Pellegrina

PELLEGRINA

EINE ITALIENISCHE
RADSPORTWALLFAHRT

Ein Buch von
Lidewey van Noord ◊ Robert Jan van Noort

Aus dem Niederländischen von Ilja Braun

»I am certain of nothing but of the holiness of the Heart’s affection and the truth of imagination.«

John Keats in einem Brief an seinen Freund Benjamin Bailey, 22. November 1817.

VORWORT

Willkommen in der Welt der pellegrina, der Pilgerin. Willkommen in der Welt der leidenschaftlichen Liebe zum Radsport, die Lidewey van Noord und Robert Jan van Noort miteinander teilen. Willkommen in der wundersamen Welt der Italiener und des Radrennsports!

Pellegrina ist nicht einfach irgendein Buch. Es ist eine Suche nach einer Mentalität, eine Analyse der charakteristischen Eigenheiten eines Landes und eine leidenschaftliche Liebeserklärung, alles zugleich. Es ist eine Reise in das Italien, wie es sich in seinem ciclismo widergespiegelt.

Pellegrina ist ein Projekt von Lidewey van Noord und Robert Jan van Noort. Gemeinsam haben sie die Wallfahrtsorte ausgesucht, die sie bereisen wollten, und gemeinsam haben sie nach den interessantesten Geschichten und den besten Bildern gesucht. Das Ergebnis ist dieses ganz besondere Buch, in dem die gemeinsame Liebe der beiden zum Radsport seine Entsprechung gefunden hat. So viel Leidenschaft passte in diesem Fall nicht zwischen die Deckel eines Taschenbuchs.

Lidewey van Noord ist als Radsportpilgerin durch Italien gezogen und hat dabei immer nach der Verbindung zwischen dem Land, seinen Einwohnern und dem Radsport gesucht. Sie kennt sich gut aus mit Italien, sehr gut sogar, denn sie hat dort gelebt. Und erst recht mit Radrennen, sie ist beim Radsport-Quiz schlichtweg unbesiegbar. Aber was noch viel wichtiger ist: Sie ist von Italien und seinem Radsport zutiefst fasziniert. Und das ist noch einmal etwas ganz anderes als bloßes Wissen: Wissen ist kalt, Faszination ist warm. Wissen hat man im Kopf, Faszination trägt man im Herzen.

Robert Jan van Noort hat den Geschichten seiner Kollegin mit Bildern eine weitere Dimension hinzugefügt, ihnen einen Kontext gegeben. Er hat schon viele Bücher gestaltet, aber in diesem zeigt sich sein fachliches Können auf einem neuen Höhepunkt. Das Buch ist eine Ode an Italien und seine Radrennen, an die Schönheit, aber auch an die Wehmut, die sich hinter ihr verbirgt. Auch Robert Jan van Noort ist mit Italien und dem italienischen Radsport seit langem verwachsen. Zusammen mit dem Musiker Johannes Sigmond (»Blaudzun«) widmete er bereits einmal fünf Jahre seines Lebens einer filmischen Hommage an die Lombardei-Rundfahrt.

Italien hat zwei Gesichter. Diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Buch. Besonders deutlich wird es in dem Kapitel über Daniele Bennati, einen Fahrer aus der Gegend von Arezzo, einer Stadt, die Lidewey van Noord zufolge eine der schönsten Italiens ist – so wie Bennati einer der schönsten Männer Italiens ist, wenn wir der Autorin glauben dürfen. Und doch handelt das Kapitel weder von der Schönheit Arezzos (so gern man nach der Lektüre auch hinfahren würde) noch von der körperlichen Anziehungskraft Bennatis (obschon man bei der Lektüre in Versuchung gerät, Fotos von ihm zu googeln). Nichts von alledem, sondern es ist eine von eigener Erfahrung geprägte Betrachtung des großen Themas, das Italien ausmacht und das sich in Filmen wie La dolce vita und La grande bellezza wiederfindet, aber auch in den Romanen von Bassani, Pavese und Calvino oder in den Theaterstücken von Dario Fo: das Traurige und Tragische, das sich hinter der Schönheit und der Leichtigkeit des Lebens verbirgt.

