Iain Reid
The Ending – Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum
Psychohtriller
Aus dem kanadischen Englisch von Anke und Eberhard Kreutzer
Knaur e-books
Der Kanadier Iain Reid, Jahrgang 1980, veröffentlichte zunächst zwei preisgekrönte Memoirs; seine literarischen Arbeiten erschienen u.a. im New Yorker und in der National Post. Sein Romandebüt The Ending elektrisierte Presse und Leser und führte zur Gründung einer Website zum Austausch über das Buch. Iain Reids zweiter literarischer Thriller ist in Arbeit. Der Autor lebt in Ontario, Kanada.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »I’m Thinking of Ending Things« bei Scout Press / Simon & Schuster, New York.
© 2017 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2016 Iain Reid
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Regine Weisbrod
Covergestaltung: NETWORK! Werbeagentur GmbH
Coverabbildung: Getty Images / Christian Wrangsten / EyeEm
ISBN 978-3-426-45004-8
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Don Reid
Ich trage mich mit dem Gedanken, Schluss zu machen.
Ist der Gedanke erst einmal da, bleibt er haften. Er schleicht sich ein. Krallt sich fest. Und ich kann kaum etwas dagegen tun. Im Ernst, er verschwindet nicht einfach so. Ob es mir passt oder nicht, er ist immer da. Wenn ich esse, ist er da. Wenn ich ins Bett gehe. Wenn ich schlafe, ist er da. Wenn ich aufwache, ist er da. Immer ist er da. Immer.
Dabei habe ich lange nicht daran gedacht. Die Idee ist neu. Gleichzeitig fühlt sie sich alt an. Wann hat es angefangen? Und wenn sie nun gar nicht von mir stammte? Wenn sie mir – fix und fertig – in den Kopf gesetzt worden wäre? Ist eine Idee von mir, nur weil ich mit niemandem darüber rede? Vielleicht habe ich es schon die ganze Zeit gewusst. Vielleicht musste es von Anfang an so enden.
Ich weiß noch, wie Jake gesagt hat: »Manchmal kommt ein Gedanke der Wahrheit, der Wirklichkeit näher als eine Tat. Du kannst sagen, was du willst, tun, was du willst, aber einen Gedanken, den kannst du nicht fälschen.«
Einen Gedanken kannst du nicht fälschen. Ich glaube, das stimmt.
Es macht mir zu schaffen. Und wie! Vielleicht hätte ich wissen müssen, was für ein Ende es mit uns nehmen würde. Vielleicht stand das Ende von Anfang an fest.
Auf der Straße ist kein Verkehr. Es ist still in der Gegend. Es ist abgelegener als erwartet. Überall gibt es was zu sehen, nur eben nicht viele Menschen, nicht viele Häuser. Dafür Himmel, Bäume, Wiesen, Zäune, die Straße und den Schotterstreifen.
»Möchtest du irgendwo eine Kaffeepause machen?«
»Danke, nicht nötig«, sage ich.
»Die letzte Gelegenheit, bevor es so richtig ländlich wird.«
Das ist mein erster Besuch bei Jakes Eltern. Jake. Mein Freund. Er ist noch nicht lange mein Freund. Es ist unsere erste gemeinsame Reise, unsere erste längere Autofahrt. Schon irgendwie seltsam, dass mich der Ausflug in diese wehmütige Stimmung versetzt, über ihn, über uns. Ich sollte mich darauf freuen, auf den ersten von vielen solchen Ausflügen. Tu ich aber nicht. Ich freue mich kein bisschen.
»Keinen Kaffee, nichts zwischendurch«, sage ich noch einmal. »Ich will mir nicht den Appetit aufs Abendessen verderben.«
»Ich glaube nicht, dass es so üppig ausfällt wie sonst. Mom ist in letzter Zeit ein bisschen erschöpft.«
»Aber sie wird doch nichts dagegen haben, oder? Ich meine, dass ich mitkomme?«
»Nein, sie wird sich freuen. Sie freut sich. Meine Eltern wollen dich schließlich kennenlernen.«
»Hier gibt’s ja wirklich nur Scheunen weit und breit.«
Auf dieser Fahrt habe ich mehr davon zu Gesicht bekommen als in Jahren. Vielleicht in meinem ganzen Leben. Und sie sehen alle gleich aus. Ein paar Kühe, ein paar Pferde. Schafe. Wiesen. Und immer wieder diese Scheunen. So ein riesiger Himmel.
