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Index

Erster Teil

Zweiter Teil

You planted all your everlasting hatred in my heart

Robert Wyatt

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Iselin und Edvard Honik wuchsen in einem Haus auf. Sie verlebten eine Jugend und eine Zeit als Erwachsene. Die Verhältnisse, aus denen sie stammten, waren okay. Eines Nachts, als die Sonne gerade 564 Millionen Tonnen Wasserstoff in 560 Millionen Tonnen Helium fusionierte und ein Teil der dadurch freigesetzten Wärme 8 Minuten und 17 Sekunden später als Licht den Mond erreichte, und dieser Mond, der nicht wirklich ein Planet ist und nicht wirklich ein Stern, sondern ein Mond, voll erleuchtet am Himmel stand, erblickte ihn die Mutter von Iselin und Edvard Honik, war erfasst von seiner Sanftmut, verwandelte sich in ein wölfisches Wesen, biss ihrem Gatten den Nacken durch, zerfleischte Teile seines Oberkörpers und schlief wieder ein.

Es gibt gute Gründe, den Mond und die Erde als Doppelplanetenstruktur zu bezeichnen. Der Mond ist einzigartig in unserem Sonnensystem. Er entstand vor etwa 4,5 Millionen Jahren bei der Kollision zwischen der Protoerde und einem marsgroßen Körper, der Theia genannt wird und hypothetisch ist. Theia zerbarst bei dieser Kollision total und sein Staub und einige Fetzen der Protoerde ballten sich unter der Schwerkraft zu dem, was heute als der Mond bezeichnet wird. Der Mond ist im Verhältnis zu dem Planeten, den er umkreist, ungewöhnlich groß — ähnlich wie Charon, der Mond des Pluto. Zu der Zeit des Zusammenstoßes zwischen Theia und Erde gab es vermutlich keine Lebewesen auf einem der beiden Himmelskörper.

Edvard und Iselin waren gerade zwanzig geworden, als sie ihren Vater verloren. Es war das Jahr 1973 und sie hatten im April Geburtstag. Sie waren Zwillinge, vom Sternzeichen Widder. Iselin verließ den Körper ihrer Mutter als Erste, wobei alles gut verlief. Edvard musste mithilfe eines Kaiserschnitts zur Welt gebracht werden.

Das Attentat des einen Elternteils gegen den anderen war ein harter Schlag. Sie fühlten sich vernichtet. Stunden saßen sie sich gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Sie wuschen sich nicht mehr. Sie aßen kaum, sie rauchten. Sie begriffen nicht, was geschehen war. Wie es dazu kommen konnte. Dass ihr Vater tot war. Dass ihre Mutter sich in ein Monster verwandelt hatte. Soweit sie wussten, gab es keinen Grund, weshalb ihr Vater hätte sterben sollen. Sie achteten ihn und waren ihm für alles dankbar. Sie bedachten ihn mit dem größten Respekt und der größten Zuneigung. Auch gegen ihre Mutter hegten sie keinen Groll. Zwar empfanden sie an gewissen Tagen ein weltumschließendes Gefühl der Enttäuschung und der Abscheu, aber das erklärte noch lange nichts.

Die Ruhe, aber vor allem emotionale Ungenauigkeit ihrer Eltern hatte Iselin und Edvard stets verunsichert. Keiner der beiden konnte sich daran erinnern, Mutti oder Vati (wie sie sie nannten) jemals wütend, bewegt oder vom Zorn besessen erlebt zu haben. Äußerungen zur Liebe oder der tiefen, wahrhaftigen Liebe waren ihnen fremd. Höchstens in Briefen wurden sie floskelhaft erwähnt. Alles, worüber man sich im Hause Honik unterhielt, waren Fakten. Die Frage „Wie geht es dir?“ war für die Kinder genauso undenkbar wie der Anblick von körperlicher Nähe zwischen ihren Eltern. Meist waren Gefühlsausbrüche eher Anzeichen von Müdigkeit, Spannung oder Appetit. Wenn sie wissen wollten, wie es ihren Eltern ging, gab es keine Möglichkeit, dies über Gespräche (oder Textnachrichten) zu ermitteln. Sie waren gezwungen, Mutmaßungen anzustellen.

Einmal, als er die Nacht durchgesoffen hatte und kein Auge zugetan, setzte sich Edvard an den gedeckten Frühstückstisch im Haus am Leviatvei, an dem seine Eltern gerade frühstückten, und schaute seiner Mutter in den Abgrund ihrer fürsorglichen Augen.

„Wen sollst du überhaupt darstellen?“, fragte er, woraufhin sie lächelte. Sein Vater nahm die Klemmbrille von seiner Nase und verwies ihn mit der Aufforderung, sich kalt duschen zu gehen, des Tisches. Edvard konnte nicht ausmachen, ob es daran lag, dass er seiner Mutter eine direkte Frage gestellt hatte, oder ob sein Vater die Anwesenheit seines betrunkenen Sohnes zu dieser Tageszeit schlichtweg nicht ertrug. Er verzog sich in sein Zimmer und merkte, wie ein Fieber von seinem Körper Besitz ergriff. Er träumte einen seiner ständig wiederkehrenden Albträume. Darin verwandelte sich das Geräusch des klappernden Teegeschirrs in Schreie und andere schrille Laute, die später in eine Art geometrische Hölle oder Gebirge ausuferten.

