OBSIDIAN – Kammer des Bösen

Douglas Preston / Lincoln Child

OBSIDIAN –
Kammer des Bösen

Ein neuer Fall für
Special Agent Pendergast

Thriller

Aus dem Amerikanischen von
Michael Benthack

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Douglas Preston / Lincoln Child

Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Naturwissenschaften und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim American Museum of Natural History in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durch das Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, Relic, dem viele weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher (Der Codex, Der Canyon, Credo, Der Krater)) und verfasst regelmäßig Artikel für diverse Magazine. Er lebt mit seiner Familie an der Ostküste der USA.

Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Connecticut, geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und System-Analytiker. Während der Recherchen zu einem Buch über das American Museum of Natural History in New York lernte er Douglas Preston kennen und entschloss sich nach dem Erscheinen des gemeinsam verfassten Thrillers, Relic, Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Obwohl die beiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinander entfernt leben, schreiben sie ihre Megaseller gemeinsam: per Telefon, Fax und Internet. Lincoln Child publiziert darüber hinaus auch eigene Bücher (Das Patent, Eden). Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»The Obsidian Chamber« bei Grand Central Publishing, New York.

 

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2016 by Splendide Mendax, Inc., and Lincoln Child

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic/shutterstock

ISBN 978-3-426-44296-8

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Wir freuen uns auf Sie!

Lincoln Child widmet dieses Buch

seiner Mutter Nancy.

 

Douglas Preston widmet dieses Buch

Churchill Elangew.

Selbst im Schlaf fällt der Schmerz,

den wir nicht vergessen können,

Tropfen für Tropfen in unser Herz,

bis in unserer Verzweiflung und

gegen unseren Willen durch die ungeheure

schreckliche Gnade Gottes Weisheit wächst.

 

Aischylos, Agamemnon

zitiert von Robert F. Kennedy

nach der Ermordung

von Martin Luther King

Prolog

8. November

Leise schob Proctor die Doppelflügeltür zur Bibliothek auf, damit Mrs. Trask mit einem Silbertablett, darauf ein Service für einen Morgentee, hindurchgehen konnte.

Im Zimmer war es schummerig, erhellt wurde es nur vom Feuer, das im Kamin flackerte. Davor, in einem Lehnstuhl, konnte Proctor im matten Lichtschein undeutlich eine reglose Gestalt erkennen.

Mrs. Trask ging zu ihr hinüber und stellte das Tablett auf einem Beistelltisch neben dem Stuhl ab.

»Ich dachte mir, Sie möchten vielleicht gern eine Tasse Tee, Miss Greene«, sagte sie eifrig.

»Nein, vielen Dank, Mrs. Trask«, erwiderte Constance matt.

»Es ist Ihr Lieblingstee. Jasmin, erste Ernte. Ich habe Ihnen auch ein paar Madeleines gebracht. Die habe ich gerade heute Morgen frisch gebacken. Ich weiß ja, wie gern Sie sie essen.«

»Ich habe keinen großen Hunger. Aber trotzdem vielen Dank für Ihre Mühe.«

»Na ja, ich lasse sie hier für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.« Mrs. Trask lächelte mütterlich, wandte sich um und ging zum Ausgang der Bibliothek. Als sie bei Proctor ankam, war das Lächeln verschwunden, und sie machte wieder ein besorgtes Gesicht.

»Ich werde ein paar Tage fort sein«, sagte sie leise. »Meine Schwester soll am kommenden Wochenende aus dem Krankenhaus entlassen werden. Sind Sie sicher, dass Sie allein zurechtkommen?«

Proctor nickte, schaute ihr hinterher, wie sie zurück in die Küche eilte, dann wandte er den Blick wieder der Gestalt im Lehnstuhl zu.