»Nirgends Straßenlampen.«
»Lohnt sich wohl nicht für das bisschen Verkehr«, sagt er. »Ist dir sicher nicht entgangen.«
»Muss ja nachts stockdunkel sein.«
»Und ob.«
Es kommt mir so vor, als ob ich Jake schon viel länger kennen würde als … wie lange noch gleich? Vier Wochen? Sechs oder auch sieben? Sollte ich eigentlich wissen. Ich sag mal, sieben Wochen. Wir haben eine echte Beziehung, eine seltene, tiefe Verbundenheit. So etwas habe ich nie zuvor erlebt.
Ich drehe mich auf meinem Sitz halb zu Jake um und klemme mir das angewinkelte linke Bein wie ein Kissen unter den Po. »Was hast du ihnen alles über mich erzählt?«
»Meinen Eltern? Genug«, sagt er und wirft mir einen kurzen Blick zu. Es ist schön, wenn er mich so ansieht. Ich fühle mich sehr zu ihm hingezogen.
»Was hast du ihnen erzählt?«
»Ich hab ein hübsches Mädchen getroffen, das zu viel Gin trinkt.«
»Meine Eltern wissen nichts von dir«, sage ich.
Er glaubt, ich machte Witze. Aber es stimmt. Die haben keine Ahnung, dass es ihn gibt. Ich habe ihnen nichts von Jake erzählt, nicht einmal, dass ich jemanden kennengelernt habe. Nichts. Jedes Mal habe ich überlegt, ob ich was sagen soll, es gab reichlich Gelegenheit. Aber dann war ich mir nicht sicher und hab’s gelassen.
Jake sieht so aus, als wolle er was sagen, überlegt es sich dann aber anders. Er beugt sich vor und dreht das Radio lauter. Nur ein bisschen. Die einzige Musik, die wir finden konnten, nachdem wir mehrfach alle Sender durchprobiert haben, war Country. Die guten alten Country-Songs. Er nickt im Takt und summt leise mit.
»Ich hab dich noch nie summen gehört«, sage ich. »Nicht übel.«
Ich glaube, meine Eltern werden nie von Jake erfahren, jetzt nicht und auch nicht im Nachhinein. Der Gedanke macht mich traurig, so mutterseelenallein auf dieser Landstraße auf dem Weg zur Farm seiner Eltern. Ich komme mir selbstsüchtig, ichbezogen vor. Ich sollte Jake sagen, was mir durch den Kopf geht. Nur dass es alles andere als leicht ist, darüber zu reden.
Wenn ich mit diesen Zweifeln herausrücke, kann ich nicht zurück.
Ich habe mich mehr oder weniger entschieden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Schluss machen werde. Das nimmt mir den Druck vor der ersten Begegnung mit seinen Eltern. Dabei bin ich gespannt, wie sie so sind, nur dass ich jetzt auch Schuldgefühle habe. Dass ich zu ihrer Farm rauskomme, muss ihm natürlich vermitteln, dass es mir ernst ist, dass ich an eine langfristige Beziehung glaube.
Da sitzt er, neben mir. Woran denkt er gerade? Er hat nicht die leiseste Ahnung. Es wird bestimmt nicht leicht. Ich will ihn nicht verletzen.
»Woher kennst du den Song? Und haben wir den nicht schon gehört? Zwei Mal?«
»Das ist ein Country-Klassiker, ich komme vom Land, ich bin mit solcher Musik aufgewachsen.«
Er bestätigt nicht, dass wir den Song schon zwei Mal gehört haben. Was für ein Radiosender spielt denselben Song innerhalb einer Stunde zwei Mal? Ich höre einfach nicht mehr richtig hin; vielleicht ist das ja heute üblich. Ganz normal. Keine Ahnung. Oder diese alten Country-Songs klingen für mich alle gleich.
Wieso kann ich mich kein bisschen an meine letzte Autoreise erinnern? Ich könnte nicht mal sagen, wann das gewesen ist. Ich blicke aus dem Fenster, ohne richtig hinzusehen. Nur so zum Zeitvertreib, im Auto. Im Fahren gleitet alles so viel schneller an einem vorbei.
Was eigentlich schade ist. Jake hat mir alles über die Landschaft hier erzählt. Er liebt sie. Wenn er weg ist, fehlt sie ihm. Besonders die Wiesen und der Himmel, hat er gesagt. Bestimmt ist es hier friedlich und schön. Im fahrenden Auto nur schwer zu sagen. Ich versuche, so viel wie möglich davon mitzubekommen.
