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На Софийския университет »Св. Климент Охридски« с
благодарност
ISBN 978-3-492-96597-2
Mai 2017
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Václav Brožík, Der Prager Fenstersturz 1618,
National Gallery of Victoria, Melbourne/Bridgeman Images
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Der anonyme Autor der Flugschrift Gründliche und kurtze Anleytung Zum verstandt der Offenbarung Johannis […] wagte 1612 im Zusammenhang mit den neuen »händeln in Oesterreich und Böheimb« die Prophezeiung, dass sie »in Universalhändel und Mutation außschlagen und inn die ganze Christenheit kommen werden«. In der 1613 publizierten Schrift Discurß von etlichen Zeichen […] im Jahre 1612 und 1613 am Himmel und auf Erden […] interpretierte der Darmstädter Superintendent Heinrich Leuchter die vielen kosmischen Anomalitäten seiner Jahre – mit Einschluss der Regenbogen! – als Vorankündigung göttlicher Strafen, nämlich Krieg, Aufruhr und Widerwillen in den Landen sowie unglückbehaftete Bündnisse. 1617 wurde der Drucker Lucas Schultes vor das Augsburger Strafamt zitiert, weil er in einer von ihm verlegten, von der Zensur aber nicht genehmigten Flugschrift von einem am Firmament sichtbaren Drachen berichtet habe, dessen Aktivitäten über dem reichsstädtischen Himmel, so die Schrift, nur auf eines hindeuteten: Krieg, Aufruhr und »vil blutvergiessung«. Es stellte sich bei der Befragung des Druckers heraus, dass er Kolportagen einiger Weber aufgesessen war. Aber der »Wahrheitsgehalt« eines kosmischen Phänomens, das mit Sicherheit recht banal erklärt werden konnte, ist hier weniger relevant als der Schrecken und die obrigkeitliche Reaktion, die eine solche (ungeprüfte) Nachricht auslösten. Und noch ein viertes Zitat, ebenfalls aus Augsburg, wo der Gymnasialprofessor Elias Ehinger, wie viele Menschen in Mitteleuropa, im Herbst 1618 einen Kometen am Nachthimmel beobachtete und der festen Meinung war, die Himmelserscheinung kündige »krieg und bluetvergies« an, und die Befürchtung anfügte, dass »jammerliche Kriegn und Auffruhr unter dem gemeinen Mann« unausweichlich seien und »gross theuerung, hunger und pestilentz« sich anschlössen, kurzum: »Groß jammer und ellendt wird allenthalben die ganze Welt durchstreiffen.« Der Krieg, der große europäische Krieg, warf lange Schatten voraus: Die oft massiven Existenzängste der Menschen in der Dekade vor 1618/19 liefen auf die Erwartung hinaus, dass dieser Krieg – angesichts der kosmischen Zeichen, der politischen Zuspitzungen und anderer Faktoren – schlicht unausweichlich sei. Politisch brachte das der hessische Landgraf Moritz in einem Brief an den französischen König Ludwig XIII. im Frühjahr 1615 auf den Punkt: »Ich befürchte sehr, dass die Staaten des Reiches, die jetzt so grimmig miteinander im Streit liegen, einen verhängnisvollen Brand anzünden, von dem nicht nur sie selbst ergriffen werden, […] sondern auch all jene Länder, die in irgendeiner Weise mit Deutschland verbunden sind.« Moritz’ reichsbezogene Sicht unterschlug freilich, dass der erwartete große Krieg auch von anderswo seinen Ausgang hätte nehmen können.