Ganz stimmen tut es nicht. Iselin konnte sich sehr wohl an einen Moment aufrichtiger Gefühlsäußerungen in ihrem Elternhaus erinnern. Es war, als ihr älterer Bruder Marek an Tuberkulose gestorben war. Sie hatte noch das Schluchzen ihres Vaters im Ohr, wie es durch die Zimmerwände wimmerte. Es war ihr, als bebte das Haus, als drängten diese Laute aus den Tiefen des Erdkerns hervor. Ihr Vater wirkte verletzlich, gerade wie ein Kind. Wahrscheinlich ist das der Grund, weswegen Edvard versuchte, dieses Erlebnis zu verdrängen. Denn in jenem Moment lagen die Schwäche und Unbedarftheit seines Vaters derart bloß, dass er ihm gegenüber alle Achtung zu verlieren drohte. Hierin zeigte sich die Schwierigkeit der Beziehung zwischen Edvard und seinem Vater. Es gab Tage, da engten ihn die Strenge und Gereiztheit dieses Mannes ohnegleichen ein und er schwor sich, nie und nimmer wie er zu werden; aber doch konnte er es nicht akzeptieren, ihn verletzt zu sehen. Er wollte das, was er an seinem Vater verachtete, auf keinen Fall missen. Er schöpfte eine ungeheure Kraft aus diesem Gegensatz. Der Augenblick, an dessen enorme Strahlkraft sich Iselin erinnerte, war der, als ihr Vater von Mareks Krankenbett kam und sie sich nicht mehr traute, ihren Orangensaft zu trinken. Ihr Vater (der Gabriel hieß) war Arzt, und doch konnte ihm seine Profession nicht dabei helfen, seine Kinder zu beschützen. Die Jahre des Studiums und der Berufserfahrung waren im Angesicht der Krankheit belanglos (was ihn in seinen Augen zu einer tragischen Kreatur machte). Iselin sah ihren Vater mit herabhängenden Schultern an ihr vorbeigehen. Sie traute sich kaum, einen Blick zu wagen, da sie solche Angst hatte, ihn zu verärgern. Sie starrte auf die gelben Maiskolben, die auf den grünen Stoff der Küchenvorhänge gedruckt waren, und fragte sich insgeheim, wofür dieser Bruder überhaupt gelebt hatte, jetzt, da er tot war. Der Gedanke war nicht fair, und das wusste sie, aber trotzdem schien er ihr gerechtfertigt. Marek hatte nichts in seinem Leben erreicht, war neuneinhalb Jahre alt geworden, ein Versager als Kreisläufer der hiesigen Handballmannschaft und würde alsbald vergessen sein. Ihr Vater spülte sich das Blut seines Kindes (Tbc löst meist das Erbrechen von Blut aus) von den Händen und es verschwand im Abfluss, wie so vieles im Abfluss verschwand.

1955 war bereits ihr Zweitgeborener, Kasper Honik, an Tuberkulose gestorben, doch waren Iselin und Edvard damals noch zu jung, als dass sie es hätten mitbekommen können. Sowohl Marek als auch Kasper müssen friedvolle und wissbegierige Jungs gewesen sein. Bei einem der wenigen Male, in denen die Eltern von den beiden sprachen, flog eine Fliege durch ein auf Kipp geöffnetes Fenster und summte lärmend durch die Stube. Ihre Flugbahn glich dem Verlauf einer anspruchsvollen Rennstrecke. Nachdem die Eltern ihre Erzählung beendet hatten, verließ die Fliege, die vorher etliche Male gegen die Scheibe geflogen war, durch einen Zufall das Zimmer. Die Stille, die sie hinterließ, war nicht mit Worten zu beschreiben.

Nachdem die Mutter von Iselin, Edvard und den beiden toten Honik-Jungen, die Witwe von Gabriel Honik, Hilma Honik, wieder ein Mensch geworden war und sich vom Schock erholt hatte, bestellte sie ihre Kinder an ihr Kranken- und Gefangenenbett. Ihr Zustand war kritisch. Sie war erschöpft und bleich, wirkte jedoch eigentümlich belebt. Gräuliche Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn. Sie sprach leise. Ihre Stimme war verzerrt von Reue, Verwirrung und Wahnsinn. Sie hoffe es nicht, aber sie befürchte, dass die Verwandlung, die sie durchgemacht hatte von einem Menschen zu einem wölfischen Wesen, erblich wäre und dass die Wahrscheinlichkeit hoch sei, dass einer der beiden während einer Vollmondnacht ebenso die Kontrolle über den eigenen Körper verlieren und seine Geliebten — so er oder sie denn welche hätte, was Hilma sich innig wünschen würde, denn die Liebe wäre das Größte und das Schönste, das absolut Größte und Schönste — zerfleischen müsste. Doch sei es bisher noch nie vorgekommen, dass mehr als ein Kind einer Generation diesem Trieb (wie sie es nannte) zum Opfer gefallen wäre. Es wäre also eine Fünfzig-fünfzig-Chance. Es sei aber noch nie vorgekommen, dass sich der Fluch (wie sie es nannte), der auf der Familie ihrer Mutter lag, nicht erfüllte. Über Generationen könnte man die immer im Elend endenden Tierwerdungen zurückverfolgen.

Hilma hatte lange (warum auch immer, wie sie hinzufügte) gehofft, dass das Erbe mit ihr ein Ende genommen hätte. Sie hatte ihr Schicksal (wie sie es nannte) sogar lange Zeit vergessen. Immerhin erreichte sie das stolze Alter von 51 Jahren, bis sie ihrem Gatten das Leben nahm. Sie müssten aber vorsichtshalber davon ausgehen, dass das Töten mit ihr (Hilma) kein Ende finden würde. Allerdings seien sie auch die ersten Zwillinge der Familie, und wenn es nun ein Gen wäre, was diese Metamorphose auslöste, so könne es schon sein, dass entweder Marek oder Kasper es bereits geerbt hätten, Gott (wie sie es nannte) habe sie selig. Aber sie kenne sich da auch nicht so aus. Im Übrigen fand sie das eigentliche Erlebnis der Verwandlung, abgesehen von dem unersetzlichen Verlust ihres Mannes und der daraus folgenden Inhaftierung und Hospitalisierung (auch sie war der Meinung, dass ihr Gatte den Tod nicht verdient hatte; die Scham geißelte sie), der fortwährenden Untersuchungen und der Abscheu, die ihr hier in der Klinik entgegengebracht würde, ziemlich toll. Nie (zuvor) hatte sie sich freier gefühlt. Nie habe sie ihren Körper so präzise wahrgenommen. Beispielsweise habe sie empfinden können, wie der Sauerstoff der Luft in ihren Lungen zu Kohlenstoffdioxid reagierte. Diese beiden Stoffe habe sie sensorisch unterscheiden können. Was ein Spektakel gewesen sei. Aber auch die Fähigkeiten ihrer Augen und ihr Geruchs- und sogar ihr Gleichgewichtssinn wären um etliche Male besser gewesen, eindeutig spürbar besser. In diesem Zustand (wie sie es nannte) erschien es ihr richtig, was sie da tat, und sie dachte sogar, dass es eine liebevolle Geste sei. Als läge eine unwahrscheinliche Logik in ihrem Handeln. Nur an den Kern dieser Logik konnte sie sich nicht mehr erinnern. Komischerweise wies sie alle Anschuldigungen von sich, in einem Rausch gehandelt zu haben. Auch mit Begriffen wie Tollwut oder Jähzorn konnte sie nichts anfangen. Sie beharrte darauf, selbst wenn das für niemanden nachvollziehbar erschien, von einer irren Vernunft (wie sie mehrmals betonte) besessen gewesen zu sein.