Es war über zwei Wochen her, dass Constance in die Villa am Riverside Drive 891 zurückgekommen war. Grimmig und schweigsam war sie ohne Agent Pendergast zurückgekehrt – und ohne zu erklären, was geschehen war. Proctor, Pendergasts Chauffeur, Ex-Untergebener beim Militär und allgemeines Faktotum in Sachen Sicherheit, hatte das Gefühl, in Abwesenheit von Pendergast verpflichtet zu sein, Constance bei allem, was ihr zu schaffen machte, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Es hatte ihn Zeit, Geduld und Mühe gekostet, ihr die Geschichte zu entlocken. Selbst jetzt noch ergab das Erzählte wenig Sinn, und er war sich unsicher, was tatsächlich geschehen war. Was er allerdings wusste, war, dass sich das große Haus ohne Pendergasts Anwesenheit verändert – völlig verändert hatte. Was auch für Constance galt.

Nachdem sie allein aus Exmouth in Massachusetts zurückgekehrt war, wo sie Special Agent A. X. L. Pendergast bei einem privaten Fall assistiert hatte, hatte sie sich tagelang in ihrem Zimmer eingeschlossen und die Mahlzeiten nur mit größtem Widerstreben zu sich genommen. Als sie das Zimmer endlich wieder verließ, schien sie ein anderer Mensch geworden zu sein: hager, geisterhaft.

Proctor hatte sie immer als besonnen, reserviert und beherrscht erlebt, doch in den folgenden Tagen war sie abwechselnd apathisch und dann wieder plötzlich voll rastloser, zielloser Energie, wobei sie auf den Fluren und Gängen umherwanderte, als suche sie nach irgendetwas. Sie verlor jegliches Interesse an den Beschäftigungen, die sie früher so interessiert hatten: die Recherchen zum Familienstammbaum der Pendergast-Familie, die antiquarischen Studien, Lesen, Cembalo spielen. Nach einigen besorgten Besuchen von Lieutenant D’Agosta, Captain Laura Hayward und Margo Green hatte sie sich geweigert, irgendjemanden zu empfangen. Auch schien sie – Proctor fiel kein besserer Ausdruck dafür ein – auf der Hut zu sein. Ein Funken ihres alten Selbst zeigte sich nur bei den seltenen Gelegenheiten, wenn das Telefon klingelte oder Proctor die Post aus dem Postfach zurückbrachte. Jedes, jedes Mal hoffte sie, das wusste er, auf eine Nachricht von Pendergast. Aber es war keine gekommen.

Eine gewisse hochrangige Einheit beim FBI hatte dafür gesorgt, dass die Suche nach Pendergast und die damit einhergehende offizielle Untersuchung aus den Medien herausgehalten wurden. Dennoch hatte Proctor es auf sich genommen, alle Informationen über das Verschwinden seines Arbeitgebers zu sammeln. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass die Suche nach der Leiche fünf Tage gedauert hatte. Da es sich bei der vermissten Person um einen Bundesbeamten handelte, waren außergewöhnliche Anstrengungen unternommen worden. Boote der Küstenwache hatten die Gewässer vor Exmouth abgesucht, Beamte der örtlichen Polizei und Angehörige der Nationalgarde hatten die Küste von der Grenze zu New Hampshire bis hinunter nach Cape Ann durchkämmt auf der Suche nach irgendeinem Zeichen von Pendergast – und wenn es nur ein Fetzen Kleidung war. Taucher hatten sorgfältig alle Felsen untersucht, an denen die Strömungen eine Leiche angespült haben könnten, und der Meeresboden war mit Sonar erkundet worden. Aber es war nichts dabei herausgekommen. Die Ermittlungen wurden offiziell weitergeführt, doch die unausgesprochene Schlussfolgerung lautete, dass Pendergast – schwer verletzt in einem Kampf, gegen einen tückischen Tidenstrom ankämpfend, geschwächt durch das unaufhörliche Schmettern der Wellen und das zehn Grad kalte Wasser – aufs Meer hinausgetrieben und ertrunken war, sein Körper versunken in den Tiefen des Ozeans. Vor zwei Tagen hatte Pendergasts Anwalt – ein Partner in einer der ältesten und diskretesten Kanzleien New Yorks – sich schließlich an Pendergasts überlebenden Sohn Tristram gewandt, um ihm die traurige Nachricht vom Verschwinden seines Vaters zu überbringen.

