Chris Cleave
Die Liebe in diesen Zeiten
Roman
Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Chris Cleave hat u. a. als Kolumnist für den englischen ›Guardian‹ geschrieben, als Barmann und Hochseematrose gearbeitet und eine Internetfirma aufgezogen. Bereits sein erster Roman, ›Brief an einen Attentäter – Lieber Osama‹, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, sein zweiter, ›Little Bee‹, zu einem Weltbestseller. Cleave lebt mit seiner Familie in London.
www.chris-cleave.de/ebooks
Gibt es das Wort Glück in dieser Zeit?
Mary North ist jung, selbstbewusst und aus guter Familie. In ihrem ganzen Leben musste sie noch nichts Schwereres heben als ein Cocktailglas. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs meldet sie sich impulsiv zur Truppenunterstützung – wird in London dann aber nur als Hilfslehrerin eingesetzt. Dabei lernt sie Tom kennen und lieben, der bei der Schulbehörde arbeitet. Aber ihre Verlobung begegnet größeren Hindernissen als nur dem Widerstand von Marys Familie. Eines Tages kommt Toms Freund Alistair auf Heimaturlaub. Sein Zusammentreffen mit Mary löst in beiden heftige, nie gekannte Gefühle aus, die sie einander, aus Loyalität gegenüber Tom, nicht gestehen. Als Alistair zurück an die Front muss, sind Briefe ihre einzige Möglichkeit, in Verbindung zu bleiben. Und bald überschattet das Drama des Krieges alles andere …
Alle handelnden Figuren in diesem Roman sind erfunden, jede Ähnlichkeit mit realen Personen, ob lebend oder tot, wäre rein zufällig.
Ungekürzte Ausgabe 2018
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2016 Chris Cleave
Titel der englischen Originalausgabe:
›Everyone Brave Is Forgiven‹ (Sceptre, London 2016)
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe:
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Die Fotos im Nachwort stammen aus dem Privatbesitz des Autors, Reproduktion nur mit Genehmigung
Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung eines Fotos aus dem Trunk Archive/Condé Nast Ltd/Cecil Beaton
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook 978-3-423-43160-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21754-5
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ISBN (epub) 9783423431606
Für meine Großeltern –
Mary & David, NJ & M
Um 11.15 Uhr wurde der Krieg erklärt, und um zwölf hatte sich Mary North als Freiwillige verpflichtet. Sie tat es um die Mittagszeit, bevor die Telegramme ankamen, damit ihre Mutter es ihr nicht noch verbieten konnte. Sie schloss die Schule ohne Abschluss ab. Nach der Abfahrt vom Mont-Choisi ließ sie ihre Ski-Ausrüstung unten am Hang liegen und telegrafierte von Lausanne aus ans Kriegsministerium. Neunzehn Stunden später kam sie, noch immer im Skipullover, in einer dichten Dampfwolke am Bahnhof Victoria an. Die Lokomotive stieß ein schrilles Pfeifen aus. Also London. Eine Stadt, die Anfänge liebte.
Mary begab sich sofort ins Kriegsministerium. Die Tinte auf der Karte, die man ihr dort aushändigte, roch noch nach Salz. Sie eilte quer durch die Stadt, verzweifelt darauf aus, auch nicht eine Minute des Krieges zu verpassen, und getrieben von der Sorge, das könnte bereits geschehen sein. Als sie über den Trafalgar Square lief und einem Taxi winkte, flatterten Tauben vor ihr auf, ihr Flügelschlag war wie tausend Messer, die gegen Rotweingläser klirrten und um Ruhe baten. Er konnte jeden Augenblick beginnen – dieser gefürchtete und wunderbare Krieg – und auf keinen Fall ohne sie gewonnen werden.
Denn was war der Krieg, wenn nicht Lastwagen und Kampfmoral in Helmen? Und was war Kampfmoral, wenn nicht hundert Millionen kleine Konversationen, deren Summe Männern die nötige Tapferkeit verlieh, um vorzurücken? Das wahre Herz des Krieges lag im Smalltalk, auf den Mary sich ausgezeichnet verstand. Der Morgen, wolkenlos und noch nie da gewesen, passte zu ihrer Stimmung. In London eilten zehntausend junge Frauen unter einem transparenten Himmel zu ihren neuen Stellen, auf Befehl aus den verborgenen Kammern von Whitehall tief im alten Marmorherzen der Bestie. Mary überließ sich nur zu gern dem Strom der Willigen.
Das Kriegsministerium hatte keine weiteren Einzelheiten genannt, was ein gutes Zeichen war. Man würde sie als Verbindungsoffizierin einsetzen oder als Attaché in einem Generalstab. Die Sprechrollen gingen immer an Mädchen aus gutem Hause. Man munkelte sogar, es würden Spioninnen gebraucht, was ihr am besten gefallen hätte, weil sie dann sie selbst sein könnte, nur mit einem doppelt so aufregenden Leben.
Mary hielt ein Taxi an und zeigte dem Fahrer ihre Karte. Er hielt sie auf Armlänge weg, schaute blinzelnd auf das hingekritzelte rote X, das die Stelle markierte, an der sie sich melden sollte. Mary fand ihn unerträglich langsam.
»Dieses große Gebäude in der Hawley Street?«
»Ja«, sagte Mary. »So schnell es geht.«
»Das ist die Hawley Street School, oder?«
»Das glaube ich nicht. Ich soll mich nämlich zum Kriegseinsatz melden.«
»Oh. Ich wüsste nicht, was außer der Schule sonst noch da sein soll. Der Rest der Straße sind bloß Wohnhäuser.«
Mary wollte schon widersprechen, hielt dann aber inne und zupfte an ihren Handschuhen. Natürlich gab es keinen glitzernden Turm neben den Horse Guards, der die Aufschrift »Ministerium für wilde Intrigen« trug. Natürlich musste sie sich an einer unauffälligen und harmlosen Stelle melden.
»Na schön. Dann machen sie mich wohl zur Lehrerin.«
Der Mann nickte. »Kann schon sein. Wahrscheinlich meldet sich die Hälfte der Londoner Lehrer zum Kriegsdienst.«
»Dann hoffen wir mal, dass sich der Rohrstock als wirksam gegen die feindlichen Panzer erweist.«
Der Mann fuhr so gemächlich zur Hawley Street, wie es der Ablieferung einer weiteren Lehrerin angemessen schien. Mary war bemüht, sich als ganz normale junge Frau zu geben – als Mädchen, für das eine Taxifahrt ungewohnt extravagant war und die Aussicht, als Lehrerin zu arbeiten, geradezu aufregend. Sie setzte die Miene eines Menschen auf, der ganz im gegenwärtigen Augenblick aufging, wie es ihrer Vermutung nach auch Milchkühe oder Gänse taten.
Als sie die Schule erreichten, kam sie sich beobachtet vor. Gemäß ihrer Rolle gab sie dem Taxifahrer nur ein Viertel des Trinkgelds, das er normalerweise von ihr bekommen hätte. Immerhin war dies der erste Test. Sie imitierte den zaghaften Gang eines gewöhnlichen Mädchens, das zu einem Vorstellungsgespräch geht. Als hätte die Luft etwas dagegen, von ihr geteilt zu werden. Als würde der Boden zurückschrecken, weil jeder ihrer Schritte ihn verletzte.
