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Meinen Eltern und Jonathan
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke
ISBN 978-3-492-96532-3
April 2017
© by Alex Ross 2007
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century«, Farrar, Straus und Giroux, New York 2007
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2009
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Vielmehr scheint sie [die Musik]1 mir, aller logisch-moralischen Strenge, wovon sie sich wohl die Miene geben mag, einer Geisterwelt anzugehören, für deren unbedingte Zuverlässigkeit in Dingen der Vernunft und Menschenwürde ich nicht eben meine+ Hand ins Feuer legen möchte. Daß ich ihr trotzdem von Herzen zugetan bin, gehört zu jenen Widersprüchen, die, ob man es nun bedauere oder seine Freude daran habe, von der Menschennatur unabtrennbar sind.
THOMAS MANN, Doktor Faustus
HAMLET : … – der Rest ist Schweigen.
HORATIO : Da bricht ein edles Herz. – Gute Nacht, mein Fürst !
Und Engelscharen singen dich zur Ruh !
[Marsch hinter der Szene.]
Weswegen naht die Trommel ?
Sollten Sie die Musik, die in diesem Buch besprochen wird, hören wollen, so finden Sie kostenlose Hörbeispiele auf www.therestisnoise.com/audio.
Die Audiostreams dort sind nach Kapiteln geordnet, dazu finden Sie Links zu Webseiten mit zahlreichen Aufnahmen und andere Möglichkeiten, direkt zur Musik zu gelangen. Unter www.therestisnoise.com/playlist steht eine iTunes-Playlist mit 20 repräsentativen Musikauszügen. Wenn Sie ein Glossar der Fachausdrücke suchen, gehen Sie auf www.therestisnoise.com/glossary.
Im Frühjahr 1928 bereiste George Gershwin, der Schöpfer der Rhapsody in Blue, Europa und lernte die führenden Komponisten seiner Zeit kennen. In Wien besuchte er Alban Berg, dessen blutgetränkte, dissonante, dunkel-erhabene Oper Wozzeck drei Jahre zuvor in Berlin uraufgeführt worden war. Zur Begrüßung seines amerikanischen Gastes ließ Berg ein Streichquartett seine Lyrische Suite spielen, worin der Wiener Lyrismus so auf die Spitze getrieben wird, dass er wie ein gefährliches Narkotikum wirkt.
Danach schritt Gershwin zum Klavier, um einige seiner Lieder zu spielen. Er zögerte. Bergs Werk hatte ihn mit Ehrfurcht erfüllt. Konnten seine eigenen Stücke in dieser düster-sinnlichen Umgebung bestehen? Berg sah ihn streng an und sagte: »Mr. Gershwin2, Musik ist Musik.«
Wenn es nur so einfach wäre. Letztlich wirkt jede Musik auf ihr Publikum nach denselben physikalisch-akustischen Gesetzen, sie bewegt die Luft und erzeugt so eigenartige Empfindungen. Doch im 20. Jahrhundert ist das musikalische Leben in eine brodelnde Masse verschiedenster Kulturen und Subkulturen zerfallen, die alle ihren eigenen Kanon, ihre eigene Sprache entwickelt haben. Manche Genres sind populärer geworden als andere; keines hat echte Massenwirkung. Was eine Gruppe von Hörern erfreut, verursacht einer anderen Kopfschmerzen. Hip-Hop-Tracks begeistern Teenager und schockieren ihre Eltern. Beliebte Schlager, die einer älteren Generation das Herz brechen, sind in den Ohren ihrer Enkel süßlicher Kitsch. Bergs Wozzeck ist für manche eine der fesselndsten Opern, die je geschrieben wurden; Gershwin fand das jedenfalls und ahmte sie in Porgy and Bess nach, nicht zuletzt in den verwehten Akkorden, die »Summertime« umspielen. Für andere ist Wozzeck bloß ein Wust von Missklängen. Solche Diskussionen werden schnell hitzig; wir reagieren unduldsam auf den Geschmack anderer, bisweilen gar gewaltsam. Andererseits kann uns Schönheit an unerwarteten Orten begegnen. »Wo wir auch sind3«, schrieb John Cage in seinem Buch Silence, »wir hören meistens Lärm. Ignorieren wir ihn, stört er uns. Lauschen wir ihm, finden wir ihn faszinierend.«
Klassische Komposition des 20. Jahrhunderts, das Thema dieses Buches, klingt für viele wie Lärm. Sie ist eine weitgehend ungezähmte Kunst, eine noch nicht assimilierte Untergrundszene. Mögen die abstrakten Spritzer eines Jackson Pollock auf dem Kunstmarkt 100 Millionen Dollar und mehr einbringen, mögen die experimentellen Arbeiten eines Matthew Barney oder David Lynch in Studentencafés in aller Welt analysiert werden, ihre musikalische Entsprechung erzeugt immer noch leichte Schauder des Unwohlseins in den Konzertsälen und so gut wie keine Wirkung außerhalb derselben. Klassische Musik erfüllt das Klischee einer Kunst der Toten, deren Repertoire bei Bach beginnt und bei Mahler und Puccini endet. Manche Menschen sind ernsthaft überrascht, wenn sie hören, dass es immer noch Komponisten gibt, die Musik schreiben.