Jetzt näherte sich Proctor leise Constance und nahm neben ihr Platz. Sie hob kurz den Kopf, als er sich setzte, und schenkte ihm ein ganz leises Lächeln. Dann richtete sie den Blick wieder auf den Kamin. Das flackernde Licht warf dunkle Schatten auf ihre violetten Augen und die dunklen, als Bob geschnittenen Haare.

Seit ihrer Rückkehr hatte Proctor es sich zur Aufgabe gemacht, sich um sie zu kümmern, im Wissen, dass sein Arbeitgeber ebendies gewünscht hätte. Ihr kritischer Zustand löste unerwarteterweise Beschützergefühle in ihm aus – was paradox war, da Constance unter normalen Umständen die Letzte war, die bei einem anderen Menschen Schutz suchte. Und doch schien sie, ohne dass sie es sagte, froh über seine Fürsorge zu sein.

Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Proctor, ich habe mich entschlossen, wieder nach unten zu gehen.«

Die jähe Ankündigung schockierte ihn. »Sie meinen, nach da unten, wo Sie schon einmal gelebt haben?«

Sie schwieg.

»Warum?«

»Um … mich zu lehren, das Unvermeidliche zu akzeptieren.«

»Wieso können Sie das nicht hier bei uns? Sie dürfen nicht wieder dort hinuntergehen.«

Sie wandte sich um und sah ihn so durchdringend an, dass es ihm den Atem verschlug.

Ihm wurde klar, dass Widerspruch sinnlos war – er konnte sie einfach nicht umstimmen. Aber zumindest bedeutete es, dass sie sich endlich damit abgefunden hatte, dass Pendergast tot war, was immerhin ein kleiner Fortschritt war. Möglicherweise.

Jetzt erhob sie sich von ihrem Stuhl. »Ich werde Mrs. Trask einen kurzen Brief schreiben, in dem ich ihr mitteile, welche Dinge des täglichen Bedarfs sie im Serviceaufzug hinterlegen soll. Jeden Abend um acht werde ich eine warme Mahlzeit zu mir nehmen. Doch an den nächsten beiden Abenden möchte ich bitte nichts – im Moment fühle ich mich überversorgt. Außerdem ist Mrs. Trask nicht da, und ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«

Auch Proctor stand auf. Er fasste sie am Arm. »Constance, Sie müssen mir zuhören …«

Sie blickte auf seine Hand herunter und dann hinauf in sein Gesicht, mit einem Ausdruck, der ihn dazu brachte, seinen Griff sofort zu lösen.

»Danke, Proctor, dass Sie meine Wünsche respektieren.«

Sie streckte sich – und überraschte ihn noch einmal, indem sie ihn leicht auf die Wange küsste. Dann drehte sie sich um und ging fast wie eine Schlafwandlerin zum anderen Ende der Bibliothek, wo der Serviceaufzug hinter einem falschen Bücherregal verborgen war. Sie drückte das Bücherregal auf, schlüpfte in den wartenden Aufzug, schloss ihn hinter sich – und war verschwunden.

Proctor blickte einen langen Augenblick auf die Stelle. Das war doch verrückt. Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Einmal mehr glich Pendergasts Abwesenheit einem Schatten, der über die Villa und ihn gefallen war. Er brauchte Zeit, musste allein sein und die ganze Sache durchdenken.

Er verließ die Bibliothek, bog ab und ging über einen Flur, öffnete eine Tür, die in einen mit Teppich ausgelegten Gang führte, und stieg eine schiefe Treppe hoch, die in die alten Wohnungen des Dienstpersonals führte. Als er auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock angekommen war, ging er einen weiteren Flur entlang, bis er vor seiner kleinen Wohnung stand. Er öffnete die Tür, trat ein und schloss sie hinter sich.

Er hätte sich entschiedener gegen Constances Vorhaben aussprechen sollen. Jetzt, wo Pendergast nicht da war, trug er Verantwortung für sie. Doch er hätte sagen können, was er wollte, es hätte nichts bewirkt.

Vor langer Zeit hatte er gelernt, dass er, obwohl er mit fast jedem Menschen auskam, gegen sie nichts ausrichten konnte. Mit der Zeit, dachte er, und mit seiner subtilen Unterstützung würde Constance sich damit abfinden, dass Pendergast tot war, und sich wieder den Lebenden anschließen …

Eine behandschuhte Hand zuckte von hinten vor, packte ihn am Brustkorb und drückte mit immenser Kraft zu.