Ich kann keines der Kapitel in diesem Buch lesen, ohne gerührt zu sein. Ich war gerührt, als ich über das große Talent Michela Fanini und ihren Vater gelesen habe, darüber, wie er seiner Tochter zärtlich über den Rücken streicht – zumindest über den Rücken einer Steinskulptur, die ihre Züge trägt, denn sie selbst ist 1994 ums Leben gekommen. Aber ich war auch gerührt, als ich über die Begegnung mit Eddy Mazzoleni las, den wir sonst vor allem im Zusammenhang mit einem Dopingskandal kennen. Noch nie hat mir jemand den italienischen Hang zur Anarchie so gut erklärt, wie er es gegenüber der Autorin getan hat: Regeln sind in Italien eigentlich nur dazu da, dass man gegen sie verstößt. Und ich war gerührt von Marzio Bruseghin und seinen Eseln, ebenso wie von Marco Pinotti und seiner Liebe zu seinem Heimatdorf Osio Sotto. Und natürlich von dem fantastischen Bericht über Marco Pantani und Cesenatico, in dem der desillusionierende Satz vorkommt: »Körperlicher Verfall, Depression, Sucht und Abhängigkeit sind Dinge, über die man im Land der Schönheit und der dolce vita nicht gern spricht.«

Und bei der Lektüre ist mir plötzlich auch klargeworden, warum die Lombardei-Rundfahrt ein schöneres Rennen ist als Mailand–Sanremo. Die Wehmut des Herbstes passt viel besser zu Italien als die Fröhlichkeit des Frühlings. Dieses Rennen der fallenden Blätter ist, so Van Noord, »die treffendste Ode an den Herbst, welche die Menschheit je hervorgebracht hat – obschon To Autumn von John Keats auch durchaus ein netter Versuch war.« Das vorliegende Buch enthält zahllose solcher großartigen Sätze.

Pellegrina ist weit davon entfernt, den italienischen Radsport oder Italien als solches idealisieren zu wollen. Und doch: Wer das Land bereits kennt, wird es nach der Lektüre noch mehr mögen. Und wer es noch nicht kennt, wird es kennenlernen wollen.

Pellegrina feiert die leidenschaftliche Liebesbeziehung der Italiener zum Radsport, es zeigt die bedingungslose Liebe zu la corsa und den campionissimi, es zelebriert den ewig währenden Traum vom Fahrrad.

Herzlich willkommen in diesem wundervollen Buch.

Bert Wagendorp, Chefredakteur des Radsportmagazins De Muur

INHALT

EINLEITUNG

INDUNO OLONA ◊ LOMBARDEI

Geburtsort von Luigi Ganna (1883–1957), Maurer und Gewinner des ersten Giro d’Italia 1909.

PEONIS ◊ FRIAUL-JULISCH VENETIEN

… wo Ottavio Bottecchia (1894–1927) am 15. Juni 1927 tot aufgefunden wurde, am Straßenrand seiner bevorzugten Trainingsstrecke.

CITTIGLIO ◊ LOMBARDEI

Geburts- und Sterbeort von Alfredo Binda (1902–1986), fünffacher Gewinner des Giro d’Italia und dreifacher Weltmeister.

PONTE A EMA ◊ TOSKANA

Geburtsort von Gino Bartali (1914–2000), der während des Zweiten Weltkriegs per Fahrrad Dokumente zu Klöstern in Assisi schmuggelte.

CASTELLANIA ◊ PIEMONT

Geburtsort von Fausto Coppi (1919–1960), einem der größten Radrennfahrer aller Zeiten.

TREVISO ◊ VENETIEN

… wo Giovanni Pinarello (1922–2014), der beim Giro von 1951 Letzter wurde, eine Fahrradmarke entwickelte, mit der er doch noch zur Nummer eins wurde.

BARBERINO DI MUGELLO ◊ TOSKANA

Geburtsort von Gastone Nencini (1930–1980), Giro-Sieger, Tour-Sieger, Kunstmaler und Kettenraucher.

MURO DI SORMANO ◊ LOMBARDEI

Ein brutal steiler Anstieg, der sogar Ercole Baldini (1933) ziemlich zu schaffen machte.

SEDRINA ◊ LOMBARDEI

Geburtsort von Felice Gimondi (1942), dreimaliger Giro-Gewinner, zugleich Sieger der Tour de France, der Vuelta a España und Weltmeister.

