Das Genom Projekt
Thriller
Martin Piotrowski
IMPRESSUM
Das Genom Projekt
von Martin Piotrowski
© 2015, Martin Piotrowski
Alle Rechte vorbehalten
Autor: Martin Piotrowski
Kontaktdaten: martinpiotrowski@t-online.de
Das Genom-Projekt
In einer Genforschungsfirma werden verbotene Experimente durchgeführt. Die junge Polizistin Sarah soll verdeckt ermitteln. Sie gerät an radikale Tierschützer, die als nächstes Ziel ihrer nächtlichen Befreiungsaktion die Forschungsanstalt ausgesucht haben. Doch was Sarah zunächst als glücklichen Umstand begrüßt, wird bald zum Alptraum. Sarah muss plötzlich nicht nur gegen die feindselige Gruppe, sondern auch gegen die tödliche Bedrohung aus dem Labor ums Überleben kämpfen.
In naher Zukunft werden Dinge wahr,
die in der Gegenwart als Utopie belächelt werden.
In der Gegenwart sind Dinge wahr,
die in der Vergangenheit als Utopie belächelt wurden.
»Mein Gott! Was haben wir getan?«, murmelt der Mann ehrfürchtig und weicht von der Tür mit der Glasscheibe in der oberen Hälfte zurück. Dr. Schwarz dreht sich von der Experimentalkammer weg und blickt durch seine Brille mit kleinen runden Gläsern in das Laboratorium. Seine Augen wirken durch das dicke Glas stark vergrößert. Er streicht sich mit der Hand über seine Halbglatze, die von einem Kranz spärlicher weißer Haare umgeben ist. Die andere Hand hält er in der Tasche seines weißen Laborkittels, um ihr Zittern zu verstecken. Der Kittel ist für seine schmächtige Gestalt eine Nummer zu groß. Dr. Schwarz seufzt und bewegt seinen 60 Jahre alten Körper von der gesicherten Tür hinter ihm schlurfend weg. Die jahrelange Laborarbeit hat ihre Spuren in seinem fahlen Gesicht eingegraben.
Er befindet sich in einem großen Laborraum, in dem mehrere Tische und Stühle verteilt aufgebaut sind. Auf einigen Tischen stehen verschiedene Versuchsanordnungen, während auf anderen Tischen Zentrifugen ihren Platz finden. Von diesem Raum führen vier Türen in benachbarte Labore. Es gibt einen 37-Grad-Raum, einen Kühlraum mit Schränken, in dem hunderte Reagenzgläser mit diversen Proben lagern. Ein weiterer Raum wird als UV-Raum bezeichnet. Und dann gibt es da noch die »Kammer«, den Versuchsraum.
Der Ausgang zum Flur ist durch eine elektrische Schiebetür verschlossen. An der Decke läuft ein etwa ein Quadratmeter großer, quadratischer Metallschacht entlang, der die Anlage mit klimatisierter und sterilisierter Luft versorgt. Im Abstand von etwa drei Metern sind Lüftungsgitter an der Unterseite des Schachtes angebracht, um die Luft im Raum zirkulieren zu lassen. Der im Raum unter der Decke entlanglaufende Klimaschacht verschwindet über der Schiebetür und mündet auf den dahinterliegenden Flur, von wo er sich in dem gesamten Komplex dieser Ebene verteilt.
An einem Computerarbeitsplatz in der Mitte des Raumes sitzt ein junger Mann. Er arbeitet konzentriert an dem PC und sieht daher nicht, wie der alte Mann sichtlich erschüttert kopfschüttelnd zu ihm tritt. Dr. Schwarz blickt auf seinen jungen Assistenten. Tobias Möhle ist 29 und knapp 1,90 m groß. Er hat etwas Schlaksiges an sich, das ihn sympathisch wirken lässt. So, wie ein groß gewachsener Junge. Möhle trägt, wie Schwarz, eine Brille auf seiner blassen Nase. Sein Riechorgan ist lang und steht etwas gekrümmt in seinem Gesicht. Seine kurzen, blonden Haare wirken stoppelig. Als Kind hatten seine Eltern es versäumt, die abstehenden Ohren anlegen zu lassen. Möhle trägt ebenfalls einen weißen Laborkittel, aus dessen Brusttasche diverse Stifte und Kugelschreiber hervorschauen.