Obwohl er überrascht war, reagierte Proctor intuitiv mit einer jähen Ausweichbewegung nach unten, womit er den Eindringling aus dem Gleichgewicht zu bringen versuchte. Aber der Mann antizipierte seine Reaktion und durchkreuzte sie. Sofort spürte Proctor den Stich einer Nadel, die ihm tief in den Nacken gebohrt wurde. Er erstarrte.

»Ich rate davon ab, sich zu bewegen«, ließ sich eine merkwürdige, seidenweiche Stimme vernehmen, die Proctor zutiefst erschrocken wiedererkannte.

Er rührte sich nicht vom Fleck. Es schockierte ihn, dass jemand ihn bezwungen hatte. Wie war das möglich? Er war in Gedanken gewesen, unaufmerksam. Das hier würde er sich niemals verzeihen.

Zumal dieser Mensch, wie er wusste, Pendergasts größter Feind war.

»Sie beherrschen die Kunst des Nahkampfs viel besser als ich«, fuhr die weiche Stimme fort. »Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, die Chancen gleich zu verteilen. Was Sie im Moment in Ihrem Nacken spüren, ist eine Injektionsnadel. Ich habe den Kolben noch nicht heruntergedrückt. Die Spritze enthält eine Dosis Natriumpentothal – eine sehr hohe Dosis. Ich werde Sie einmal fragen, und nur einmal. Signalisieren Sie Ihr Einverständnis, indem Sie Ihren Körper entspannen. Wie Sie jetzt reagieren, wird darüber bestimmen, ob Sie eine Dosis bekommen, die nur betäubend oder aber tödlich ist.«

Proctor erwog seine Optionen. Er ließ den Körper schlaff werden.

»Ausgezeichnet«, sagte die Stimme. »Der Name ist Proctor, wenn ich mich recht entsinne?«

Proctor sagte immer noch nichts. Es würde sich eine Chance ergeben, die Situation umzukehren. Es gab immer eine Chance. Er musste nur nachdenken.

»Ich beobachte die Familienvilla nun schon seit einiger Zeit. Der Hausherr ist nicht da – auf Dauer, wie es scheint. Die Atmosphäre hier ist ja düster wie im Grab. Da könntet ihr euch alle gleich einen Trauerflor anstecken.«

Proctors Gedanken rasten, er ging verschiedene Szenarien durch. Er musste eines auswählen und umsetzen. Er brauchte Zeit, nur ein bisschen Zeit, höchstens ein paar Sekunden …

»Nicht in der Stimmung für eine Plauderei? Auch gut. Ich habe noch sehr viel zu erledigen, und so wünsche ich Ihnen: Gute Nacht

Während er spürte, wie der Kolben nach unten glitt, wurde Proctor bewusst, dass seine Zeit abgelaufen war – und dass er, zu seiner riesengroßen Überraschung, versagt hatte.

1

Langsam schwamm Proctor aus pechschwarzen Tiefen wieder ans Bewusstsein empor. Es war weit zu schwimmen, und es schien sehr lange zu dauern. Schließlich öffnete er die Augen. Seine Lider fühlten sich schwer an, und er musste seine ganze Kraft aufbieten, damit er die Augen nicht wieder schloss. Was war geschehen? Einen Augenblick lag er reglos da, nahm die Umgebung in sich auf. Dann wurde ihm klar, dass er auf dem Boden seines Wohnzimmers lag.

Seines Wohnzimmers.

Ich habe noch sehr viel zu erledigen …

Urplötzlich stürzte die Erinnerung wieder auf ihn ein. Mühsam versuchte er, sich aufzurappeln, scheiterte, versuchte es erneut mit noch größerer Anstrengung, und dieses Mal gelang es ihm, sich in eine sitzende Position zu stemmen. Sein Körper fühlte sich an wie ein Mehlsack.

Er sah auf die Armbanduhr. Elf Uhr fünfzehn. Er war eine gute halbe Stunde bewusstlos gewesen.

