Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2006
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Titelfoto: © ullstein bild, Berlin
eISBN 978-3-475-54642-6 (epub)
Viktoria Schwenger
Ein Leben voll Liebe
Als Vollwaise in christlichen Einrichtungen streng, aber wohlbehütet aufgewachsen, träumt Anna-Maria früh von einer kinderreichen eigenen Familie. Nachdem der Traum von einer Großfamilie nicht in Erfüllung geht, adoptieren Anna-Maria und ihr Mann zusätzlich zu ihren beiden leiblichen Kindern noch zwei weitere Söhne.
Obwohl das Leben nicht immer frei von Sorgen ist, bietet das Ehepaar in seinem „Haus am Schönblick“ im Laufe der Jahre 49 Pflegekindern ein fürsorgliches Heim voll Liebe und Wärme. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Frau, die ihr Leben mit Leib und Seele ihren Kindern widmet.
Bei den Nachforschungen zu diesem Buch haben mich die ergreifenden Schicksale vieler Pflegekinder zutiefst berührt; insbesondere weil gerade zu jener Zeit mein erstes Enkelkind erwartet wurde.
Ich durfte erleben, mit wie viel Freude dieses winzige Lebewesen von seinen Eltern, den Großeltern, den künftigen Tanten und Onkeln, kurz, von der gesamten Familie, erwartet wurde und mit welcher Liebe und welchem Entzücken dieses neugeborene Menschenkind nach seinem Eintritt in die Welt begrüßt wurde. Und gleichzeitig befasste ich mich intensiv mit den Schicksalen von Kindern, denen dieses Glück nicht beschieden war. Gerade dieser Kontrast machte mir deren Entbehrungen auf besonders schmerzliche Weise bewusst.
So widme ich Dir, liebe, kleine Lina Carlotta, dieses Buch.
Ich wünsche Dir, dass Du ein Leben voll Liebe leben, voll Vertrauen zupacken und immer eine helfende Hand finden wirst.
Ich wünsche Dir alles Glück dieser Erde und Gottes Segen.
Deine Großmutter
Viktoria Schwenger
Das Thema der verlassenen Kinder und ihrer Pflegemütter mag so alt wie die Menschheit sein, für die Betroffenen ist es immer neu und schmerzhaft.
Schon in der Bibel wird von einem ausgesetzten und von einer Pflegemutter aufgezogenen Kind berichtet, dessen Name Mose ist.
Es wird berichtet, dass zu dieser Zeit, vor tausenden von Jahren, das israelitische Volk unter der Knechtschaft des Pharaos in Ägypten lebte, der sie voller Unbarmherzigkeit zum Frondienst zwang und ihnen das Leben schwer machte. Die starke Vermehrung der Israeliten wurde ihm zusehends ein »Gräuel im Auge«. Er fürchtete einen für sein Volk gefährlichen Aufstand der Geknechteten, schon allein angesichts deren großer Überzahl.
Im 2. Buch Mose steht geschrieben:
»Da gebot der Pharao allem seinem Volk und sprach: Alle Söhne, [die von hebräischen Weibern geboren werden,] werft ins Wasser, und alle Töchter lasst leben.«
Was für ein grausamer Befehl!
Das Entsetzen muss unermesslich gewesen sein. In dieser Not suchte eine der hebräischen Frauen, sie war aus dem Hause Levi, verzweifelt nach einem Ausweg. Sie war schwanger und es gelang ihr, diese Schwangerschaft zu verbergen. Schließlich gebar sie heimlich einen Sohn und versteckte ihn drei Monate lang. Doch wie sollte es weitergehen? Wie könnte sie ihr Kind auf Dauer vor den Kindermördern des Pharao schützen? Nicht einmal der eigenen Sippe traute sie. Würde nicht eine der anderen Frauen, die mit ansehen hatte müssen, wie ihr Neugeborenes von den Soldaten des Pharaos ertränkt worden war, sie aus Neid und Missgunst verraten? Vor Verzweiflung wusste sie nicht ein noch aus.
In der Bibel heißt es weiter:
»Und da sie ihn nicht länger verbergen konnte, machte sie ein Kästlein von Rohr und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind darein und legte ihn in das Schilf am Ufer des Wassers. Aber seine Schwester stand von ferne, dass sie erfahren wollte, wie es ihm gehen würde.«
Der Zufall wollte es, das just an diesem Tag die Tochter des Pharao mit ihrem Gefolge zum Fluss ging, um dort zu baden. Sie sah das Kästlein im Schilf und ließ es holen.
»Sie öffnete es, sah das Kind und das Knäblein weinte. Da jammerte es sie und sie sprach: Es ist der hebräischen Kindlein eines.«
Die Schwester des Säuglings, die diese Vorgänge aus ihrem Versteck heraus beobachtet hatte, rannte nun herbei und fragte, ob sie vielleicht eine der hebräischen Frauen holen solle, um das Kind zu säugen. Dann holte sie ihre Mutter, die die Mutter des Kindes war.