Wir fahren an einem verlassenen Gehöft vorbei, wo nur noch die Grundmauern stehen. Jake sagt, es sei vor ungefähr zehn Jahren niedergebrannt. Hinter der Ruine ist eine Scheune zu sehen und im Vorgarten eine Schaukel. Die Schaukel sieht allerdings neu aus. Nicht alt und verrostet, nicht verwittert.
»Und was ist mit der neuen Schaukel?«, frage ich etwas verwundert.
»Was?«
»Auf der abgebrannten Farm vorhin. Da wohnt doch keiner mehr.«
»Du musst mir sagen, wenn du frierst. Frierst du?«
»Alles gut.«
Die Scheibe fühlt sich kühl an. Ich lehne den Kopf daran. Ich spüre das Vibrieren des Motors durch das Glas, jede Unebenheit in der Straße. Eine sanfte Gehirnmassage. Es ist hypnotisch.
Dass ich versuche, nicht mehr an den Anrufer zu denken, behalte ich auch für mich. Ich will weder an den Anrufer noch an seine Nachricht denken. Wenigstens heute Abend. Dass ich versuche, mich nicht im Fenster zu spiegeln, ist ebenfalls meine Sache. Für mich ist das heute ein spiegelloser Tag. Genau wie der Tag, an dem Jake und ich uns kennengelernt haben. Solche Gedanken behalte ich für mich.
Quiz-Abend im Campus-Pub. Der Abend, an dem wir uns kennengelernt haben. Ich bin da nicht oft. Ich bin keine Studentin. Nicht mehr. In dem Pub komme ich mir alt vor. Gegessen habe ich da noch nie, und das gezapfte Bier schmeckt fad.
An dem Abend habe ich nicht damit gerechnet, jemanden kennenzulernen. Ich war mit einer Freundin da. Obwohl wir uns eigentlich nichts aus Quiz-Spielen machen. Wir haben uns ein großes Bier geteilt und uns unterhalten.
Ich vermute, meine Freundin wollte sich mit mir dort treffen, damit ich vielleicht jemanden kennenlerne. Hat sie natürlich nicht gesagt, aber ich glaube, sie dachte an so was. Jake und seine Freunde saßen am Nachbartisch.
Ich hab’s nicht mit Quiz-Spielen. Nicht, weil es keinen Spaß macht. Ist einfach nur nicht mein Ding. Ich gehe lieber wohin, wo es ruhiger zugeht. Oder bleib gleich zu Hause. Das Bier zu Hause schmeckt nie fad.
Jakes Quiz-Team nannte sich Breschnews Augenbrauen. »Wer ist Breschnew?«, habe ich ihn gefragt. Es war ziemlich laut da drinnen, bei der Musik mussten wir fast brüllen, um uns zu verständigen. Wir hatten ein paar Minuten miteinander geredet.
»Ein sowjetischer Ingenieur, in der Metallindustrie. Der Mann hatte Augenbrauen wie Monsterraupen.«
Genau das meine ich. Jakes Team-Name. Es sollte witzig sein, aber auch das eigene Wissen über die Kommunistische Partei der Sowjetunion heraushängen lassen. Weiß auch nicht, warum, aber so etwas geht mir auf den Geist.
Die Teams geben sich alle solche abgefahrenen Namen. Oder es sind unverhohlene sexuelle Anspielungen. Ein anderes Team nannte sich Einstweilige Vergnügung.
Ich hab Jake gesagt, eigentlich hätte ich für Quiz-Spiele nicht viel übrig, jedenfalls nicht an einem Ort wie diesem, und er meinte nur: »Es kann ziemlich knifflig sein. Es ist eine seltsame Mischung: Man versucht, einander auszustechen, und tut so, als ließe es einen kalt.«
Ich kann nicht behaupten, dass Jake einem ins Auge springt. Andererseits sieht er, auf seine kantige Art, gar nicht mal übel aus.
Er war nicht der erste Mann, der mir an dem Abend ins Auge fiel. Ich lege keinen Wert auf eine makellose Erscheinung. Er schien bei der Gruppe eher eine Randfigur zu sein, als hätten sie ihn mitgeschleift, weil das Team seine Antworten brauchen konnte. Ich fühlte mich auf Anhieb zu ihm hingezogen.