Sie fand das Büro der Leiterin und stellte sich vor. Miss Vine nickte, ohne vom Schreibtisch aufzublicken. Vogelgesicht, Strickjacke, Brille an einer Kette, wie man sie an Badewannenstöpseln fand.
»North«, wiederholte Mary bedeutungsvoll.
»Ja, ich habe Sie durchaus gehört. Sie übernehmen die Turmfalken-Klasse. Beginnen Sie mit dem Klassenbuch. Lernen Sie so rasch wie möglich die Namen.«
»Jawohl«, sagte Mary.
»Haben Sie schon einmal unterrichtet?«
»Nein«, erwiderte sie, »aber ich stelle mir das nicht so schwer vor.«
Die Augen der Schulleiterin verwandelten sich in winterliche Teiche. »Ihre Vorstellungen sind hier nicht von Relevanz.«
»Verzeihung. Nein, ich habe noch nicht unterrichtet.«
»Na schön. Seien Sie entschieden, gestatten Sie keine Freiheiten und unterschätzen Sie nicht die Bedeutung einer ordentlichen Handschrift für ein Kind. Wie die Hand, so der Verstand.«
Mary war der Ansicht, dass die »Schulleiterin« es ein wenig übertrieb. Vielleicht sollte sie es Miss Vines Vorgesetzten gegenüber erwähnen, wenn sie erst herausgefunden hatte, wo sie hier wirklich gelandet war. Zugegeben, die Detailgenauigkeit der Frau war eindrucksvoll. Becher mit angespitzten Bleistiften, Dosen mit Heftzwecken. Ein säuberlicher Stapel Gesangbücher, jedes in anderes Papier eingebunden, als hätten das wirklich Kinder gemacht, als sei es eine Aufgabe gewesen, die man ihnen in der ersten Woche des neuen Schuljahrs gestellt hatte.
Die Schulleiterin blickte auf. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie so grinsen.«
»Entschuldigung«, sagte Mary. Sie konnte ein verschwörerisches Zwinkern nicht unterdrücken und wurde verlegen, als es nicht erwidert wurde.
»Turmfalken«, erklärte die Schulleiterin. »Durch den Flur, dritte Tür links.«
Als Mary das Klassenzimmer betrat, verstummten einunddreißig Kinder, die an Klapp-Pulten saßen, schlagartig. Köpfe drehten sich zu ihr, weitaufgerissene Augen musterten sie. Die Kinder mochten acht oder zehn Jahre alt sein, schätzte sie – wobei Kinder natürlich unter einer schrecklichen Unsichtbarkeit litten und man die Augen sorgfältig schulen musste, um sie überhaupt wahrzunehmen.
»Guten Morgen, Kinder. Ich heiße Mary North.«
»Guten Morgen, Miss North.«
Die Kinder sagten es in jenem zeitlosen Singsang, der sich an der Grenze zwischen Fügsamkeit und Spott bewegt. Es war so perfekt, dass Marys Magen sich zusammenzog. Das wurde hier langsam etwas zu realistisch.
Vor der Mittagspause unterrichtete sie Mathematik und danach Aufsatz und hoffte, dass endlich jemand den Vorhang beiseiteziehen und sie vom Vorsprechen zum eigentlichen Engagement befördern würde. Als es am Ende des Schultages läutete, lief sie zum nächsten Postamt und schickte ein indigniertes Telegramm ans Kriegsministerium, in dem sie erkennen ließ, hier müsse ein Irrtum vorliegen.
Natürlich war es kein Irrtum. Denn während man London in der kommenden großen Verschiebung vieles vorwerfen würde – all die Konvois, denen im Nebel ihr Geleitschutz abhandenkam; all die Geschütze, die mit nicht darauf passenden Verschlüssen ausgeliefert wurden; all die Liebenden, die mit Herzen des falschen Kalibers ausgestattet wurden –, zweifelte niemand je daran, dass sich die große alte Hauptstadt ganz hervorragend darauf verstand, einen wissen zu lassen, wo genau man mit dem Kampf zu beginnen hatte.
Mary weinte fast, als sie erfuhr, dass ihre erste Aufgabe als Lehrerin darin bestehen würde, ihre Klasse aufs Land zu evakuieren. Und als sie herausfand, dass London seine Zootiere mehrere Tage vor seinen Kindern evakuiert hatte, war sie empört. Wenn man schon ins Exil musste, sollte die Hauptstadt ihre Kinder doch bitte höher schätzen als Papageien und Moschusochsen.
Sie überprüfte ihren Lippenstift im Taschenspiegel und hob die Hand.
»Ja, Miss North?«
»Ist es nicht eine Schande, dass die Tiere zuerst evakuiert wurden?«
Sie sagte es so, dass alle Kinder es hören konnten, die am Sammelpunkt vor dem leeren Londoner Zoo auf die Evakuierung warteten. Zaghafte Beifallsrufe. Der kühle Blick der Schulleiterin verunsicherte Mary etwas. Aber es war doch nicht richtig, zuerst den Tieren die Rettungsleine hinzuwerfen? War das nicht so eine Altmännerentscheidung, wie sie schon der alte Noah getroffen hatte: die Arche mit stummem Viehzeug statt mit lebenden Kindern zu füllen, die nur Widerworte gegeben hätten? So hatte man die besten Wurzeln der Menschheit ertrinken lassen. Darum waren Männer das gewalttätige Inzucht-Produkt der Nachkommen von Ham, Sem und Japhet, und fähig, in der Saison den Krieg zu erklären, in der Mary ihr Augenmerk auf feines Kammgarntuch hatte richten wollen.
Die Schulleiterin seufzte nur. Also. Der Grund für die Verzögerung war schlicht der, dass man den Namen eines Seidenäffchens nicht auf einen Gepäckanhänger schreiben, es nicht in ein Zweite-Klasse-Abteil begleiten und mit einer angemessenen Gastfamilie in den Cotswolds versehen musste. Die niederen Primaten brauchten lediglich einen Lastwagen für die Hinfahrt und am Ziel anständiges Futter, während die höheren Hominiden, die auf Namen wie Henry und Sarah hörten, eine Vielzahl von Bedürfnissen hatten, die eine pflichtbewusste Bürokratie nicht nur voraussehen, sondern auch erfüllen und darüber hinaus dokumentieren musste, und zwar auf Formularen, die erst noch von der Druckerei kommen mussten.
»Ich verstehe«, sagte Mary. »Danke.«
Natürlich war das der Grund. Sie hasste es, achtzehn zu sein. Einsicht und Empörung fraßen sich durch die Vernunft wie heiße Kohlen durch Ofenhandschuhe. Darum also wimmelte es in London immer noch von Kindern, während der Zoo verlassen war und dreihundert Portionen Affenfutter in kleinen, aus Zeitungspapier gedrehten Tüten zum Preis von einem halben Penny unverkauft und verloren im Kiosk lagen.
Sie hob noch einmal die Hand, ließ sie aber gleich wieder fallen.
»Ja?«, fragte Miss Vine. »Noch etwas?«
»Entschuldigung. Nein.«
»Gut.«
Die Schulleiterin wandte sich einen Augenblick von den Reihen der Kinder ab und fixierte Mary mit einem Blick, der von Nächstenliebe nur so troff.