PALÙ DI GIOVO ◊ TRENTINO

Heimat von Weinbau- und Radsportgrößen wie Francesco Moser (1951) und Gilberto Simoni (1971).

TRADATE ◊ LOMBARDEI

Wohnort von Claudio Chiappucci (1963), der beim Giro d’Italia und der Tour de France drei Mal aufs Podium fuhr, sich den Ruhm jedoch mit seiner Mutter teilen musste.

VERONA ◊ VENETIEN

… wo diverse fiktive Persönlichkeiten gelebt haben sollen und Eros Poli (1963) nach seiner Profikarriere eine Bar eröffnete.

LUCCA ◊ TOSKANA

… wo Mario Cipollini (1967) an Sommertagen mit nacktem Oberkörper und hochgekrempelten Hosen über die Stadtmauer radelt.

CESENATICO ◊ EMILIA-ROMAGNA

Geburtsort des (un)umstrittenen Radsportgottes Marco Pantani (1970–2004).

MAGREGLIO ◊ LOMBARDEI

… wo sich das Heiligtum des italienischen Radsports befindet, voll mit Rädern und Trikots, und wo vor allem das Rad von Fabio Casartelli (1970–1995) einen Ehrenplatz bekommen hat.

CURNO ◊ LOMBARDEI

… wo Eddy Mazzoleni (1973) das Ristorante Casanova führt.

SEGROMIGNO IN PIANO ◊ TOSKANA

… wo sich das Grab von Supertalent Michela Fanini (1973–1994) befindet, die einige Monate nach ihrem Sieg beim Giro Donne verunglückte.

PIADERA DI VITTORIO VENETO ◊ VENETIEN

… wo Marzio Bruseghin (1974) Prosecco-Trauben anbaut und dreißig Esel hält.

SPOLTORE ◊ ABRUZZEN

Geburtsort von Danilo Di Luca (1976), dem ersten Giro-Sieger aus dem Süden.

OSIO SOTTO ◊ LOMBARDEI

Geburtsort von Marco Pinotti (1976), dem »Professor« des italienischen Radsports.

CASSANO MAGNAGO ◊ LOMBARDEI

Wohnort von Ivan Basso (1977), zweimaliger Giro-Sieger, Vater von vier Kindern und Heidelbeerzüchter in spe.

ROM ◊ LATIUM

… wo der Russe Denis Mentschow (1978) in Sichtweite des Kolosseums stürzte.

NEAPEL ◊ KAMPANIEN

Geburtsstadt zweier wahrscheinlich zu Recht vergessener Radrennfahrer: Salvatore Commesso (1975) und Salvatore Scamardella (1979).

CASTIGLION FIORENTINO ◊ TOSKANA

… wo es sehr viel Schönes gibt, zum Beispiel Daniele Bennati (1980).

TUALIS ◊ FRIAUL-JULISCH VENETIEN

Das anmutige kleine Dorf, um das Alberto Contador (1982) beim Giro d’Italia 2011 einen Bogen machte.

MESSINA ◊ SIZILIEN

Geburtsort von Vincenzo Nibali (1984), Gewinner eines Giro, einer Vuelta und einer Tour.

PASSO DEL BOCCO ◊ LIGURIEN

Der Apenninenpass, der für Wouter Weylandt (1984–2011) zum Schicksalspass wurde.

QUELLENVERZEICHNIS

BILDNACHWEIS

DANKSAGUNG

EINLEITUNG

An einem Dienstagmorgen im September 2014 laufe ich zu Fuß von Gallarate nach Cassano Magnago, zum Haus von Ivan Basso. Es ist warm und stickig. Der Weg steigt leicht an, nach fünfhundert Metern ziehe ich meinen Pullover aus. Ein paar Kilometer weiter steht mitten auf dem Fußweg ein Schild: CASSANO MAGNAGO. Ich gehe durch entzückende kleine Gassen und Tore, vorbei an Bögen, die unvermutet weite Ausblicke gewähren, an hellgelben Mauern, von denen der Putz abbröckelt. Ergraute kleine Männer schlurfen durch die Straßen, eine Friseurin steht im Eingang zu ihrem Salon und raucht eine Zigarette. Immer, wenn ich einen Radfahrer kommen höre, blicke ich auf. Nie ist es Basso.