Jake ist lang, schlaksig und ein bisschen schief, mit markanten Wangenknochen. Etwas zu dünn. Diese vorstehenden Wangenknochen fand ich auf Anhieb attraktiv, und seine dunklen, vollen Lippen entschädigen dafür, wie wenig Fleisch er auf den Rippen hat – Lippen voll und fleischig, besonders die Unterlippe. Er hatte kurzes, ungekämmtes Haar, auf einer Seite kürzer oder auch weniger dicht, als hätte er links eine andere Frisur als rechts. Sein Haar war weder fettig noch frisch gewaschen.
Er war glattrasiert und trug eine Brille mit silbernem Drahtgestell, bei der er sich geistesabwesend immer wieder den rechten Bügel zurechtrückte. Manchmal schob er die Brille auch mit dem Zeigefinger hoch. Und mir fiel gleich sein Tick auf: Wenn er sich auf etwas konzentrierte, roch er an seinem Handrücken oder hielt ihn sich zumindest unter die Nase. Das macht er nach wie vor oft. Er hatte, glaube ich, ein graues T-Shirt an, oder auch ein blaues. Ziemlich verwaschen. Er blinzelte viel. Ich merkte, dass er schüchtern war. Wir hätten den ganzen Abend so nebeneinandersitzen können, ohne dass er mich ein einziges Mal angesprochen hätte. Einmal hat er gelächelt, aber das war’s auch schon. Hätte ich die Initiative ihm überlassen, wären wir nie zusammengekommen.
Mir war rasch klar, dass Jake nichts sagen würde, und so habe ich den ersten Schritt gemacht.
»Ihr schlagt euch ziemlich gut.« Das waren meine ersten Worte.
Er hielt sein Bierglas hoch. »Mit der entsprechenden Stärkung.«
Und das war’s. Das Eis war gebrochen. Wir haben uns noch eine Weile unterhalten, bis er in beiläufigem Ton bemerkte: »Ich bin ein Kruziverbalist.«
Ich murmelte ein unverbindliches »Ach ja« oder »Ah«. Das Wort hatte ich noch nie gehört.
Jake sagte, eigentlich hätte er sein Team gerne Ipseität genannt. Auch dieses Wort hatte ich noch nie gehört. Zuerst habe ich überlegt, ob ich so tun sollte, als ob. Trotz seiner zurückhaltenden, verschlossenen Art war mir schon klar, dass er unglaublich klug ist. Und er war kein bisschen aufdringlich, versuchte nicht die Spur, mich anzumachen. Keine blöden Sprüche. Er unterhielt sich nur einfach gerne mit mir. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht allzu viel Erfahrung mit Beziehungen hatte.
»Ich glaube, das Wort kenne ich nicht«, sagte ich. »Auch das andere nicht.« Ich erwartete, dass es ihm wie den meisten Männern Spaß machen würde, es mir zu erklären, dass es ihm lieber wäre, mir diese Begriffe zu erklären, als festzustellen, dass ich damit vertraut war und über einen ebenso umfassenden Wortschatz verfügte wie er.
»Ipseität ist im Prinzip ein anderes Wort für Selbstheit oder Individualität. Kommt vom lateinischen ipse, das heißt selbst.«
Ich weiß, das klingt pedantisch und schulmeisterlich und von oben herab, aber, ganz ehrlich, das war nicht der Fall. Kein bisschen. Nicht aus Jakes Mund. Er war von ausgesuchter Liebenswürdigkeit, von einer einnehmenden, natürlichen Bescheidenheit.
»In meinen Augen wäre das ein guter Name für unser Team gewesen, wenn man bedenkt, dass wir zu mehreren sind, in einem Ausnahmeteam. Und da wir unter einem gemeinsamen Teamnamen spielen, schafft das ein Gemeinschaftsgefühl, eine Einheit. Tut mir leid, wahrscheinlich rede ich dummes Zeug und langweile dich.«
Wir lachten beide, und es kam mir so vor, als wären wir ganz alleine in der Bar. Ich trank einen Schluck Bier. Jake war witzig. Zumindest hatte er Humor. Auch wenn er in meinen Augen weniger witzig war als ich. Das gilt für die meisten Männer, denen ich begegne.
Später ließ er dann noch die Bemerkung fallen: »Die Leute sind einfach nicht besonders witzig. Nicht wirklich. Witzige Leute trifft man selten.« Es klang, als hätte er meine vorherigen Gedanken gelesen.
»Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann«, antwortete ich, obwohl mir so ein Pauschalurteil über »die Leute« gefiel. Es kündete von einem gesunden Selbstvertrauen hinter der augenscheinlichen Scheu.
Als es sich abzeichnete, dass er und seine Teamkameraden aufbrechen wollten, kämpfte ich mit mir, ob ich ihn nach seiner Telefonnummer fragen oder ihm meine geben sollte. Ich wollte es mit aller Macht, brachte es aber dann doch nicht über mich. Er sollte sich nicht irgendwie genötigt fühlen, mich anzurufen. Natürlich wünschte ich mir, dass er mich anrufen wollte. Und wie! Aber dann vertröstete ich mich damit, dass wir uns auch so wahrscheinlich wieder über den Weg laufen würden. Das hier war eine Universitätsstadt und keine Metropole. Wir würden uns schon wiedersehen. Wie sich zeigte, brauchte ich nicht auf den Zufall zu warten.
Er musste mir den Zettel in die Handtasche gesteckt haben, als wir uns verabschiedeten. Ich fand ihn, als ich nach Hause kam: »Wenn ich deine Telefonnummer hätte, würde ich dir etwas Witziges erzählen.«
Darunter hatte er seine Nummer geschrieben.
Bevor ich ins Bett ging, schlug ich Kruziverbalist nach. Ich lachte und glaubte ihm.
- Das will mir immer noch nicht in den Kopf. Wie konnte so etwas nur passieren?
- Wir stehen alle unter Schock.
- So etwas Entsetzliches ist hier noch nie passiert.
- Nein, jedenfalls nicht so.
- Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Keine Minute.
- Ich auch nicht. Hab mich nur hin und her gewälzt. Ich bringe kaum einen Bissen runter. Sie hätten mal meine Frau sehen sollen, als ich es ihr erzählt habe. Ich dachte, sie muss sich übergeben.
- Aber wie bringt man so etwas nur fertig? Wie zieht man das durch? Das macht man nicht aus einer Laune heraus. Ganz bestimmt nicht.
- Es ist einfach schaurig. Schaurig und bestürzend.
- Haben Sie ihn eigentlich gekannt? Haben Sie ihm nahegestanden oder …?
- Nein, nein, das nicht. Ich glaube, niemand hat ihm nahegestanden. Er war ein Einzelgänger. Von Natur aus. Zurückgezogen. Reserviert. Ein paar Leute kannten ihn besser. Aber … wie das so ist.
- Es ist ein Irrwitz. Irgendwie surreal.
- Es ist einfach schrecklich, nur leider sehr real.
»Wie sind die Straßen?«
»Ganz gut«, sagt er, »ein bisschen glatt.«
»Zum Glück schneit es nicht.«
»Hoffentlich bleibt es dabei.«
»Sieht kalt aus da draußen.«
Jeder für sich genommen sind wir eher unspektakulär. Zusammen fallen wir aus der Reihe, so unterschiedlich sind wir. Allein in einer Menschenmenge fühle ich mich kompakt, geschrumpft, leicht zu übersehen. Trotz seiner Größe geht auch Jake in der Menge unter. Aber wenn wir zusammen sind, merke ich, wie wir Blicke auf uns ziehen. Nicht er oder ich, sondern wir beide zusammen. Als Paar fallen wir auf.
Binnen sechs Tagen nach unserer Begegnung im Pub hatten wir drei Mal zusammen gegessen, uns zum Kaffeetrinken getroffen, waren zwei Mal miteinander spazieren und ein Mal ins Kino gegangen. Wir redeten die ganze Zeit. Wir waren intim geworden. Zwei Mal hat Jake mir, nachdem er mich nackt gesehen hatte, gesagt, ich erinnerte ihn an die junge Uma Thurman, eine »komprimierte« Uma Thurman, und, betonte er, das sei ganz und gar positiv gemeint. Er beschrieb mich als »komprimiert«. Das war der Ausdruck, mit dem er mich charakterisierte.
Er hat mich noch nie sexy genannt. Was mir nichts ausmacht. Er hat mich als »hübsch« bezeichnet und ein-, zweimal als »schön«, so wie Männer das eben tun. Einmal hat er gesagt, ich sei therapeutisch. Das hatte ich noch von keinem gehört. Das war direkt, nachdem wir es miteinander getan hatten.