Dabei sind deren Klänge gar nicht so fremdartig. Atonale Akkorde tauchen im Jazz auf; avantgardistische Klänge hört man in Filmmusiken aus Hollywood; der Minimalismus hat die Rock-, Pop- und Klubmusik seit den Velvet Underground beeinflusst. Manchmal klingt diese Musik wie Lärm, weil sie Lärm ist, oder jedenfalls beinahe, und das mit Absicht. Manchmal vermischt sie, wie in Bergs Wozzeck, Bekanntes und Fremdes, Wohlklang und Missklang. Manchmal ist sie von so einzigartiger Schönheit, dass man verblüfft nach Luft schnappt, wenn man sie hört. Bei einer Aufführung von Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps mit seinen großartig singenden Melodielinien und sanft tönenden Harmonien bleibt jedes Mal die Zeit stehen.
Weil Komponisten in jeden Bereich des modernen Lebens vorgedrungen sind, lässt sich ihre Arbeit nur auf der allergrößten Leinwand darstellen. The Rest is Noise zeigt nicht nur die Künstler selbst, sondern auch die Politiker, Diktatoren, millionenschweren Mäzene und Konzernlenker, die zu kontrollieren versuchten, was für Musik geschrieben wurde; die Intellektuellen, die sich bemühten, künstlerische Urteile zu fällen; die Schriftsteller, Maler, Tänzer, Filmemacher, die den Musikern auf den einsamen Wegen der Entdeckung und Erforschung neuen Terrains Gesellschaft leisteten; das Publikum, das die Werke der Komponisten wahlweise bejubelte, beschimpfte oder nicht beachtete; die Techniken, die das Hören und das Erzeugen von Musik veränderten; und die Revolutionen, die heißen und die kalten Kriege, die Emigrationswellen und die tiefgreifenden sozialen Veränderungen, welche die Umgebung formten, in der Komponisten arbeiteten.
Welchen Einfluss der Gang der Geschichte auf die Musik selbst hat, wird kontrovers diskutiert. Auf dem Feld der Klassik herrschte lange die Übereinkunft, die Musik von der Gesellschaft abzugrenzen, sie als eigenständige, unabhängige Sprache zu betrachten. Im höchst politisierten 20. Jahrhundert bröckelt diese Mauer immer wieder: Béla Bartók schreibt Streichquartette, die von dokumentarischen Aufnahmen transsylvanischer Volkslieder inspiriert sind, Schostakowitsch arbeitet an seiner Leningrader Symphonie, während deutsche Geschütze die Stadt beschießen, John Adams komponiert eine Oper mit den Figuren Richard Nixon und Mao Zedong. Die Verbindung zwischen Musik und äußerer Welt in Worte zu fassen bleibt dennoch teuflisch schwierig. Inhalt und Bedeutung von Musik sind immer unbestimmt, veränderlich und letzten Endes eine zutiefst subjektive Wahrnehmung. Doch selbst wenn die Geschichte uns nie erweisen kann, was Musik genau bedeutet, so kann Musik uns doch einiges über Geschichte erzählen. Der Untertitel meines Buches ist ganz wörtlich zu nehmen: Es geht um das 20. Jahrhundert, durch seine Musik gehört.