»Da sprach Pharaos Tochter zu ihr: Nimm das Kind und säuge es mir; ich will dir lohnen. Und das Weib nahm das Kind und säugte es.«
Durch diese Fügung konnte die glückliche Mutter ihr Kind wieder in die Arme schließen. Aber das Glück währte nicht lange, denn als das Kind nach drei Jahren entwöhnt war, musste sie ihren Sohn an den Königshof bringen. Weiter steht geschrieben:
»Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharaos und es ward ihr Sohn, und sie hieß ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.«
So weit einer der ersten bekannten Berichte über eine Mutter, die gezwungen war, ihr Kind wegzugeben, um es am Leben zu erhalten; die Geschichte eines Kindes, das im Alter von drei Jahren von seiner Mutter getrennt und zu seiner Pflegemutter, der Tochter des Pharaos, gebracht und dort am Königshof aufgezogen wurde.
Seit dieser Zeit hat sich dieses Drama unzählige Male und in den unterschiedlichsten Einzelschicksalen, wiederholt, denen man mit allgemeingültigen Floskeln nicht gerecht wird.
Eines aber zeigt die Geschichte von Moses: Dass nämlich Mütter, die ihre Kinder weggeben, beileibe nicht immer »Rabenmütter« sein müssen, wie dies so oft – ausgesprochen oder auch nur unausgesprochen – vorherrschende Meinung ist. In vielen Fällen sind sie durch soziale Zwänge, wirtschaftliche Not oder Krankheit dazu gezwungen und leiden ein Leben lang darunter. Nicht jene Mutter ist die beste, die ihr Kind unter allen, auch den unmöglichsten Umständen behält, sondern die, die für ihr Kind das Beste will.
Auf der anderen Seite waren und sind aber auch die Pflegemütter nicht immer die liebevollen, aufopfernden Wesen, als die sie allzu gerne gesehen werden. Vor allem in früherer Zeit trieb oft die pure Not Frauen dazu, Kinder gegen Kostgeld aufzunehmen, und nicht immer waren diese Kinder gut betreut oder gar geliebt. Sie waren schlicht eine Möglichkeit, durch das Kostgeld, das für sie bezahlt wurde, der Pflegemutter und deren Familie das Überleben zu sichern. Nicht mehr.
Viele dieser so genannten »Kostkinder« hatten schrecklich unter diesen Umständen zu leiden, sie waren die Ärmsten der Armen und standen auf der sozialen Leiter ganz unten. Hinzu kommt, dass sie die frühkindliche Erfahrung, unerwünscht, ungeliebt und verlassen zu sein, ihr ganzes Leben lang mit sich herumschleppen mussten. Gerade in einer Lebensphase, in der Geborgenheit besonders wichtig ist, in der die Basis für das »Urvertrauen« oder aber lebenslängliches Misstrauen gelegt werden, mussten sie oft Lieblosigkeit, Ausbeutung und körperliche Gewalt ertragen. Wie schwer wird es da, Sicherheit und Selbstvertrauen zu entwickeln sowie die Fähigkeit, Liebe zu geben, wo sie diese Liebe doch selbst nie oder viel zu wenig empfangen hatten.
Gottlob war und ist dies nicht immer so. Immer schon gab und gibt es Frauen, die mit einem Herz voll Liebe sich dieser armen, verlassenen Kinder angenommen und ihnen ein Heim voll Geborgenheit und Wärme gegeben haben. Oft unter eigenen Entbehrungen.
Von solch einer »Mutter«, ihrer eigenen, ergreifenden Lebensgeschichte, ihren vielen Pflegekindern und deren Schicksalen soll in diesem Buch die Rede sein.
Von einer Frau, die Pflegemutter aus echter Berufung ist.
Die Glocke schrillte durch das kleine Schulhaus. Unterrichtsschluss!
Das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen klappte sein Lesebuch zusammen. Sorgfältig wischte es mit dem feuchten Schwamm, der mit einer Schnur am Holzrahmen der Schiefertafel befestigt war, über die Tafel und versuchte dann, mit einem Lappen, den sie aus ihrem Schulranzen holte, die Fläche trockenzureiben.
»Annamirl, Zuckerschnürl, flickt dem Bauern s Hosentürl!«
Das war der freche Adi, der seinerzeit nach Adolf Hitler, dem »Führer«, benannt worden war. Jetzt, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, war man über diesen Namen nicht mehr recht begeistert, aber nun hieß der Bub so. Da war nichts mehr zu machen.
»Adolf!« Der alte Lehrer, der die erste und zweite Klasse der kleinen Dorfschule unterrichtete, sah streng auf den Buben herab.