Fünf Quellenzitate – aus Flugschriften und aus diplomatischen Korrespondenzen –, die eines gemeinsam haben: Zukunftsangst. Der lange europäische Konflikt, der den schon etliche Dekaden andauernden, am Ende 80-jährigen Emanzipationskampf der Niederländer gewissermaßen in sich aufsog, zählt zu jenen Kriegen der Vormoderne und der Moderne, die ihr Entstehen nicht einem plötzlichen Akt schuldeten – wie etwa der 1. Schlesische Krieg (1740) – oder einem Ereignis, bei dem alles von einem unkalkulierbaren biologischen Zufall abhing (Spanischer Erbfolgekrieg, 1701), sondern die von einer breiten »öffentlichen Meinung« lange erwartet und aufgrund einer entsprechenden mentalen Disposition in gewisser Hinsicht auch herbeigeredet wurden. Dieses Buch will den Weg in den Krieg – und damit in eines der traumatischsten Ereignisse der Vormoderne überhaupt für weite Teile des Kontinents – über eine Dekade hinweg nachzeichnen. Dieser Weg war nicht geradlinig, sondern von Ereignissen durchwoben, welche die Unvermeidbarkeit des großen europäischen Konflikts aufzuheben oder doch seinen Ausbruch zu verzögern schienen, von Faktoren, die der verbreiteten und tiefen Unruhe und der Vorstellung, dass der Weg zwangsläufig ins Chaos führen müsse, bewusst oder unbewusst entgegenwirkten. Diese Spannung zwischen einer Art »Endzeiterwartung« und den Versuchen, des Konfliktpotenzials doch noch Herr zu werden, macht den Reiz dieses aufregenden kurzen Zeitabschnitts aus.
Im Auf und Ab der Ereignisse, die, den retardierenden Momenten zum Trotz, in einer »verworrenen Mischung aus offenem Draufgängertum und vorsichtiger Abwehrhaltung« (Geoffrey Parker) auf den Kriegsausbruch zuliefen, ähnelt die »Krisendekade« einem Drama. Die inneren und äußeren Kriege und die oft geradezu beliebig scheinenden Kriegszüge, die Seuchen und Wetterkapriolen, die existenzbedrohende Verknappung der Lebensgrundlagen der Menschen, also die Trias der apokalyptischen Reiter, die für Krieg, Seuchen und Teuerung stehen, lösten einen Zukunftspessimismus aus, der seinesgleichen suchte. Hinzu kamen die dynastischen Zuspitzungen, die konfessionelle Erregung, die unheilkündenden kosmischen »Botschaften« und manch anderes. All das schrie gewissermaßen nach dramatischer Verdichtung durch Schriftsteller, auch über Grillparzers Theaterstück Ein Bruderzwist in Habsburg (1848) hinaus. Es lag deswegen nahe, diesen »dramatischen« Elementen auch in den Überschriften der drei Hauptkapitel dieses Buchs Ausdruck zu verleihen: Dramatis personae, Dramatis theatra, Dramatis finis.
Für dieses »Drama« wurde im Titel auf den Terminus »Dreißigjähriger Krieg« zurückgegriffen, der sich in den europäischen Sprachen eingebürgert hat und zudem zeitgenössisch ist. Ich verzichte darauf, detailliert auf die langen fachinternen Diskussionen darüber einzugehen, ob es sich tatsächlich um ein Kontinuum an Konflikten handelte, die so eng miteinander verflochten waren, dass sich die Assoziation eines einzigen und durchgehenden »Dreißigjährigen Krieges« rechtfertigt, oder ob eher von einer Aneinanderreihung je anders gelagerter und motivierter Konflikte auszugehen ist. Auf die Problematik soll aber wenigstens im Vorbeigehen hingewiesen werden.
Der im Untertitel und im Text verwendete Begriff der »Krise« ist in der Geschichtswissenschaft im Kontext und im Gefolge der Debatte um eine vermeintliche »Krise des 17. Jahrhunderts« seit den 1960er-Jahren – so etwa von Rudolf Vierhaus, dem damaligen Direktor des Göttinger Max-Planck-Instituts, eines der zentralen deutschen Orte für die »Krisen-Debatte« – intensiv diskutiert worden. »Krise« wird im Folgenden im Sinn einer Häufung exzeptioneller, aus der Normalität herausfallender Situationen verstanden, die für den Verlauf eines Gesamtprozesses maßgebliche oder entscheidende Bedeutung haben.