Es ist der erste Tag meiner Radsportwallfahrt durch Italien, und während meiner Wanderung kommt mir plötzlich eine Frage in den Sinn, die so grundsätzlich ist, dass ich gar nicht begreife, warum ich sie mir nicht schon viel früher gestellt habe. Warum laufe ich vier Kilometer zu irgendeinem verfallenen Dorf in Norditalien, um ein Haus von jemandem zu finden, den ich gar nicht persönlich kenne? Hoffe ich etwa darauf, dass Basso dort im Garten steht und den Rasen mäht oder in der Einfahrt an seinem Fahrrad herumschraubt? Dass er mich kommen sieht und mir zuruft: »Hallo, ich bin Ivan Basso, der Radrennfahrer, sollen wir zusammen Mittag essen gehen?« Ich habe mal ein Jahr lang in Rom studiert und in dieser Zeit immer wieder das Grab des englischen Dichters John Keats besucht. Damals war ich weniger verlegen, als ich es heute bin, auf dem Weg zum Haus von Basso. Aber wonach war ich damals eigentlich auf der Suche?

Sie werden »Pilger« genannt, die Fans, die ihren Idolen hinterherreisen. Ein Wort, das nicht nur auf den quasi-religiösen Charakter solcher Reisen verweist, sondern auch etwas über den emotionalen Wert einer solchen Unternehmung für den Einzelnen aussagt. Immer spielt die Erwartung eine Rolle, dass der Besuch eines solchen magischen Orts etwas bewirken wird, dass die Reise vielleicht sogar den Pilger selbst verändern wird. Tatsächlich bewirken Orte überhaupt nichts. Was den Pilger verändert, kommt aus ihm selbst heraus, aus seinen Gedanken. Die Reise bezieht ihren Wert aus dem Imaginationsvermögen.

1949 folgte der italienische Schriftsteller Dino Buzzati dem Giro d’Italia als Reporter für den Corriere della Sera. Seine Berichte sind alle zusammen in einem Buch erschienen: Beim Giro d’Italia. Im letzten Kapitel, Nie wird es vergehen, das Märchen vom Fahrrad, vergleicht Buzzati die Rennfahrer selbst mit Pilgern:

»Schaut sie euch an, wie sie strampeln und strampeln zwischen Feldern, Hügeln und Wäldern. Sie sind Pilger auf dem Weg in eine weit entfernte Stadt, die sie nie erreichen werden: Sie verkörpern in Fleisch und Blut, wie im Bild eines antiken Malers, das unverständliche Abenteuer des Lebens. Das ist reine Romantik.«

Poetische Worte, von unzähligen Radsportromantikern zitiert, obwohl Buzzatis Vergleich doch eigentlich verunglückt ist: Ein Pilger auf dem Weg in eine Stadt, die er nicht erreichen wird, ist kein Pilger, sondern ein rastloser Landstreicher. Denn wenn die Stadt unerreichbar ist, wozu macht man sich dann auf den Weg? Welche Geschichte soll dann noch geschrieben, welche Ehre noch erlangt werden?

Aber eigentlich geht es um den zweiten Teil von Buzzatis Zitat, denn darin liegt die wahre Romantik: Radrennfahrer als die Fleisch gewordenen Symbole des unverständlichen Abenteuers des Lebens. Ihr Ehrgeiz, ihre Leiden, ihre Opferbereitschaft, ihre Hingabe – und das alles nur, um in der nächsten Stadt anzukommen. Nicht die Radprofis sind die Pilger, sondern die Fans, die ihren Idolen treu ergeben folgen. Die dorthin gehen, wo auch die Fahrer selbst hingegangen sind, die das berühren, was sie berührt haben, die Leiden nachempfinden, die die Fahrer selbst gelitten haben. Denn nichts ersehnt der Pilger so sehr, wie selbst ein Teil dieses unverständlichen Abenteuers zu werden, vom Heldentum zu kosten, aus demselben Bidon zu trinken wie die Helden, und sei es auch nur ein kleiner Schluck.