Es erfüllte sie mit Stolz, einige Gedanken gehabt zu haben, die nicht von menschlicher Natur waren. Gedanken, die in keiner Sprache veräußerbar seien. Ihre Gedanken waren von Gebrüll (wie sie es nannte) gewesen, einem entsetzlichen Kreischen. Iselin und Edvard lebten seit diesem Nachmittag im Spital unter der steten Angst, sich in ein wölfisches Wesen zu verwandeln. Hilma versuchte sie zu beruhigen.

„Bitte, zum einen ist es nicht sicher, dass der Fluch auch euch treffen wird, wie gesagt, und dass ihr diesem Trieb verfallen werdet und alles, und zum anderen stirbt doch ein jeder ein Mal. Ob nun so oder so. Versucht es eher als Geschenk zu sehen oder als Herausforderung. Vielleicht verwandelt ihr euch ja auch in einem praktischen Moment zum Monster — oder ihr verwandelt euch überhaupt nicht in ein Monster, sondern in ein fantastisches Untier; in einen Schmetterling, einen Sperber oder Narwal, in ein Geschöpf des Himmels beispielsweise.“ Iselin war verstört von dem Auftreten ihrer Mutter. Wie sie von der Liebe sprach, mit dieser für sie so unüblichen Begeisterung und wie selbstherrlich sie erschien. All das weckte ihren Missmut. Später, als sie diese Einschätzung mit Edvard teilte, nickte dieser bestimmt.

Beiden wurde klar, wie wenig sie eigentlich über ihre Eltern wussten. Sie hatten sie bisher einfach hingenommen, sogar etwas interesselos. Ab diesem Zeitpunkt dachte Iselin manchmal darüber nach, sich und ihren Bruder umzubringen, mit einer Glasscherbe etwa, aber dann erschien ihr dieser Gedanke wieder völlig idiotisch. Für Stunden starrte sie in den Spiegel in ihrem Kinderzimmer. Es klebten noch einige Sticker am Rand. Sie war so wütend. Sie bebte. Sie heulte sich die Augen aus. Es waren dunkle Tage.

Das Geschwisterpaar verbrachte bloß noch ein paar Wochen miteinander. Sie hatten gemeinsam die Beerdigung planen müssen und Verwandte und Bekannte der Familie eingeladen. Auch Freunde von ihnen kamen. Es war irgendwie schön. Der Wind wehte, doch die jungen Blätter ließen sich nicht von ihren Ästen reißen. Gabriel Honik wurde auf dem katholischen Friedhof begraben. Auf seinem Grabstein stand: Gabriel Honik, 1920 — 1973, geliebt und getötet von den Seinen. Eine Pastorin sprach ein paar Worte. Sie hatte Gabriel schon lange gekannt und es war eine wirklich rührselige Rede. Viele der Anwesenden mussten weinen. Hilma durfte nicht kommen, was sie in einen Abgrund der Verzweiflung stürzte. Wie konnte es ihr nicht erlaubt sein, Abschied von ihrem geliebten Mann zu nehmen? Gabriel hatte keine Verwandten im Land. Nur mütterlicherseits waren Angehörige da. Jeder hatte ihn hoch geschätzt, auch wenn die meisten ihn eher als einen verschlossenen Mann gekannt hatten. Auch seine Kollegen aus der Klinik waren da. Alle wünschten Iselin und Edvard alles Gute und boten ihnen an, für sie da zu sein. Eine alte Freundin von Hilma, die in der Stadt als Eisverkäuferin arbeitete und ein Geheimnis zu haben schien, fragte Iselin, ob der Vorfall etwas mit Hilmas Lupus-Erkrankung zu tun haben könnte — einer Krankheit, unter der sie ihrer Erinnerung nach litt und von der Iselin bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Später ging sie der Sache auf den Grund. Später kam die Dämmerung über den Friedhof und dämpfte alle Geräusche des Tages. Ein Knistern war zu hören, aber keine Musik.

Edvard und Iselin tranken in einem Gasthaus eine Flasche Aquavit und sprachen über alles außer über ihre Eltern. Sie waren die letzten Gäste des Leichenschmauses. Edvard hatte keine Lust, über seinen Vater oder seine Mutter zu reden, er fühlte sich überwältigt von dem Gedanken, mit ihnen gebrochen zu haben. Er wollte nichts mehr darüber hören. Sie sprachen über die Zukunft und das Studium, über Geld, Sorgen und die diffuse Unzufriedenheit, mit der sich Edvard seit einiger Zeit quälte. Nachts lag er alleine und etwas angetrunken in seinem Bett. Er las, ohne auf den Inhalt zu achten, in einem Magazin. Nebenbei fasste er einen Entschluss.

Der systemische Lupus erythematodes ist eine Autoimmunerkrankung, was bedeutet, dass sich das Immunsystem des Körpers, welches grundsätzlich super ist und den Körper davor bewahrt, geschwächt zu werden, gegen den Körper selbst richtet. Der Erkrankte erkennt sich als Bedrohung und bekämpft sich mit allen Mitteln. Die Antikörper des Körpers richten sich gegen soundso Gewebestrukturen, die körpereigen sind, aber als fremd eingestuft werden. Man nennt diese Krankheit auch Schmetterlingskrankheit. Vor allem Frauen liegen ihr oft. Meist ist die Haut betroffen. Sie wird rot und wund. Aber auch die Lunge, die Nieren, das zentrale Nervensystem, einfach jeder Teil des Körpers kann von den Antikörpern als feindlich eingeschätzt werden. Selbst das Gehirn. Epilepsie, Verwirrung, Migräne, Aufmerksamkeitsstörungen, Konzentrationsschwäche, ständiges vom einem Thema zum anderen Springen, Psychosen, Depressionen, Zittern, Krämpfe, Rauschzustände, Unkonzentriertheit, ein nicht zu stillender Wissensdurst, Misanthropie oder Feigheit können die Folge sein. Der systemische Lupus erythematodes ist eine mächtige Krankheit. Ob Hilma unter ihr litt, war nicht sicher. Sie hätte doch ständig Medikamente nehmen müssen. Das hätte Iselin doch auffallen müssen. In einer Schublade in einem Schrank fand sie eine Dose mit Kortison.

