Freunden
Die NSA, der BND
und unsere Handys –
wurden wir alle
getäuscht?
Copyright 2017:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Covergestaltung: Holger Schiffelholz
Herstellung und Layout: Daniela Freitag, Johanna Wack
Satz: Bernd Sabat, VBS-Verlagsservice
Lektorat: Claus Rosenkranz, Egbert Neumüller, Elke Sabat
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86470-495-6
eISBN 978-3-86470-496-3
Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Postfach 1449 • 95305 Kulmbach
Tel: 09221-9051-0 • Fax: 09221-9051-4444
E-Mail: buecher@boersenmedien.de
www.plassen.de
www.facebook.com/plassenverlag
Einleitung
1. Edward Snowden – der Mann, der die Welt aufrüttelte
2. Nachrichtendienste im Drohnenkrieg
3. Aus dem Ruder gelaufen? Die NSA und der Traum von der digitalen Totalüberwachung
4. NSA und BND – alles zum Schutz der Bürger?
5. Der BND
6. Das Versagen der NSA-Zeugen und der Streit um Edward Snowden
7. Der NSA-Untersuchungsausschuss – eine Erfolgsstory
8. Wir dürfen nicht stehen bleiben
Endnoten
AUFTRITT ANGELA MERKEL. Es ist der 16. Februar 2017, über der Hauptstadt liegt das erste Mal in diesem Jahr so etwas wie ein Hauch von Frühling. Doch für den blassen Sonnenschein, der schüchtern durch die großen Fenster des Europasaals im Paul-Löbe-Haus lugt, haben die Menschen drinnen keinen Blick. Die Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags sitzen erwartungsfroh auf ihren Plätzen, die Fotografen und Kameraleute balgen sich um den besten Blick auf den Platz, auf dem die Frau in ihrer orangefarbenen Jacke gleich Platz nehmen wird, nachdem sie im Saal die Runde gemacht und viele Hände geschüttelt hat. Die Journalisten und Zuschauer auf der Tribüne oben recken die Hälse, um einen Blick auf die Frau, die das Gedränge dort unten auslöst, werfen zu können. Es ist die 131. Sitzung des Ausschusses und zugleich die letzte. Drei Jahre hat er getagt, drei Jahre haben zahlreiche Zeugen – Minister und Ex-Minister, Experten, BND-Mitarbeiter und andere Personen, die mit den Geheimdiensten zu tun haben – den Abgeordneten Rede und Antwort gestanden. Andere sind nicht gekommen, vor allem der Mann, dem der Ausschuss überhaupt seine Existenz zu verdanken hat: Edward Snowden. Mehr als 2.500 Aktenordner mit Dokumenten haben verschiedene Stellen wie das Kanzleramt, das Justiz- und das Verteidigungsministerium zusammengetragen und dem Ausschuss zur Verfügung gestellt. Das meiste davon ist als geheim „eingestuft“, wie es in der Expertensprache heißt. Einiges, das nicht dafür bestimmt war, ist trotzdem ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, weil Insider Material an Wikileaks durchgestochen haben.
Doch an diesem 16. Februar soll Schluss sein. Zu dieser letzten Sitzung hat sich die prominenteste Zeugin angesagt, um sich von den Ausschussmitgliedern befragen zu lassen: Angela Merkel, die Bundeskanzlerin. Sie ist zugleich Höhe- und Schlusspunkt dieses Untersuchungsausschusses.
Ziel des parlamentarischen Gremiums war es von Anfang an, Licht in den Schatten zu bringen, der über dem Treiben des US-Auslandsgeheimdienstes National Security Agency, kurz NSA, liegt. Diese Aufgabe erweiterte sich im Laufe der Zeit, als immer klarer wurde, dass auch der deutsche Bundesnachrichtendienst BND offenbar so einiges gemacht hat – allein und gemeinsam mit den amerikanischen Partnern –, das dringend aufgeklärt werden sollte. Das Gewicht der Arbeit und das Interesse verschoben sich immer weiter von der NSA zum BND. Die Emotionen kochten von Anfang an hoch. Kein Wunder, immerhin waren die Urteile zum von Edward Snowden aufgedeckten NSA-Skandal echte Superlative – größter Geheimdienstskandal in der Geschichte überhaupt, größtes Verbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Versuch, eine digitale totalitäre Diktatur über das Internet und damit die ganze Welt zu errichten. Und der BND war mittendrin, so schien es.
Zum Schluss nun also die Bundeskanzlerin. Was wusste Angela Merkel vom Gebaren der amerikanischen Partner? Was tat sie dagegen? Wie stellt sich die Geschichte mit ihrem Handy dar, das von der NSA abgehört wurde? Weshalb ihr berühmtes Zitat „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“, wenn doch der eigene Geheimdienst offenbar genau das Gleiche tat? Funktionierte die Kontrolle über den BND oder taten die deutschen Geheimdienstler einfach, was sie wollten? Angela Merkel blieb gelassen und souverän. Als der grüne Abgeordnete Christian Ströbele nach mehreren Stunden des Verhörs zunehmend verzweifelt immer wieder dieselben Fragen stellte, um der Kanzlerin auf irgendeine Art und Weise ein Bein zu stellen, wirkte sie zwar zunehmend gelangweilt, blieb aber bewundernswert ruhig. Am Ende dieses Tages blieb das Ergebnis der Befragung dünn.