»Vergessen Sie nicht, Sie sind jetzt auf unserer Seite. Bei den Erwachsenen, wissen Sie?«
Mary konnte beinahe spüren, wie sogar ihre Knochen vor Abneigung knackten. »Danke, Miss Vine.«
Diesen Augenblick nutzte das einzige farbige Kind der Schule, um sich vom Sammelpunkt wegzustehlen und am Haupttor des Zoos emporzuklettern, das mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Die Schulleiterin fuhr herum.
»Zachary Lee! Komm sofort herunter!«
»Und was, wenn nicht? Schicken Sie mich dann aufs Land?«
Die ganze Schule schnappte nach Luft. Der Negerjunge, zehn Jahre alt und unbesiegbar, salutierte. Er schwang die mageren braunen Beine über das Tor, wobei er sich am vorletzten und letzten schmiedeeisernen O von LONDON ZOO festhielt, als wären es die Griffe eines Turnpferds, und ward nicht mehr gesehen.
Miss Vine wandte sich an Mary. »Sie holen den Nigger wohl besser zurück, nicht wahr?«
Es war ihre erste Rettungstat in diesem Krieg. Die kupferrote, lebhafte Mary North durchkämmte den verlassenen Zoo, auf Wegen, die noch gut gepflegt waren. Allein fühlte sie sich besser. Sie rauchte heimlich eine Zigarette. Mit der anderen Hand massierte sie ihre Stirn, überzeugt, dass sie den Verdruss daran hindern konnte, sich dort einzunisten. Man konnte Kümmernisse vertreiben, so wie man Asche vom Ärmel schnippte oder eine verirrte Biene durchs offene Fenster hinausbugsierte.
Sie hatte schon das Giraffengehege und die Käfige der großen Raubkatzen überprüft. Als sie jemanden husten hörte, schlich sie auf Zehenspitzen durch ein Tor, dessen Riegel geöffnet war, ins Affengehege. Sie stapfte durch das Stroh. Ein Geruch von Urin und Moschus stieg auf, der ihr Herz erschrocken schneller schlagen ließ. Aber sie hoffte, ein Zoowärter hätte es wohl gemerkt, wenn beim Durchzählen auf dem Evakuierungslastwagen ein ganzer Gorilla fehlte.
»Komm raus, Zachary Lee, ich weiß, dass du hier drinnen bist.«
Es war unheimlich, im Gorillahaus zu stehen und durch das verschmierte Glas nach draußen zu blicken. »Na komm schon, Zachary, Schätzchen. Sonst bekommen wir beide Ärger.«
Ein zweites Husten, es raschelte unter dem Stroh. Dann, mit seinem weichen amerikanischen Akzent: »Ich komme nicht raus.«
»Na schön«, sagte Mary. »Dann werden wir beide hier zusammen verrotten, bis der Krieg vorbei ist. Und niemand wird je erfahren, wie talentiert wir uns dabei angestellt hätten.«
Sie setzte sich neben den Jungen, nachdem sie vorher ihre rote Jacke mit dem rosa Seidenfutter nach unten auf dem Stroh ausgebreitet hatte. Es fiel ihr schwer, missgelaunt zu bleiben. Man konnte über den Krieg sagen, was man wollte, aber er hatte sie aus Mont-Choisi befreit, und zwar pünktlich vor einem Nachmittag mit einer Doppelstunde Französisch, und hielt vielleicht weitere Wohltaten bereit. Sie zündete sich die nächste Zigarette an und blies den Rauch durch einen Streifen Sonnenlicht.
»Dürfte ich auch eine haben?«, fragte das leise Stimmchen.
»Höflich gefragt«, sagte Mary. »Und nein. Erst wenn du elf bist.«
Vom Sammelpunkt ertönte eine Trillerpfeife. Das konnte entweder bedeuten, dass schwere Bomber im Anflug waren, oder aber, dass man die Kinder in zwei etwa gleich starke Mannschaften für eine Runde Schlagball eingeteilt hatte.
Zachary schob den Kopf aus dem Stroh. Mary staunte noch immer über seine braune Haut, die kastaniendunklen Augen. Als er zum ersten Mal gelächelt hatte, war sie ganz entzückt gewesen über die aufblitzende rosa Zunge. Sie hätte erwartet, diese wäre – na ja, nicht braun, aber gewiss ein ähnlicher Gegensatz zu Rosa wie braune Haut zu weißer. Eine bläuliche Zunge vielleicht, wie bei einem Skink. Es hätte sie nicht überrascht zu erfahren, dass sein Blut schwarz und sein Stuhl elfenbeinfarben war. Er war der erste Neger, den sie aus der Nähe sah – von den Plakaten der Minstrel-Shows einmal abgesehen –, und sie musste sich immer noch beherrschen, damit sie ihn nicht anglotzte.
Er hatte Stroh in den Haaren. »Miss? Warum haben die die Tiere weggebracht?«
»Aus ganz unterschiedlichen Gründen«, sagte Mary und zählte sie an den Fingern auf. »Die Flusspferde, weil sie solche schrecklichen Feiglinge sind. Die Wölfe, weil man nie genau weiß, auf wessen Seite sie stehen. Und die Löwen, weil sie mit dem Fallschirm direkt über Berlin abgeworfen werden, um Herrn Hitlers Großkatzen zu erledigen.«
»Die Tiere sind also auch im Krieg?«
»Natürlich. Wäre es nicht absurd, wenn nur wir allein kämpften?«
Der Gesichtsausdruck des Jungen verriet, dass er es noch nie aus dieser Perspektive betrachtet hatte.
Mary nutzte die Gelegenheit. »Wie viel ist zwei mal sieben?«
Der Junge begann zu rechnen, entschlossen und pflichtschuldig wie ein Kind, das zumindest so lange nicht aufgeben wird, bis ihm die Finger ausgehen. Nicht zum ersten Mal in dieser Woche unterdrückte Mary ein Lächeln und den erfreulichen Verdacht, dass Unterrichten vielleicht nicht der schlechteste Weg war, die Mußestunden zwischen Frühstück und gesellschaftlichem Leben zu verbringen.
Am Dienstagmorgen hatte Mary das Klassenbuch überflogen und kleine Glasflaschen mit Milch verteilt, bevor sie die Namen ihrer einunddreißig Kinder auf braune Gepäckanhänger geschrieben und durch die obersten Knopflöcher ihrer Mäntel gefädelt hatte. Natürlich hatten die Kinder die Schilder getauscht, sowie sie ihnen den Rücken kehrte. Sie waren auch nur Menschen, selbst wenn sie sich noch nicht viel Mühe gegeben hatten, groß zu werden.
Und natürlich hatte sie darauf bestanden, sie mit den vertauschten Namen anzusprechen – auch wenn Jungen dann Elaine hießen und Mädchen Peter –, wobei sie völlig ernst blieb. Sie freute sich, dass die Kinder so leicht zum Lachen zu bringen waren. Wie sich herausstellte, bestand der einzige Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen darin, dass Kinder bereit waren, doppelt so viel Energie darauf zu verwenden, nicht traurig zu sein.
»Ist es zwölf?«, fragte Zachary.
»Was soll zwölf sein?«
»Zwei mal sieben«, erinnerte er sie in dem entrüsteten Ton, der Erwachsenen gebührte, die Fragen stellten und keinen Gedanken an den emotionalen Aufwand verschwendeten, den die Beantwortung erforderte.