Das Buch, das sich an ein breiteres, historisch interessiertes Publikum wendet, verzichtet bewusst auf einen ausladenden kritischen Apparat; es begnügt sich stattdessen mit einer Auswahlbibliografie, in die – sieht man von den Quellen ab – überwiegend neuere, leicht greifbare Darstellungen aufgenommen wurden, von wenigen zwingenden Ausnahmen abgesehen vorrangig solche in deutscher und englischer Sprache. Aufsätze in Fachzeitschriften und Sammelwerken wurden nur ausnahmsweise berücksichtigt.
Der Verlag, der an sich mit einem anderen Publikationsvorschlag an mich herangetreten war, ist auf meine Vorstellungen sofort eingegangen. Nachdem ich mich in den zurückliegenden Jahrzehnten oft genug mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Suche nach einer belastbaren Friedensordnung beschäftigt hatte, war es von besonderem Reiz, mich nun seiner Vorlaufphase zuzuwenden. Dem Programmleiter Sachbuch des Piper Verlags, Martin Janik, danke ich für sein kontinuierliches Interesse an dem Buchprojekt, dem Projektlektor Dr. Oliver Thomas Domzalski für viele Anregungen und Glättungen in der Redaktionsphase. Der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sei für die freundliche Genehmigung zur Reproduktion der Flugschriften aus ihren Beständen gedankt. Meine Frau war auch diesmal eine kritisch-konstruktive Leserin des ersten Manuskriptentwurfs; ihr danke ich dafür, aber auch für das Verständnis, dass ich oft genug der Fertigstellung dieses Buchs den Vorzug gegenüber fest zugesagten Hundewanderungen gegeben habe.
Ich widme dieses europäisch angelegte Buch der St. Kliment Ohridski Universität Sofia, die mir vor Kurzem die Ehre erwies, mir die Würde eines Dr. honoris causa zu verleihen.
Mainz, im Oktober 2016 Heinz Duchhardt
Ein Buch auf ein bestimmtes Ereignis hin zu schreiben, in diesem Fall auf einen Kriegsausbruch, ist methodisch reizvoll, bietet aber auch Angriffsflächen – einige Publikationen, die im Gedenkjahr 2014 auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hin konzipiert wurden, haben das direkt oder indirekt bestätigt. Die Gefahr und der Einwand sind nicht von der Hand zu weisen, dass eine solche an der Finalität orientierte Darstellungsweise den Blick bewusst oder unbewusst vor allem auf solche Quellenbelege richten lässt, die die These von der Unentrinnbarkeit des Krieges stützen. Der Historiker, wenigstens der mit Quellenmaterial im Allgemeinen üppig ausgestattete Neuzeithistoriker, trifft ja immer eine Auswahl aus dem ihm zur Verfügung stehenden Quellencorpus, immer der Vorstellung verhaftet, repräsentatives Material heranzuziehen und zu verdichten, das den »Zeitgeist« angemessen wiedergibt oder einer Persönlichkeit »gerecht« wird. Das ist aber immer eine Ermessenssache. Insofern, es sei konzediert, ist die Gefahr des »Tunnelblicks«, also der einseitigen Quellenauswahl, bei einem final orientierten Vorhaben nie ganz auszuschließen. Und mit der einen Gefahr ist es nicht genug: Es ist nicht unproblematisch, die Krisenphänomene, die im Folgenden zur Sprache kommen, so aufeinanderzutürmen, dass am Ende ein »schier auswegloser Bedingungsrahmen« entsteht, der mit zwingender Konsequenz zum Ausbruch des Großen Krieges habe führen müssen. An gegebenen Stellen ist deshalb immer wieder eindringlich darauf hinzuweisen, dass es diesen »Automatismus«, eine solche Ausweglosigkeit nicht gegeben hat, dass die geschichtliche Entwicklung auch in der Krisendekade offen war, dass Kriege verhütet, dass Konflikte regionalisiert werden konnten, dass mithin auch Alternativen zum Prager Fenstersturz denkbar waren. Die Geschichte war offener, als der Buchtitel es nahelegen mag.