Das kann man mit Blick auf die gesamte dreijährige Tätigkeit dieses Ausschusses allerdings nicht behaupten. Die Mitglieder, Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien, brachten bemerkenswerte Erkenntnisse ans Licht – und das, obwohl die Aufgabe nicht lösbar schien. Denn wie viel Licht kann ein achtköpfiges Gremium überhaupt auf die Schattenwelt von global operierenden Geheimdiensten werfen? Welchen echten Erkenntnis-Mehrwert sollte ein Ausschuss des Deutschen Bundestags zu einem der größten Geheimdienstskandale der Geschichte eigentlich beitragen können? Dem medialen Feuersturm um die Enthüllungen von Edward Snowden stand eine denkbar geringe Erwartungshaltung an den Untersuchungsausschuss gegenüber. Immerhin steht mit dem US-amerikanischen Spionagedienst NSA der wohl mächtigste Geheimdienst der Geschichte im Fokus. Bei seiner von allen im Bundestag unterstützten Einsetzung am 20. März 2014 erschien der Untersuchungsausschuss manchem Beobachter als politisches Placebo: Der bloße Eindruck der Aufklärung sei das eigentliche Ziel des Ausschusses, da viel mehr nicht zu erwarten sei. Doch der NSA-Untersuchungsausschuss hat, wie eine große deutsche Tageszeitung fast drei Jahre später feststellte, „Chancen, als einer der erfolgreichsten in die Geschichte des deutschen Parlaments einzugehen“.1 Die Entwicklung eines zunächst belächelten Gremiums hin zu einer Bühne für bis zu vierzehnstündige Verhöre von Nachrichtendienstlern und Regierungsmitgliedern der höchsten Ebenen ist Thema dieses Buches.
Untersuchungsausschüsse werden oft als das schärfste Schwert des Parlaments bezeichnet. Als ganz eigenartiger Zwitter aus gerichtsähnlicher Verhandlungssituation und Parlamentsausschuss stehen ihnen weitreichende Kompetenzen und Instrumente zu, um Behörden, Einzelpersonen und nicht zuletzt die Regierung selbst verhören, befragen und somit kontrollieren zu können. Jedem Untersuchungsausschuss liegt ein Einsetzungsbeschluss des Bundestags zugrunde, der das Aufklärungsinteresse thematisch und zeitlich bestimmt und eingrenzt. Es handelt sich dabei um mehr als ein schnödes Papier oder eine Formalität, sondern um das Herzstück für die Gesamtarbeit des Untersuchungsausschusses. Auslegung und Interpretation des Beschlusses sorgten immer wieder für hitzige Debatten zwischen Parlamentariern und Regierungsmitgliedern. So wurde leidenschaftlich darüber gestritten, welche bohrenden Fragen rund um die vom BND durchgeführte Befragung von Flüchtlingen noch vom Untersuchungsauftrag gedeckt sind und welche den Auftrag des Ausschusses weit überschreiten. Wenn während der Beweisaufnahme Uneinigkeit über Grenzen und Möglichkeiten des Ausschusses bestand, griff das sogenannte „Kopierraum-Verfahren“. Anstatt die Vernehmung für eine Beratungssitzung zu unterbrechen, trafen sich der Vorsitzende und die Obleute, also die Wortführer der Parteien im Ausschuss, im Kopierraum gleich neben dem Ausschussraum, um Streitigkeiten hinsichtlich wichtiger Verfahrensfragen zu klären – einfach, aber effektiv.
Eine besondere Schwierigkeit für den Untersuchungsausschuss bestand darin, dass sich der zu untersuchende Themenkomplex nicht auf rein nationale Vorgänge beschränkt, sondern in ein Dickicht internationaler Zusammenhänge verwoben ist. Innenpolitisch haben parlamentarische Untersuchungsausschüsse eine starke Stellung gegenüber der Bundesregierung, beispielsweise bei der Anforderung von Akten. Außenpolitisch dagegen sind sie schwach – sehr schwach –, denn ein solcher Auskunftsanspruch kann natürlich nicht gegenüber ausländischen Regierungen durchgesetzt werden. Es bestand deshalb stets die Gefahr, dass unvollständige Informationslagen zum Scheitern des Ausschusses führen könnten. Nach der kolossalen Blamage, die Edward Snowden den US-Geheimdiensten beschert hatte, herrschte in Washington große Zurückhaltung bei der Weitergabe von Informationen rund um die Arbeit der Nachrichtendienste.
Auch wenn die NSA eine besonders prominente Rolle im Skandal spielt, bezog sich der Untersuchungsauftrag des Ausschusses klar auf alle Staaten des Spionageverbunds der „Five Eyes“ – neben den Vereinigten Staaten Australien, Neuseeland, Kanada und Großbritannien. Die besondere Brisanz und Komplexität der Aufgabe des Untersuchungsausschusses zeigt sich deshalb auch darin, dass die Überwachungspraktiken der NSA nicht isoliert ausschließlich Deutschland betrafen, sondern bei zahlreichen Staats- und Regierungschefs rund um den Globus Entrüstung auslösten. Der diplomatische Flurschaden für die letzte verbliebene Supermacht USA war enorm – was nicht zuletzt mit dem geflügelten Satz „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“ der Kanzlerin im Oktober 2013 unterstrichen wurde. In Deutschland wissen wir, was eine totale Überwachung der Bevölkerung bedeutet. Das zeigte sich auch darin, dass alle im Bundestag vertretenen Fraktionen für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses stimmten.
