauglichkeit, »Employability« und eine gewaltige Steigerung der Akademikerquote.
Die Folge ist eine Politik wider besseres Wissen und wider jede Vernunft. Da können Bildungsexperimente, die immer zugleich Experimente an Schutzbefohlenen sind, noch so völlig scheitern, sie werden dennoch durchgezogen oder – wie etwa im Fall der Gesamtschule mit ihrer durchschlagenden Erfolglosigkeit – in neuem Gewand unter dem Etikett »Gemeinschaftsschule« präsentiert. Damit und mit kuriosen Lehrplanreformen kann man ein Schulwesen innerhalb einer einzigen Legislaturperiode, in diesem Fall innerhalb von fünf Jahren, an die Wand fahren. Baden-Württembergs grün-rote Regierung hat dies von 2011 bis 2016 vorexerziert. Das »Ländle«, das seit Jahren und Jahrzehnten bei allen Leistungsstudien immer zu den vier besten unter Deutschlands sechzehn Ländern gehörte, ist in kürzester Zeit »Vom Musterschüler zum Problemfall«[1] geworden. Zum Beispiel ist Baden-Württemberg beim Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) bei den neunten Klassen von 2010 bis 2015, dem Zeitpunkt der Tests, von einem Spitzenplatz auf Platz 12 im Lesen und Platz 14 beim Zuhören gefallen.
Hier scheint zu gelten, was Peter Sloterdijk feststellte: »Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die Flucht zu schlagen.« Zwei seiner großen Vorgänger hätten es kaum anders gesagt: »Denn so ist der Mensch! Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halten.« (Nietzsche) Oder: »Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.« (Schopenhauer) Mit solchem »Bildungs«-Verständnis aber stolpern unsere ewig-morgigen bildungspolitischen Schlaumeier in die stets gleichen Fallgruben.
Die fünf Fallgruben
Eine Falle ist die Egalitäts-Falle. Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte und Inhalte gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.
Eine zweite Falle ist die Hybris-Falle. Das ist der aus dem Marxismus (»Der neue Mensch wird gemacht«) und dem Behaviorismus (»Der neue Mensch ist konditionierbar!«) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem »begabt« werden.
Eine dritte Falle ist die Falle der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik. Diese tut – angestrengt und sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilen.[2]
Eine vierte Falle ist die Quoten-Falle. Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen und es dürften möglichst wenige oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!
Und schließlich fünftens die Beschleunigungs-Falle. Das ist die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen.
Fünf Fallgruben sind das – je nach Land in Deutschland unterschiedlich intensiv ausgeprägt. In diesen fünf Fallgruben drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken. Und so wird seit Jahrzehnten, verschärft seit dem groß inszenierten Pisa-Schock, drauflos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt. Die Kinder aus »gutem« Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus »bildungsfernen« Elternhäusern aber bleiben in ihren »restringierten Codes«, in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert. Das gilt für die Einheitsschule gleichermaßen wie für »neue« Formen eines (sogenannten) Unterrichts, in dem der Lehrer nur noch den Moderator spielt. Fast ist man versucht, von einer bildungspolitischen Variante eines Morgenthau-Plans zu sprechen. Man erinnere sich: Harry Morgenthau, damals US-Finanzminister, trat im August 1944 mit dem Plan an die Weltöffentlichkeit, Deutschland solle entindustrialisiert und zum Agrarstaat zurückgeworfen werden.
»Die Wüste wächst« ist der Titel eines Liedes von Nietzsches Zarathustra. Dieses Bild hat Helmut Schelsky 1976 als Überschrift über ein Buchkapitel gewählt, um die Entkulturierung zentraler Institutionen der modernen Gesellschaft, darunter der Universität, zu charakterisieren.[3] Peter J. Brenner hat dieses Bild bei einem Vortrag am 23. Januar 2008 in Bonn aufgegriffen und getitelt: »Die Wüste wächst – Über die Selbstzerstörung der deutschen Universität.«[4]
Um in diesem Bild zu bleiben: Die Bildungsnation wird unfruchtbar, sie verödet, weil ihre Grundlage erodiert. Die misslungenen, aber offiziell dennoch für erfolgreich erklärten Reformen sind wie ein Eingriff in die Ökologie von Bildung mit all ihren Folgen bis hin zum Verlust an Artenvielfalt, zum Beispiel Schularten-Vielfalt. Man könnte auch sagen: Diese Bildungsnation wird von den einen willentlich, von anderen naiverweise an die Wand gefahren – brav assistiert von den meisten Parteien, von den meisten Bildungsforschern, von moralisierenden Schwätzern, von diversen Stiftungen sowie von manch karriereorientiertem Lehrer und Schulleiter. Dass von höchster Regierungsseite eine »Bildungsrepublik« ausgerufen wird, so Kanzlerin Merkel im Juni 2008, und auf diversen Bildungsgipfeln eitle Heerschauen inszeniert werden, ändert nichts daran. Sedativa sind das.