»We cannot go back in time (though we might wish to), but we can go back in place«, lautet ein Zitat in einem Graceland-Führer für Elvis-Fans. Ich bin in dem Buch Understanding Fandom von Mark Duffett darauf gestoßen. Näher als an den Ort kommt der Pilger nicht. Er kann den Schauplatz von damals aufsuchen. Die Zeit von damals muss er sich dann selbst dazudenken.

Ein Grab ist dazu da, dass Menschen es besuchen, genau wie ein Denkmal oder das Geburtshaus eines verstorbenen Künstlers. Jedes Jahr kommen Tausende nach Rom, nur um den nicht-katholischen Friedhof zu besuchen, auf dem Keats begraben liegt. Nie habe ich dabei irgendeine Art von Verlegenheit verspürt. Anders beim Besuch des Hauses von Basso. Vielleicht, weil dieses Haus gerade kein offizieller Wallfahrtsort ist. Es ist ein ganz normales Wohnhaus, in dem eine Familie lebt.

Aber vielleicht erhofft sich der Pilger, der schüchtern daran vorbeigeht, um einen Blick vom täglichen Leben der Bewohner zu erhaschen, gerade diese Art von Bestätigung. Die Bestätigung, dass sein Idol in derselben Wirklichkeit lebt wie er selbst, in keiner anderen Zeit, keinem anderen Raum – dass sein Idol genauso menschlich ist wie er selbst. Nur die Kenntnis der konkreten Lebensumgebung des Idols kann das Gefühl der Unerreichbarkeit ein bisschen relativieren.

Ein Radsport-Pilger fühlt sich nirgends auf der Welt so zu Hause wie in Italien. Es ist das Land der Hingabe, der bedingungslosen Liebe zu seinen Rennfahrern und vor allem auch zu seiner großen Landesrundfahrt. Denn auch als es den Giro noch gar nicht gab, als er erst ein Hirngespinst der Zeitung La Gazzetta dello Sport war, die ihn organisieren wollte, war er schon das Wunschkind der ganzen italienischen Nation. Seine Ankündigung im Jahr 1908 war der reine Bluff, aber das erwies sich als völlig problemlos: Halb Italien meldete sich, um einen Beitrag zu leisten und mitzuhelfen, bis hin zum Konkurrenzblatt der Gazzetta, dem Corriere della Sera.

Wo auch immer der Giro hinkommt, wird er bis heute wie das lang ersehnte Kind in Empfang genommen, das 1909 endlich das Licht der Welt erblickte. Das Giro-Peloton ruft bei den italienischen Radsportfans Gefühle wach, die der religiösen Verzückung, mit denen sich die Leute zu Ostern auf dem Petersplatz nach vorne drängeln, in nichts nachstehen. Radsportfans reißen sich um eine weggeworfene Trinkflasche wie Gläubige um eine Hostie aus der Hand des Papstes.

Es ist die Fantasie, die der Wallfahrt ihren Wert verleiht und den Radsportliebhaber zum Romantiker werden lässt. Wo normale Menschen im Fernsehen eine Gruppe von Männern sehen, die quälend langsam auf ihren Rädern durch die Ebene und durchs Hochgebirge vorankriechen, sieht der Radsportfanatiker Helden, die mit jedem Tritt in die Pedale Geschichte schreiben. Jedes Rennen, jede Etappe zeugt für ihn erneut von unbeschreiblichem Leiden, von übermenschlichen Leistungen und von Heldenmut.

Und wer als pellegrina, als Pilgerin, durch Italien zieht, um auf Dorfplätzen, an Kreuzungen oder in irgendeinem Gewerbegebiet die Geschichten aufzustöbern, die dort vor sich hin schlummern, lernt dabei auch noch das Land kennen. Ganz von selbst. In all seiner Pracht und Hässlichkeit.

LOMBARDEI

INDUNO OLONA

Geburtsort von Luigi Ganna (1883–1957), Maurer und Gewinner des ersten Giro d’Italia 1909.

Wer in einem der Dörfer des äußersten Nordens Italiens zur Welt gekommen ist, eingeklemmt zwischen dem Lago Maggiore im Westen und der Schweizer Grenze im Nordosten, der wird, wenn er sich in internationaler Gesellschaft befindet, wahrscheinlich erzählen, er komme aus Varese. Denn wer nicht selbst in dieser Gegend wohnt, wird von Brenta, Ganna oder Cittiglio noch nie gehört haben. Und von Induno Olona erst recht nicht.