»Noch einmal, wenn ich dich so etwas sagen höre, dann setzt es ein paar Ohrfeigen!«
»Und außerdem heiß’ ich Anna-Maria und nicht Annamirl.«
Das kleine Mädchen sah den um fast einen Kopf größeren Buben trotzig an. »Und dem Bauern sein Hosentürl kannst selber flicken!«
»Na, na, Kinder! Schluss jetzt! Und du, Annamirl, beeil dich. Schwester Engelburgis steht bereits draußen auf dem Gang und wartet auf dich.«
Hastig packte das kleine Mädchen Buch, Tafel und Griffelkasten in ihren Ranzen, klappte den Sitz ihres Schreibpultes nach hinten, knickste artig vor dem Lehrer und lief hinaus auf den Gang.
Dort ging es schon recht munter zu. Aus den verschiedenen Klassenzimmern lärmten Schulkinder jeden Alters und strömten, ihre Ranzen auf dem Rücken, dem Ausgang zu. In einer Ecke des Ganges stand eine Nonne in ihrem Ordensgewand, einem grauen, langen Kleid mit einem breiten, schwarzen Stoffgürtel und einer weißen, gestärkten Haube auf dem Kopf, deren Flügel seitlich abstanden, als hätte ein Windstoß sie weggeblasen.
»Kommt, Kinder, kommt! Alle Kinder vom Heim hierher!«
Die Kinder, die zu ihr gehörten, waren unter der Schar der Schüler leicht zu erkennen. Natürlich trugen sie keine Uniform, aber dennoch war ihr Erscheinungsbild recht einheitlich: Die Mädchen unter ihnen hatten saubere Kleider an, mit einer weißen Schürze darüber. Die Haare trugen sie zu Zöpfen geflochten; einige der größeren Mädchen hatten diese zu einem Kranz um den Kopf, andere mit einer Schleife zu Schlaufen gebunden, was man damals »Affenschaukeln« nannte.
Auch den Buben konnte man ansehen, woher sie kamen: Mit ihren knielangen Hosen, den Kniestrümpfen, mit ihren Hemden und Pullundern und den gescheitelten Haaren (jetzt bei Schulschluss freilich nicht mehr ganz so ordentlich) hoben sie sich von der übrigen Bande ab.
»Stellt euch in Reih und Glied auf, immer zwei miteinander!«, rief Schwester Engelburgis und klatschte in die Hände.
Schnell beeilte sich Anna-Maria zu Inge, ihrer besten Freundin, zu kommen. Inge war mindestens einen Kopf größer als sie und ging bereits in die dritte Klasse. Die Mädchen nahmen sich an der Hand. Dann gab die Ordensschwester ein Kommando und es ging im Marschschritt aus dem Schulhaus, hinaus auf den Pausenhof und von dort, sorgsam von der Nonne geführt, über die Straße. Die anderen Kinder, die im Dorf wohnten, rannten hingegen laut und lärmend in alle Richtungen nach Hause, zu Vater und Mutter.
Der Autoverkehr war in der Nachkriegszeit noch spärlich. Trotzdem empfand Schwester Engelburgis eine schwere Verantwortung, alle ihre Zöglinge unversehrt ins Heim zurückzubringen. Immer wieder witterte sie irgendeine Gefahr und blieb nervös stehen, um die kleine Herde zusammenzuhalten, bis sie endlich im Heim angekommen war.
Nach einem Fußmarsch von ungefähr einer Viertelstunde kamen sie an dem großen Gebäudekomplex des »Kinderheimes St. Christophorus« an. Es war ein am Ortsrand des Dorfes gelegenes, großes, schlossartiges Gebäude in einem parkähnlichen Garten, von einer hohen Mauer umgeben.
Als Schwester Engelburgis mit ihrer kleinen Schar das schwere, schmiedeeiserne Tor erreichte, kam von innen der Hausmeister herbei und schloss das Tor auf. »Schnell, schnell, Kinder! Beeilt euch! Es ist höchste Zeit zum Mittagessen!« Schwester Engelburgis trieb ihre kleine Herde wie Lämmer in den Hof, und der Hausmeister sperrte hinter ihnen das Tor wieder zu.
Das imposante, gelb gestrichene Gebäude, das wohl früher ein Schloss gewesen sein mag, bestand aus einem Mitteltrakt, der von zwei Türmen mit Dächern wie Zwiebelkuppen flankiert war. Dort befanden sich die Gemeinschaftsräume, das Musikzimmer, der Lesesaal, der Speisesaal der Kinder bis zu zehn Jahren, ein Kindergarten und die Verwaltung. Im linken, seitlich angebauten Flügel waren die Schlafsäle der Jungen und deren Erzieher, im rechten die der Mädchen und die Zellen der Nonnen.
Noch vor nicht allzu langer Zeit, vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, hatte das Anwesen einer reichen jüdischen Familie gehört. Doch dann, von einem Tag auf den anderen, war die Familie verschwunden, und niemand wusste wohin. Doch das hielt die Leute im Dorf natürlich nicht davon ab, die unterschiedlichsten Spekulationen kursieren zu lassen:
»Sie werden schon nach Amerika gegangen sein«, beruhigte sich manch einer, obwohl man zumindest gerüchteweise gehört hatte, dass die Juden in Arbeitslager abtransportiert wurden; sogar noch schlimmere Geschichten machten die Runde, doch die erzählte man sich nur hinter vorgehaltener Hand.