Die letzte Fotografie, auf der Iselin und Edvard gemeinsam zu sehen sind, entstand am Tag von Edvards Abreise. Beide sehen lebendig und frisch aus. Sie hatten eine Passantin gefragt, ob sie das Foto für sie schießen könnte. Aus unerfindlichen Gründen waren sie versucht, mit Zeige- und Mittelfinger das Peace-Zeichen zu formen. Da sie ein bisschen erkältet war, trug Iselin ein Tuch um den Kopf gewickelt.

„Das Einzige, wofür ich tödlichen Hass empfinde,“ gab sie ihrem (kleinen) Bruder mit auf den Weg, „ist das Vergessen.“ Dieser blieb stumm vor ihr stehen. Dann nahm er sie in den Arm.

„Bis bald“, sagte er.

Von den Untersuchungen und Selbstanschuldigungen entkräftet, lag Hilma in ihrem Bett. Mehrmals täglich brach sie unter heftigen Schüben des Entsetzens zusammen. In diesen Momenten quälte sie ihre Erinnerung mit den schönsten Zeiten ihrer Ehe, mit der Zärtlichkeit, die ihr ihr Gatte stets entgegengebracht hatte. Mit der Lust, die sie aneinander hatten, mit der Milde.

Ungefähr einen Monat nach der ersten Erfüllung des Fluchs, der auf ihrer Familie lastete, starrte Hilma aus ihrem Zellenfenster auf den Anblick einer dünnen Wolke, die probierte, den Mond entzweizuschneiden. Ihre Hände verformten sich zu Klauen, ihre Zähne zu Hauern und aus ihrer Stirn wuchsen neun harte, sich windende Hörner. In diesem Moment schien sie eher einem weißen Tiger, einem Gnu oder einem Orka zu ähneln als einer älteren Dame. Die Pupillen im Innern ihrer Augen rotierten und wechselten die Farbe im Takt ihres Atems. Sie tötete einige Wärter und Ärztinnen und floh. Einem schlug sie den Arm ab. Einer anderen entfernte sie mit einem Hieb die Milz, den Dünndarm und einen Teil des Beckens. Seitdem machten Tierschützer, Söldner und Konservative Jagd auf sie.

Einer der Krankenpfleger, der in der Nacht des Ausbruchs nicht anwesend gewesen war, der aber immer ein gutes Verhältnis zu Monika hatte, wie sie von der Chefärztin manchmal versehentlich genannt wurde (vermutlich da ihre eigene Mutter so hieß), konnte nicht glauben, dass Hilma einfach so abgehauen war. Er hatte wirklich ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihr. Er nannte sie nur deshalb Monika, um die Nähe zu ihr und die Distanz zu der Chefärztin deutlich zu machen. Er hatte sich sogar schon einige Male vorgestellt, wie es sei, seine Patientin auf den Mund zu küssen. Er war noch jung. Und trotz oder wegen ihres Alters strahlte Hilma eine Aura der Schönheit aus. Oder nein, sie erstrahlte in einer Anmut, die nicht im Alter oder Aussehen begründet lag. Und genau das war es, was dem Krankenpfleger so gefiel. Seiner Meinung nach war es problematisch, wie viele Dinge im Leben bloß auf Aussehen oder Alter beruhten. Auf der anderen Seite fürchtete er sich seit ihrer Begegnung zunehmend vor Hunden und kurioserweise auch Würgeschlangen. Wenn er im Bus zur Arbeit saß, empfand er seine Umwelt als ein Terrarium, und obwohl er wusste, dass das alles bloße Einbildung war, sah er manchmal ein riesiges Gesicht hinter den Busfensterscheiben, das ihn teilnahmslos betrachtete. Schließlich muss gesagt werden, dass der instinktive Gewichtsgewinn seiner Angst recht hilfreich gewesen war, da einige seiner Kollegen beim Ausbruch der seit diesem Vorfall als Teufel verhassten Patientin starben. Der Krankenpfleger lebte allein und hieß Tom, Johann oder Hagen oder so ähnlich. Er versuchte immer wieder Kontakt zu Hilma aufzunehmen und war ein ganz guter Schlagzeuger.

Die Chefärztin kündigte nach dem Ausbruch ihren Job. Überhaupt war ihr der Fauxpas mit dem falschen Namen bloß zwei Mal unterlaufen. Sie fand, dass die Leute gehässig waren. Besonders an diesem Ort, der übrigens mitten in Europa lag. Genauer gesagt in der Nähe von Bergen. Nicht in der Nähe von Bergen auf Rügen, sondern in der Nähe von Bergen in Norwegen. Also nicht in der Nähe von norwegischen Bergen, sondern von Bergen in Norwegen, der Stadt Bergen, Provinz Hordaland, sechzigster Breitengrad, fünfter Längengrad.

Spätestens in den Neunzigern wurde die Anstalt geschlossen. Sie galt als veraltet und nicht auf dem Stand der Zeit. Ein preußisch-barockes Überbleibsel aus dem Nirgendwo, Prunk in Niemandes Namen. Der Geruch von Urin und Filterkaffee war nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. In den frühen Jahren des dritten Jahrtausends der Zeitrechnung des christlichen Kalenders wurde die Klinik ein Rückzugsort für Heroinsüchtige, dann für Motorradgangs, dann für frisch Verliebte und schließlich zeigte eine Theatergruppe eine aufwendige Bearbeitung von Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt in den Räumlichkeiten, beziehungsweise hätte sie gezeigt, wäre der Gebäudekomplex nicht bei der Generalprobe komplett niedergebrannt. Bei dem Brand starb keiner der an der Produktion Beteiligten, aber eine Handvoll Statisten, die der schusselige Regieassistent in aller Hektik (und Panik) vergessen hatte. Sie waren im Keller eingesperrt und müssen erstickt sein.

Edvard hatte einen eigenen Plan. Um sich nicht eines Nachts in ein Unheil und Schrecken verbreitendes Ungetüm zu verwandeln, versuchte er, so wenig wie möglich zu empfinden. Er dachte, dass das Eindämmen seiner Gefühle ein Überborden derselben praktisch unmöglich machen würde. Denn das, glaubte er, war die Tierwerdung seiner Mutter — ein bis in die Absurdität oder Absolutheit des Extremen übertriebenes Überborden von Gefühlen.