Die beiden Männer betrachten interessiert den großen Monitor. Auf dem Bildschirm läuft ein Computerprogramm, welches Zahlen, Daten und Skalen auf die Bildfläche projiziert. Auf dem oberen Monitorrand ist eine Kamera installiert, die mit ihrem Weitwinkel die Tätigkeiten des Computerarbeitsplatzes an einen anderen Ort und PC überträgt. Das rote Licht neben der Linse leuchtet matt. Sowohl Möhle als auch Schwarz ist bewusst, dass ihr Handeln nachvollzogen werden kann.
Möhle schiebt die Maus und der kleine Zeiger in Pfeilform gleitet über den Bildschirm auf ein Skalenfeld. Ein Rechtsklick und das Skalenfeld ändert sein Aussehen. Zusätzliche Fenster poppen auf, auf denen weitere Zahlen und Daten zu erkennen sind, die sich ständig verändern.
Möhle grunzt unzufrieden. Ein kleines Fenster zeigt einen Balken in rot und eine negative Zahl von 19 %. Der Assistent klickt ein anderes Symbol an und über den eingebauten Lautsprecher im Monitor erschallen rhythmische Geräusche. Das gleichmäßige dumpfe Stampfen aus den Lautsprechern zerrt nach kurzer Zeit an den Nerven der beiden Männer. Entschlossen klickt Möhle den Ton weg und blickt sorgenvoll auf Dr. Schwarz.
»Wir sollten Genom 23 erst zu Ende bringen, wenn wir sicher sind. Bei einer Fehlfunktion ist das Experiment nicht beherrschbar – zu gefährlich!«
Dr. Schwarz fasst sich ins faltige Gesicht und reibt sich sein Kinn.
»Professor Bachmann besteht darauf! Es muss dieses Wochenende durchgeführt werden. Er braucht eine Entscheidung. Schließlich will er am Montag dem Aufsichtsrat das Ergebnis präsentieren. Es geht um Geld – viel Geld. Sie fahren fort, wie besprochen. Wenn... etwas sein sollte, melden Sie es dem Sicherheitsdienst, der heute die Nachtschicht antritt. Der Tagdienst ist schon informiert, dass Sie sich hier aufhalten und übers Wochenende hier unten bleiben. Wünsche angenehmes Arbeiten, Möhle.«
Dr. Schwarz geht mit schnellen Schritten zum Ausgang. An der Tür hält er inne und blickt zu seinem Assistenten zurück.
»Machen Sie in Ruhe ihren Job, dann wird alles gut. Läuft es, wie erwartet, können Sie Montag mit einer fetten Gehaltserhöhung rechnen!«
Dr. Schwarz zieht eine Magnetkarte durch einen Schlitz an der Tür und die Schiebetür gleitet mit einem Zischen auf. Er tritt auf einen Flur, während hinter ihm der Eingang zum Labor mit einem sanften Seufzen zugleitet und seinen Assistenten allein zurücklässt. Der Gang ist gut drei Meter breit und etwa drei Meter hoch. An den Seiten stehen Kisten, Käfige und Rollcontainer in verschiedenen Größen und engen den Gang ein. An der Decke verläuft der Klimakanal in beide Richtungen. In Abständen von fünf Metern sind Neonröhren unter die Decke montiert, die mit ihrem kalten Licht den Flur in steriles Weiß tauchen. Dr. Schwarz blickt sorgenvoll auf die Notbeleuchtung, die an den Wänden entlang führt. Die roten Lampen sind dunkel und sehen wie blutige Pickel an der weißen Wand aus.
Schwarz blickt nach rechts und sieht am Ende des langen Ganges eine doppelflügelige Stahltür, die mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert ist. Der Wissenschaftler atmet tief ein und aus. Dann geht er nach links. Neben und gegenüber dem Hauptlabor, in dem Möhle auf ihr finales Experiment aufpasst, befinden sich weitere Labore und Versorgungsräume. Hinter Glastüren sind Tierschreie zu hören. Andere Räume sind dunkel. Der Wissenschaftler kreuzt Gänge, die zu anderen Räumlichkeiten und Labore führen. Schwarz eilt durch den schachbrettartigen Laborkomplex zu dem entfernten Fahrstuhl, der ihn wieder aus der klaustrophobischen Enge und der Tiefe an die Oberfläche der Anlage bringen wird.
*
Tobias Möhle flucht leise, als der alte Mann aus dem Labor verschwunden ist. Er steht auf und geht aus dem Sichtbereich der Kamera. Dann greift er das auf dem Tisch stehende Telefon und tippt auf die Null. Nach einer kurzen Verzögerung meldet sich eine verschlafene männliche Stimme.