Im Kern schlug der Bundestag dem Untersuchungsausschuss einen Dreiklang aus Aufklärung, Analyse und Handlungsempfehlung vor. Denn unabhängig von der Notwendigkeit einer Kritik insbesondere an der Abteilung Technische Aufklärung (TA) des BND steht außer Frage: Nachrichtendienstliche Kooperation ist im Zeitalter von grenzüberschreitenden Gefahren eine unabdingbare Notwendigkeit. Deshalb war der NSA-Untersuchungsausschuss – entgegen der Meinung der Opposition – auch ein BND-Ertüchtigungsausschuss, was in eine grundlegende Reform des deutschen Auslandsnachrichtendienstes als unmittelbare Konsequenz der Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses mündete. Dass die Oppositionsparteien das anders sahen, war bedauerlich und führte zu manchen Disharmonien.
Doch der Einsetzungsbeschluss sah nicht weniger vor, als dass der Untersuchungsausschuss die Erfassung, Speicherung und Nutzung von Daten über Kommunikationsvorgänge, Inhalte und Dateiverarbeitungsvorgänge der „Five Eyes“ aufklärt – eine wahrlich gigantische Aufgabe. Hier machte der Beschluss nicht halt, sondern nahm die Regierung direkt ins Visier der Aufklärung. Hatten Stellen des Bundes, also etwa die Bundesregierung oder der Bundesnachrichtendienst, Kenntnis von diesen Vorgängen oder haben sie gar an ihnen mitgewirkt? Was hat es mit solch nebulösen Begriffen wie PRISM, TEMPORA und XKeyscore auf sich?
Das Parlament in Gänze entscheidet zwar über die Einsetzung und das Thema der Untersuchung. Der Untersuchungsausschuss entscheidet jedoch eigenverantwortlich über die Art und Weise seiner Untersuchung im Rahmen des Gesetzes zur Regelung des Rechtes der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestags (Untersuchungsausschussgesetz – PUAG). Ein zentrales Mittel des Ausschusses hierfür ist die Zeugenbefragung im Rahmen der Beweisaufnahme. Personen, von denen angenommen wird, dass sie zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen könnten, werden förmlich geladen und landen nicht selten im Kreuzverhör des Ausschusses. Zu welchem Zeitpunkt hatten sie zu welchen Inhalten welche Kenntnis? Sofern sie keine Kenntnis hatten, hätten sie diese im Sinne ihrer Dienstvorschriften haben müssen? Agierte die NSA ohne Wissen und Zutun des BND oder arbeiteten beide Hand in Hand? Vom Sachbearbeiter in nachgeordneten Behörden bis zur Bundeskanzlerin vernahm der Untersuchungsausschuss Dutzende Zeugen in oftmals mitternächtlichen Befragungen. Wird ein Zeuge vorgeladen, dann ist die Folgeleistung gegenüber dem Untersuchungsausschuss keine Kür, sondern Pflicht. Erscheint ein Zeuge nicht, kann der Untersuchungsausschuss ein Ordnungsgeld von bis zu 10.000 Euro gegen ihn festsetzen. In letzter Konsequenz kann eine zwangsweise Vorführung des Zeugen angeordnet werden. All das zeigt: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ist kein Papiertiger, sondern hat machtvolle Instrumente, um Mittel und Wege zur Erfüllung seines Auftrags einzufordern.
Untersuchungsausschüsse werden nicht nur aus einem politischen Aufklärungsinteresse des Bundestags heraus eingesetzt, sondern aufgrund eines breiten öffentlichen Interesses der Gesellschaft. Immerhin beschäftigen die zahlreichen offenen Fragen nicht nur eine Handvoll Parlamentarier, sondern das Land als Ganzes. Hat die NSA millionenfachen Grundrechtsbruch auf deutschem Boden begangen? Hat der BND daran wissentlich und willentlich mitgewirkt? Wer bestimmt eigentlich die Kriterien, nach denen sogenannte „Selektoren“ in einen schier unendlichen Datenstrom eingespeist werden, um Informationen gezielt auszuwerfen? Aus diesem gesamtgesellschaftlichen Interesse heraus fanden viele Sitzungen zur Beweisaufnahme – so etwa Zeugenvernehmungen und die Anhörung von Sachverständigen – in Anwesenheit der Öffentlichkeit statt. Auf der Galerie des Europasaals versammelten sich Aktivisten, Medienvertreter und Interessierte, um die Arbeit des Untersuchungsausschusses kritisch zu begleiten. Bei prominenten Zeugen wie der Bundeskanzlerin kam es zu einem regelrechten Ringen um die Besucherplätze, denn das mediale Interesse war größer als die zur Verfügung stehenden Sitzplätze. Da die Berichterstattungsöffentlichkeit ein zentraler Grundsatz in der Arbeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse ist, durften Medienvertreter bei der Platzvergabe privilegiert behandelt werden. Alle sonstigen interessierten Bürger konnten an der Sitzung teilnehmen, solange ausreichend Platz auf der Zuschauertribüne war. In den drei Jahren des Untersuchungsausschusses musste nur eine Dame dauerhaft von der Sitzungsteilnahme ausgeschlossen werden, da sie mit Zwischenrufen regelmäßig störte.