Er hatte vor seinem Wehrdienst eine zweieinhalbjährige Beziehung zu einem jungen Mädchen gehabt, die er mit der Begründung des Wehrdienstes beendet hatte. Wenn er sich den Frust, das Unverständnis und die Ressentiments dieser zwei Jahre multipliziert auf 24 vorstellte, der Zeit, die seine Eltern zusammen waren, erschien es ihm beinahe plausibel, was passiert war. Es kam ihm vor, als hätte es seine Mutter seinem Vater bloß heimgezahlt, die etlichen Ehejahre in dieser eigentümlichen Unterdrückung, die, wie er fand, jegliches Zusammensein bedeutete. Er verschloss sich. Seine Schwester hatte sich dazu entschieden, die Vergangenheit ihrer Eltern zu erforschen und zu analysieren. Er aber wollte nichts mehr mit seiner Herkunft zu tun haben. Das war der Grund, weswegen er Norwegen verließ. Er war auf der Suche nach einem Leben im goldenen Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Er hatte sich ausgerechnet, dass dieses Verhältnis etwa dem des irrationalen Zahlenwerts von Phi (Φ) entsprach, also ca. 61,8 % Distanz und 38,2 % Nähe betrug.

Iselin versuchte, alles über ihre Eltern herauszubekommen. Sie studierte ihre Leben wie einen Krankheitsverlauf. Sie wollte den Erreger, den sie in sich wähnte, genauestens untersuchen und verstehen, um ihn vernichten oder isolieren zu können. Oder um sich immer wieder kleinere Dosen dieses Erregers zu verabreichen, auf dass sie davon immun würde. Sie gab sich ihren Trieben hin, um sie dadurch besser kontrollieren zu können, um ihre Grenzen kennenzulernen. Sie aß, sie sprach, sie fraß und wütete. Sie ging auf die Pirsch. Sie suchte, sie fickte, sie schmeckte und sie vergaß. Sie begrub und bereute. Sie liebte, sie liebte wie verrückt und verlor alles. Sie war sich nie einig mit ihrem Bruder und begann einen Schmerz zu empfinden, der nicht zu lindern war.

Edvards erste Freundin hieß Lena und war, wie ihr Name schon sagt, Lena. Auf ihrem Abschlusszeugnis hatte sie eine Sechs in Französisch und eine Sechs in Sport. Sie hatte eine Sechs minus in Mathematik, in Englisch und in Kunst. In Politik und Geschichte hatte sie eine Fünf. In Norwegisch hatte sie bloß eine Vier plus bekommen, aber das lag daran, dass ihre Eltern ihr verboten hatten, Knut Hamsun zu lesen. Ihre Mutter arbeitete in der Führungsetage einer Ölfirma und ihr Vater war früher Astronaut gewesen und nun auf einer Go-Kart-Bahn als Mechaniker beschäftigt. Die Beziehung zu Edvard bereitete Lena großes Vergnügen, nur kam sie sich manchmal hintergangen vor, weil er nicht mit ihr schlafen wollte. Hintergangen ist das falsche Wort, hätte sie damals gedacht, wobei es genau das richtige Wort war. Sie machte ihm gerne Geschenke, während er sich nichts aus Geschenken machte. In einem anderen Leben wäre sie als erwachsene Frau Journalistin geworden. In diesem Leben aber, in dem sie gänzlich von einer Sucht nach Sicherheit und Terminen besessen war, tat sie alles, um auszusorgen. Sie wollte unbedingt gesund sein. Insgeheim sparte sie seit ihrem sechzehnten Geburtstag auf einen gut erhaltenen Jagdpanzer Elefant — wenn es sein müsste auch ohne Geschütz (sie war nicht so streng). Nur wurde ihr nie einer angeboten. So kaufte sie sich einfach andere Produkte der Firma Siemens und später einen Porsche 944 Turbo.

Etwas, das seine Mutter gesagt hatte, ging Edvard nicht aus dem Kopf. Sie hatte davon gesprochen, Gedanken gehabt zu haben, die nicht von Menschen stammten. Diese Vorstellung faszinierte ihn. Denn alle Gedanken, die er jemals gehabt hatte, alle Sätze, die er je gelesen oder gehört hatte, ja selbst die Gedanken, die sich in Kochrezepten, Sinfonien oder Möbeln ausdrückten, stammten ständig von Menschen. Sie waren also (egal wie fortschrittlich oder ungewöhnlich) immer Teile eines umzäumten Bereichs. Dieser Bereich war zwar recht groß und das Gehirn, das der Ursprung aller jemals gedachten Gedanken war, und seine Botenstoffe und die damit verbundenen Wechselwirkungen leicht zu manipulieren (man brauchte nur unglücklich an systemischem Lupus erythematodes zu erkranken), aber doch entfloh kein Mensch dem Schicksal, menschlich zu sein. Das war es auch, was ihn so anödete. Er war es leid, menschliche Gedanken zu haben. Diese Limitierung verbitterte ihn. Zumindest bildete er sich das ein, als er auf der Fähre von Oslo nach Riga saß, die einmal in Malmö anlegte.

Warum er nach Riga wollte, wusste er nicht so genau, allerdings war ihm klar, dass er mit dem wenigen Geld, das er hatte, schwieriger in London leben konnte als in Lettland. Die Beerdigung war nicht billig gekommen und einen Job hatte er auch nicht. Hatte er nie gehabt. Selbst mit dem Erbe sah es mau aus. Das ganze Vermögen seines Vaters hatte seine Mutter bekommen und diese war nun verschollen. Wobei nein, eins hatte er geerbt: eine kaum zu erklärende Sprachbegabung. Die meisten Sprachen im indogermanischen, romanischen, baltischen und slawischen Raum konnte er sich innerhalb von wenigen Wochen aneignen. Nur die Gegebenheiten des Keltischen waren ihm unverständlich.

Edvard hatte eher aus einer Laune heraus das Visum für die UdSSR beantragt. Es war nämlich nicht so, dass er unbedingt in die Sowjetunion wollte, doch es war Sommer und in Bergen hielt ihn nichts. Seine Zeit in der Armee hatte er gehasst und damit im Rückblick auch das Land, dem er dienen musste.