Kein Wunder. Hier ist auch nichts weiter los. Induno Olona ist ein völlig gesichtsloses Dorf, genauso gesichtslos wie Brenta und Ganna. Ende September ist jenseits der Grenze der erste Schnee gefallen; die weißen Gipfel der Schweizer Alpen glänzen in der Ferne. Von den verschneiten Bergen strömt ein kalter Wind zu den norditalienischen Dörfern hinüber. Die Blätter der Bäume sind noch kaum verfärbt, aber manche pflückt dieser Wind schon mühelos ab und treibt sie vor sich her.

Induno Olona verdankt seinen Namen der Olona, einem Fluss, der gut siebzig Kilometer durch die Lombardei fließt. Dass es das Dorf überhaupt noch gibt, ist der Industrie zu verdanken, die sich in der Umgebung angesiedelt hat. In Induno Olona wohnt man, aber man lebt hier nicht, und genau das sieht man dem Ort auch an.

Mittags gegen halb zwei bilden sich rund um die kleine Grundschule endlose Autoschlangen. In kleinen Grüppchen kommen die Schüler aus dem Gebäude geströmt, erst die kleineren Kinder, dann die größeren. Manche werden am Tor abgeholt, andere machen sich routiniert auf die Suche nach dem Auto, das auf sie wartet.

Auch vor der Sporthalle, schräg gegenüber der Schule, ist alles zugeparkt. Der Palestra Comunale Luigi Ganna ist erst 2007 nach dem Sportler benannt worden, fünfzig Jahre nach seinem Tod. Ganna, der 1909 den damals zum ersten Mal veranstalteten Giro d’Italia gewann, war 1883 in Induno Olona zur Welt gekommen. An der Wand seines Geburtshauses in der Via San Cassano ist eine Plakette angebracht. In der kleinen Sackgasse hausten vor hundert Jahren noch große, arme Familien auf engstem Raum in kleinen Wohnungen. Damals muss es auf der Straße, die heute wie ausgestorben wirkt, von spielenden Kindern nur so gewimmelt haben.

Vor seiner Radsportkarriere arbeitete Ganna als Maurer. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr hängte er jeden Morgen eine Tasche mit einem Butterbrot und einer Trinkflasche, in die er mit ein wenig Wein verlängertes Zuckerwasser gefüllt hatte, an den Lenker seines Fahrrads und legte damit die sechzig Kilometer nach Mailand zurück, zu seiner Arbeit. Immer fuhr er mit dem Fahrrad, auch wenn in der Schweiz schon der erste Schnee fiel und ihm auf dem Rückweg der winterliche Alpenwind entgegenwehte, auch wenn der Schnee sich bis nach Italien ausbreitete, über Straßen, die noch nie einen Meter Asphalt gesehen hatten.

Der Palestra Comunale Luigi Ganna sieht grässlich aus, ist aber praktisch. Zum Beispiel befindet sich direkt neben dem ingresso atleti ein Aschenbecher, und wer mit dem Fahrrad kommt, kann es vor der Tür in einem Ständer abstellen. Der Fahrradständer ist komplett leer. Nachdem die letzten Kinder ihre elterlichen Autos gefunden haben, bleibt auch der Parkplatz der Sporthalle verlassen zurück. Ob diese Kinder wohl irgendeine Ahnung haben, wer Luigi Ganna war? Haben sie überhaupt jemals auf einem Fahrrad gesessen?

Zu Gannas Zeiten waren Fahrräder noch etwas relativ Neues. Das erste Straßenrennen, Florenz–Pistoia, fand zwar schon 1870 statt, wurde aber erst 1985 zum zweiten Mal ausgetragen. Die Coppa del Re, die 1897 zum ersten Mal organisiert wurde, war lange Zeit das einzige Rennen auf italienischem Boden, das jedes Jahr stattfand. Erst als Fahrräder nach der Jahrhundertwende billiger und damit für ein breiteres Publikum erschwinglich wurden, stellte man mehrere Rennen auf die Beine.