Ich hatte an dem Tag damit gerechnet, dass es vielleicht so weit war – dass wir miteinander schlafen würden –, aber geplant war es nicht Wir hatten einfach nur nach dem Abendessen auf meinem Sofa rumgemacht. Ich hatte Suppe gekocht. Zum Nachtisch teilten wir uns eine Flasche Gin. Wir reichten sie hin und her und setzten die Flasche an den Hals wie Highschool-Kids, die sich vor dem Tanzen Mut antrinken. Diesmal hatten wir es eilig. Die Flasche war gerade mal halbleer, und wir sind rüber zum Bett gegangen. Er zog mir mein Top über den Kopf, und ich öffnete ihm den Reißverschluss an der Hose. Er ließ mich machen.
Er sagte immer wieder: »Küss mich, küss mich.« Selbst wenn ich für drei Sekunden aufhörte. »Küss mich«, immer und immer wieder. Davon abgesehen, sagte er nichts. Wir hatten das Licht aus, und ich konnte ihn kaum atmen hören.
Ich konnte ihn nur undeutlich sehen.
»Lass es uns mit den Händen machen«, sagte er. »Nur mit den Händen.«
Ich dachte, wir hätten gleich Sex. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich spielte mit. Das hatte ich noch nie gemacht. Hinterher sackte er auf mich. So blieben wir eine Weile mit geschlossenen Augen liegen. Dann rollte er sich mit einem Seufzer auf die Seite.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so blieben, bevor Jake aufstand und ins Bad ging. Ich sah ihm hinterher, horchte auf das fließende Wasser. Ich hörte, wie er die Klospülung betätigte. Er blieb eine ganze Weile da drinnen. Ich betrachtete meine Füße und wackelte mit den Zehen.
Und da hatte ich das Gefühl, dass ich ihm von dem Anrufer erzählen sollte. Aber dann habe ich mich doch nicht dazu aufgerafft. Ich wollte es einfach vergessen. Wenn ich ihm davon erzählte, würde die Sache ernster klingen, als ich wollte. So nah war ich danach nie wieder daran, ihm davon zu erzählen.
Ich lag also einfach da, und auf einmal kam in mir eine Erinnerung hoch. Als ich klein war, vielleicht sechs oder sieben, bin ich eines Nachts aufgewacht und habe einen Mann an meinem Fenster gesehen. Ich hatte schon lange nicht mehr daran gedacht. Ich rede nicht oft davon. Ich denke nicht mal oft daran. Es ist eine verschwommene, bruchstückhafte Erinnerung. An einzelne Teile erinnere ich mich dafür ganz genau. Es ist keine Geschichte, die ich bei Dinner-Partys zum Besten gebe. Die Leute wüssten wahrscheinlich nicht, was sie davon halten sollen. Ich weiß ja selbst nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß nicht, wieso sie mir an dem Abend wieder in den Sinn kam.
Woher wissen wir, dass etwas bedrohlich ist? Woher kommt dieses Gefühl, dass etwas nicht harmlos ist? Der Instinkt siegt immer über den Verstand. Wenn ich nachts alleine aufwache, macht mir die Erinnerung immer noch Angst, sogar, je älter ich werde, umso mehr. Jedes Mal, wenn sie mir wieder hochkommt, wird sie schlimmer, unheilvoller. Vielleicht verstärke ich sie jedes Mal, indem ich daran denke. Keine Ahnung, könnte ja sein.
Ich kann nicht sagen, wieso ich in jener Nacht aufgewacht bin. Ich musste nicht aufs Klo, sondern war ganz still in meinem Zimmer. Ich bin auch nicht allmählich zu mir gekommen, sondern war von einer Sekunde zur anderen hellwach. Normalerweise brauche ich ein paar Sekunden oder sogar Minuten, um zu mir zu kommen. Diesmal bin ich aufgewacht, als hätte mir jemand einen Tritt verpasst.
Ich lag auf dem Rücken, was ebenfalls merkwürdig war. Normalerweise schlafe ich auf der Seite oder auf dem Bauch. Dabei sah mein Bettzeug so glatt und unberührt aus, als hätte mich eben erst jemand zugedeckt. Mir war heiß, ich war schweißnass. Mein Kissen war feucht. Meine Tür war geschlossen, und das Nachtlicht, das normalerweise an blieb, war aus. Im Zimmer war es dunkel.
Der Deckenventilator war auf die höchste Stufe eingestellt. Er drehte sich schnell, das weiß ich noch genau. Richtig schnell, als könne er jeden Moment von der Decke fliegen. Das war das einzige Geräusch, das ich hören konnte – das gleichmäßige Rattern des Motors und das Rotieren der Ventilatorblätter in der Luft.