Nur wenige Tage nach dem Verschwinden der jüdischen Besitzer zogen ganz andere Gestalten in das Gebäude ein – solche, denen in jenen Tagen die Zukunft zu gehören schien. Man sah jetzt täglich protzige Limousinen und Militärfahrzeuge durch das große schmiedeeiserne Portal fahren. Schneidige Offiziere gingen ein und aus – aber auch hübsche, blonde, junge Frauen bevölkerten das Haus und vergnügten sich im Park. Auffallend viele von ihnen waren schwanger.
In einem abgelegenen Trakt des Schlosses, der früher einmal als Stallung gedient hatte, wurde gebaut, und bald hieß es, es würde dort ein Kinderkrankenhaus mit einer Entbindungsstation entstehen. Auch die Bevölkerung könne dann kranke Kinder zur Untersuchung dorthin bringen.
Als es schließlich so weit war, kam tatsächlich mal der eine oder die andere hinter die Mauern des Schlosses, neugierig darauf, was sich dort abspielte. Viel war es nicht, was sie herausfanden, aber sie konnten berichten, dass auch Kinder im Schloss wohnten. Das brachte die Gerüchteküche im Dorf vollends zum Brodeln.
»Das wird schon eine von Hitlers Zucht-Anstalten sein«, mutmaßten die Männer am Stammtisch und machten derbe, zotige Witze.
Man hatte schon Mitte der 30er Jahre vage davon gehört, dass Hitler so genannte »Lebensborn«-Heime errichten ließ, in denen ledige Mütter »arischer« Abstammung ihre Kinder austragen, zur Welt bringen und nach Wunsch von parteitreuen SS-Familien adoptieren lassen konnten.
Später dann, so ab 1939, wurden für das Projekt »Lebensborn« neue Erlasse herausgegeben. Männliche Angehörige der Polizei und der nicht minder gefürchteten »SS« wurden aufgefordert, auch »über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus« für Nachkommen zu sorgen. Gleichzeitig wurde zugesagt, dass die SS für alle von ihren Mitgliedern gezeugten Kinder – ob ehelich oder unehelich – die Vormundschaft übernehmen würde, sollte der Vater »auf dem Felde der Ehre fallen«.
Es waren diese direkten Aufforderungen zur Zeugung unehelicher Kinder, die nach dem Krieg den »Lebensborn«-Anstalten den Ruf einbrachten, »Zuchtanstalten« des Regimes gewesen zu sein. Orte, an denen planmäßig »arische Herrenmenschen« gezeugt und aufgezogen wurden.
Der Grund für eine solche Maßnahme des Regimes lag auf der Hand. Der zunächst geplante und dann tatsächlich angezettelte Krieg verschlang Millionen von Menschen, vor allem Männer, und da hielt man es wohl nötig, vorausschauend für Bevölkerungsnachschub zu sorgen.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war dieser Spuk im Schloss freilich schnell vorbei. Zurück blieb nur das Kinderkrankenhaus mit Entbindungsstation, das sich in der Nachkriegszeit in der Gegend einen guten Ruf verschaffte. Darüber hinaus wurde in dem Haus ein Kinderheim der Caritas eingerichtet.
Die Kleinkinder, die in diesem Heim lebten, bekam man im Dorf kaum zu sehen; fast hermetisch waren sie von ihrer Umwelt abgetrennt. Wenn sie jedoch in das schulpflichtige Alter kamen, mussten sie die Gemeindeschule besuchen und kamen wenigstens auf diese Weise einmal raus. Doch auch das hatte mit Freiheit nichts zu tun, denn sie wurden – so wie heute von Schwester Engelburgis – geschlossen zur Schule gebracht und hinterher wieder abgeholt.
Zu den Dorfkindern hatten die Heimkinder deshalb außerhalb der Schule auch nur wenig Kontakt, und das lag ganz in der Absicht der Schwestern. Denn gegenseitige Besuche hätten nur gestört und Unruhe in den geregelten Ablauf des Heimes gebracht.
Die kleine Dorfschule bestand aus zwei einander gegenüberliegenden Häusern; das eine war das so genannte Buben- und das andere das Mädchenschulhaus. Dazwischen lag der gemeinsame Schul- und Pausenhof.
Bis hinauf zur achten Klasse wurden jeweils zwei Jahrgangsstufen in einem Raum unterrichtet, so dass eine Lehrkraft in einem Raum zwei komplette Jahrgänge zu unterrichten hatte. Dabei ließ man in den unteren Klassen die Jungen und Mädchen noch beieinander. Ab der fünften Klasse erfolgte dann eine Aufteilung nach Geschlechtern.