Der Gefahr, von einem »Ende« her, also final zu denken, sind viele Gesamtdarstellungen seit den Tagen Moriz Ritters im späten 19. Jahrhundert erlegen. Wie der mit den Quellen bestens vertraute Bonner Historiker nahmen sie häufig eine längere Periode der deutschen Geschichte in der Perspektive ihres Kulminations-(oder Tief-)Punkts 1648 in den Blick, dachten also von einem vermeintlich schlimmen Endpunkt her und konzentrierten sich dabei vorrangig auf die Verfalls-, Zerrüttungs- und Auflösungserscheinungen, die das Heilige Römische Reich mit geradezu folgerichtiger Konsequenz in den Abgrund hätten taumeln lassen. Und da schien dann vieles zu »passen«: dekadente und schwunglose Kaiser, farblose Fürsten, das Fehlen der großen Künstler, die die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts ausgezeichnet hätten, um nur einige wenige Momente herauszugreifen. Diesem Klischee gilt es im Folgenden wenigstens partiell entgegenzutreten – nicht nur mit dem Hinweis auf ein reges und manche neuen Phänomene generierendes Verfassungsleben in Zentraleuropa, das wenigstens ansatzweise politische Konsequenzen aus dem kulturellen Auseinandertreten des Reichs zu ziehen suchte, sondern auch mit der Aufarbeitung vieler paralleler Krisenphänomene in den europäischen Nachbarländern, die je einzeln das Potenzial hatten, sich zu einem europäischen Flächenbrand auszuweiten.
Die Grundthese, dass der 1618/19 sich entfesselnde Krieg sich gleichwohl seit Längerem angekündigt und abgezeichnet hatte, wird für die Dekade »vor Prag« mit einem breiten politik-, gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Instrumentarium verfolgt. Eine Dekade als »Messwert« – auch dagegen ließen sich Bedenken vorbringen. Kann sich eine Kriegsstimmung über einen so langen Zeitraum aufbauen und halten oder muss man für die Annahme einer Mentalität der Kriegsbereitschaft nicht doch mit viel kürzeren Zeiträumen rechnen?
Kriege und ihr Entstehen haben ihre Eigengesetzlichkeiten. Der Spanische Erbfolgekrieg (1701 – 1713/14) wurde im Grunde schon seit den 1670er-Jahren erwartet und politisch vorbereitet, und der in diese Zeitspanne hineinfallende Orléans’sche Krieg wurde, auch wenn nicht allein deswegen, 1697 abgeschlossen, um für den ganz großen und Europa mutmaßlich umkrempelnden Waffengang alle Ressourcen disponibel zu haben. Mit dem Ausbruch des Siebenjährigen Krieges (1756) wurde schon seit dem Aachener Frieden (1748) gerechnet, dem alle Beteiligten lediglich den Charakter eines Waffenstillstands beimaßen. Kriege, große Kriege zumal, konnten und können durchaus lange Vorlaufphasen haben, konnten und können, wie im weiteren Vorfeld des sogenannten Polnischen Thronfolgekrieges (1733 – 1738), auch mehrmals vermieden werden, um am Ende doch auszubrechen. Nicht jeder Krieg in der neueren Geschichte entstand »spontan« so wie der Devolutionskrieg (1667/68) oder der Holländische Krieg (1672 – 1678/79), die eher kurzfristig provoziert wurden. Die Regel war dagegen, dass die Mentalitäten sich auf das Unvermeidliche einstellen mussten und die Kriegsmaschinerie psychologisch und infrastrukturell erst anlaufen musste, ehe die Heere dann aufeinander losgingen.