»Zentrale.«
»Möhle hier. Bitte verbinden sie mich mit Essen, 47892613. Danke!«
Der Mann in der Zentrale brummt etwas Unverständliches und das Wartezeichen ertönt. Dann schaltet die Telefonanlage auf Ruf. Möhle zählt mit. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal, viermal...
»Schmitz hier«, erschallt eine weibliche Stimme von der anderen Seite der Leitung. Möhle grinst.
»Tobi hier. Morgen Schatz.«
»Oh, hi. Kannst es wohl ohne mich nicht aushalten, hm?«
»Ist ja schon zwei Stunden her, als ich dich das letzte Mal gefühlt habe.«
Möhle grinst diebisch und denkt an heute früh, als er Jasmin, seine langjährige Dauerfreundin, liebevoll überrascht hatte. Eine schnelle Nummer vor der Arbeit und sein Tag ist gerettet. Möhle weiß immer noch nicht genau, warum seine Freundin auf ihn steht. Vielleicht war es die eine Sache, die er immer noch gut drauf hat. Solange es mit ihm und Jasmin im Bett läuft, scheint sie keine Anstalten zu machen, sich nach einem besser aussehenden Typen oder einem besser verdienenden Mann umzusehen. Wobei er ihr ab Montag das liefern könnte, wenn alles so klappte, wie Dr. Schwarz und Professor Bachmann es vorausgesagt haben.
»Du weißt, ich muss dieses Wochenende hier im Labor verbringen. Wir haben gerade ein neues Experiment laufen, das ich überwachen muss. Ab Montag kann ich freinehmen. Dann können wir ein paar Tage weg. Wie wäre es mit einem Last Minute Flug von Düsseldorf ab in die Sonne?«
»Das wäre prima. Ich freue mich. Du verrückter Kerl mit deinen großen Ohren! Ich liebe dich. Pass auf dich auf, ok?«
»Wird schon schiefgehen, Jas. Wir sehen uns am Montag. Du kannst schon die Koffer packen. Lieb dich auch. Ciao!«
Möhle unterbricht die Verbindung und legt auf. Ein Piepen vom Monitor erregt seine Aufmerksamkeit. Seine Freundin und der Kurztrip in die Sonne rücken in den Hintergrund, als er um den Tisch zum Terminal zurückkehrt. Der negative Prozentsatz ist gestiegen und der rote Balken ist deutlich angewachsen. Besorgt lässt Möhle ein paar Tests laufen. Während die Software arbeitet, kaut er nervös auf seinen schmalen Lippen. Was, wenn doch was schief läuft, denkt er bei sich und beobachtet mit geschäftigem Blick den 27-Zöller.
»Auf was habe ich mich eingelassen«, murmelt Sarah Pieters vor sich hin. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen um die vor ihr stehende Menschenmenge zu überblicken. Doch das war so gut wie unmöglich. Mit einer Hand streicht sie sich nervös über ihre rot-blonde Haarmähne. Die schulterlangen gelockten Haare liegen über ihrem dunklen Anorak. Die hübsche junge Frau wird von mehr als nur einem Mann aus der Menge taxiert. Mit ihrem Aussehen gleicht sie einem Teenager von vielleicht 17 Jahren, obwohl sie auf die Mitte 20 zugeht. Wer Sarah in die ernst blickenden meergrünen Augen schaut, merkt schnell, dass hinter der Fassade des Mädchens eine Frau mit Lebenserfahrung steckt. Aufmerksam betrachtet sie vom Rand des Parkplatzes die vor ihr skandierende Menge.
»Schluss mit Tierversuchen! Schluss mit Tierversuchen!«
Die Demonstranten schreien ihre Wut in Richtung Tor der B-T-I AG, die ihre Pforten am Technologiepark, auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Hubert in Essen-Frillendorf, geschlossen hatte. Das Biologisch-Technische-Institut wird durch die örtliche Polizei vor möglichen Übergriffen der demonstrierenden Menschen geschützt. Die in schweren Kampfanzügen gekleideten Gesetzeshüter haben einen Absperrriegel vor dem Zaun und dem Werkstor gezogen, und halten die Menge ab, sich dem Privatgelände weiter zu nähern. Vor dem Zaun stehen eine Reihe Kastanienbäume, die ihre dicken Äste in alle Richtungen strecken.