Klassenstärken von bis zu fünfzig Kindern waren dementsprechend keine Seltenheit – aber auch kein größeres Problem, denn Disziplin und Gehorsam wurden ohne jedes Wenn und Aber durchgesetzt. Kinder hatten in erster Linie zu gehorchen. Körperliche Züchtigung wie eine Kopfnuss, eine Ohrfeige, strammes Ziehen an den Ohren oder Tatzenhiebe mit dem Rohrstock über die auszustreckenden Fingerspitzen, waren üblich, wenn jemand schwätzte, unruhig war oder gar die Hausaufgaben nicht gemacht hatte.
Für die Mädchen gab es leichtere Strafen, etwa das Ziehen an den Haaren und Zöpfen oder auch gelegentlich ein leichter Wangenstreich. Doch dies war für die Gezüchtigte schon schlimm genug, denn in erster Linie bedeutete solch eine Strafe eine große Schande, zu der die anderen Kinder das ihre beitrugen, indem sie zu Hause schadenfroh von den Ereignissen berichteten. Sicher taten sie das, weil sie eigentlich nur froh waren, dass sie – zumindest diesmal – nicht zu den Gemaßregelten gehörten. Aber menschlicher wurde das System aus Gehorsam und Strafe dadurch natürlich auch nicht.
Schwester Engelburgis war mit ihren Zöglingen im Haus angekommen. Ordentlich aufgereiht standen sie in der großen Halle. »Schnell, schnell, auf eure Zimmer und dann im Waschsaal die Hände waschen! Das Essen steht schon im Speisesaal bereit!«
Eilig rannten die Kinder davon, die Buben nach links, die Mädchen nach rechts, um in den Schlafsälen die Schulranzen abzulegen, sich im Waschsaal die Hände zu waschen und möglichst schnell wieder unten im großen Speisesaal zu sein.
Es dauerte keine Viertelstunde, bis ein jedes ordentlich hinter seinem Stuhl stand.
»Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, Amen!«, betete eines der größeren Mädchen, das für diese Woche Gebetdienst hatte, vor, und die Kinder sprachen das Gebet nach. Dann wurden geräuschvoll die Stühle nach hinten gezogen, und alle setzten sich.
Ab jetzt herrschte absolutes Sprechverbot bis zum Ende der Mahlzeit und dem Abschlussgebet.
Die Nonnen, die für den Speisesaal zuständig waren, gingen, unterstützt von einigen größeren Mädchen, die Küchendienst hatten, von Tisch zu Tisch und teilten das Essen aus. Suppe und dann meist Nudeln mit Soße oder eine Mehlspeise und als Nachtisch den obligatorischen Apfel. Mit einem stummen Kopfnicken dankten die Kinder für das Essen.
Fleisch gab es nur an Sonn- oder Feiertagen und freitags, der katholischen Tradition entsprechend, Fisch, bei dessen Geruch die meisten der Kinder angewidert das Gesicht verzogen. Doch es gab kein Pardon, jeder Teller musste leer gegessen werden.
Not mussten die Kinder des Christophorus-Heimes immerhin nicht leiden. Da hatte so manches Kind im Dorf weniger oder Schlechteres zu essen, vor allem, wenn der Vater im Krieg geblieben war und die Mutter allein für mehrere hungrige Mäuler zu sorgen hatte. Da war oft Schmalhans Küchenmeister und die Mutter nicht einmal zu Hause, wenn die hungrigen Kinder von der Schule nach Hause kamen. Sie musste arbeiten und für den spärlichen Unterhalt der Familie sorgen.
Die Heimkinder hingegen hatten ihr gesundes Essen, Aufsicht über die Hausaufgaben, geregelte Spiel- und Schlafenszeiten, saubere Betten und Kameradschaft. Und doch fehlte ihnen bei aller Fürsorge, die ihnen die Nonnen zu geben versuchten, etwas ganz Wesentliches: Vater und Mutter, Geschwister, die Liebe und Geborgenheit einer Familie.
Nicht alle Heimkinder waren Waisen. Bei manchen schauten an den Besuchstagen die Mutter oder – seltener – der Vater vorbei. Das waren ganz besondere Tage für die Kinder, denen sie lange entgegenfieberten.
Wenn sie Glück hatten, kam die Mutter oder der Vater tatsächlich und brachte vielleicht sogar ein kleines Geschenk mit, etwas Süßes oder gar ein kleines Spielzeug. Die Süßigkeiten wurden den Kindern gleich mit der Begründung weggenommen: »Du möchtest doch auch, dass alle etwas von deiner Freude haben, nicht wahr?« So wurden die Leckereien gesammelt und an Fest- und Feiertagen an alle Kinder ausgeteilt. Gemeinschaftssinn wurde groß geschrieben.
Schrecklich war es, wenn ein angekündigter Besuch nicht erschien. Dann konnte es geschehen, dass so ein kleiner Mensch den ganzen Tag sehnsüchtig wartend am Fenster stand, wie angewurzelt, Stunde um Stunde, bis ihn endlich eine Schwester erlöste und tröstete: »Das nächste Mal kommt die Mama ganz bestimmt. Vielleicht hat sie den Zug aus der Stadt nach hier nicht erreicht und ist jetzt genauso traurig wie du!« Aber dies war nur ein schwacher Trost, vor allem, wenn dies öfter geschah und die Mutter beim nächsten Mal kein einziges Wort der Erklärung oder Entschuldigung fand oder irgendwann für immer fortblieb.