Aber im hier zu behandelnden »Fall« war die Vorahnung eines bald (wieder) entfesselten Krieges nicht nur eine Sache der kühl kalkulierenden Diplomaten, der fürstlichen Räte, der kommunalen Funktionsträger. Das Gefühl sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit und Perspektivlosigkeit mochte eine längere, bis in die ersten kritischen Jahre der sogenannten Kleinen Eiszeit zurückreichende Vorgeschichte haben. Aber es ist keine Frage, dass sich die Vorstellung, in einer Zeit zu leben, die in geradezu apokalyptischer und millenaristischer Weise dem Ende der Welt zustrebte, an der Wende von der ersten zur zweiten Dekade des 17. Jahrhunderts noch einmal gewaltig steigerte. Der hier zur Diskussion stehende Vorlauf eines großen Krieges lässt sich jedenfalls kaum mit dem von politologischer Seite vor geraumer Zeit in Vorschlag gebrachten Parameter erklären, dass »der Staat« grundsätzlich für den Ausbruch von Kriegen die Verantwortung trage. Der Weg in die Katastrophe ist nicht primär rational, mit dem Macht- und Reputationsbedürfnis eines expandierenden (oder um seine Existenz besorgten) Staates, zu erklären. Dass der Große Krieg dann zu einem »Staatsbildungskrieg« werden sollte (Johannes Burkhardt), einem Krieg, in dem Staaten sich unter dem Druck des Bewahrens oder Verbesserns ihrer Stellung im Mächtegefüge »verdichteten«, bleibt davon unberührt.
Andere Dispositionen, sich auf einen Krieg einzustellen, den manche für einen Entscheidungskrieg über die Zukunft des Kontinents hielten, traten hinzu. Sie hatten weniger mit der Türkenproblematik zu tun, die in früheren Jahrzehnten immer wieder ins Feld geführt worden war, um dem Kontinent und der Christianitas eine düstere Zukunft vorherzusagen, als vielmehr mit der scharfen Trennung des Kontinents in zwei – oder korrekter: drei – konfessionelle Lager. Das Bekenntnis, der Glaube, die Zugehörigkeit zur »alten« Kirche oder zu den neuen, sich ihrerseits als »alt« verstehenden Kirchen und Glaubensgemeinschaften war der beherrschende Grundzug der Epoche. Dieses über das Theologische auch ins Kulturelle übergreifende und »Lagermentalitäten« provozierende Gegeneinander hatte verschiedene Varianten – Römische Kirche versus Luthertum, Römische Kirche versus Calvinismus, Luthertum versus Calvinismus – und verwies andere Glaubenskonfigurationen wie etwa die anglikanische Kirche oder die sehr heterogene böhmische Kirche darauf, sich entsprechend einzuordnen. Die Interpretation des Dreißigjährigen Krieges als eines »Glaubenskrieges« hat lange das Feld beherrscht!
Da die Konfliktfelder, um die es nachfolgend geht, in aller Regel im 16. Jahrhundert wurzeln – unbeschadet der Tatsache, dass sich systemisch im Bereich der Staatenpolitik einiges grundlegend veränderte –, ergibt sich kein Grund, der herkömmlichen Periodisierung zu widersprechen, nämlich: die beiden Jahrzehnte vor Ausbruch des Großen Krieges dem »langen« 16. Jahrhundert zuzuordnen.
Diese Darstellung nimmt die Ganzheit Europas in den Blick – von der Arbeitshypothese ausgehend, dass der Große Krieg eher zufällig von Böhmen seinen Ausgang nahm, es aber an vielen anderen Stellen in Europa lichterloh brannte oder doch so bedrohlich glomm, dass auch von dort ein Flächenbrand hätte ausgehen können. Die vermeintlichen »Peripherien«, die von der Geschichtswissenschaft nur zu gerne marginalisiert werden, gewannen anfangs des 17. Jahrhunderts ein neues Gewicht. Das Narrativ, europäische Geschichte primär vom Zentrum her zu denken und zu schreiben, ist dringend zu hinterfragen.