Sarah betrachtet den gut zwei Meter hohen Metallzaun. In kurzen Abständen sind Schilder angebracht, die das unbefugte Betreten verbieten. Zudem ist ein Symbol vorhanden, was darauf hinweist, dass die Zaunoberkante elektrisch gesichert wird. Sarah schaudert bei dem Gedanken, mit einem geladenen Eisenzaun in Berührung zu kommen. Hinter dem Zaun liegt eine gepflegte Rasenfläche, auf der in Abständen kleine, buschige Ziersträucher gepflanzt sind, die dem Gelände des Instituts etwas Parkähnliches verleihen. Dahinter erstreckt sich der zweigeschossige Bau der Firma.
Sarah wusste von ihren Ermittlungen, dass dies nur ein Teil des Betriebsgeländes ist, welches man von der Straße einsehen kann. Es befinden sich noch ältere Gebäude auf dem Areal, teilweise aus der Zeit der Zeche Helene. Das ganze Grundstück geht bis an die dahinter vorbeiführende A 40, der Hauptverkehrsader durch das Ruhrgebiet.
Die Demonstranten recken selbst gemalte Schilder in die Höhe. Plakate und Transparente werden geschwenkt. Sarah kann verschiedene Gruppen innerhalb der hier erschienenen Menschen ausmachen. Direkt vor dem Werkstor stehen Mitglieder des BDT e.V., dem Bund Deutscher Tierfreunde. Weiter drüben, am Zaun entlang, marschieren die Anhänger vom NABU, dem Naturschutzbund Deutschland auf und ab. In der Menge vor ihr erkennt sie Mitglieder des Tierschutzvereins Groß-Essen e.V. Von der Straße, hinter ihr, drängen die Tierversuchsgegner Rhein-Ruhr auf den, an diesem Samstagmorgen, freistehenden Firmenparkplatz vor dem Institut. Alle brüllen ihren Protest dem hinter dem Zaun aufstehenden Bau mit den spiegelnden Scheiben entgegen.
Nachdem die Westdeutsche Allgemeine Zeitung einen Artikel über das Institut gebracht hatte, liefen die Handys der Aktivisten heiß. Der Redakteur der WAZ hatte in seinem Artikel Dinge zur Sprache gebracht, welche die Geschäftsleitung nicht zu leugnen vermochte. Nach Außen handelte es sich bei der BTI AG um eine pharmazeutische Firma, wie hunderte andere. Dass in diesen Firmen immer noch Tierversuche stattfinden, war eine Sache. Doch der Bericht zu den Versuchen, die bei der BTI stattfinden sollen, war den Tierschützern zu viel des Guten. Man verabredete sich zu einer Großdemonstration. Schließlich war man im Internetalter miteinander verbunden. Soziale Netzwerke taten ein Übriges. Viele Tierfreunde und Essener Bürger füllen an diesem Samstagmorgen die Reihen der Demonstranten.
Sarah merkt, wie ein großer, schwarzhaariger Typ sich durch die Menge kämpft. Der junge Mann bemerkt sie. Ein breites Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. Er tritt auf Sarah zu und hebt bedauernd die Hände.
»Entschuldige. Bin aufgehalten worden«, sagt er laut, um die Menge zu übertönen. Seine blauen Augen blitzen spitzbübisch auf, als er auf Sarah hinunterblickt. Sarah verschluckt ihre freche Antwort. Kann man solch einem Mann böse sein, denkt sie.
»Wahnsinns Auflauf hier!«, antwortet sie ihm ebenso laut.
»Ja! Heute konnten wir ein paar hundert Demonstranten aktivieren. Das gibt gute Presse.«
»Der WAZ-Reporter hat aber einen heißen Artikel herausgebracht!«
»Er hatte einen Informanten. Der arbeitet bei der Firma.«
»Nicht mehr lange, wenn die rauskriegen, wer das war.«
Hendrik Müller lacht auf. Seine weißen Zähne leuchten in der Morgensonne. Sarahs Magen krampft. Unwillkürlich hält sie sich die Hand auf den Bauch und holt tief Luft.
»Was ist? Ist dir schlecht?«, fragt Hendrik besorgt.
»Ist schon gut«, lügt Sarah, »nur ein bisschen Übelkeit wegen der vielen Leute hier. Im Gedränge und in engen Räumen bekomme ich Platzangst.« Sarah fasst sich unbewusst an ihre linke Schläfe.
Hendrik nickt und blickt sich um.