Er versprach sich viel davon, nicht mehr Teil eines demokratischen Systems zu sein. Vielleicht würden die Leute anders ticken. Vielleicht fänden sich im Gemeinsamen Ideen, die dem Einzelnen verborgen bleiben. Seine Träume von Geschirr hielten an, nur gesellten sich weitere Geräusche hinzu, wie etwa das Rascheln der Bäume im Wind oder Zwiebeln. Oft waren seine Träume nur Träume in Träumen, sodass er ständig aufwachte und nie wusste, ob die Herrschaft der Halluzinationen nun vorbei war oder nicht. Je weiter er sich von seiner Heimatstadt entfernte, desto mehr verschachtelte sich alles. Manchmal waren seine Träume auch die Handlungen von Büchern, die für das Fernsehen adaptiert wurden.

„Dies ist erst der Beginn des Wohlstands“, hatte Gabriel Honik seiner damaligen Bekannten Hilma Holgersson versprochen und Recht behalten. Er empfand Freundschaft schon immer als etwas eher Unwichtiges, als ein halbherziges Prinzip, das in der modernen Zeit seinen Platz verloren hatte, und heiratete Hilma zur Überraschung der beiden schnurstracks. Ihre Eltern waren damit einverstanden, dass sie den ambitionierten Medizinstudenten zum Mann nahm, da sie vor allem stolz auf den Stabreim in ihrem Namen waren und dieser so erhalten blieb. Als er Hilma den Antrag machte, war er 29 Jahre alt, es war das Jahr 1949, und sie 27.

Ihr erstes Rendezvous hatten sie an einem Abend im August und Gabriel wunderte sich über den Anblick der Häuser, Straßen und Verkehrsschilder im Regen. Es sah aus, als würden sie niedergedrückt werden. Überhaupt befremdete ihn der Regen. Dass Wasser aus der Stratosphäre auf die Lithosphäre fiel, war mehr als eigenartig. Die Straßen waren bescheuert und die Wolken genauso. Wie ein gewaltiges Gemisch aus alter Pappe. Oder wie versiffte Bierdeckel oder wie wenn Schokolade diese weiße Patina bekommt. Es war hart zu beschreiben. Hilma Holgersson dachte auf dem Weg zum Restaurant über Temperament nach. Sie stellte sich vor, wie ihr ihr Mann, der damals noch gar nicht ihr Mann war, nackt gegenüberliegen würde und wie sie ihm sagen würde, wie schön sie ihn fände und wie ernst sie es mit ihm meinen würde, und es frustrierte sie.

„Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, wie armselig ich doch bin. Meine Eltern hätten mir das ruhig sagen können.“ Solche Gedanken schossen ihr durch den Kopf. An dem Tisch, den er für sie und ihn reserviert hatte, saßen zwei männliche Jungs, die entweder eine romantische Verabredung hatten oder sich in einer abstrusen Vorstellungssituation befanden. Gabriel traute sich nicht, die Besitzer des Restaurants oder die Besetzer ihres Platzes anzusprechen, und so verließen Hilma und er das Lokal wieder. Sie schwiegen bei diesem Treffen genau gleich viel. Gabriel wollte im Boden versinken. Zum ersten Mal verstand er die Bedeutung, die diese Worte hatten. Er wollte langsam in eine Sandgrube gleiten, wie ein Käfer in der Wüste. Er wusste, dass es die Grenzen der Höflichkeit nicht überschritten hätte, wenn er das Recht auf seine Reservierung eingefordert hätte, und wollte sich gar kein Bild davon machen, was seine Begleitung wohl von ihm denken mochte. Sie sagte bloß, dass sie sowieso keinen großen Hunger gehabt hatte, was nicht mal gelogen war, wobei es darum auch gar nicht ging, und ging.

So schlürften sie ihrer Wege. Hilma zurück zu ihrem Elternhaus und Gabriel in seine Bude. Beide waren enttäuscht, Hilma sogar traurig. Sie fühlte sich bestätigt in dem, was sie von sich dachte. Gabriel machte sich in der winzigen Küche seiner Dachgeschosswohnung noch eine raffinierte Kleinigkeit aus Kartoffeln, da er schon einen ziemlichen Hunger hatte, und weder an den Regen noch an irgendwelche Schatten oder den Concierge des Restaurants, das heute geschlossen ist, geschweige denn die Kartoffeln, konnte sich einer der beiden später erinnern.

Die männlichen Jungs aus dem Restaurant hatten tatsächlich eine romantische Verabredung miteinander. Sie verstanden sich prächtig, lachten viel und ließen es sich gut gehen. Sie waren Musiker. Sie teilten ein gemeinsames Interesse an den Leiden des alten Schubert. Insgeheim mochten sie die wertebewahrende Ideologie, wie sie es nannten, und schliefen endlich miteinander, wobei derjenige der beiden, der den kleineren Penis hatte, es dem anderen erlaubte, ihm seinen in den Po zu stoßen und diese Prozedur 25 Mal zu wiederholen. Er hatte mitgezählt, nicht laut, das nicht, aber mitgezählt hatte er schon. All das erinnerte ihn an einen Satz, den er einmal gelesen hatte und nicht mehr vergessen konnte. Er wollte in dem Frieden, der zwischen den beiden herrschte, spurlos verschwinden. Vielleicht war der Satz auch aus einem Lied oder dem Libretto einer Oper.

Edvard Honik war 21 Jahre alt, als er am Hafen von Riga ankam. Er hatte das Abitur mit Ach und Krach bestanden, aber das kümmerte ihn kaum. Er hatte die Oberstufe bloß abgeschlossen, da er sich keine Gedanken über alternative Bildungswege machen wollte. Man sagte ihm nach, dass er schwierig sei, aber das war Quatsch. Er war ein normaler, gelangweilter Typ, der ein bisschen clever war und unter gelegentlichen Todessehnsüchten litt. Die Gegenwart faszinierte ihn. Alle Dinge, die genau jetzt passierten. Er war begeistert von dem Anblick der Irbenstraße und dem Rigaischen Meerbusen. Das Wasser dünkte ihn wesentlich einladender als das der Fjorde von Oslo. Als wollte es weniger Eindruck schinden, als wollte es sagen:„ Schon okay.“ Diese Einstellung des lettischen Gewässers unterschied es in Edvards Meinung ausdrücklich von der der Ostsee. Einer kleinlichen und sich selbst zu ernst nehmenden Wassermasse. Etwas mehr als 50 Jahre vor ihm war bereits sein Großvater hier gewesen, der in der Kaiserlichen Marine des Deutschen Reiches auf der SMS Nassau gedient hatte. Nur wusste Edvard nichts davon, da er seinen Vater nie über seinen Vater hatte sprechen hören. Irgendwann später hatte Iselin all diese Dinge ausmachen können. Fakt ist, dass Edvard und Iselin die Seefahrt im Blut lag (wie es heißt).