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Für diese Studie wurden keine ungedruckten Quellen in den Archiven erhoben. Das war auch deswegen entbehrlich, weil seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gerade für diese Phase der deutschen Geschichte, die des »vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher«, von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Unmengen von Quellen zugänglich gemacht wurden – nicht unbedingt in der heute üblichen Editionstechnik, aber immerhin benutzbar. Die säkulare Edition der Deutschen Reichstagsakten, noch von Leopold von Ranke in den 1860er-Jahren initiiert und seitdem von der eben genannten Historischen Kommission in München betrieben, ist zwar in ihrer Jüngeren Reihe noch nicht bis zu den mehr oder weniger im Chaos versinkenden Reichstagen von 1608 und 1613 vorgedrungen, aber ihr Ablauf lässt sich dank anderer Quellen gut nachbereiten, etwa dem Tagebuch des kurkölnischen Beamten Kaspar von Fürstenberg, der alle Facetten der erstgenannten Reichsversammlung – bis hin zu den exzessiven (auch überkonfessionellen!) Trinkgelagen – akribisch festhielt. Es stehen sogenannte Ego-Dokumente wie etwa das Kriegstagebuch eines hessischen Obristen oder die Chronik eines Odenwälder Pfarrers zur Verfügung; aus dem zwischenstaatlichen Bereich liegt neben dem Diarium des kaiserlichen Diplomaten Adam von Herberstein ein die Jahre 1616 bis 1618 abdeckendes dienstliches Tagebuch eines kaiserlichen Gesandtschaftssekretärs für seine Reise von Prag an den Bosporus vor, das auch kulturgeschichtlich für diese Region reizvoll ist. Aber die Quelleneditionen reichen weit über den deutschen Kulturraum hinaus: Hier sind namentlich die Berichte der päpstlichen Nuntien an den europäischen Höfen und deren Instruktionen zu nennen, die freilich trotz zum Teil schon langer Bearbeitungslaufzeiten noch nicht flächendeckend für die gesamte katholische Staatenwelt zur Verfügung stehen; für Frankreich beispielsweise wurde schwerpunktmäßig bisher vor allem das mittlere 16. Jahrhundert aufgearbeitet. Die Flugblätter und Flugschriften der Epoche, das eigentliche Medium einer politisierten Öffentlichkeit – das Zeitungswesen begann sich erst während der Krisendekade sehr allmählich von Straßburg aus zu entwickeln –, sind durch deutsche und amerikanische Repertorien, zum Teil mit ausführlichen Kommentaren, gut erschlossen. Kurzum, das Quellenmaterial für eine Studie wie diese, die nicht primär Forschungscharakter beansprucht, ist mehr als ausreichend.
Über die Flugschriften als ein für die Epoche besonders charakteristisches Phänomen ist seit mehr als einer Generation eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion im Gang, die unter anderem nach den Beweggründen ihrer Autoren, nach den Auflagen und der geografischen Verteilung der Gelegenheitsschriften fragt, nach ihrem Zielpublikum und dessen grundsätzlicher »Zustimmungsbereitschaft« bzw. – nach der Lektüre – Mentalitätsveränderung, nach den obrigkeitlichen Zensurmaßnahmen gegen sie und vor allem nach ihrer Definition. Es mag hier genügen, auf diese interdisziplinäre Debatte hingewiesen zu haben und eine Definition anzubieten, die gerade im Hinblick auf die nachreformatorische Publizistik von der neueren Forschung erarbeitet worden ist und die vieles für sich hat. Unter Flugschriften werden im Folgenden verstanden: »nichtperiodische Druckschriften mit dem Ziel aktueller Orientierung eines anonymen, lesefähigen und zur Orientierungsmultiplikation geeigneten Publikums angesichts der spezifischen Bedingungen gegenwärtiger äußerer Wirklichkeit. Sie zielen auf raschen Konsum und sind daher handlich […], im Umfang knapp und inhaltlich eingängig« (Volker Leppin). Bei alledem wird von der Forschung inzwischen immer deutlicher unterstrichen, dass Flugblättern und Flugschriften eine eminent meinungsgenerierende Funktion zukam. Es stehe, so ist es formuliert worden, »außer Frage, dass Flugschriften und -blätter ein frühneuzeitliches Krisengefühl nicht nur indizierten, sondern wesentlich auch auslösten und trugen« (Wolfgang Harms/Michael Schilling).