Vier Verirrungen
Dabei spielen vier mentale und intellektuelle Verirrungen eine Rolle. Erstens spielt die Selbstvergessenheit der Deutschen eine Rolle, also die in allen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Belangen spürbare, typisch deutsche Selbstverleugnung. Das politische und mediale Deutschland inszeniert gerne seine eigene Tribunalisierung, und man zerrt sich gerne vor das Weltgericht, denn wir Deutsche sind ja so gern die Schlimmsten, Schlechtesten, Ungerechtesten auf der Welt. Wahrscheinlich weil wir vertuschen möchten, dass wir eigentlich gerne Schulmeister wären. Dass wir die Schlimmsten, Schlechtesten, Ungerechtesten auf der Welt sind, daran ist angeblich ein Bildungswesen schuld, das uns unter anderem einen Hitler und seine Anhängerschaft beschert habe. Diese Selbstverleugnung lässt uns zum Beispiel ein weltweit renommiertes Diplom wegschmeißen, das Gymnasium entkernen und unsere Sprache denglifizieren. Ob das noch das späte Ergebnis einer »reeducation« ist, sei dahingestellt. Vielleicht glauben viele Deutsche sogar – ohne sie näher zu kennen – an die abstruse Analyse des US-Amerikaners, Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859–1952), der die offenbar schier genetisch angelegte Neigung der Deutschen zum Nationalsozialismus schon in den Philosophien und Schriften von Luther, Kant, Herder, Hegel, Fichte, Schelling, insgesamt des Deutschen Idealismus angelegt sah. Wie auch immer: Jeder persönliche oder kulturelle Abstieg beginnt mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Oder noch härter ausgedrückt: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn des Verfalls, der Dekadenz. Das gilt für jede Einzelperson, jede Familie, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur.
Ein zweiter Grund für die Abrisslaune ist: Deutsche sind gerne Gesinnungsethiker. Gleichheit, Gerechtigkeit, Kuscheligkeit – so lauten die pädagogischen Glaubens- und Gesinnungsbekenntnisse. Immer und immer wieder werden sie mantramäßig vorgebetet, ohne Rücksicht auf die Folgen solcher Haltungen. Bereits Max Weber hat den Gesinnungsethiker im Jahr 1919 so beschrieben: Er fühle sich nur dafür verantwortlich, dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlösche. Der Verantwortungsethiker dagegen bedenke stets die Motive und Ergebnisse seines Handelns.[5] Hermann Lübbe hat diesen Gedanken 1987 mit dem Untertitel eines nach wie vor sehr lesenswerten Buches aufgegriffen: »Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft«.[6] Es geht vielen Deutschen bzw. ihrer Elite nicht um eine rationale Verantwortungsethik, nicht um das qua Bildung und Erziehung behutsam Machbare, sondern um die reine Gesinnung. Jedenfalls gehören die Deutschen zu den Weltmeistern der »political correctness« und der »educational correctness«[7] mit ihren Denkverboten, Denkgeboten, Tabus, mit ihren Euphemismen, mit ihren Hui- und Pfui-Begriffen gerade in der Pädagogik.