Es war kein neues Haus, und wenn ich nachts aufwachte, gab es immer irgendwelche Geräusche – in den Rohrleitungen oder im Gebälk. Deshalb war es seltsam, dass ich in diesem Moment nichts dergleichen hören konnte. Verwirrt und hellwach lag ich da und horchte.
Und da hab ich ihn gesehen.
Mein Zimmer lag an der Rückseite des Hauses. Es war das einzige Schlafzimmer im Erdgeschoss. Das Fenster war direkt vor mir. Es war nicht besonders breit oder hoch. Der Mann stand einfach nur da. Draußen.
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Es überragte den Fensterrahmen. Ich sah nur seinen Rumpf – und auch den nur zur Hälfte. Er schwankte ein wenig. Er bewegte die Hände, rieb sie sich von Zeit zu Zeit, als wären sie kalt. Daran erinnere ich mich lebhaft. Er war sehr groß und spindeldürr. Sein Gürtel – ich erinnere mich an seinen abgetragenen, schwarzen Gürtel – war so eng geschnallt, dass ihm das lose Ende vorne wie ein Schwanz herunterhing. Noch nie hatte ich einen so großen Mann gesehen.
Ich wagte nicht, mich zu rühren, und starrte zu ihm hinaus. Auch er blieb, wo er war, dicht am Fenster, und rieb sich die Hände. Es sah aus, als legte er bei irgendeiner körperlichen Arbeit eine Pause ein.
Aber je länger ich ihn beobachtete, desto stärker beschlich mich das Gefühl, als könne auch er mich sehen, obwohl er mit dem Kopf und den Augen oberhalb des Fensterrahmens war. Da stimmte etwas nicht. Bei dem Ganzen stimmte etwas nicht. Wie sollte er mich sehen können, wenn ich seine Augen nicht sah? Ich wusste, dass es kein Traum war, andererseits irgendwie doch. Er beobachtete mich. Zu diesem Zweck stand er da.
Von draußen drang leise Musik herein, aber ich erinnere mich nur schwach. Sie war kaum zu hören. Und als ich aufgeschreckt bin, hatte ich sie noch nicht bemerkt. Erst seit ich den Mann sah, hatte ich sie im Ohr. Ich kann nicht mehr sagen, ob sie jemand abspielte oder nur summte. So verharrte ich eine halbe Ewigkeit, viele Minuten lang, vielleicht eine ganze Stunde.
Und dann winkte der Mann. Damit hatte ich nicht gerechnet, und ich kann beim besten Willen nicht sagen, ob es tatsächlich ein Winken war oder einfach nur eine Bewegung mit der Hand. Vielleicht war es nur eine Geste, die ich als Winken verstand.
Dieses Winken änderte alles. Es hatte etwas Bösartiges, als wolle er mir sagen, ich könne nie mehr ganz alleine sein, er bleibe in der Nähe und komme wieder. Plötzlich hatte ich Angst. Und ehrlich gesagt, ist das Gefühl jetzt genauso stark wie damals. Genauso real wie damals sehe ich die Erscheinung vor mir.
Ich machte die Augen zu. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Und schlief stattdessen ein. Als ich erwachte, war es Morgen und der Mann verschwunden.
Seither rechnete ich damit, dass es wiederkommt, dass er wieder auftaucht und mich so ansieht. Ist er aber nicht. Zumindest nicht an meinem Fenster.
Trotzdem hatte ich immer so ein komisches Gefühl, als sei der Mann wieder da. Der Mann ist immer da.
Es gab Momente, wo ich ihn, so scheint mir, tatsächlich gesehen habe. Wenn ich zum Beispiel an einem Fenster vorbeikam – meistens bei Nacht –, und auf der Bank vor meinem Haus saß ein großer Mann mit übergeschlagenen Beinen. Ohne sich zu rühren, blickte er mir entgegen. Keine Ahnung, was an einem Mann auf einer Bank bedrohlich ist, aber so fühlte es sich eben an.
Er war so weit weg, dass ich sein Gesicht kaum erkennen und auch nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob er mich beäugt. Ich hasste es immer, ihn zu sehen. Zwar kam es nicht häufig vor, aber ich hasste es. Dabei konnte ich nichts dagegen machen. Er tat nichts Unrechtes. Er tat eben gar nichts. Er las nicht. Er redete nicht. Er saß einfach nur da. Was wollte er? Das war vermutlich das Schlimmste an der Sache. Gut möglich, dass sich das alles nur in meinem Kopf abspielte. Solche abstrakten Phänomene können einem ganz real erscheinen.