Mary zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Zwölf ist schon ziemlich nah dran.«
Wieder ertönte die Trillerpfeife. Über den Gehegen zogen Möwen hoffnungsvolle Kreise. Die Erinnerung an die Fütterungszeiten war noch da. Mary spürte einen Stich. Alle Stundenpläne dieser Welt wehten jetzt einfach durch den blauen Himmel, flatterten im Wind.
»Dreizehn?«
Mary lächelte. »Soll ich es dir zeigen? Du bist ein gescheiter Junge, aber du bist zehn Jahre alt und hinkst im Rechnen hoffnungslos hinterher. Mir scheint, bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, es dir ordentlich beizubringen.«
Sie kniete sich ins Stroh, ergriff seine Hände – es verblüffte sie noch immer, dass sie sich nicht wärmer anfühlten als weiße Hände – und zeigte ihm, wie er bei sieben anfangen und sieben Finger weiterzählen konnte. »Verstehst du jetzt? Sieben und noch mal sieben ist vierzehn. Es geht nur darum, nicht aufzuhören.«
»Oh.«
Wie überrascht und enttäuscht kleine Jungs aussahen, wenn die Magie dem Verstand unblutig den Sieg überließ.
»Wie viel wäre denn drei mal sieben, Zachary, jetzt, da du schon zwei mal sieben hast?«
Er untersuchte seine ausgestreckten Finger und schaute zu ihr hoch.
»Wie lange?«
»Wie lange was?«
»Wie lange schicken die uns weg?«
»Bis London wieder sicher ist. Es sollte nicht allzu lange dauern.«
»Ich hab Angst, aufs Land zu fahren. Ich möchte so gern, dass mein Vater mitkommt.«
»Eltern können nicht mitkommen. Ihre Arbeit ist wichtig für den Krieg.«
»Glauben Sie das?«
Mary schüttelte entschieden den Kopf. »Natürlich nicht. Die Arbeit der meisten Leute ist großer Unsinn, oder nicht? Versicherungsstatistiker und Schadensregulierer und Professoren für Kauderwelsch. Die meisten wären weit nützlicher, wenn sie Limericks aufsagen und ihre Socken mit Glitzerkram ausstopfen würden.«
»Mein Vater tritt in der Minstrel-Show im Lyceum auf. Ist das nützlich?«
»Für die Moral ganz sicher. Wenn die Minstrels nicht gebraucht würden, hätte man sie vermutlich schon vor Tagen evakuiert. In einem Gospel Train.«
Doch der Junge wollte nicht lächeln. »Auf dem Land werden sie mich nicht haben wollen.«
»Warum, um Himmels willen?«
Die Leidensmiene, die Kinder aufsetzten, wenn jemand hoffnungslos begriffsstutzig war.
»Ach, verstehe. Nun, ich möchte mal behaupten, dass sie einfach nur schrecklich neugierig sein werden. Du musst wohl damit rechnen, dass sie dich anstupsen und betasten, aber sobald sie begriffen haben, dass es sich nicht abwaschen lässt, nehmen sie es dir sicher nicht übel. Die Menschen sind im Grunde ziemlich fair.«
Der Junge wirkte gedankenverloren.
»Egal«, sagte Mary, »ich komme mit, wo immer wir auch hinfahren. Ich verspreche dir, ich lasse dich nicht allein.«
»Die werden mich hassen.«
»Unsinn. Sind etwa die Minstrels in Polen einmarschiert? Hat vielleicht eine Gruppe von Theaternegern das Sudetenland besetzt?«
Er schaute sie langmütig an.
»Siehst du? Den Leuten auf dem Land bist du allemal lieber als die Deutschen.«
»Ich will aber trotzdem nicht hin.«
»Aber das ist doch gerade der Spaß dabei. Es ist einfach ein riesengroßes Spiel, bei dem alle dahin müssen, wohin man sie schickt. Jeder, der wichtig ist, macht dabei mit.«
Überrascht begriff sie, dass es ihr überhaupt nichts ausmachte, weggeschickt zu werden. Es war ein gigantisches Roulette – so musste man es betrachten. Die Kinder würden frische Landluft bekommen, und sie … nun, was war das Land denn anderes als zahllose Heathcliffs, die frei verfügbar waren?
Stellen wir uns doch mal vor, dachte sie, dass dieser Krieg uns noch alle überraschen wird. Nehmen wir mal an, dass uns der Evakuierungszug in eine wilde Gegend bringt, weit weg von diesen gesitteten Straßen, in denen jeder Dritte eine Anekdote über meine Mutter kennt oder im Wahlkreis meines Vaters abstimmt.
Sie sah sich selbst auf dem Land, in einem hübschen Dorf mit lebhaften jungen Menschen, die der Krieg in einem neuen Muster angeordnet hatte. Es wäre, als drehte man ein Kaleidoskop, nur mit Tanz und Grammophon. Und schon um es ihrer Freundin Hilda zu zeigen, würde sie sich in den ersten Mann verlieben, der auch nur halbwegs interessant erschien.
Sie drückte die Hand des farbigen Jungen und freute sich über sein Lächeln, als die fröhliche Stimmung auf ihn übersprang. »Na komm schon. Sollen wir zurück zu den anderen gehen und zusehen, dass wir auch noch ein bisschen Spaß abkriegen?«
Sie standen auf, und Mary klopfte dem Kind die Strohhalme ab. Der Junge war knochig, hatte die Augen weit aufgerissen – er wirkte, als würde er gerade gründlich mit Röntgenstrahlen durchleuchtet –, und sein schwarzes Haar stand widerspenstig in die Höhe. Sie schüttelte lachend den Kopf.
»Was ist?«
»Zachary, ich weiß wirklich nicht, warum wir uns die Mühe machen, dich zu evakuieren. Du siehst aus, als hätte dich schon eine Bombe getroffen.«
Er verzog das Gesicht. »Na, und Sie rauchen so.«
Er ahmte Mary nach, rauchend wie Bette Davis, so als besitze die brennende Craven »A« einen ungeheuren Auftrieb. Die Zigarette drängte empor, so dass das Handgelenk elegant gestreckt wurde, und ließ die ersten beiden Finger die Geste einer gelangweilten Heiligen formen, die ihren Segen erteilt.
»Ja, genau so!«, sagte Mary. »Jetzt zeig mir aber auch, wie du es machen würdest.«
Geschickt wie ein Zauberer, der einen Penny in der Hand verbirgt, drehte Zachary die imaginäre Zigarette herum, so dass die Glut unter seiner gewölbten Hand glomm. Er schaute misstrauisch nach links und rechts, nahm einen tiefen Zug, wandte sich ab und öffnete den Mundwinkel zu einem kleinen Spalt, aus dem er den Rauchstrahl ins Stroh hinunterblies. Es ging nahezu unsichtbar schnell, ein Spatz, der von einem Baum kackt.
»Guter Gott. Du rauchst, als hätte die ganze Welt es dir verboten.«
»Ich rauche wie ein Mann«, sagte das Kind blasiert.
»Nun denn. Dann brauche ich dir außer Lesen, Schreiben und Rechnen nichts mehr beizubringen.«
Sie nahm seinen Arm, und sie gingen los – wobei er fragte, ob die Löwen bei Tag oder Nacht über Berlin abgeworfen würden, und sie antwortete, dass es vermutlich nachts geschehen würde, weil es überwiegend Nachttiere seien, obwohl, wer konnte das im Krieg schon sagen?
