«Der Wert der Oberfläche» lautete der Titel eines Forschungsprojekts, das ich 2001 bis 2005 mit einem kleinen Team an der ETH Zürich durchführte. Es folgte dem anspruchsvollen Ziel, eine Kunst- und Architekturgeschichte zu umreissen, die den Motor für künstlerische und architektonische Veränderung nicht innerhalb der Kunst und Architektur, sondern in der Ökonomie lokalisieren wollte. Der Begriff des Wertes evozierte die Zusammenhänge zwischen Wertvorstellungen in der Ökonomie und der Idee der Qualität in Kunst und Architektur. «Oberfläche» wies auf einen veränderten Umgang mit Räumlichkeit hin, so etwa auf die seit den ausgehenden 1980er Jahren zu beobachtende Fokussierung auf die Fassaden bei Architekten wie Herzog & de Meuron, auf das von Fredric Jameson definierte Paradigma der «Tiefenlosigkeit» sowie auf die Diskussion des Bildbegriffs, die sich im englischen und deutschen Sprachraum damals auf dem Höhepunkt befand. Das Forschungsprojekt resultierte in Christoph Kohlers Dissertation zum Verhältnis von Kino und Theater im frühen 20. Jahrhundert und Oliver Dufners Dissertation zum Verhältnis von Kunst und Architektur in den 1970er und 1980er Jahren. Meine eigenen Resultate schlugen sich in diversen Vorträgen und Aufsätzen, Seminaren und Vorlesungen sowie verwirklichten und gescheiterten Projekten für Tagungen nieder. Die freundliche Anregung von Jörg Gleiter, eine Reihe von Aufsätzen in einem Buch zusammenzufassen, war für mich ein willkommener Anlass, die teilweise lose herumliegenden Fäden zu bündeln.
Die in diesem Band versammelten Essays handeln von der Frage nach den Zusammenhängen zwischen der Geschichte der visuellen Kultur und der Geschichte der Ökonomie. Sie setzen architektonische und künstlerische Phänomene aus der Zeit des mittleren 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart in einen ökonomischen und politischen Kontext. Ziel ist es, eine Reihe von spezifischen Gegenständen der jüngeren Architekturgeschichte neu zu beleuchten und umgekehrt, mit Hilfe von Kunst und Architektur, historische Prozesse – und so letztlich unsere heutige politisch-ökonomische Situation und unsere Vorstellung von Geschichte und Gegenwart – besser zu verstehen.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kultur wäre ohne die marxistische Tradition undenkbar. Die Texte von Walter Benjamin, Henri Lefebvre, Fredric Jameson, Michael Hardt und Antonio Negri, Mieke Bal und anderen bilden wichtige Referenzen. Ich verwende sie allerdings eklektisch. Das heisst, ich ziehe sie zu Rate, wo sie in meinen Zusammenhang passen, verwende aber die Fallstudien nicht als Illustration für a priori bestehende theoretische Modelle. Das Geschichtsmodell, das ich mit den Essays entwerfen will, ist denn auch ein diskontinuierliches, skeptisches und eklektisches. Ich nehme die Frage nach dem Wert – und damit der Qualität, also eine Kernfrage jeder Kritik – ernst. Zugleich löse ich mich von den umfassenden Erklärungsmodellen wie der Hermeneutik, der Freud’schen Psychologie oder der Marx’schen Theorie, die auf der Vorstellung von räumlicher Tiefe beruhen und auf der Idee, dass unsichtbare Ursachen sich in sichtbaren Veränderungen niederschlagen, und fokussiere bewusst auf die Oberflächen. Ich will keine kausalen Beziehungen zwischen Ökonomie und Kultur definieren. Aber ich möchte Verschränkungen zwischen den beiden Bereichen aufzeigen – «deiktisch», also ganz spezifisch und detailliert anhand von konkreten Fallstudien. Ich will damit die Aufmerksamkeit auf Fragen wie diese lenken: Wie hängen, dargestellt an Crystal Palace und Moby Dick, die ästhetische Kategorie des Erhabenen und die Herausforderung der Menschen durch den Industriekapitalismus zusammen? Wie kommt es, betrachtet man das Beispiel der J. P. Morgan & Company Bank in Manhattan und ihrer fotografischen Darstellung durch Paul Strand, dass die Abstraktion über Jahrzehnte eine Art ästhetische Leitwährung bildete? Wie schlagen sich, am Beispiel von Gordon Matta-Clark, ökonomische Krisen in den Konventionen von Repräsentation nieder?
Die Methode, die ich verfolge, bezeichne ich als «performative Geschichtsschreibung». Es geht mir darum, die eigenen Motive und Bedingungen ins Spiel zu bringen und für die Leserschaft nachvollziehbar zu machen. Das Ich des Historiografen wird betont, nicht im Sinne eines Subjektivismus, sondern als Kritik der auktorialen Distanz. Dies soll den Leserinnen und Lesern, gerade auch den jüngeren, erlauben, die Haltung und Bedingungen des Historiografen zu lokalisieren und sich kritisch damit auseinanderzusetzen.
Die Essays entstanden anlässlich von Einladungen zu Vorträgen oder für Aufsätze in Katalogen, Tagungsbänden und Zeitschriften. Vielen Kolleginnen und Kollegen bin ich dafür dankbar, auch für ihr Feedback und die kritische Begleitung der Manuskripte. Meinen Studierenden danke ich für ihr Interesse und ihre Kommentare zu den Vorlesungen, in denen ich viele der Ideen getestet habe. Die meisten der Texte sind auf Deutsch oder Englisch publiziert. Ich habe versucht, sie soweit zu bearbeiten und zu kürzen, dass Wiederholungen vermieden werden, ohne dass die heterogene Natur der Aufsatzsammlung verloren geht. Die Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir. Jörg Gleiter hat mich zuerst ermuntert, die lose verteilten Texte neu zusammenzufügen, ich bin ihm dafür sehr verbunden. Oona Lochner und Veronika Darius danke ich für die hervorragende Redaktion, Adeline Mollard und Marco Walser von Elektrosmog für die Buchgestaltung und die fruchtbaren Diskussionen während des Gestaltungsprozesses. Dem Schweizerischen Nationalfonds, der Universität Zürich und der ETH Zürich bin ich zu Dank verpflichtet für den institutionellen Rahmen und den Freiraum, ohne den diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Philip Ursprung
Singapur, Februar 2016