Solche Sorgen kannte die kleine Anna-Maria nicht. Sie wurde nie besucht. Natürlich war sie oft traurig, wenn die anderen Kinder Besuch bekamen, aber auf der anderen Seite blieb ihr wirklich so manche herbe Enttäuschung erspart.
Wieder einmal war Besuchstag. Inge, die Freundin Anna-Marias, war schon Tage vorher voller Aufregung: »Diesmal kommt meine Mama bestimmt, das hat sie mir ganz fest versprochen.« Anna-Maria sah Inge mitleidig an. So oft hatte diese schon auf ihre Mutter gewartet, vergebens.
Doch dieses Mal kam sie wirklich! Anna-Maria versteckte sich hinter einer Säule und beobachtete voller Neid das Geschehen. Dabei sah sie etwas Unerwartetes: Inges Mutter war nicht allein. Ein Mann war bei ihr.
»Gib deinem neuen Papa einen Kuss, Inge!«, forderte die Mutter das erstaunte und verschüchterte Mädchen auf.
»Wenn du ganz lieb bist, dann holen wir dich aus dem Heim, und du darfst zu uns nach München kommen.« Widerstrebend küsste Inge den fremden Mann, und der strich ihr linkisch über das Haar. Gespannt beobachtete Anna-Maria die Szene. Wie sie Inge beneidete! Die drei gingen hinaus in den Garten.
Anna-Maria folgte ihnen. Wie traurig wäre es für sie, wenn Inge nun zu ihrer Familie gehen würde. Dann würde sie, Anna-Maria, ihre beste Freundin verlieren.
Der Mann hatte Inges Mutter den Arm um die Hüfte gelegt, und Inge trottete wie ein kleines Hündchen hinter ihnen her. Sie beachteten das kleine Mädchen kaum, waren ganz mit sich beschäftigt. Trotzdem beneidete Anna-Maria ihre Freundin. Sie hatte eine Mutter und vielleicht auch bald einen Vater! Wie glücklich sie sein musste.
Doch am Abend im Schlafsaal hörte Anna-Maria, wie Inge im Bett neben ihr weinte.
»Inge, warum weinst du denn? Du darfst doch bald nach Hause!«
»Ich will nicht nach Hause! Ich will nicht schon wieder einen neuen Vater. Der letzte war so böse und hat mich immer geschlagen und noch schlimmere Sachen mit mir gemacht.« Inge begann, laut zu weinen.
»Was hat er denn gemacht?«, fragte Anna-Maria besorgt.
»Das sag ich nicht! Ich darf es nicht sagen, sonst wird etwas ganz Schreckliches passieren!«
Anna-Maria schwieg betroffen. Schnell schlüpfte sie zu Inge ins Bett, was streng verboten war, aber sie brachte es nicht übers Herz, die Freundin in ihrem Schmerz und ihrer Angst allein zu lassen.
»Dann bleib doch einfach hier im Heim, bei mir«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Ich freue mich, wenn du dableibst, weil du meine beste Freundin bist!«
»Ich will auch bei dir bleiben, hier im Heim ist es tausendmal besser als draußen, das kannst du mir glauben«, schluchzte Inge.
»Weißt du was, wir beten jeden Abend zum Jesuskind, dass du für immer hier bleiben darfst. Das Jesuskind hört uns, das sagt Schwester Bernadette auch immer.«
Ob das Jesuskind die beiden Kinder wirklich erhört hatte?
Inges Mutter jedenfalls teilte der Heimleitung mit, dass sie vorerst nicht imstande wäre, ihre Tochter zu sich zu holen. Sie wäre erneut schwanger und müsste sich, den Säugling und den älteren Bruder Inges, den sie bei sich behalten hatte, allein durchbringen.
Inge war glücklich, als sie hörte, dass sie im Heim bleiben konnte. Und ihre gute Stimmung hielt an – bis die Mutter an den nächsten Besuchstagen mal wieder nicht kam. Da versuchte Anna-Maria sie zu trösten: »Sei nicht traurig, Inge! Zu mir kommt auch nie jemand. Jetzt bist du eben eine Waise wie ich!«
Die Ordensschwestern mochten die kleine Anna-Maria ganz besonders. Sie war ein liebes und liebebedürftiges Kind. Der Austausch von Zärtlichkeiten war zwar nicht an der Tagesordnung, aber gelegentlich strich ihr eine der Nonnen über das Haar oder bevorzugte sie, indem sie der Kleinen heimlich etwas zusteckte oder sie sonst irgendwie bevorteilte.
»Du bist den Schwestern ihr Herzipopperl«, beneidete Inge ihre Freundin Anna-Maria gelegentlich. »Aber das ist schon gut so, denn wenn ich gehen muss, dann bleibst du ganz alleine hier.«
Inge stand kurz vor ihrem 14. Geburtstag und würde bald die achte und letzte Klasse der Schule beenden. Bis zu diesem Tag konnten die Kinder im Heim bleiben, dann mussten sie fort.