Transparenz und Geheimhaltung sind zwei Pole, die der Untersuchungsausschuss in jeder Beweisaufnahme aufs Neue klug gegeneinander abwägen musste. Ein beträchtlicher Teil der dem Ausschuss zur Verfügung stehenden Dokumente wurde als „Verschlusssache – Vertraulich“, „Geheim“ oder sogar „Streng geheim“ eingestuft. Bestimmte Sachverhalte, zum Beispiel die konkreten Bezeichnungen der vom BND in der gemeinsamen Abhörstation Bad Aibling im Auftrag der NSA eingespeisten Selektoren, waren derart streng geheim, dass sie von den Mitgliedern des Ausschusses und einigen wenigen Mitarbeitern nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen und nur unter Aufsicht eingesehen werden durften. Die Aufklärungsarbeit stand somit vor einem Dilemma. Auf der einen Seite muss die Arbeit des Ausschusses dem Grundsatz der Öffentlichkeit genügen. Auf der anderen Seite kann es berechtigte Gründe geben, dass der Ausschuss in einem abhörsicheren Raum tagt, um ohne Elektronik und unter Ausschluss der Öffentlichkeit in hochvertraulicher Atmosphäre seiner Arbeit nachzukommen. Dieser klassische Zielkonflikt zwischen Transparenz und Geheimhaltung wurde mit einem Novum gelöst: der Einführung des „Sensburg-Verfahrens“ oder „stillen Vorhalts“. Da das Zitieren aus eingestuften Akten in öffentlicher Sitzung strafbar ist, konnten Zeugen während der Anwesenheit des Publikums nur zu einem Teil der dem Ausschuss vorliegenden Informationen befragt werden. Im Ergebnis widersprachen sich einige Zeugen in öffentlicher und eingestufter Sitzung – je nachdem, welche Akten zum jeweiligen Zeitpunkt zitierfähig waren. Mit dem „Sensburg-Verfahren“ konnten den Zeugen eingestufte Akten „still“ vorgelegt und jene zu ihnen befragt werden, ohne dass aus dem konkreten Text vorgelesen wurde. Der Untersuchungsausschuss bewegte sich in einer Grauzone und auf unbekanntem Terrain, denn das Frage- und Antwortverhalten geriet mehr als einmal in Gefahr, den Grundsatz der Geheimhaltung doch zu verletzten. Im Ergebnis zeigt die Praxis des „Sensburg-Verfahrens“, dass der Grad an Transparenz im NSA-Untersuchungsausschuss sehr viel höher war, als die übergroße Anzahl an Kommentatoren ursprünglich vermutet hatte.
Untersuchungsausschüsse können auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit operieren, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich von Zeugen oder Dritten zur Sprache kommen, eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit von einzelnen Zeugen droht, ein Geschäftsgeheimnis gefährdet wird oder besondere Gründe des Wohls des Bundes oder eines Landes entgegenstehen. Dies gilt speziell auch für den Fall, dass die Sicherheit der Bundesrepublik und der Status ihrer Beziehungen zu anderen Staaten gefährdet sind.
Neben der Zeugenbefragung ist das Verlangen nach der Herausgabe von Aktenbeständen ein ebenso konsequentes Instrument, um tief greifende parlamentarische Kontroll- und Aufklärungsarbeit zu leisten. Immerhin hat der Untersuchungsausschuss im Laufe seiner Arbeit die erstaunliche Zahl von über 2.500 Aktenordnern in seinem Sekretariat gesichtet, analysiert und aufgeklärt. Die Auswahl der vorgelegten Akten erfolgt zwar in Eigenverantwortung der Regierung. Jedoch kann die Bundesregierung nicht einfach selbst entscheiden, welche Akten und wie viel Material sie den Abgeordneten des Ausschusses vorlegt. Sie hat an dieser Stelle eine Pflicht und Bringschuld gegenüber den Parlamentariern. Der Ausschuss fordert sein Recht auf Kontrolle ein und tritt nicht als Bittsteller auf. Dieser Grundsatz entspricht nicht nur dem Selbstbewusstsein eines Parlaments im demokratischen Rechtsstaat, sondern ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Regierung etwa bei einer sogenannten Missstandsenquete selbst Teil der Untersuchung sein kann. Schließlich wäre es abstrus, wenn jene Stelle, über die aufgeklärt werden soll, selbst über zum Zwecke ihrer Aufklärung angeforderte Akten entscheiden würde.