Dreißig Minuten. In dieser Zeit konnte Gott weiß was geschehen sein.

Ich habe noch sehr viel zu erledigen …

Mit heroischer Anstrengung hievte Proctor sich hoch. Das Zimmer drehte sich, er stützte sich an einem Tisch ab und schüttelte heftig den Kopf, um ihn wieder freizubekommen. Er hielt einen kurzen Moment inne, versuchte, seine körperlichen und geistigen Kräfte zu sammeln. Dann öffnete er die Tischschublade, zog eine Glock 22 heraus und steckte sie hinter den Hosenbund.

Die Tür zu seiner Zimmerflucht stand offen und gab den Blick auf den dahinterliegenden zentralen Flur der Dienstbotenwohnung frei. Proctor strebte auf die offene Tür zu, stützte sich am Rahmen ab, taumelte dann wie ein Betrunkener den Flur entlang. Als er die schmale Hintertreppe erreichte, klammerte er sich haltsuchend am Geländer fest und stieg schweren, torkelnden Schritts die zwei Treppen zum Erdgeschoss der Villa herunter. Diese Anstrengung, verbunden mit dem Gefühl äußerster Gefahr, das ihn umgab, trug dazu bei, seine Sinne wieder zu schärfen. Er ging bis zum Ende eines kurzen Korridors und öffnete die Tür, die zu den Besucherräumen der Villa führte.

Hier blieb er stehen und wollte gerade nach Mrs. Trask rufen, als er sich anders besann. Seine Anwesenheit laut zu verkünden, war keine gute Idee. Außerdem hatte Mrs. Trask wahrscheinlich bereits das Haus verlassen, um sich auf den Weg zu ihrer kranken Schwester in Albany zu machen. Und auf alle Fälle war sie nicht diejenige Person, die in größter Gefahr schwebte. Diese Person war Constance.

Proctor trat auf den Marmorboden hinaus und schickte sich an, in die Bibliothek zu gehen, mit dem Aufzug ins Untergeschoss zu fahren und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Constance zu beschützen. Doch direkt vor der Bibliothek hielt er erneut inne. Er sah, dass ein Tisch umgestürzt war und Bücher und verschiedene Papiere auf dem Teppich verstreut lagen.

Hastig blickte er sich um. Zur Rechten, in der großen Empfangshalle der Villa, wo zahlreiche Glasvitrinen voller kurioser Gegenstände an den Wänden standen, herrschte Chaos. Ein Sockel war umgestürzt, daneben die Scherben der alten etruskischen Urne, die darauf ausgestellt gewesen war. Die übergroße Vase mit den frischen Blumen, die stets in der Mitte der Halle stand und täglich von Mrs. Trask neu gefüllt wurde, lag zerbrochen auf dem Marmorboden. Zwei Dutzend Rosen und Lilien lagen im wirren Durcheinander in Wasserlachen. Am anderen Ende der Halle, am Durchgang zur Refektoriumsgalerie, stand eine der Vitrinentüren weit offen; sie hing schief und war halb aus den Angeln gerissen. Es sah aus, als ob jemand sich in dem verzweifelten Versuch, nicht weggezerrt zu werden, daran festgeklammert hätte.

Lauter überdeutliche Anzeichen eines furchtbaren Kampfes. Und sie führten von der Bibliothek durch die Empfangshalle direkt zur Eingangstür der Villa. Und zur Welt, die jenseits davon lag.

Proctor rannte durch die Halle. In dem langen, schmalen Raum dahinter sah er, dass am Refektoriumstisch – an dem Constance bis vor kurzem damit beschäftigt gewesen war, die Familiengeschichte der Pendergasts zu erforschen – ein heilloses Durcheinander herrschte: verstreute Bücher und Papiere, umgestürzte Stühle, ein Laptop-Computer mit der Unterseite nach oben. Am anderen Ende des Raums, wo ein Foyer zum Eingangsbereich führte, machte er eine noch beunruhigendere Entdeckung. Die schwere Eingangstür, die selten unverriegelt war, geschweige denn offen stand, war einen Spaltbreit geöffnet, so dass helles spätmorgendliches Sonnenlicht ins Haus fiel.