Sie gingen durch das Drehtor am Ausgang. Mary ließ den Jungen vorgehen, damit er sich nicht – was wirklich ein Witz gewesen wäre – erneut davonmachte, sobald sie auf der falschen Seite stand. Wären ihre Rollen vertauscht, hätte sie der Gelegenheit nur schwer widerstehen können.
Auf dem Rasen hatte man die ganze Schule in Dreierreihen aufgestellt. Sie hielt Zachary kameradschaftlich am Arm, bis ihr die Schulleiterin einen Blick zuwarf. Mary änderte den Griff, so dass er strenger wirkte.
»Mit dir beschäftige ich mich später, Zachary«, sagte Miss Vine. »Du kannst mit Nachsitzen rechnen, sobald man mir ein Gebäude zuteilt, in das ich dich sperren kann.«
Zachary lächelte aufreizend. Mary schob ihn rasch an den Reihen entlang, bis sie ihre eigene Klasse gefunden hatte. Dort holte sie die unscheinbare, vernünftige Fay George aus ihrer Dreiherreihe und ließ sie mit dem wiedergefundenen Entflohenen eine neue bilden, wobei sie das Mädchen anwies, ihn fest an der Hand zu halten. Fay tat wie geheißen, doch erst, nachdem sie ihre Handschuhe aus der Manteltasche geholt und angezogen hatte. Zachary nahm es kommentarlos hin und schaute einfach nur geradeaus.
Die Schulleiterin kam zu Mary, rümpfte die Nase, als sie den Geruch nach Zigaretten bemerkte, und blickte demonstrativ himmelwärts. So als flöge dort ein Bombergeschwader, das Mary übersehen hatte. Miss Vine packte Zachary an den Schultern und schüttelte ihn geistesabwesend und nicht ohne Zuneigung. Es war, als wollte sie fragen: So, und was machen wir jetzt mit dir?
»Ihr jungen Leute habt doch keine Ahnung von den Schwierigkeiten.«
Mary nahm an, dass der Tadel ihr galt, obwohl er auch an das Kind oder – da die Schulleiterin noch immer zum Himmel blickte – die jungen Piloten der Luftwaffe oder irgendwelche sorglosen Cherubim gerichtet sein konnte.
Mary biss sich von innen auf die Wange, um nicht zu lächeln. Sie mochte Miss Vine – die Frau bestand nicht nur aus Vipern und Krinoline. Doch ihr Argwohn war so öde. Als könnte man dem Leben nicht vertrauen.
»Es tut mir leid, Miss Vine.«
»Miss North, haben Sie viel Zeit auf dem Land verbracht?«
»Oh ja. Wir verbringen oft das Wochenende im Wahlkreis meines Vaters.«
Es war eines der Dinge, die sie eigentlich nicht sagen wollte.
Miss Vine ließ Zacharys Schulter los. »Dürfte ich Sie einen Moment allein sprechen?«
»Bitte.«
Sie traten beiseite.
»Was hat Sie bewogen, sich freiwillig als Lehrerin zu melden?«
Mary war zu stolz, um zuzugeben, dass sie sich nicht für eine bestimmte Aufgabe gemeldet hatte – dass sie sich einfach nur freiwillig gemeldet und angenommen hatte, dass die Angelegenheit zu ihren Gunsten geregelt würde, wie es dank irgendwelcher unsichtbaren Einflüsse bisher immer geschehen war.
»Ich dachte, unterrichten könnte mir liegen.«
»Nun, junge Frauen Ihrer Herkunft ziehen diesen Beruf gewöhnlich nicht in Betracht.«
»Ach, so würde ich das nicht sehen. Wenn man Frauen meiner Herkunft für etwas tadeln möchte, dann wohl eher dafür, dass sie überhaupt keine Arbeit in Betracht ziehen.«
»Und warum haben Sie es getan, meine Liebe?«
»Ich hatte gehofft, es wäre weniger anstrengend als das ständige Nichtstun.«
»Aber es gibt doch sicher eine Art des Kriegseinsatzes, die Ihnen glanzvoller erscheint?«
»Sie setzen nicht gerade viel Vertrauen in mich, Miss Vine.«
»Sehen Sie denn nicht, dass Sie unmöglich sind? Meine anderen Lehrerinnen sind entweder ganz geblendet oder entmutigt von Ihnen. Und Sie sind zu selbstbewusst. Sie wollen sich mit den Kindern anfreunden, aber die brauchen etwas anderes als eine Freundin.«
»Ich glaube, ich mag Kinder eben.«
Die Schulleiterin betrachtete sie mit unverhohlenem Mitleid. »Sie können nicht die Freundin von einunddreißig Kindern sein, die alle weitaus mehr brauchen, als Sie sich vorstellen können.«
»Ich verstehe durchaus, was sie brauchen.«
»Sie machen diese Arbeit jetzt seit vier Tagen und glauben schon, Sie würden alles verstehen. Dies ist ein landläufiger Fehler, der leider bei jungen Frauen, die nicht dringend auf die zwei Pfund und siebzehn Shilling pro Woche angewiesen sind, nur schwer zu korrigieren ist.«
Mary stellte innerlich die Stacheln auf und musste sich beherrschen, um nichts zu sagen.
»Alle Auffälligkeiten in dieser Woche kamen aus Ihrer Klasse. Wutanfälle, Missgeschicke, Fluchtversuche. Die Kinder glauben, sie könnten sich bei Ihnen Freiheiten erlauben.«
»Sie tun mir leid, Miss Vine. Sie müssen sich für wer weiß wie lange Zeit von ihren Eltern trennen. In dieser Lage könnte ein bisschen Nachsicht –«
»– sie töten. Ich habe keine Ahnung, was die kommenden Wochen und Monate bringen werden, aber ich bin mir sicher, wenn es zum Austausch von Feindseligkeiten kommt, müssen wir stets wissen, wo sich jedes Kind gerade befindet, damit wir alle umgehend in den Luftschutzbunker bringen können. Kein Kind darf unbeaufsichtigt irgendwo in der Weltgeschichte herumlaufen.«
»Es tut mir leid. Ich werde mich bessern.«
»Ich fürchte, ich kann es nicht riskieren, Ihnen die Zeit dafür zu geben.«
»Wie bitte?«
»Um zwölf Uhr heute Mittag werden wir zu Fuß nach Marylebone gehen und dort um ein Uhr den Zug besteigen. Den Zielort hat man mir nicht genannt, aber ich vermute, dass er sich in Oxfordshire oder den Midlands befindet.«
»Nun, dann …«
»Es tut mir leid, aber ich werde Sie nicht mitnehmen.«
»Miss Vine!«
Die Schulleiterin legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich habe Sie gern, Mary. Gern genug, um Ihnen zu sagen, dass Sie als Lehrerin gänzlich ungeeignet sind. Suchen Sie sich etwas, das Ihren vielen Begabungen angemessener ist.«
»Aber meine Klasse …«
»Die übernehme ich selbst. Jetzt schauen Sie nicht so. Ich habe durchaus Erfahrung im Unterrichten.«
Aber die Namen, dachte Mary. Ich habe jeden einzelnen Namen gelernt.
Sie stand einen Augenblick da, darauf bedacht, eine ausdruckslose Miene zu bewahren, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. »Nun gut.«
»Ihre Familie kann stolz auf Sie sein.«
»Sie sind zu freundlich«, sagte Mary, weil man das eben sagte.