Dank seiner täglichen Fahrten nach Mailand verfügte Ganna über eine hervorragende Kondition. Außerdem hatte er Talent, wie sich herausstellte. Das bedeutete allerdings nicht, dass er seinen Brotberuf von heute auf morgen an den Nagel hätte hängen können. Nachdem er 1905 bei der Lombardei-Rundfahrt den dritten Platz belegt hatte – ein Ehrenplatz, der ihm achtzehn Lira eintrug –, fuhr er anschließend direkt weiter zu der Baustelle, auf der er damals arbeitete. 1906 und 1907 gewann er dann einige Rennen in seiner Gegend, ein Jahr später wurde er Fünfter bei der Tour de France und verbesserte den Stundenweltrekord. Seinen größten Erfolg feierte er schließlich 1909. Im März gewann er Mailand–Sanremo, und am Donnerstag, dem 13. Mai, brach er mitten in der Nacht zusammen mit 126 anderen Fahrern vom Piazzale Loreta in Mailand zur ersten Etappe des ersten Giro d’Italia auf. Der unchristlichen Stunde zum Trotz waren Tausende Zuschauer gekommen, um den Fahrern zuzujubeln und ihnen hinterherzuwinken.

Die Etappe von Mailand nach Bologna war 397 Kilometer lang, die schnellsten Fahrer brauchten etwa vierzehn Stunden für die Strecke. Aber die Zeit spielte damals noch keine Rolle, das Klassement wurde einzig und allein nach der Reihenfolge aufgestellt, in der die Teilnehmer ins Ziel kamen, wobei jeder einen Punkt mehr erhielt als der Fahrer vor ihm. Wer am Ende des Giro die wenigsten Punkte hatte, wurde zum Sieger erklärt. In Bologna bekamen die Fahrer zwei Tage Zeit, sich von der ersten Etappe auszuruhen. Die Gazzetta dello Sport erschien nämlich immer montags, mittwochs und freitags, also mussten die Etappen jeweils am Sonntag, Dienstag und Donnerstag stattfinden.

Nach den ersten beiden Etappen hatte Ganna sich die Führung im Gesamtklassement erobert, aber bei der dritten, von Chieti nach Neapel, hatte er bereits vier Reifendefekte hinter sich, als er den ersten Kontrollposten in Isernia erreichte. Mit einem Rückstand von einer Dreiviertelstunde kam er in Neapel an und musste die Führung Carlo Galetti überlassen. Schon einen Tag später holte er sich jedoch den ersten Platz in der Gesamtwertung zurück: Er gewann die Etappe nach Rom. Eine höllische Strecke, die Straßen zwischen Neapel und Rom waren dermaßen ramponiert, dass man dort eigentlich überhaupt nicht Rad fahren konnte. Auch die fünfte Etappe nach Florenz konnte Ganna für sich entscheiden, einem platten Reifen zehn Kilometer vor der Ziellinie zum Trotz. Bei der sechsten Etappe nach Genua wurde er Dritter, und auf der siebten, über 357 Kilometer von Genua nach Turin, verbuchte er seinen dritten Etappensieg.

Die achte und letzte Etappe nach Mailand führte lediglich über 206 Kilometer, und die Strecke war flach. Ganna hatte drei Punkte Vorsprung vor Galetti und zehn vor Giovanni Rossignoli, es konnte also gefährlich für ihn werden. Wenn bis zum Finale eine große Gruppe übrig blieb, musste er, um seinen Vorsprung vor Galetti zu behaupten, einen tadellosen Sprint hinlegen. Aber schon achtzig Kilometer vor der Ziellinie wurde es spannend. Ganna lag in der Spitzengruppe ganz vorn, als er abermals einen Platten bekam. Kaum hatten Galetti und Rossignoli gemerkt, dass ihr wichtigster Konkurrent außer Gefecht gesetzt war, gingen sie zum Angriff über. Ganna wechselte den Reifen und nahm sofort wieder die Verfolgung seiner Konkurrenten auf. Aber gerade als die Spitzenfahrer endlich wieder in Sicht kamen, hatte er erneut einen Platten. Und schon wieder stand Ganna am Straßenrand und dokterte an seinem Rad herum. Diesmal gewannen die Fahrer an der Spitze so viel Vorsprung, dass Ganna sein Rosa Trikot schon in unerreichbarer Ferne verschwinden sah. Bis ihm in Gallarate ein rettender Engel zu Hilfe kam, in der Gestalt eines pflichtgetreuen Eisenbahnbeamten an einem Bahnübergang. Die Durchfahrt eines Schnellzugs stand unmittelbar bevor, und der Beamte untersagte es den Fahrern der Spitzengruppe, über die geschlossenen Schranken zu klettern. So konnte Ganna seinen Rückstand wieder aufholen.