Die Forschungsliteratur kann hier nur sehr summarisch angesprochen werden. An Gesamtdarstellungen der deutschen und europäischen Geschichte, die das frühe 17. Jahrhundert einschließen, besteht kein Mangel, ganz im Gegenteil. Auch viele Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Krieges – sie sind ebenfalls kaum noch zu zählen – greifen in seine Vorgeschichte aus, ganz gleich ob sie den Großen Krieg als ein »teutsches« oder europäisches, ein religiös oder mächtepolitisch akzentuiertes Phänomen verstehen. Das geschieht freilich mehr oder weniger ausführlich – am ausführlichsten bei Geoffrey Parker, der allerdings längst nicht das gesamte europäische Panorama ausleuchtet und die Mentalitätsgeschichte kaum beachtet. Ein an sich genau in die Fragestellung dieses Buches einschlagender Sammelband (Friedliche Intentionen – Kriegerische Effekte: War der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unvermeidlich?) geht über den Reichsrahmen kaum hinaus.
Die internationalen Beziehungen in der hier behandelten Epoche sind in jüngster Vergangenheit umfassend sowohl monografisch als auch durch eine ganze Reihe von Sammelbänden aufgearbeitet worden, wobei vor allem die Einbettung des Osmanischen Reiches in das Mächtespiel der Epoche verstärkt Aufmerksamkeit gefunden hat und das internationale Netzwerk der römischen Kurie umfassend aufbereitet worden ist. Einzelne Konflikte wie der Jülich-Klevische Erbstreit und Erbfolgekrieg haben, auch wenn sie keine nationalen Mythen und keine tragischen Figuren hervorgebracht und keine elementar neuen Gedanken geboren haben, unter modernen – prosopografischen und verwaltungsgeschichtlichen, auch kulturgeschichtlichen – Fragestellungen neue Würdigungen erhalten. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Detailstudien, etwa zur Hexenproblematik, liegen in Hülle und Fülle vor; die Regionalstudien und die Überblickswerke zu den Hexenverfolgungen sind schier unübersehbar geworden. Auch andere zentrale Ereignisse wie das Reformationsjubiläum 1617 oder die böhmische Frage haben im Schrifttum breite Spuren gezogen. Die deutschsprachige Literatur zu anderen Wendepunkten wie etwa dem niederländisch-spanischen Waffenstillstand, der spannungsvollen Übergangszeit in Frankreich oder der russischen Smuta, der »Zeit der Wirren«, ist wenigstens ausreichend. Die Diskussionen über die (angebliche) »Krise des 17. Jahrhunderts«, die von England und der marxistisch inspirierten Geschichtswissenschaft ausging und inner- und gar zwischenstaatliche Verwerfungen mit dem Übergang von einer feudal-frühkapitalistischen Produktionsweise zu einer kapitalistischen zu erklären suchte, ist zwar abgeebbt, hat aber ihren heuristischen Wert behalten.
Die beiden habsburgischen Kaiser, um die es in der Krisendekade geht, zählen zwar nicht zu den strahlendsten Gestalten der Casa de Austria, also des Gesamthauses Habsburg, und sind deswegen von der Forschung eher etwas stiefmütterlich behandelt worden. Aber das gilt nicht für andere Protagonisten wie etwa Herzog Maximilian von Bayern, Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz oder ausländische Potentaten wie Heinrich IV. von Frankreich, Jakob I. von England oder Gustav II. Adolf von Schweden. Es gibt mithin keinen Grund, die Literaturlage als unbefriedigend zu bezeichnen. Die strukturgeschichtlichen, die biografischen und die ereignisorientierten Studien machen in Verbindung mit dem reichen zur Verfügung stehenden Quellenmaterial die Krisendekade im Gegenteil zu einem relativ gut ausgeleuchteten Zeitabschnitt. Es bleibt aber eine intellektuelle Herausforderung, sich unter einer ebenso weiten wie zugespitzten Fragestellung mit der Vorlaufphase des Dreißigjährigen Krieges erneut zu beschäftigen und den Leser teilhaben zu lassen an den Strukturen und dem Verlauf eines hochexplosiven und hoch emotionalisierten Zeitabschnitts, der seinesgleichen in der Geschichte sucht.