»Unsere Gruppe muss hier in der Nähe stehen. Bis auf Falk sind alle da. Er kommt heute Abend direkt zur Wohnung. Na, komm. Ich stelle sie dir vor. Du wirst sehen, sind alles gute Leute.«
Jetzt nickt Sarah mit dem Kopf und blickt verstohlen auf den großen, sportlichen Mann, der sich suchend in der Menge umschaut.
»Wollen Sie den Auftrag?«, hatte ihr Vorgesetzter gefragt, als sie zu Reimann, dem ersten Hauptkommissar der »SoKo Tierschutz«, ins Polizeipräsidium gerufen wurde. Reimann hat Sarah ausgewählt, weil sie am ehesten als junge Tierschützerin durchgehen würde. Sie hatte spontan ja gesagt, da sie sich davon erhoffte, langfristig aus dem Schichtdienst auf dem Streifenwagen wegzukommen. Die Aufgabe bei der Kripo und der eingerichteten Sonderkommission, in Zivil und Undercover, hatte die junge Polizeikommissarin sofort in ihren Bann gezogen. Ein paar Monate der Vorbereitung lagen jetzt hinter ihr. Die Kontaktpflege zu diversen Tierschutzgruppen hatte sich bald ausgezahlt. Über verschiedene Tierschutzaktivisten, die sie auf dem Campus der Uni Essen-Duisburg kennengelernt hatte, erhielt sie Kenntnis von Hendrik und seiner Gruppe. Sie kannte die Akten jedes Einzelnen inzwischen besser, als Hendrik seine Freunde selbst. Ein »zufälliges« Treffen in Hendriks Stammkneipe in Rüttenscheid, ein wenig Flirten und dezente Hinweise, dass Sarah Tiere über alles liebt. Schon war der Weg offen zu Hendrik und seinen Aktivisten. Sarah hat Hendriks Aufmerksamkeit auf die BTI AG gelenkt. Den Rest hat der Aktivist selbst erledigt. Nachdem er einen Informanten bei der BTI rekrutieren konnte, wurden gezielt Erkundigungen eingeholt und diese einem bekannten Redakteur bei der Essener Zeitung zugespielt. Doch das war erst der Anfang von Hendriks Plan.
Hendrik war anfänglich sehr verschlossen, was seine Leute betraf. Erst heute wollte er Sarah der Gruppe vorstellen. Hendrik hatte entschieden, dass heute der große Tag sein sollte, an dem seine neue Freundin »Alexa« teilnehmen durfte.
»He, Kleines. Du träumst!« Hendrik stupst Sarah an und lächelt.
»Entschuldige. Ich war gedanklich total woanders.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagt Hendrik und streichelt Sarah über die Haare.
Wenn er doch nur nicht so gut aussehen würde – und so verdammt gut küssen kann, von dem anderen ganz zu schweigen, dachte Sarah und seufzt. »Nicht, was du denkst!«, sagt sie gespielt empört und pufft Hendrik mit der Faust in die Seite.
»Ich habe überlegt, was ihr heute machen wollt«, fährt Sarah fort.
Hendrik schaut sie an. »Wenn du meinst«, sagt er grinsend. Er zieht sie an der Hand durch die Menge vorwärts. »Ich erkläre es dir später, ok? Jetzt halten wir Ausschau nach den anderen.«
Hendrik dreht sich herum und sucht intensiv in der Menschenmenge nach seinen Freunden. Sarah stößt leise die Luft aus und hält sich an Hendriks Hand fest, um ihn nicht in der Menschenmasse zu verlieren.
Professor Dr. Karl Bachmann steht am Fenster seines Büros und schaut durch die verspiegelten, bodentiefen Scheiben hinaus auf das Werkstor und den Parkplatz. Verächtlich presst er die Lippen zusammen, als er über die Menge blickt, die sich vor seiner Firma versammelt hatten, um gegen »seine« Tierversuche zu protestieren. Wenn die Dummen dort draußen nur wüssten, was wirklich in seinem geheimen Labor passierte, würden die schreiend weglaufen. Nun, zumindest bis er dem gemeinen Volk sein Ergebnis präsentieren konnte. Das ganze Programm war durch das Sicherheitsleck gefährdet. Und damit Aussicht auf Verträge in Millionenhöhe.