Zwölf Uhr kam viel zu schnell. Sie holte ihren Koffer von dem Wagen, auf dem das Gepäck der Lehrerinnen lag, und sah zu, wie die ganze Schule in Dreierreihen über die Outer Circle Road evakuiert wurde. Die Turmfalken kamen zuletzt: ihre einunddreißig Kinder, alle Namen sorgfältig auf braune Gepäckanhänger geschrieben. Enid Platt, Edna Glover und Margaret Eccleston bildeten die erste Reihe, immer gemeinsam, immer miteinander flüsternd. Vier Tage lang waren sie von ihrem Getuschel so in Anspruch genommen gewesen, dass Mary nie gewusst hatte, ob sie die Mädchen zum Schweigen auffordern oder sie fragen sollte, ob sie nicht an diesen aufregenden Themen teilhaben könne.
Als Nächste kamen Margaret Lambie, Audrey Shepherd und Nellie Gould: Audrey, deren Gasmaskenbehälter mit Plakatfarbe bemalt war; Nellie mit ihrer Puppe, die Pinkie hieß, und Margaret, die ein bisschen Französisch sprach.
Mary blieb zurück. Auf der grünen Grasnarbe neben dem verlassenen Zoo wurde es ruhiger. George Woodall, Jack Taylor und Graham Brown marschierten mit schwingenden Armen wie Infanteriesoldaten. John Cumberland, Harry Rogers und Carl Richardson, die hinter ihnen gingen, machten sich mit Schimpansenlauten über sie lustig. Henriette Wisby, Elaine Newland und Beryl Waldorf, die Schönheiten der Klasse, stolzierten Arm in Arm dahin und runzelten die Stirn über die ungehobelten Jungs. Dann kamen Eileen Robbins, Norma Reeve und Rose Montiel, blass und ängstlich.
Es folgten Patricia Fawcett, Margaret Taylor und June Knight, deren Mütter einander recht gut kannten und deren spätere Töchter und Enkelinnen die Bekanntschaft gewiss fortsetzen würden, solange die Kriege der Männer es zuließen, dass man bei Tee und Biskuitkuchen gesellschaftlichen Umgang pflegte. Dann Patrick Joseph, Gordon Abbott und James Wright, ständig kichernd und sich nach hinten zu Peter Carter, Peter Hall und John Clark umschauend, die irgendwelchen Unsinn ausheckten, der vermutlich mit Ohnmachtsanfällen oder Tinte zu tun haben würde.
Schließlich kam die freundliche Rita Glenister, die den winzigen, in Tränen aufgelösten James Roffey an der Hand hielt, und in der allerletzten Reihe Fay George und Zachary. Der farbige Junge ignorierte Mary, nahm einen letzten Zug von seiner imaginären Zigarette und schnippte die Kippe weg. Dann ging er mit den anderen davon, singend, an einen Ort, der noch keinen Namen hatte. Mary schaute ihm nach. Zum ersten Mal hatte sie ein Versprechen gebrochen.
In ihrem Elternhaus in Pimlico saß Mary ihrer Freundin Hilda beim Abendessen gegenüber, während ihre Mutter kalten Hackbraten von einem Tablett servierte, das sie selbst aus der Küche geholt hatte. Da Marys Vater im Parlament war und kein Besuch erwartet wurde, hatte ihre Mutter allen Bediensteten außer der Köchin freigegeben.
»Wann werdet ihr denn evakuiert?«, fragte ihre Mutter. »Ich dachte, du wärst schon weg.«
»Oh, ich werde ihnen bald nachreisen. Sie wollten, dass sich eine gute Lehrerin um die Nachzügler kümmert.«
»Erstaunlich. Wir hätten gar nicht erwartet, dass du dich dafür eignen würdest, nicht wahr, Hilda?«
Hilda blickte auf. Sie hatte ihre Scheibe Hackbraten in Drittel geschnitten und ein Drittel in Befolgung ihres Schlankheitsplans beiseitegelegt. Er war der aktuellen Ausgabe von Silver Screen entnommen, trug den Titel »Zwei-Drittel-Kurven« und hatte angeblich Ann Sheridan zu ihrer Figur für Chicago – Engel mit schmutzigen Gesichtern verholfen.
»Pardon, Mrs. North?«
»Wir hatten nicht gedacht, dass Mary zur Lehrerin taugen würde, nicht wahr, meine Liebe?«
Hilda schaute Mary unschuldig an. »Und sie hat den Einsatz in der Schule so stoisch hingenommen.«
Hilda war sehr gut darüber im Bilde, dass Mary die Lehrerinnenrolle keineswegs ergeben übernommen und sie obendrein nicht länger als eine Woche ausgeübt hatte. Mary setzte ein Lächeln von wohlberechneter Bescheidenheit auf. »Das Unterrichten ist kriegswichtig, weil es Männer für den Militärdienst verfügbar macht.«
»Ich hatte eher erwartet, du würdest dir einen Admiral verfügbar machen.«
»Hilda! Noch so ein Satz, und dein abgetrennter Kopf wird aufs Tor gespießt, als düstere Warnung.«
»Verzeihung, Mrs. North, aber ein hübsches Ding wie Mary ist doch nicht für eine so reizlose Aufgabe wie das Unterrichten geschaffen.«
Hilda wusste ganz genau, dass Mary von ihrer Mutter ständig irgendwelcher Flirts verdächtigt wurde. Das war typisch für Hilda – eine ausgeklügelte Falle stellen und zuschnappen lassen, während sie sich scheinbar ganz auf ihren Hackbraten konzentrierte.
»Ich bin ganz schön beeindruckt, dass sie es durchhält«, sagte Hilda. »Ich selbst kann nicht mal eine Abmagerungskur durchhalten.«
Mit Messer und Gabel und geradezu unerträglicher Sorgfalt schnitt sie von jeder einzelnen grünen Bohne auf ihrem Teller ein Drittel ab. Dann reihte sie die kurzen Stücke sorgfältig neben dem aussortierten Hackbraten auf.
Mary konnte es nicht länger mit ansehen. »Warum um Himmels willen schneidest du die alle so?«
Hildas rundes Gesicht wirkte sehr arglos. »Sind die Drittel nicht richtig?«
»Herrgott noch mal, leg doch einfach jede dritte Bohne beiseite. Das ist eine Diät, keine Obduktion.«
Hilda sackte leicht in sich zusammen. »Ich bin nun mal nicht so klug wie du.«
Mary warf ihr einen wütenden Blick zu. Hildas dunkle Augen glitzerten.
»Wir haben alle verschiedene Gaben«, sagte Marys Mutter. »Du bist eben gewissenhaft und freundlich.«
»Aber ich finde es so tapfer, dass Mary als Lehrerin arbeitet. Während wir Übrigen nur vom Wohnzimmer in den Salon schlittern.«
Marys Mutter tätschelte Hildas Hand. »Es dient auch, wer in Anstand lebt.«
»Aber etwas für den Krieg zu tun«, sagte Hilda »wirklich etwas zu tun.«
»Gewiss, ich bin stolz auf meine Tochter. Dabei hatten wir im Sommer noch befürchtet, sie könnte eine Sozialistin sein.«
Und da lachten sie alle drei laut heraus. Was für ein Gedanke.