Jedoch kennt auch dieser Grundsatz seine Grenzen. Sofern das Staatswohl, der sogenannte Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Bundesregierung (arcanum) oder individuell schützenswerte Rechte privater Personen betroffen sind, versiegt das Recht des Untersuchungsausschusses auf Aktenvorlage. Nur bereits abgeschlossene Vorgänge dürfen dem Untersuchungsausschuss vorgelegt werden, um das operative Regierungshandeln – etwa eine geheimdienstliche Aktion – nicht zu gefährden. Ein entsprechender Hinweis der Bundesregierung auf ihren Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung genügt; ein Beweis muss nicht geführt werden. Er kann aber gerichtlich überprüft werden. Ganz anders sieht es aus, wenn abgeschlossene Vorgänge von der Bundesregierung als Staatswohl deklariert werden. Hier folgt die Umkehr der Begründungs- und Darlegungspflicht: Die Bundesregierung muss glaubhaft und konkret zeigen, dass die Offenlegung eines Sachverhalts gegenüber dem Parlament das Potenzial zur Gefährdung des Staatswohls birgt.
Dem Ausschussvorsitzenden kommt eine zentrale Koordinationsfunktion zu. Er trifft die Vorbereitungen, kümmert sich um die Einberufungen und Leitungen von Ausschusssitzungen und ist für die Durchführung der Beschlüsse verantwortlich. Er ist zu neutraler und unparteiischer Verhandlungsführung verpflichtet, genießt beinahe uneingeschränktes Rederecht und übt eine Eilkompetenz bei der Einstufung des Geheimhaltungsgrads von Unterlagen aus. Auf dem Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses lastet regelmäßig eine besondere Last, die er durch Ruhe und Beständigkeit ausgleichen kann. Bei den zahlreichen personellen Wechseln im NSA-Untersuchungsausschuss wurde der Vorsitzende einmal als „last man standing“ bezeichnet.
Nach Ende der Beweisaufnahme ist der Untersuchungsausschuss verpflichtet, dem Parlament einen Abschlussbericht vorzulegen. Jahrelange Arbeit, unzählige Dokumente und viele Stunden Vernehmung müssen in ein Dokument gegossen werden, das Behauptungen von Tatsachen, Meinungen von Fakten und Fiktion von Realität scheidet. Einige Behauptungen, etwa dass monatlich 500 Millionen Datensätze von deutschen Bürgern abgegriffen werden, wurden bereits entkräftet. Andere Behauptungen, etwa dass es im BND eklatant an Vorgaben und Richtlinien zur Handhabung der technischen Fernmeldeaufklärung mangelte, sind bestätigt. Einige Behauptungen, etwa dass Edward Snowden faktisch als Spion für Russland diente, bleiben Vermutung. In einer hypervernetzten Welt, in der Gefahren in Simultanzeit grenzüberschreitend Land und Bürgern drohen, sind Geheimdienste wichtiger denn je. Sie sollen Licht in eine immer komplexere Welt bringen. Doch wo viel Licht, da viel Schatten. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, Trennlinien in der nachrichtendienstlichen Welt des Geheimen und Verschwommenen zu ziehen.
HELD ODER VERRÄTER? Auch vier Jahre nach den Enthüllungen über die Machenschaften der NSA durch Edward Snowden gehen die Meinungen über den berühmtesten Whistleblower der Welt weiterhin stark auseinander. Hat er der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, als er die Überwachungsmachenschaften der NSA und ihrer Partnerdienste enthüllte? Oder hat er den amerikanischen und auch unseren deutschen Sicherheitsinteressen nicht vielmehr Schaden zugefügt, indem er 1,5 Millionen geheime Dokumente stahl? Eine Annäherung an diesen Mann scheint schwierig, weil er mit seinem Handeln offenbar viele Menschen zu einer klaren Beurteilung provoziert: gut oder böse. Dazwischen scheint es nichts zu geben. In Deutschlands veröffentlichter Meinung herrscht eindeutig die Helden-Sicht vor (in den angelsächsischen Ländern stellt sich die Sache differenzierter dar). In der Diskussion über die Frage, ob der deutsche Bundesnachrichtendienst ein willfähriger Helfershelfer der amerikanischen Geheimdienstkrake war beziehungsweise ist oder ob deutsche Zulieferdienste unerlässlich sind, um unsere eigenen Sicherheitsinteressen zu wahren, scheinen sich viele auch von ihrem Blickwinkel auf Edward Snowden leiten zu lassen. Wer ihn kritiklos als Held sieht, traut den deutschen Schlapphüten alles zu. Wer ihn ausnahmslos kritisch sieht, neigt leicht dazu, dem BND alles zu verzeihen, was vielleicht schiefgelaufen ist.