Inge ging es wie fast allen Heimkindern in ihrem Alter: Sie erwartete das Ende der Schulzeit mit Freude, aber auch mit Bangen, denn es bedeutete doch einen erheblichen Einschnitt in ihrem jungen Leben. Was sollte nun aus ihr werden?
Kinder, bei denen der Kontakt zu Familie abgebrochen war, konnten von dieser Seite keine Unterstützung erwarten. Deshalb waren sie darauf angewiesen, dass ihnen die Heimleitung half, eine Lehrstelle mitsamt Wohnmöglichkeit zu finden. Solche Jugendliche wurden dann, ob sie es wollten oder nicht, schon sehr früh in die Welt hinausgeschickt und mussten sich dort irgendwie zurechtfinden.
Natürlich versuchte die Heimleitung alles, um den Schulentlassenen diesen schweren Weg zu ersparen. Auch in Inges Fall wurde die Mutter angeschrieben, damit sie sich darauf einstellen konnte, dass ihre Tochter demnächst aus dem Heim entlassen wurde. Bestünde die Möglichkeit, dass die Mutter sie aufnehmen würde?
Inge war bang ums Herz, denn sie hatte ihre Mutter seit Jahren nicht mehr gesehen und kaum etwas von ihr gehört. Doch dann kam die Antwort: Inge durfte tatsächlich zu ihrer Mutter nach München kommen! Freilich, sie hatte schon Angst vor dem, was da auf sie zukäme, aber jetzt überwog der Stolz: War sie doch eines der Kinder, das eine Mutter hatte, zu der es gehörte!
Beim Abschied lagen sich die beiden Mädchen in den Armen.
»Schreib mir, wie es dir geht, Inge!«
»Wir bleiben immer die besten Freundinnen, gell«, versicherten sie sich gegenseitig unter Tränen.
Aber dann waren es doch nur einige wenige Briefe, die von Inge kamen, und der Inhalt war alles andere als schön. Inge hatte Recht gehabt, das Leben im Heim schien schöner zu sein als das Leben draußen. Das war sehr ernüchternd für Anna-Maria, und sie wurde immer traurig, wenn sie Inges Briefe las.
Doch das nahm sie gerne in Kauf – nämlich dafür, dass sie überhaupt welche bekam. Aber bald schon musste Anna-Maria beobachten, dass die Abstände zwischen den Briefen immer größer wurden, und dann blieben sie schließlich ganz aus. Inge hatte Anna-Maria vergessen!
Das war die erste wirklich große Enttäuschung in Anna-Marias Leben.
Mit den anderen Mädchen im Heim verstand sich Anna-Maria gut, wenn sie auch mit keiner mehr eine so enge Freundschaft schloss wie mit Inge. Anna-Maria hatte ein ausgleichendes Wesen und brachte es fertig, so manchen Streit zwischen den Mädchen zu schlichten, denn kleine Eifersüchteleien untereinander oder um die Aufmerksamkeit der Schwestern waren an der Tagesordnung.
Am liebsten verbrachte Anna-Maria ihre Freizeit in der Säuglingsabteilung des Krankenhauses. Mit großem Interesse beobachtete sie, wie die Neugeborenen zu ihren Müttern gebracht und an deren Brust gelegt wurden. Wenn sie nicht in der Entbindungsstation aufzufinden war, dann in der Kleinkindabteilung und dem Kindergarten des Heimes. Mit kleinen Kindern beisammen zu sein, das bereitete ihr die größte Freude.
So verging die Zeit, bis auch für Anna-Maria der Tag näher rückte, an dem sie das Heim verlassen musste. Im Januar war sie vierzehn Jahre alt geworden. Sie war ein hübsches Mädchen mit ihrem dunkelblonden Haar, der hellen Haut und den blauen Augen. Als ordentliche Schülerin hatte sie ein gutes Abschlusszeugnis der Volksschule bekommen, wenn auch die Bemerkung »etwas dickköpfig« darin zu finden war.
Was sollte nun aus ihr werden? Die Schwestern und die Heimleiterin, Schwester Ricarda, hatten sich natürlich Gedanken über Anna-Marias Zukunft gemacht.
»Anna-Maria hat ein gutes Herz, und sie ist sehr hilfsbereit. Mir ist aufgefallen, wie sehr sie sich um andere, meist kleinere Kinder kümmert«, meinte Schwester Bernadette.
»Ich könnte mir einen sozialen Beruf für sie vorstellen. Vielleicht Kinderkrankenschwester?« Schwester Meta, die die großen Mädchen betreute, sah fragend in die Runde.
»Vielleicht könnte sie sich sogar entschließen, dem Orden beizutreten, wo sie doch überhaupt keine Familie hat«, bemerkte Schwester Irmingard.