Drittens: Eigentlich entspringt solche Gesinnung einem egalitären, sozialistischen Denken. Nun aber kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig von Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit reden, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an »Bildung« soll messbar, nützlich, verwertbar sein. Der Mensch wird zum »Humankapital« und damit verdinglicht. Das ist Neoliberalismus, ja Kapitalismus, Ausbeutung pur. Es hat sich dies schon lange vor Pisa angekündigt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert, 1961, hat die OECD, die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: »Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist.«[8] Dabei ist die Ökonomisierung von Bildungspolitik volkswirtschaftlich nicht wirklich zu Ende gedacht. Die Wachstumsbremse der Zukunft wird die Überakademisierung sein, weil sie einhergeht mit einem gigantischen Fachkräftemangel. Wir haben seit 2011 ziemlich genau ebenso viele Studienanfänger wie junge Leute, die eine Berufsausbildung anfangen. Und neben 330 anerkannten Ausbildungsberufen gibt es in Deutschland über 17 000 Studiengänge.[9] Eine gewaltige Schieflage! Denn dort, wo man in Europa die niedrigsten Abiturienten-Quoten hat, gibt es zugleich die besten Wirtschaftsdaten: nämlich in Österreich, in der Schweiz und eben in Deutschland. Ein wichtiges bildungspolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben oft sogar vermeintliche Pisa-Vorzeigeländer mit Gesamtschulsystemen eine Quote, die deutlich über derjenigen Deutschlands oder gar der süddeutschen Länder liegt. Im Juli 2016 gab es in Deutschland eine Quote an arbeitslosen Jugendlichen von 7,2 Prozent, in den schulpolitisch vermeintlich vorbildlichen Ländern dagegen Quoten um 20 Prozent: in Schweden mit 20,2 und in Finnland mit 21,7 Prozent. Baden-Württemberg bzw. Bayern hatten übrigens eine Quote von 2,7 bzw. 2,8 Prozent. Länder mit gegliederten Schulsystemen, vergleichsweise niedriger Studierquote und dualer Berufsbildung liegen also erheblich besser. Warnende – und zwar namhafte – Stimmen zur Vernachlässigung der beruflichen Bildung gibt es durchaus. Im April 2014 veröffentlichte der Wissenschaftsrat seine Stellungnahme mit dem Titel »Empfehlungen zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung«. Darin warnt er vor vordergründigen Image- und Prestigegesichtspunkten. Aber es dringt nicht durch: Der Mensch scheint für viele immer noch beim Abitur zu beginnen.
Ein vierter Kardinalfehler »progressiver« Pädagogik ist schließlich deren Infantilisierung durch Psychologisierung. Für die Psychologie und ihr Image ist dies nicht gut, denn vieles von dem, was an Psychologischem in die Pädagogik hereingenommen wird, ist triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie. Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnissen her gedacht werden.[10] Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man Kinder damit in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, weil man ihnen ja eigentlich mehr zutrauen kann, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den »Helikoptereltern«, rundum »gepampert«.[11]
Wo bleibt eine bürgerliche Revolte?
Welche politische Kraft stellt sich all diesen Verirrungen in den Weg? Antwort: Keine. Dass sich die Bildungsnation Deutschland allmählich abschafft, hat damit zu tun, dass die vormals bürgerliche Volkspartei CDU schulpolitisch die Segel gestrichen hat. Jahrzehnte war sie gestanden: für ein begabungs- und leistungsorientiertes, vielfältig gegliedertes Schulwesen, gegen Einheitsschule, gegen eine verlängerte Grundschule, für eine stabile Hauptschule, für anspruchsvolle Abiturstandards, gegen eine Inflation an Hochschulzugängen, für eindeutige Anforderungen beim Zugang zum Gymnasium sowie für ein duales System der beruflichen Bildung. Heute kann man die Frage nach der bildungspolitischen Ausrichtung der CDU nicht mehr so recht beantworten. Die CDU ist bildungspolitisch – auch wenn eine CDU-Kanzlerin eine »Bildungsrepublik« ausgerufen hat – zu einem programmatischen Bauchladen geworden.
Das sagt bzw. schreibt der Autor dieses Buches, der 1995 für die CDU bei der Wahl zum Hessischen Landtag als Schattenkultusminister angetreten war und den bestimmte hessische Zeitungen mit Überschriften wie folgenden empfingen: »Die schwarze pädagogische Gefahr aus dem Süden« oder »Die pädagogische K- und K-Stahlhelmfraktion«.