Nach dem Essen, auf der Dachterrasse über den sechs Stockwerken cremeweißen Stucks, war Hilda ganz schwach vor Lachen, während Mary innerlich kochte. Ihre weißen Kleider leuchteten flammend rot, als über Pimlico die Sonne sank.
»Du Wespenzitze«, sagte Mary und zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt muss ich bis in alle Ewigkeit so tun, als hätte man mich nicht gefeuert. Hast du das wegen Geoffrey St. John getan?«
»Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Na ja, zugegeben, vielleicht habe ich ihn ein bisschen …«
»Ein bisschen was?«
»Ein bisschen geküsst.«
»Beim …?«
»Beim Queen-Charlotte-Ball.«
»Und er war dort als …?«
»Na schön. Als dein Begleiter.«
»Interessant.«
»Sehr«, sagte Mary. »Denn du bist offenbar immer noch sauer.«
»Sieht so aus.«
Mary stützte die Ellbogen aufs Balkongeländer und warf einen müden Blick auf London. »Weil du in diesen Dingen nicht entspannt bist.«
»Ich bin eben sehr traditionell eingestellt. Aber sieh es mal positiv. Du hast jetzt eine Vollzeitstelle als Lehrerin.«
»Und du hast auf Mutter gespielt wie auf einem billigen Pianola.«
»Und du musst dir deine Stelle zurückholen oder zumindest so tun, als hättest du sie noch. Jedenfalls habe ich dich beim Michaelmas-Ball vom Hals.«
»Der Ball, du Genie, findet nicht während der Unterrichtszeit statt.«
»Aber du wirst ja auf dem Land sein. Selbst deiner Mutter dürfte klar sein, dass hier niemand mehr ist, den du unterrichten könntest.«
Mary überlegte. »Das wird dir noch leidtun.«
»Irgendwann werde ich dir natürlich verzeihen. Vielleicht lade ich dich sogar zu meiner Hochzeit mit Geoffrey St. John ein. Du könntest meine Brautjungfer werden.«
Sie schauten Schulter an Schulter über die dunkler werdende Stadt.
»Wie war es?«, fragte Hilda schließlich.
Mary seufzte. »Am schlimmsten ist, dass es mir wirklich gefallen hat.«
»Aber ich habe ihn zuerst kennengelernt«, erwiderte Hilda.
»Ach, doch nicht der Kuss. Ich meinte das Unterrichten.«
»Was redest du denn nun schon wieder?«
»Nein, ehrlich! Ich hatte einunddreißig Kinder, allesamt blitzgescheit. Und jetzt, wo sie weg sind, kommt mir alles ziemlich öde vor.«
Die Stadt lag nun verdunkelt da, Himmel und Erde wie vertauscht. Eben noch hatte sie den Abendsternen mit einer Million Lichtpunkten geantwortet.
»Und was hattest du an Geoffreys Kuss auszusetzen?«, fragte Hilda.
Als der Krieg erklärt wurde, beschloss Tom Shaw, darauf zu verzichten. Die Sache würde ohnehin nicht lange dauern – die Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten würden kurz vor dem Abgrund dann doch zurückschrecken, wie Kinder es taten, wenn sie sich auf dem Spielplatz gegenseitig herausforderten.
Wenn man dreiundzwanzig war, brauchte es zum Traurigsein schon besonderes Geschick. Doch dummerweise bemerkte er ständig Dinge, die einen melancholisch stimmen konnten. Er bemerkte, wie sich die Schauspieler im West End nicht die Mühe machten, sich abzuschminken, wenn wenig Zeit zwischen Matinee und Abendvorstellung blieb – es konnte passieren, dass man in Soho einen Rosencrantz antraf, der im gleichgültigen Nachmittagslicht sein halbes Pint trank. Er bemerkte den fein säuberlich abgeweideten Kreis im Gras, wo ein Pferd auf der Gemeindewiese festgebunden war – der Kreis war unweigerlich von geometrischer Perfektion, egal ob das Tier nun lebhaft oder ruhig, bockig oder gehorsam war.
Seine Kollegen von der Schulaufsichtsbehörde hatten sich alle zur Armee gemeldet, und sein Vorgesetzter war ins Ministerium befördert worden, um die Evakuierung zu koordinieren. Tom schien der einzige Mann in London zu sein, der den Krieg nicht als unterhaltsame Parade betrachtete, die man keinesfalls verpassen durfte. Daher hatte man ihm die Leitung eines Schulbezirks übertragen. Die Beförderung wäre durchaus ein Grund zum Feiern gewesen, hätte ihm die Beobachtungsgabe gefehlt, um zu bemerken, dass die Schulen leer waren.
Er ging in der Morgendämmerung spazieren. Hoch oben auf dem Parliament Hill reiften die Brombeeren, sie wollten schier bersten vor leuchtender Süße, wie sie sie nur in den besten Jahren besaßen. In jedem anderen Jahr hätten schon längst Kinder die Sträucher geplündert. Tom nahm seinen Hut ab und füllte ihn mit Beeren.
Er schaute auf seinen neuen Einflussbereich hinunter, der gerade erwachte: der Gelehrsamkeitsunterabschnitt von Kentish Town und Chalk Farm. Im Norden wurde sein neues Lehensgebiet von der Bahnlinie begrenzt, über der schon Dampf aufstieg, als der erste Trupp Evakuierter nach Westen gebracht wurde. Der Regent’s Canal, auf dem sich die Lastkähne drängten, die Waren von den Docks beförderten, bildete die Südgrenze. Innerhalb dieser Grenzen würde kein Kind Lesen und Schreiben lernen, keine Lehrerin würde ihr Gehalt in einem rot versiegelten Umschlag erhalten, keine Kreide würde aus ihrem kreidezeitlichen Schlummer geweckt, um in Stangen gepresst und auf Schultafeln aufgebracht zu werden, solange er es nicht anordnete. Er schaute vorsichtshalber nach rechts und links und hob dann gebieterisch den Arm.
»Lernt, kleine Menschen! Ich befehle es!«
Er hatte den Mund voller Brombeeren, was den Effekt ein wenig schmälerte. Er ließ den Arm sinken und fragte sich, was er mit dem Tag anfangen sollte. Die noch vorhandenen schulpflichtigen Kinder waren die am wenigsten reizvollen – die Verkrüppelten und mit Geburtsfehlern Behafteten, die auf dem Land niemand aufnehmen wollte. Natürlich auch die Negerkinder – man hatte nur wenige von ihnen evakuiert, und selbst diese kamen bereits nach und nach zurück. Die Evakuierung war ein Schönheitswettbewerb, bei dem die Kleinen in Gemeindesälen aufgestellt wurden und die Bauerntrampel sich die blonden aussuchen durften.
Tom blieben zwanzig eingemottete Schulen und ein kleines Häufchen Kinder, die nicht für den Unterricht geeignet waren, da sie entweder zu schwierig oder zu einfältig waren. Um sich aufzumuntern, übte er, eine Brombeere von seiner Hand auf den Ellenbogen zu schnippen und von dort aus in den Mund zu befördern. Er stellte sich nicht sonderlich geschickt an – von sechs Versuchen war keiner erfolgreich –, war aber sicher, dass er mit der Zeit besser würde. Es zeigte die große Torheit des Krieges, dass er Nationen aneinander maß, ohne derartige Talente zu berücksichtigen.