Darstellungen der Musikgeschichte seit 1900 haben oft einen teleologischen Zuschnitt, ihr Erzählstrang ist ganz auf einen Zielpunkt ausgerichtet, es gibt große Sprünge nach vorn und heldenhafte Kämpfe mit den beharrenden Kräften von Spießertum und Bourgeoisie. Gibt man dem Fortschrittskonzept zu viel Raum, fallen viele Werke durchs Raster, weil sie nichts Neues zu sagen haben. Es haben sich zwei unterschiedliche Repertoires herausgebildet, ein intellektuelles und ein populäres. Hier werden sie zusammengeführt: Keine musikalische Sprache ist an sich moderner als die anderen, meine ich. Jean Sibelius und Benjamin Britten habe ich ganze Kapitel gewidmet, obwohl sie in früheren Überblicken oft als reaktionär eingestuft oder gleich vollständig ignoriert wurden; meine Absicht ist dabei nicht, diese Komponisten an die Spitze des Kanons zu hieven, sondern anzudeuten, wie vielschichtig die musikalische Erfahrung des 20. Jahrhunderts sein kann. Die unumstrittenen Meister der modernen Musik, angefangen bei Schoenberg [Arnold Schönberg hat diese Schreibweise seines Namens 1933 angenommen. Sie wird im Buch durchgehend verwendet; A. d. Ü.] und Strawinsky, behalten ihren Platz im Rampenlicht, doch werden Sprache und Wortwahl, die sie und ihre Werke lange begleitet haben, kritisch unter die Lupe genommen. Letztlich entfaltet ihre Musik nur dann Kraft und Wirkung, wenn sie von stilistischen Ideologien befreit wird.
Meine Geschichte überspringt auch häufig die meist unbefriedigend gezogene oder imaginäre Grenze zwischen klassischer Musik und benachbarten Genres. Duke Ellington, Miles Davis, die Beatles und Velvet Underground spielen bedeutende Nebenrollen, denn das Gespräch zwischen Gershwin und Berg findet in jeder Generation seine Fortsetzung. Berg hatte recht: Musik entwickelt sich in einer ungebrochenen Kontinuitätslinie, wie unterschiedlich die Ausformungen an der Oberfläche auch klingen mögen. Musik ist immer unterwegs, vom Ort ihrer Entstehung zu ihrer Bestimmung: der flüchtigen Wahrnehmung eines Zuhörenden – beim Konzert gestern Abend, beim einsamen Spaziergang heute Morgen.
The Rest is Noise ist nicht nur für diejenigen geschrieben, die sich in der Klassik bestens auskennen, sondern auch und gerade für die, die ein gelegentliches Interesse für das obskure Rumoren am Rande des kulturellen Spektrums verspüren. Ich nähere mich meinem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln: biografisch, musikalisch beschreibend, kultur- und sozialgeschichtlich, durch Schilderung von Orten oder politischen Ereignissen, durch Augenzeugenberichte der Handelnden selbst. Jedes Kapitel schlägt einen weiten Bogen durch eine bestimmte Epoche, beansprucht dabei aber keine Vollständigkeit: Einzelne Karrieren stehen für eine ganze musikalische Szenerie, einzelne Schlüsselwerke stehen wiederum für ganze Karrieren, und eine Menge großartiger Musik landet zu meinem großen Bedauern einfach auf dem Boden des Schnittraums.
Am Ende des Buches findet sich eine Liste von Hörempfehlungen, daneben Danksagungen an die vielen hervorragenden Wissenschaftler, die mich in meiner Arbeit unterstützt haben, und eine Literaturliste mit Hinweisen auf Bücher, Artikel und Archivquellen, die ich herangezogen habe. Noch mehr Literatur findet sich auf www.therestisnoise.com. Wir fangen gerade erst an, das gesegnete, gottverlassene 20. Jahrhundert als Ganzes zu betrachten.
… Ich fühle mich bereit,
Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen
Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.
GOEHTE, Faust. Erster Teil