Es geht mir nicht um Rechthaberei, selbst wenn es durchaus schmeichelt, wenn mich ein amtierender Kultusminister als »Titan der Bildungspolitik«, ein ehemaliger Kultusminister als »einzige verbliebene Konstante deutscher Schulpolitik« bezeichnet hat, wenn Heike Schmoll mir in der »Frankfurter Allgemeinen« attestiert, dass ich »kein Blatt vor den Mund« nehme, wenn ich von Markus Lanz in seiner gleichnamigen ZDF-Sendung als »Deutschlands wichtigster Lehrer« bezeichnet werde oder wenn ich in der »Süddeutschen«, die mir nicht immer nur wohlwollend gegenüberstand, aus der Feder Johan Schloemanns über mich lesen konnte: »Er hat einen bayerischen Zungenschlag, ein liberalkonservatives Weltbild, ein kantiges Gesicht und ein ebenso kantiges Selbstbewusstsein. Das macht es Menschen, die anders sozialisiert und anders gestimmt sind, ziemlich leicht, Josef Kraus als einen gestrigen Talkshow-Humanisten aus der süddeutschen Provinz und als Hardliner abzuschreiben und sich auf diese Weise seinen Einsichten zu entziehen. Das Problem ist nur: Der Mann hat mit fast allem recht, was er über Schule und Erziehung sagt. Und er ist gar kein Hardliner, sondern er will, dass die Kinder erstens mit Liebe und zweitens mit klaren Regeln Selbstständigkeit gewinnen, ohne allzu viel hektisches Zutun, ohne eine panische Funktionalisierung aller Bildungsinhalte.«[12]
Warum mische ich mich ein? Warum schreibe ich Bücher? Warum habe ich mich als »außerparlamentarischer« Bildungspolitiker im Laufe der Jahre auf vermutlich 200 bis 300 Rundfunk- und Fernsehstreitgespräche eingelassen, eine vierstellige Zahl an Kurzinterviews nicht mitgerechnet? Warum setze ich mich in Talkshows zusammen mit Skandalrappern, mit Blödelentertainern, mit Autorinnen und Autoren schräger Bücher, mit einem durchgeknallten Europa-Abgeordneten? Wo ich doch am liebsten sagen würde: Ein Land, das mit solchen »Experten« Bildungspolitik diskutiert, braucht eigentlich keinen Pisa-Test mehr. Und wo die Erwartung mancher Talkshow-Redaktionen doch ist, dass ich gegen drei oder vier andere den bösen pädagogischen Buben geben soll, der am nachfolgenden Tag in den Blogs der Sender aber zumeist 80 Prozent zustimmende Einträge findet. Ja, darum geht es mir: Der schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben.
Vieles, was ich immer und immer wieder mitdiskutiert habe, meist in dreimal Ein-Minuten-Blöcken, bringe ich mit diesem Buch ausführlicher zur Sprache. Manches kommt aus Gründen des begrenzten Umfangs hier nicht zur Sprache. Meine Positionen dazu sind in meinen früheren Büchern oder im Internet zu finden. Zum Beispiel zu Themen wie: Flüchtlinge, Reformschulen, Lehrerbild und Lehrerbildung, »Gender«-Pädagogik, Islamunterricht, Burka in der Schule usw.
Mit diesem Buch geht es mir um Diagnosen und Analysen. Für abgehobene Visionen, die nicht schulreif sind und es nicht werden können, bin ich nicht zu haben. Auch deshalb nicht, weil Visionen mit ihren Perfektionismusvorstellungen etwas Destruktives an sich haben; sie verhindern nämlich, dass das real (!) Beste aus einer Situation gemacht wird.
Diagnosen und ehrliche Analysen sind der erste und wichtigste Schritt zur Besserung. Dabei befleißige ich mich da und dort einer durchaus kräftigen Rhetorik. Es geht mir ferner darum, Misstrauen zu säen gegenüber vermeintlichen bildungspolitischen Göttern. Die wollen ihr Ding drehen, und sie scheren sich nicht um den Willen des Volkes. Sie mögen Runde Tische einbestellen. Aber es ist oft nur eine Inszenierung, die nach Demokratie ausschauen soll. Zu oft habe ich es selbst erlebt, dass Minister zu solchen Tischen eingeladen haben, »ergebnisoffen«, wie es heißt, aber bereits vor Beginn einer solchen Zusammenkunft die Ergebnisse in Kameras und Mikrophone sprachen.
Das muss man sich nicht gefallen lassen. Deshalb ist es mein größter bildungspolitischer Wunsch, dass wir für ordentliche Bildung eine bürgerliche Revolte hinkriegen. Dass so etwas gelingen kann, hat die Initiative »Wir wollen lernen« des Rechtsanwalts Walter Scheuerl und vieler seiner Mitstreiter gezeigt. Dort hat man per Volksentscheid am 18. Juli 2010 die Pläne der schwarz-grünen Regierung Hamburgs zur Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre vom Tisch gewischt. Das war nicht nur das Ende eines Gesetzentwurfes, sondern einer ganzen Landesregierung. Dergleichen sollte sich wiederholen.
Den Mut aufzubegehren wünsche ich all denen, die sich um diese Bildungsnation sorgen. Denn die Bildungspolitik benimmt sich teilweise wie ein trotziges Kind, das keine Verfehlungen einräumen oder wenigstens abstellen will. Diesen Trotz zu brechen, das ist das Recht, ja die Aufgabe des Souveräns, des Volkes. Dazu bedarf es des Mutes, der Courage, wie dies schon vor zweieinhalb Jahrtausenden Perikles (ca. 490–429 vor Christus) gesagt hat: »Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.«
KAPITEL 1
Falsche Strukturen