Iselin lebte weiterhin in dem Haus am Leviatvei. Sie kümmerte sich darum, dass die Rechnungen von nun an auf ihren Namen liefen, und besorgte sich zwei Mitbewohnerinnen, um die Kosten zu decken. Das war im Herbst. Da war Edvard schon seit drei Monaten weg. Außerdem arbeitete sie in einem Baumarkt. Sie studierte Archäologie im dritten Semester an der Universität Bergen. Meistens musste sie, neben den theoretischen Einführungen, Vorlesungen und Seminaren, nach Wikingerskeletten und -schiffen oder -töpfereien suchen. Vor Kurzem erst fanden sie drei geköpfte Sklaven bei einer Ausgrabung in Flakstad auf den Lofoten, die so im Jahr 700 nach Christus das Leben verloren hatten. Sie wurden geköpft, weil ihre Herren starben und sie damit nutzlos waren beziehungsweise eine Frechheit darboten. Der Kopf wurde ihnen jedoch nicht nur entfernt, da dies eine zuverlässige Exekutionsmethode war, sondern auch, damit sie auf ihre toten Tage nicht allzu redselig wurden. So zumindest dachten die Wikinger um etwa 700 Jahre nach Christus, dachten zumindest die Archäologen etwa 1970 Jahre nach Christus, wäre das.

Wenn sich Iselin nicht mit Isotopenuntersuchungen die Zeit um die Ohren schlug, spielte sie gerne Federball im Park. Ihre beiden Mitbewohnerinnen Sunniva und Suzan begleiteten sie dabei. Sie waren sich darin einig — und das machte den festen Kern ihrer Freundschaft aus, denn aus dem gemeinsamen Wohnen entwickelte sich bald so etwas wie Verbundenheit —, dass sie beim Nichtstun nicht lebendig waren. In einer sinnlosen Welt faul zu sein, hieß für sie, mit dem Zustand derselben konform zu gehen. Sie spielten Federball oder organisierten Proteste und Demonstrationen. Sie steckten Kaufhäuser in Brand oder nahmen durch Erpressungen Einfluss auf die bürgerliche Presse. Sie verführten einflussreiche Redakteure und setzten sie mit unmissverständlichen Fotos unter Druck. Einmal nahmen sie Geiseln. Aber das war erst viel später. Natürlich brauchte es eine Weile, bis sie auf all diese Ideen kamen und ihnen nachgingen. Natürlich brauchte es eine unheimlich lange Zeit, bis aus den vagen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Frieden und Gemeinschaft die konkreten Handlungen folgen konnten, die bisweilen gewalttätig waren. Sie nannten sich die Mädchen im System.

Sunniva war halb blind. Sie lag gerne nackt auf dem Holzboden ihres Zimmers und dachte nach. Zwei Mal im Jahr erkältete sie sich deswegen: im November und im März. Das Schwierige sind die Wintermonate in Bergen, denn viel Sonne gibt es nicht. Auch sie hatte erst Archäologie studiert, es dann aber aufgegeben. Sie verdiente sich ihr Geld mit Taschendiebstahl. Sie wurde mal von einem Typen, der sich in sie verliebt hatte, zum Kino eingeladen. Er wollte sie wohl beeindrucken, weswegen sie sich den Robert-Bresson-Film Pickpocket aus den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern anschauten. Der Film war eine Erleuchtung für Sunniva, denn ihr wurde klar, dass der Begriff des Eigentums dem Prinzip eines hegemonialen Machterhalts entsprang und daher keinen Wert besaß. Sie stahl ihrer Begleitung das Portemonnaie, als sie vorgab, auf die Toilette zu gehen, und verschwand. Denn trotz allem ging es im Kinosaal reichlich fad zu. Da die Stadt Bergen kaum mehr als siebzig- oder achtzigtausend Einwohner hatte, liefen sich die zwei manchmal über den Weg. Er hatte sie sogar direkt gefragt, ob sie ihm das Portemonnaie gestohlen hätte, woraufhin sie ihm eine Ohrfeige gab, ihn streng anschaute und sich dann aber dadurch verriet, dass sie lauthals zu lachen begann. Sie lud ihn auf einen Pastis in ein Bistro ein, in dem sie die ganze Nacht über lustig miteinander tranken. Es wurden bereits die Stühle hochgestellt, als sie den Laden verließen. Das Bistro hieß Bistro Pastard und die Besitzer waren gar keine Franzosen. Sie waren sogar noch nie in Frankreich gewesen. Sie taten einfach so, als wüssten sie alles über das Land, und verkauften das, was sie sich besonders französisch vorstellten, an ihre Kunden. An der Wand war ein großes Poster von einer Concorde aufgehängt. Ob es schon an dem Abend dort hing, als sich Sunniva und Jonte zulaufen ließen, steht nicht fest. Auch darüber, ob die eine zum anderen mit nach Hause gegangen ist oder anders herum, gibt es keine Auskünfte.

Jonte war ziemlich fett. Er war ein ausgezeichneter Koch. Er wollte immer mit einer dünnen Frau zusammenkommen, sie dann mästen, um schließlich gemeinsam mit ihr abnehmen zu können.

„Ach, halt deine Fresse“, sagte Sunniva zu Jonte im Spaß, als er ihr von diesem Traum erzählte, „du dummer Versager.“ Dass sie auf einem Auge blind war, ist nicht so wichtig. Nur einmal steckte sie in einem ziemlichen Schlamassel wegen ihrer fehlenden räumlichen Wahrnehmung, aber weiter passierte nichts. Was wichtig ist, ist, dass sie durch die Straßen lief und vornehmlich Touristen die Brieftaschen stahl. Ihre Bereitschaft, kriminell zu handeln, war es, was sie auszeichnete und auf ihre Freundinnen abfärbte.