Jedenfalls lag ich so, wie Jake mich zurückgelassen hatte, mit dem Gesicht zur Decke, auf dem Bett, als er wieder aus dem Bad kam. Das Bettzeug war zerwühlt, ein Kissen auf den Boden gefallen. So wie unsere Kleider ringsum auf dem Boden verstreut lagen, erinnerte das Zimmer an einen Tatort.
Er blieb, ohne ein Wort zu sagen, so lange am Fußende des Bettes stehen, dass ich es seltsam fand. Im Liegen hatte ich ihn nackt gesehen, aber nie im Stehen. Ich tat so, als sähe ich nicht hin. Er hatte sehr helle Haut, war mager, mit vorstehenden Sehnen. Er fand seine Unterwäsche auf dem Boden, zog sie an und kroch wieder unter die Decke.
»Ich möchte heute Nacht hierbleiben«, sagte er. »Es ist gerade so schön. Ich will noch nicht von dir weg.«
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte ich ihn in dem Moment, als er sich neben mich legte und seinen Fuß an meinem rieb, eifersüchtig machen. Nie zuvor hatte ich aus heiterem Himmel einen so unwiderstehlichen Drang verspürt.
Ich betrachtete ihn, wie er mit geschlossenen Augen auf dem Bauch neben mir lag. Wir hatten beide verschwitztes Haar. Genau wie ich hatte er ein rotes Gesicht.
»Das war schön«, sagte ich und strich ihm ganz sacht mit den Fingerspitzen über den Rücken. Er stöhnte wohlig. »Mein letzter Freund … da war einfach keine … so eine echte Verbundenheit ist selten. Manche Beziehungen bleiben eben ganz und gar auf das Physische beschränkt. Die physische Befriedigung ist überwältigend, aber das war’s dann auch. Egal, wie scharf man aufeinander ist, so was trägt einfach nicht.«
Ich weiß immer noch nicht, was mich in dem Moment geritten hat. Abgesehen davon, dass es nur teilweise stimmte. Jake reagierte nicht. Kein bisschen. Er lag einfach nur da, drehte sich zu mir auf die Seite und sagte: »Mach weiter. Das ist angenehm. Ich mag es, wenn du mich berührst. Du bist so einfühlsam. Du bist therapeutisch.«
»Du fühlst dich auch gut an«, sagte ich.
Fünf Minuten später hörte ich Jakes ruhigen Atem. Er war eingeschlafen. Mir war heiß, und ich hielt mir die Decke vom Leib. Im Zimmer war es dunkel, aber da sich meine Augen daran gewöhnt hatten, konnte ich immer noch meine Zehen sehen. In der Küche klingelte mein Handy. Es war schon richtig spät. Um diese Zeit rief man nirgends mehr an, und ich stand nicht auf, um ranzugehen, sondern warf mich unruhig hin und her. Es klingelte noch drei Mal. Wir blieben im Bett.
Als ich am Morgen später als gewohnt erwachte, war Jake schon weg. Ich lag unter der Decke. Mir brummte der Schädel, und ich hatte einen trockenen Mund. Die Gin-Flasche lag auf dem Boden. Sie war leer. Ich hatte einen Slip und ein Tanktop an, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, wie ich beides angezogen hatte.
Ich hätte Jake von dem Anrufer erzählen sollen. Inzwischen ist mir das klar. Ich hätte es ihm erzählen müssen, gleich als es anfing. Irgendwem hätte ich es wenigstens erzählen sollen. Hätte, wäre, wenn. Ich hab die Sache einfach nicht ernst genommen. Bis sie wichtig wurde. Heute weiß ich es besser.
Als er das erste Mal anrief, hatte er sich verwählt. Nichts weiter. Nichts Ernstes. Nichts Beunruhigendes. Dieser Anruf kam an demselben Abend, an dem ich Jake im Pub begegnet war. Kommt zwar nicht allzu oft vor, dass sich jemand verwählt, aber es passiert schon mal. Der Anruf riss mich aus dem Tiefschlaf. Das einzig Seltsame daran war die Stimme – die unterschwellige Anspannung, der beherrschte, verhaltene Ton.
Anrufer