Edward Snowden steht noch immer ganz oben auf der Liste der Personen, die die amerikanischen Behörden unbedingt in ihre Gewalt bringen wollen. Noch immer ist er in ihren Augen Staatsfeind Nummer 1, der Mann, der die mächtigste Geheimdienstmaschinerie der Welt bloßstellte und den Sicherheitsinteressen der USA massiv schadete. Der Mann, der die Supermacht USA bis aufs Blut reizte. Die Empörung über den unscheinbaren jungen Mann, der Amerikas Geheimdienste als geheime Macht darstellte, die „das Internet beherrschen“ wolle, und zwar weltweit, hat sich nicht gelegt. Er wolle Edward Snowden am liebsten „an einer großen Eiche baumeln“ sehen, so John Bolton, der frühere US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, kurz nach den Enthüllungen 2013 im Fernsehsender Fox News.1 James Woolsey, der ehemalige Direktor der CIA, forderte an gleicher Stelle, Snowden wegen Hochverrats zu verurteilen und „aufzuhängen“.2
Im NSA-Untersuchungsausschuss kam Snowden bei verschiedenen Zeugen gar nicht gut weg. Robert M. Lee, ein ehemaliger NSA-Mitarbeiter monierte, dass Snowden viele der von ihm veröffentlichten Dokumente nie selbst gesehen und auch gar nicht verstanden habe. Lee vertrat die Ansicht, dass einige der von Snowden veröffentlichten Power-Point-Darstellungen erklärungsbedürftig seien. Er wies in diesem Zusammenhang auf ein Manko der NSA hin: dass sie als Geheimdienst nicht öffentlich Stellung nehmen könne. Snow-dens Enthüllungen hätten innerhalb der NSA zu Misstrauen geführt – mit der Folge, dass Mitarbeiter den Dienst verlassen hätten. Ein Geheimdienstexperte, James A. Lewis vom Strategic-Technologieprogramm war sauer auf Snowden, weil seine Enthüllungen dazu geführt hätten, dass sich die USA nun dafür rechtfertigen müssten, dass sie das Gleiche täten wie andere Staaten auch – nur dass sie darin eben besser seien. Den von der NSA selbst auch erhobenen Vorwurf, dass Snowden seine Ziele auch auf anderem Wege hätten erreichen können, erhob auch der Stellvertretende Direktor der New America’s Cybersecurity Initiative, Ian Wallace. Auch zeigte er sich besorgt, dass Snowdens Enthüllungen sehr nützlich für Russland, China und den „Islamischen Staat“ seien.
Dass die Empörung, die Wut, lebt, zeigt ein Bericht über Snowdens Aktivitäten, den eine Kommission des „United States House Permanent Select Committee on Intelligence“ (HPSCI) – des Geheimdienstausschusses des amerikanischen Repräsentantenhauses – im September 2016 an seine Auftraggeber weiterleitete.3 Drei Jahre hatten die Ermittler alles zusammengetragen, was sie über Snowden und den Schaden, den er aus offizieller Sicht angerichtet hatte, in Erfahrung bringen konnten. Nachdem das tatsächliche Ausmaß klargeworden war, legte sich die Wut nicht. Der Wunsch, Snowden für das, was er getan hat, zur Rechenschaft zu ziehen, ist so lebendig wie kurz nach dem Bekanntwerden der Enthüllungen. Die Verfasser mussten sich in diesem offiziellen Dokument naturgemäß einer zurückhaltenderen Sprache bedienen. Aber ihre Aussage war letztlich eindeutig und unmissverständlich: „Das Komitee erwartet hoffnungsvoll, dass Snowden in die USA zurückkehrt, um vor die Justiz gestellt zu werden.“ Das Ergebnis eines solchen Prozesses steht für eingefleischte Geheimdienstler außer Frage: eine Verurteilung zu einer sehr langen Haftstrafe … mindestens.
Edward Snowden, der als Auslöser des größten Geheimdienstskandals der Geschichte weltberühmt wurde, ist also nicht sehr beliebt bei den Diensten in den USA und einem Teil von Politik und Öffentlichkeit. Nach einer ersten weit verbreiteten Begeisterung für den Whistleblower aus Elizabeth City im US-Bundesstaat North Carolina wurde die amerikanische Bevölkerung alsbald deutlich kritischer in ihrer Beurteilung seiner Handlungen – vor allem nachdem Snowden ausgerechnet im Russland Wladimir Putins, des einstigen KGB-Manns, Asyl beantragt und auch gewährt bekommen hatte. In einer Umfrage von Washington Post und ABC News waren Ende November 2013, also drei Monate, nachdem Präsident Putin großmütig seine schützende Hand über den vor der eigenen Regierung geflüchteten US-Amerikaner gehalten hatte, 60 Prozent der Meinung, Snowdens Enthüllungen würden die Sicherheit der USA gefährden. 52 Prozent der Befragten forderten, dass er wegen eines Verbrechens angeklagt werden solle, und 55 Prozent waren der Meinung, dass seine Handlungsweise falsch gewesen sei. So dankbar waren viele Amerikaner ihrem Landsmann also nicht, wie er gehofft hatte. Das Schlimmste für ihn wäre es, wenn eines Tages die Menschen einfach vergessen hätten, was er über die Machenschaften der Geheimdienste enthüllt habe, erklärte Snowden in seinen Interviews kurz nach seiner Flucht aus den USA. Wie würde er sich eigentlich fühlen, wenn viele Menschen seine Handlungen sogar ablehnen würden?
Dabei hat der Mann natürlich auch Befürworter, die toll finden, was er getan hat, aufklärerisch, aufrüttelnd, unbedingt notwendig. Ein Kleiner hatte sich mit den ganz Großen angelegt, er hatte Mut bewiesen, vielleicht sein Leben riskiert für die Sache der Freiheit. Und er hatte gezeigt, dass ein Einzelner ein ganzes System, zumal den mächtigsten Staat der Welt, herausfordern konnte. Zu seinen Anhängern gehören viele Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller innerhalb der USA und außerhalb, vor allem in Deutschland.