Und dann lag sie wieder auf dem Holzboden ihres Zimmers und schaute zur Seite an ihrem Arm entlang, der ausgestreckt neben ihr lag, und betrachtete die Haare auf ihrem Handrücken. In diesen Momenten war sie wie aus Zucker. Nein, hier bekennt niemand seine Fehler, dachte sie. Bergen hat übrigens etwa zweihundertfünfzigtausend Einwohner.

Gabriel Honik hieß sowieso Roberto Fiedler. Während des Unternehmens Weserübung, also dem deutschen Überfall auf Norwegen und Dänemark im Frühling des Jahres 1940, war er als Gebirgsjäger des Gebirgsjägerregiments 139 an Bord der Bernd von Arnim und an der Schlacht vor Narvik (zumindest betrachtend) beteiligt gewesen. Als ein Torpedo seines Zerstörers in ein Küstenpanzerschiff der königlich-norwegischen Marine mit dem Namen Norge einschlug, bekam er eine Gänsehaut. Etwas Berauschenderes hatte er noch nie gesehen. Erst bildete sich eine weiße Fläche um den Bug, dann detonierte der Sprengkörper unter der Wasseroberfläche und zerriss das Schiff auf der Höhe der Kommandobrücke in zwei Teile. Die mächtige Kriegsmaschine legte sich auf die Seite und versank. Später bekam Roberto Kopfschmerzen.

Was waren das für Gedanken? Wie konnte ihm dieser Moment als etwas Ergreifendes erscheinen? Er konnte nicht leugnen, dass ihn der Anblick erheiterte, oder besser gesagt, ihn mit einem kindlichen Vergnügen am Spektakel erfüllte. Menschen starben auf diesem Schiff. Menschen mit Träumen und Hobbys und Vorgeschichten. Einige von ihnen waren womöglich unglücklich verliebt oder schämten sich wegen allem Möglichen. Sicher weil andere mehr Bartwuchs hatten als sie oder weil sie dachten, dass sie es im Bett nicht brachten. Oder sie waren noch Jungfrauen. Vielleicht waren einige von ihnen im falschen Geschlecht geboren. Jeder dieser Toten war das Ergebnis eines Sexualakts, das durfte nicht vergessen werden, eines freudigen oder schrecklichen und stumpfsinnigen Moments zweier (oder mehrerer) Personen. Sie alle strebten (wohl) nach Höherem, hatten Sehnsüchte, und ihnen allen war beim Lachen manchmal die Milch aus der Nase geschossen. Sie alle hatten sich versehentlich mit einem Finger, der gerade Chili geschnitten hatte, in das linke Auge gefasst, was nun verdammt wehtat. Sie alle bestanden aus Kohlenstoffketten, sogenannten Atomen, die zum Großteil aus nichts bestanden, und was von ihrem Körper nach der Verwesung am längsten überbleiben sollte, waren ihre Skelette.

Sie alle starben, als sich der Torpedo in einer Verbindung aus Geschwindigkeit und Richtung in eine Explosion verwandelte, oder kurz darauf. Der Explosion folgten eine Stichflamme und eine Säule aus Qualm. Die Säule aus Qualm verformte sich unter den Winden des Meeres zu einem überdimensionalen Kreuz. Als Wasser in die Norge eindrang, zersetzten sich ihre Matrosen im Feuer, erstickten am Rauch oder wurden zermalmt von der immer enger werdenden Maschine. Einige fanden ihren Tod im kalten Nordmeer. Ihre Leichen wurden nie gefunden, sie erstarrten oder verwandelten sich zu einem Teil des Biosystems (in Form von Nährstoffen). Sie alle trugen maßgeblich zur Vegetation bei.

Sonst kam Roberto die Zeit in Nordnorwegen kurzweilig vor. Er himmelte die Flak an und den wahren Feuerhagel. Er handelte im festen Glauben, Norwegen vor der englischen Raublust zu sichern.

Zwei Tage nach der Schlacht vor Narvik wurde die Flotte von fünf britischen Zerstörern attackiert. Bei diesem Angriff wurden die Wilhelm Heidkamp und die Anton Schmitt versenkt, wobei die Diether von Roeder, die Bernd von Arnim, die Hermann Künne, die Hans Lüdemann und die Georg Thiele beschädigt und zum Teil schwer beschädigt wurden. Die Erich Koellner, die Erich Gliese, die Lisa Sattler und die Wolfgang Zenker blieben unversehrt. Auch auf Seiten der Briten musste mit Verlusten gekämpft werden. Die HMS Hardy und die HMS Hunter wurden vernichtet, die HMS Hotspur beschädigt.

Der zweite Angriff gegen die deutsche Marine war erfolgreicher. Die Erich Koellner, die Erich Gliese, die Lisa Sattler, die Diether von Roeder, die Bernd von Arnim, die Hermann Künne, die Hans Lüdemann, die Georg Thiele und die Wolfgang Zenker wurden allesamt versenkt, vernichtet oder auf Grund gesetzt. Womit alle elf Zerstörer der deutschen Flotte zertrümmert dalagen. Her Majesty’s Ships waren die Warspite, die Eskimo, die Cossack, die Bedouin, die Punjabi, die Forester, die Foxhound, die Hero, die Icarus und die Kimberley. Keins der Schiffe sank. Auch U-Boote sollten in diesem Gefecht eine wichtige Rollen spielen, taten es aber nicht.

Roberto desertierte, wobei er eher einem Impuls als der Moral folgte. Er war mit seinem Regiment Richtung Osten unterwegs gewesen und auf eine Gruppe norwegischer Widerstandskämpfer gestoßen, die das Feuer gegen sie eröffneten. Nur hatte er sich in den letzten Tagen hohe Dosen Pervitin verabreicht und kaum ein Auge zugetan, sodass sein Körper an diesem Morgen zwingend nach Ruhe verlangte. Er schlief auf seiner Stellung ein und seine Kompanie hielt ihn für tot, also für gefallen, und seine Widersacher genauso. Das ist wirklich passiert. Als er am nächsten Morgen aufwachte und um sich sah und niemanden um sich sah, und ihn aber fürchterlich fror, und er eine sich nähernde Grippe spürte, da streifte er seine (klamme) Uniform ab und suchte in dem verlassenen Haus, in dem die norwegischen Widerstandskämpfer gewohnt hatten, nach warmer Kleidung.