Der Bericht des Reporters, gestützt auf »Insiderwissen«, lag aufgeschlagen auf seinem großen Schreibtisch aus Glas und Edelstahl. Am liebsten hätte er die Mittwochsausgabe der WAZ dem Verräter aus den eigenen Reihen in den Hals gestopft. Bachmann ballt die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten, bis sie schmerzen. Trotz intensiver Bemühungen ist es ihm bisher nicht gelungen, den Maulwurf bei der BTI zu enttarnen. Ob es Schwarz ist, denkt er und schüttelt seinen Kopf mit den gepflegten kurzen Haaren, die trotz seines Alters von 50 Jahren immer noch dunkel sind. Sein langjähriger Partner kam sicher nicht in Frage. Dessen Assistent war schon eher verdächtig. Dieser schlaksige, junge Mann, wie hieß er noch, Möhle, war ihm von Anfang an nicht sympathisch. Doch Schwarz hatte ihn überzeugt. Die Referenzen von Möhle waren einwandfrei – und sie hatten einen versierten Assistenten dringend gebraucht. Es blieben eine Handvoll Eingeweihter, die noch zu überprüfen waren. Doch zunächst musste das Programm an diesem Wochenende durchlaufen – und zu einem positiven Abschluss führen.
Der Aufsichtsrat hat Bachmann für Montag einbestellt. Sie wollen ihn zu den Vorwürfen der Tierquälerei, die dieser Idiot von Reporter verbreitet hatte, befragen. Womöglich wollen sie seine Entwicklungsgelder streichen. Bachmann lächelt. Er würde den Pfennigfuchsern etwas Neues, etwas Großartiges präsentieren. Wenn die Geldheinis erst Blut geleckt haben, ist der Weg frei.
Die Gegensprechanlage auf seinem Tisch piepst. Helen, seine Chefsekretärin, meldet sich aus dem Büro nebenan. Es muss wichtig sein, sonst hätte sie ihn nicht zu dieser Zeit gestört.
»Was gibt es, Helen?«
»Entschuldige die Störung, Karl, aber Dr. Schwarz will mit dir sprechen.«
Bachmann überlegt kurz. Was hat Schwarz jetzt wieder? Seit sie mit den Experimenten an lebenden Zellen begonnen haben, ist er immer furchtsamer geworden. Sie stehen vor einem entscheidenden Ereignis. Am Sonntag haben sie Gewissheit. Sein Partner ist ein Angsthase. Ohne Risiko war diese Sache nicht. Doch wenn alles gut geht… Bachmann seufzt. Der alte Wissenschaftler könnte ein Problem werden.
»Schick ihn bitte herein.«
Die Sprechanlage klackt und bleibt still. Nach einigen Sekunden öffnet sich die schwere Doppeltür zum Vorzimmer und Helen steckt ihren Kopf mit dem kastanienbraunen Haar herein.
»Dr. Schwarz.«
Bachmann lächelt seine Sekretärin an. Die Frau war Ende 30, sah aber deutlich jünger aus. Sportlich schlank mit einer topfrisierten Haartracht und einem beachtlichen Busen steht Helen in einem dunklen Kostüm mit Ausschnitt in der Tür und lächelt ihm zu. Helen war jetzt etwa 10 Jahre seine Sekretärin und… ihm loyal ergeben? Dunkle Schatten legen sich auf Bachmanns Herz. Ob sie der Maulwurf ist? Er nickt ihr lächelnd zu und denkt an heute Abend. Helen gibt den Weg frei. Dr. Schwarz betritt sein Büro. Helen blickt auf Bachmann und fährt sich kurz mit der Zunge über die rosa Lippen, ehe sie die Türen schließt.
Der Genforscher bleibt vor der Tür stehen. Nervös zucken seine Augenlider hinter der Brille. Seine Hand fährt über die wenigen Haare. Durch die dicken Brillengläser scheinen die Augen übernatürlich groß. Bachmann grinst süffisant. Schwarz sieht in seinem Laborkittel und der Brille aus, wie eine Comicfigur in einem Cartoon.
»Was macht Genom 23, Werner?« Bachmann bittet seinen Partner und leitenden Mitarbeiter in die Sitzecke. Schwarz setzt sich in einen weichen Ledersessel und sinkt in dem Leder ein. Bachmann bleibt am Fenster stehen. Sein Blick streift wieder über die Aktivisten, die vor der Polizeisperre ihre Schilder wütend empor recken. Diese Narren!
»Karl! Wir sollten die Versuchsreihe 23 abschalten, um…«
»Kommt nicht in Frage. Bisher lief alles nach Plan. Wir müssen den Zeitplan einhalten, Werner.«