Auch viele Politiker stimmten in diesen Chor ein. Der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele wollte ihm sogar den Friedensnobelpreis verleihen. Auch US-Präsident Barack Obama, selbst Träger dieses Preises, hatte im Wahlkampf 2008 seine grundsätzliche Bewunderung für Whistle-blower kundgetan. Es passte ja auch gut ins Bild des neuen, offenen und vermeintlich transparenten Regierungsstils, den der „Yes We Can“-Präsident leben wollte. Nur eines tat er nicht – dem in Bedrängnis geratenen Snowden helfen, ihm Straffreiheit gewähren und eine Rückkehr in seine Heimat erlauben. Es gab und gibt tatsächlich Snowden-Anhänger, die darauf hoffen, dass das eines Tages passieren wird. Aber das wäre wohl zu viel verlangt. Immerhin hatte dieser bis dahin völlig unbekannte und unscheinbare junge Mann nicht nur Obamas wichtigsten Geheimdienst nachhaltig und weltweit diskreditiert. Er hatte möglicherweise auch bewusst oder unbewusst dafür gesorgt, dass gegnerische Geheimdienste wie die chinesischen und russischen in den Besitz wichtiger geheimer Dokumente gelangten, die für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika von größter Bedeutung sind.
Was wir als staunende Öffentlichkeit heute über Edward Snowden zu wissen glauben, basiert zum allergrößten Teil auf seinen eigenen Angaben. Journalisten haben dafür gesorgt, dass dieses Bild, das Snowden von sich zeichnet, publik wurde. Autoren, die sich eingehender mit Snowden beschäftigt haben, zum Beispiel in Buchform, gelten als anerkannte investigative Journalisten, die im Normalfall alles hinterfragen und zweimal prüfen, bevor sie es publik machen. Umso mehr erstaunt, dass ein Teil dieser Journalisten bei ihren Recherchen zu Snowden weitgehend auf dieses kritische und doppelt abgesicherte Vorgehen verzichtet haben. Die Angaben, die er machte, übernahmen sie oftmals eins zu eins. Sie meldeten keine oder nur sehr selten Zweifel an und hinterfragten seine Aussagen nicht. Edward Snowden scheint für sie die Glaubwürdigkeit in Person zu sein.
Die weitgehende Distanzlosigkeit ihm gegenüber, die gerade solche Journalisten und Autoren an den Tag legen, die für sich in Anspruch nehmen, besonders kritisch zu sein, erschreckt. Immerhin hatte der Mann eine gehörige Portion Chuzpe an den Tag gelegt, als er zur Tat geschritten war und eine riesige und mächtige Geheimdienstbehörde übertölpelt hatte. Konnte man wirklich ausschließen, dass er nun, als es darum ging, das „richtige“ Bild seiner selbst und seiner Tat in der Weltöffentlichkeit zu verbreiten, auf Verdrehungen, vielleicht Lügen, verzichtete? Musste man gerade als kritischer Journalist nicht darauf achten, sich nicht gemein zu machen mit ihm, sondern Abstand zu wahren? Wie hatte es einst Hanns Joachim Friedrichs, ein Doyen des deutschen Fernsehjournalismus, so schön formuliert: Ein Journalist muss immer dabei sein, aber nie dazugehören. Diesen Grundsatz haben Journalisten, die sich mit Snowden beschäftigen, nicht selten verletzt.
Ein besonders eklatantes Beispiel dafür, wie leichtgläubig Journalisten mit Snowden umgehen, steht ganz am Anfang der Enthüllungen. Der in Brasilien lebende US-Journalist Glenn Greenwald, der gemeinsam mit der amerikanischen Filmemacherin Laura Poitras der Erste war, der Einblick in Snowdens Material bekam, beschreibt es selbst in seinem Buch „Die globale Überwachung“. Snowden hatte sich im Dezember 2012 zuerst an ihn, dann wenige Wochen später an Poitras gewandt. Nachdem er die ersten beiden anonym verschickten E-Mails Snowdens, in denen dieser ansatzweise davon berichtete, worum es ihm ging, gelesen hatte, sei ihm sofort klar gewesen, dass sie echt seien und der ihm zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannte Absender kein Betrüger sei.
Wie kam Greenwald zu diesem raschen, aber endgültigen und weitreichenden Urteil? Er könne es nicht erklären, aber er habe einfach intuitiv gespürt, dass es dem Absender ernst sei und dass er wirklich derjenige sei, als der er sich ausgab. Rational betrachtet sei ihm durchaus klar gewesen, dass dieses Vertrauen vielleicht fehl am Platze war. Doch was zählte schon Vernunft? „Diese E-Mails strahlten etwas Nichtgreifbares, aber Energisches aus, was uns davon überzeugte, dass ihr Urheber es ehrlich meinte. Er schrieb aus einer tief empfundenen Haltung heraus, die seine Besorgnis gegenüber geheimdienstlichem Treiben und zunehmender Überwachung erkennen ließ. Intuitiv spürte ich, welche politische Leidenschaft in ihm brannte; ich fühlte mich ihm verwandt in seiner Weltsicht und der Dringlichkeit seines Anliegens.“
Dabei ist Greenwald natürlich nicht vorzuwerfen, dass er dieser Spur nachging. Ein Journalist, der das nicht getan hätte, wäre dumm. Aber er beschreibt an dieser Stelle seines Buches, wie er Regeln und Vorsichtsmaßnahmen des investigativen Journalismus ignorierte, nachdem der erste anonyme Kontakt mit Snowden hergestellt war. Er glaubte dem Absender, den er überhaupt nicht kannte, weil er ihm glauben wollte. Greenwald hatte sich seit Jahren sehr kritisch mit der Thematik der Geheimdienstüberwachung beschäftigt, zumeist ohne NSA und Co wirklich Verstöße nachweisen zu können. Nun legte ihm ein Unbekannter offenbar solche Nachweise auf dem silbernen Tablett vor – sollte er da nicht begeistert zugreifen?