In Mailand angekommen, gewann Dario Beni den Zielsprint, Galetti kam als Zweiter über die Ziellinie und Ganna als Dritter, womit er der erste Sieger des Giro d’Italia wurde. Die neuen italienischen Volkshelden auf dem Fahrrad – die neunundvierzig Männer, die bei diesem Giro bis zum Ende durchgehalten hatten – wurden in Mailand von hundertfünfzigtausend berauschten Zuschauern in Empfang genommen und bejubelt.

Dank seiner Erfolge konnte Ganna ein Haus und eine kleine Werkstatt kaufen, in der er anfing, Fahrräder zu bauen. Auf einem dieser Räder gewann er 1920 in Mailand den Gran Fondo La Seicento, einen Radmarathon über eine Strecke von 600 Kilometern. Das erwies sich als hervorragende Werbung für seine Fahrradmarke, so dass die Firma schon bald immer größer wurde. Unermüdlich widmete sich Ganna weiter der Entwicklung gleichermaßen robuster wie schöner Räder, die zugleich für breite Schichten bezahlbar sein sollten. Ab 1914 nahm er gar nicht mehr an Rennen teil, um sich ausschließlich seiner eigenen Fahrradmarke und dem ersten Ganna-Radrennstall widmen zu können. 1951 gewann er ein weiteres Mal den Giro d’Italia. Genauer gesagt: Fiorenzo Magni gewann ihn, auf einem Ganna-Rad.

Außer der hässlichen Sporthalle und der Plakette in der Via San Cassano erinnert in Induno Olona nichts an den großen Champion des Dorfes. Für den allerersten Sieger des Giro hätte man doch zumindest ein Denkmal auf dem Marktplatz erwartet, das jedes Jahr zum Start des Giro von zwei hübschen Podium-Mädchen geküsst wird – die aus dem Ort stammen und für diese ehrenvolle Aufgabe natürlich zuvor einen elfmonatigen Auswahlprozess durchlaufen mussten. Einen glänzenden Ganna aus Gold mit silbernem Fahrrad müsste Induno Olona aufstellen und ihm während des Giros täglich einen frischen Blumenkranz um den Hals hängen. Und der Bürgermeister könnte beim jährlichen Ganna-Tag im Mai, dem großen Festtag von Induno Olona, vor diesem Denkmal stehen und für die Kinder des Dorfes eine mitreißende Rede halten, über die atemberaubenden Abenteuer Gannas beim ersten Giro d’Italia. Auf dass die Jugend davon durchdrungen werde, dass man, wenn man den kalten Alpenwind nicht fürchtet, mit dem Fahrrad viel weiter kommt als mit dem Auto. Und nach ein paar Jahren kämen bestimmt ein paar Kinder auf die Idee, selbst ein Fahrradrennen zu organisieren, um Geld für ein zweites Denkmal zu sammeln. Ein etwas kleineres, nicht aus Gold, sondern nur aus Bronze, für den Eisenbahnbeamten aus Gallarate. Die Denkmäler von Luigi Ganna und dem Eisenbahnbeamten würden Induno Olona so etwas wie eine Seele zurückgeben, das Dorf wieder zum Leben erwecken. Woraufhin das gut zehn Kilometer entfernte verschlafene Örtchen Ganna plötzlich aufwachen und neidisch darauf hinweisen würde, dass doch eigentlich nicht Induno Olona, sondern das nichtssagende Ganna nach dem großen Radrennfahrer benannt sei, dass der wahre Ort des Helden also hier sei und nicht dort. Aber das würde niemand mehr glauben, nachdem Induno Olona zu einem Wallfahrtsort geworden wäre, zum lombardischen Lourdes, wo Pilger, ohne mit der Wimper zu zucken, astronomische Beträge hinblätterten, nur um eine Souvenir-Trinkflasche mit Zuckerwasser zu erstehen, verlängert mit einem Schuss Rotwein.