Tom sah auf. Jenseits seiner Zone erstreckte sich London, Sumpfland im Osten, weiße Marmormauern im Westen. Entlang der Themse testete man eine Flotte von Miniatur-Zeppelinen. Sie waren mit Tauen verankert und sollten auf verschiedene, wenngleich vage und unspezifische Weise Schutz bieten. Die stumpfen Nasen der Ballons schwangen in der wechselhaften Brise hin und her wie unsichere Kompasse, die der Norden im Stich gelassen hat.
Mit seinem Hut voller Brombeeren ging er den Hügel hinunter, zurück in die rasende Stadt mit den wie Pilze aus dem Boden schießenden Rekrutierungbüros. Fremde suchten seinen Blick, darauf bedacht, die neue Solidarität zu bezeugen. DEIN MUT, DEINE FRÖHLICHKEIT, DEINE ENTSCHLOSSENHEIT stand auf Plakatwänden, die früher für Seife geworben hatten.
Es war erst acht – zu früh fürs Büro –, also kehrte er in seine Mansarde zurück. Sein Zuhause bestand aus einem Wohnzimmer und zwei dazugehörigen Schlafzimmern und befand sich in einem Stadthaus an der Prince of Wales Road. Man hatte den Dachboden in eine Wohnung verwandelt, wie man die Mauren in Christen verwandelt hatte, pflegte sein Mitbewohner Alistair Heath zu sagen. Mit erhobenem Schwert und unter ständiger Gefahr des Rückfalls in den ursprünglichen Zustand. Im Winter drang bitterkalte Zugluft herein, im Sommer herrschte eine geradezu hundstägige Hitze, die man nur ein wenig lindern konnte, indem man in der kleinen Kochecke den Kopf unter den laufenden Wasserhahn hielt.
Tom traf Alistair in seiner Pyjamahose auf den nackten Dielenbrettern sitzend an, wo er Pfeife rauchte und Fetzen von Zeitungspapier ins Fell einer roten Katze stopfte. Kopf und Schultern waren bereits fertig, aus den leeren Augenhöhlen quollen Druckerzeugnisse.
»Mein Gott«, sagte Tom, »ist das Julius Caesar?«
Alistair blickte nicht auf. »Düstere Zeiten, alter Junge. Der Präparator hat ihn halb fertig zurückgeschickt. Falls du möchtest, Tee ist in der Kanne.«
»Warum haben sie ihn nicht fertig gemacht?«
»Vielleicht war er zu widerspenstig.«
»Wohl eher unersättlich. Weißt du noch, wie er nach einer tollen Nacht immer prahlerisch hereinstolziert kam?«
Alistair grinste um den Pfeifenstiel herum. »Ich vermisse den alten Lotterkater. Er kam mit der ersten Post – die Vermieterin hat ihn gerade hochgebracht. Gegerbt, säuberlich gefaltet und in Packpapier gewickelt. Nicht gerade sein größter Auftritt.«
»Vielleicht war er einfach platt.«
»Ich stopfe ihn jetzt mit Leitartikeln voll, bis ihm die Weisheit zu den Ohren rauskommt.«
Tom bot ihm seinen Hut mit den Brombeeren an. »Ich mache Marmelade. Willst du eine?«
Alistair griff zu. »Guter Gott, vergiss die Marmelade. Daraus könntest du Claret machen.«
Tom schüttete die Brombeeren in einen Topf, sammelte ein paar Ausreißer auf und gab etwas Wasser dazu.
»Hatte Caesar keinen Begleitbrief?«
»Eine Entschuldigung. Geschäft geschlossen, zu unserm Bedauern, et cetera, et cetera, hiermit senden wir Ihnen das Material zurück. Ich kann mir nicht vorstellen, dass im Krieg Tierpräparatoren besonders gefragt sind.«
»Man sollte ihn einfach absagen«, meinte Tom.
Er stellte die Kochplatte an und sah zu, wie Alistair den Bauch des Katers zunähte, wobei er sich recht geschickt anstellte. Er brachte eine Reihe kleiner, säuberlicher Stiche an, die ganz verschwinden würden, sobald man das Fell darüberkämmte. Tom hatte Alistairs kräftige, geradezu unverschämt geschickte Hände immer bewundert. Alistair konnte das Grammophon reparieren und Klavier spielen – lauter Dinge, bei denen Tom ganz unbrauchbar war –, und das auch noch völlig mühelos, als besäßen seine Hände ein Eigenleben. Er stellte Tom im Grunde ziemlich in den Schatten, obwohl er selbst das vermutlich gar nicht bemerkte. Alistair war blond und kräftig und besaß die stoische Gabe, Krieg und kaputte Wasserrohre mit demselben unbekümmerten Lächeln abzutun, als müsste man mit so etwas einfach rechnen. Er war attraktiv, aber nicht, weil er auffallend gutaussehend gewesen wäre, sondern weil er den Blick anderer freundlich akzeptierte und ihnen in die Augen sah. Tom hatte die Erfahrung gemacht, dass Frauen Alistair oft erst auf den zweiten Blick interessant fanden, etwas an ihm aber regelmäßig diesen zweiten Blick auslöste.
Alistair klopfte die Pfeife aus. »Ich bin heute Abend nicht zu Hause. Ich bringe Lizzie Siddal aufs Land.«
»Oh. Welches Gemälde?«
»Das ›Küss mich, ich kann nicht schwimmen‹-Bild.«
»Ophelia?« Tom ahmte den Blick und die fromme Geste der Hände nach.
»Wir haben eine Kiste für sie gebaut und fahren sie in einem neutralen Lastwagen nach Wales.«
»Ich wusste gar nicht, dass ihr auch andere habt. Sag bloß, es existiert irgendwo eine Flotte regierungseigener Lastwagen, auf denen UNBEZAHLBARE KUNSTSCHÄTZE steht.«
»Hör schon auf. Du bringst es fertig, einer banalen logistischen Operation alle Romantik zu nehmen.«
»Darfst du es mir überhaupt erzählen, wenn es so geheim ist?«
»Du wirst es Hitler wohl kaum weitersagen, oder?«
»Nein, es sei denn, sie geben mir meinen geheimen Funksender zurück.«
»Es ist eine schlimme und traurige Angelegenheit«, sagte Alistair. »Ich habe allein fünf Monate damit zugebracht, Ophelias Rahmen zu restaurieren – nur den Rahmen! –, und jetzt packen wir sie ein und vergraben sie wer weiß wie lange in irgendeinem alten Bergwerksschacht.«
Tom kippte den gesamten Teezucker aus dem Einmachglas in den Topf, braune Klumpen eingeschlossen.
»Ich hätte ja nichts dagegen, aber die Vorstellung, dass sie da unten allein in der Dunkelheit ist. Da fragt man sich schon, was passiert, wenn wir den Krieg verlieren.«
Tom rührte den Zucker unter die Früchte. »Es wird keinen richtigen Krieg geben.«
»Und wenn wir nun alle davongefegt werden und keiner sich mehr an Ophelia erinnert und sie für alle Ewigkeit dort in der Finsternis tief in einem Berg bleiben muss?«
»Dann hat die Nachwelt immer noch Caesar. Mit seiner Hilfe können sie unsere Ästhetik rekonstruieren. Auch wenn du ihn zu prall gestopft hast.«