Man muss freilich Greenwalds Auffassung von Journalismus kennen, um ihn wirklich richtig einschätzen zu können. Dass Journalisten ihre eigenen Meinungen zugunsten einer objektiven Berichterstattung zurückstellen, hält er für eine schädliche Gewohnheit, die zu manch „abscheulichem Journalismus“ geführt habe. Dazu gehöre beispielsweise, Ansichten, die wahr sind, mit solchen, die unwahr sind, gleichzusetzen. Was „wahr“ und was „unwahr“ ist, bestimmt dann allerdings der Journalist – und zwar ganz subjektiv. Das Problem bei dieser Art von „Journalismus“ ist, dass es sehr schwer ist, sich von einer Ansicht, die man einmal vertreten hat, wieder zu verabschieden – selbst wenn sie sich als falsch erwiesen hat. Man bleibt bei seiner Meinung, was sich zwangsläufig negativ auf die eigene Berichterstattung auswirkt. Fakten, die nicht passen, fallen unter den Tisch oder werden so zurechtgebogen, dass sie passen. Schließlich geht es diesem „Journalismus“ nicht darum, aufzuklären, sondern die eigene Meinung zu untermauern. Sicher ist Greenwald ein extremes Beispiel für diese Art von „Journalismus“. Aber seien wir ehrlich: Derartige Tendenzen haben sich im Journalismus – gerade im deutschen – längst ausgebreitet. Man sollte im Hinterkopf haben, dass die Berichterstattung in Teilen der Medien durchaus von vorgefassten Meinungen geleitet ist, wenn man sich mit dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags befasst.
Doch wer nicht so leichtgläubig oder eben interessengeleitet ist und alles glaubt oder glauben will, was Snowden in den Wochen und Monaten nach seiner Flucht der Öffentlichkeit auftischte, wer Kritik an ihm wagt, gilt seinen zahlreichen Anhängern in Politik, Medien und Netzgemeinde schnell als Verschwörungstheoretiker. Es ist natürlich nicht alles falsch, was Snowden über sich, seinen Weg und seine Motive verbreitete. Aber sehr wahrscheinlich stimmen einige seiner Behauptungen nicht mit der Wahrheit überein. Es gibt zumindest eine Institution, die das behauptet: die NSA beziehungsweise die United States Intelligence Community (IC), der Zusammenschluss von 17 US-amerikanischen Geheimdiensten. Sie erstellte im September 2016 einen Bericht mit eigenen Erkenntnissen zu Snowden.4
Zur IC gehören unter anderem das Office of the Director of National Intelligence, die Behörde des Leiters der übrigen 16 Nachrichtendienste; dazu die Central Intelligence Agency (CIA), die Defense Intelligence Agency (DIA), die dem Verteidigungsministerium angeschlossen ist, das United States Intelligence Corps der US-Armee, das Federal Bureau of Investigations (FBI) und natürlich die National Security Agency (NSA). Die IC wurde 1981 von dem damaligen Präsidenten Ronald Reagan zum Zwecke einer besseren Zusammenarbeit und Koordinierung der Aktivitäten gegründet. In ihrem Bericht betonen die Ermittler, dass sie bei ihren Recherchen keine Personen befragt hätten, die vom US-Justizministerium ausgewählt werden könnten, um in einem eventuellen Gerichtsverfahren gegen Snowden auszusagen. Ebenso seien sie vorsichtig darauf bedacht gewesen, keine kriminalistischen Ermittlungen zu stören. Befragt worden seien nur solche Personen, die Berichte mit Interviews mit Snowdens Kollegen gelesen und bewertet hätten. Der Bericht kommt auf 36 Seiten, von denen allerdings nur vier öffentlich zugänglich sind.5
Dieser Bericht für den Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses war der offizielle Versuch der US-Geheimdienstbehörden, herauszubekommen, welchen Hintergrund Edward Snowden hat, was ihn zu seiner Tat veranlasst hatte, wie es ihm gelungen war, die riesige Zahl von rund 1,5 Millionen Geheimdienstdokumenten aus dem System der NSA zu stehlen, und was genau er eigentlich hatte mitgehen lassen. Der Ausschuss war im August 2014, 14 Monate nachdem Snowden von einem Hotelzimmer in Hongkong aus mithilfe dreier Journalisten erstmals Dokumente veröffentlicht hatte, eingesetzt worden. Seine Mitglieder waren Mitarbeiter verschiedener US-Geheimdienste, die in der IC zusammengeschlossen sind.