»Nun, wir wissen nicht mit allerletzter Bestimmtheit, ob sie wirklich Waise ist«, gab Schwester Ricarda zurück. »Wir nehmen es halt an. Zumindest hat nie jemand nach ihr gefragt, und auch beim Suchdienst des Roten Kreuzes hat sich niemand gemeldet«, fügte sie seufzend hinzu.
Anna-Marias Herz klopfte heftig, als sie das Zimmer der Schulleiterin betrat. Diese hatte nach ihr rufen lassen. Artig blieb sie an der Tür stehen, bis die Nonne sie zu sich rief.
»Setz dich, Anna-Maria!« Schwester Ricarda sah prüfend auf das junge Mädchen, das unsicher auf der äußersten Stuhlkante Platz genommen hatte.
»Du weißt, dass du das Heim mit Abschluss der Volksschule verlassen musst. So sind unsere Vorschriften«, begann sie ihre Unterredung. »Wir können dich nicht länger hier behalten, selbst wenn wir das gerne wollten.«
Anna-Maria nickte. Nun war es also so weit! Freilich hatte sie es gewusst; aber nun diese Worte so offiziell und deutlich zu hören, das war schon eine andere Sache.
»Natürlich haben wir Schwestern uns Gedanken darüber gemacht, was aus dir werden soll. Aber zuerst hast du das Recht, etwas über deine Herkunft zu erfahren.«
Sie blickte wiederum prüfend auf das Mädchen und öffnete eine Mappe, die auf ihrem Schreibtisch lag.
Anna-Marias Herz begann schneller zu schlagen, und sie spürte einen Kloß in der Kehle. Sie hatte in all den Jahren immer wieder mal danach gefragt, wer ihre Eltern seien, aber stets nur ein Achselzucken oder eine ausweichende Antwort bekommen.
Nun war also der Tag gekommen, an dem sie die Wahrheit über sich erfahren sollte. Schwester Ricarda sah von den Papieren hoch, die vor ihr lagen.
»Leider kann ich dir über deine Herkunft nicht allzu viel sagen, mein Kind. Aus meinen Unterlagen geht nur hervor, dass du am 16. Juli 1945 zwischen den Orten Aßling und Elkofen gefunden wurdest. Es hat dort an diesem Tag ein schreckliches Unglück gegeben. Ein Zug, in dem lauter ehemalige Soldaten saßen, blieb mitten auf der Strecke mit einem Lokomotivschaden liegen. Ein entgegenkommender Transportzug, der mit amerikanischen Panzern beladen war, stieß frontal mit diesem Zug zusammen. 105 dieser Männer, die gerade den Krieg und die Gefangenschaft überlebt hatten, kamen dabei ums Leben und dazu ein amerikanischer Soldat.«
Sie sah auf das Mädchen, das sie erschrocken ansah. »Außerdem gab es viele Verletzte. Es waren Soldaten, die auf dem Heimweg von einem Lazarett oder einem Lager waren. Männer, die glücklich waren, endlich nach den Gräueln des Krieges nach Hause zu kommen. Und dann, stell dir vor, keine dreißig Kilometer vor München, kurz vor dem ersehnten Ziel, dieser schreckliche Unfall! Ja, Gott lässt sich nicht in seine Karten schauen, warum er die Menschen manchmal so prüft.« Schwester Ricarda atmete tief durch und legte eine Pause ein, wie um dieser armen Männer zu gedenken, und Anna-Maria sah verstört vor sich hin.
»Die Rettungskräfte fanden in dem ganzen Chaos, das auf das Unglück folgte, zwischen den Toten und den Verwundeten ein Baby, bekleidet mit einem Strampelhöschen und einem rosaroten Jäckchen und Mützchen.« Sie sah Anna-Maria an. »Das warst du, Anna-Maria!«
Sie holte eine Schachtel unter ihrem Schreibtisch hervor. »Das ist alles, was ich dir geben kann.«
Anna-Maria war zutiefst ergriffen, als sie den Karton in der Hand hielt, den ihr Schwester Ricarda gereicht hatte. Darin lag ein kleines, gehäkeltes rosarotes Babyjäckchen im Muschelmuster, umrahmt mit weißen Mäusezähnchen, wie es früher üblich gewesen war, und ein dazu passendes Mützchen. Ob das ihre Mutter einst für sie gemacht hatte? Anna-Maria starrte auf die Babykleidung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Und meine Mutter? Sie muss doch bei mir gewesen sein! Ich war ja noch so klein!«
Schwester Ricarda seufzte tief. »Tja, das ist die große Frage, die nie geklärt werden konnte. Es bleibt ein Geheimnis, wie du in diesen Zug gekommen bist, und du musst in diesem Zug gewesen sein!« Sie seufzte erneut. »In dem Zug befand sich keine einzige Frau, soweit man weiß, und von den verletzten Männern konnte sich keiner an dich erinnern, trotz intensiver Nachfragen.«
Anna-Maria sah sie mit großen Augen an. »Aber irgend jemand muss doch etwas von mir gewusst haben!«