Während Proctor diese Hinweise zunehmend entsetzt registrierte, hörte er von jenseits der offenen Tür den erstickten Klang einer weiblichen Stimme, die um Hilfe rief.

Ohne das immer noch anhaltende Schwindelgefühl zu beachten, rannte er durch den Raum und zog die Glock aus dem Hosenbund. Er lief unter einem Bogengang entlang, durch die Vorhalle, trat dann die Haustür weit auf und blieb dahinter unter der überdachten Wagenauffahrt stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Dort, am anderen Ende der Auffahrt, stand ein zum Riverside Drive ausgerichteter Lincoln Navigator mit getönten Scheiben und laufendem Motor. Die rechte Hecktür war offen. Direkt davor stand Constance Greene, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sie wehrte sich verzweifelt, und obwohl ihr Gesicht von ihm abgewandt war, erkannte Proctor die unverkennbare Bobfrisur und den olivgrünen Burberry-Trenchcoat. Ein Mann, das Gesicht ebenfalls abgewandt, hatte ihren Kopf gepackt, stieß sie jetzt brutal auf den Rücksitz und schlug die Tür hinter ihr zu.

Proctor hob seine Waffe und schoss, aber der Mann hechtete über die Kühlerhaube des Autos und durch die Fahrertür, so dass der Schuss ins Leere ging. Proctors zweiter Schuss prallte am Panzerglas der Scheiben ab. Währenddessen beschleunigte der Wagen mit quietschenden Reifen und raste, eine Wolke aus verbranntem Gummi hinter sich zurücklassend, auf den Riverside Drive. Die immer noch wild kämpfende Constance war dabei durch das getönte Rückfenster gut erkennbar. Dann fuhr der Wagen mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinunter und verschwand außer Schussweite.

Kurz bevor der Angreifer ins Auto gesprungen war, hatte er sich zu Proctor umgewandt. Ihre Blicke hatten sich getroffen. Die Gesichtszüge des Mannes waren unverwechselbar: seine seltsamen verschiedenfarbigen Augen, das bleiche, kantige Gesicht, der gepflegte Bart, das rote Haar und der Ausdruck kalter Grausamkeit … Es war niemand anderes als Diogenes, Pendergasts Bruder und unerbittlicher Feind, den sie alle für tot gehalten hatten – getötet von Constance mehr als drei Jahre zuvor.

Nun war er wieder aufgetaucht. Und er hatte Constance in seiner Gewalt.

Der Ausdruck in Diogenes’ Augen – die Grausamkeit, das freudlose, kranke Funkeln des Triumphs – war so schrecklich gewesen, dass selbst den stoischen Proctor für einen kurzen Augenblick der Mut verließ. Doch dieses Wie-gelähmt-Sein hielt nur eine Millisekunde an. Er schüttelte die Angst und die Benommenheit ab, verfolgte den Wagen, rannte die Auffahrt herunter und sprang mit einem einzigen Riesensatz über die gestutzte Hecke an der Grundstücksgrenze.

2

In seiner Jugend war Proctor ein außergewöhnlich guter Läufer gewesen. Während seiner Zeit bei der Army hatte er einen Rekord auf der Ausdauerstrecke aufgestellt, der in Fort Benning immer noch ungebrochen war. Seit damals hatte er sich stets in Topform gehalten – und so verfolgte er den Navigator im Höchsttempo. Inzwischen stand der Wagen eineinhalb Blocks vor ihm vor einer roten Ampel. Proctor legte die Strecke in unter fünfzehn Sekunden zurück. Gerade als er sich dem Fahrzeug näherte, sprang die Ampel auf Grün, und der Navigator schoss mit aufheulendem Motor davon.

Proctor brachte sich auf dem Asphalt in Stellung, zielte mit der Glock auf die Hinterreifen und feuerte zweimal, erst auf den linken, dann auf den rechten Reifen. Die Schüsse trafen – das Gummi beider Reifen erzitterte unter der Wucht des Einschlags. Doch fast im selben Moment pumpten sich die Reifen explosiv zischend wieder auf. Selbstaufpumpend. Der Navigator mit Diogenes am Steuer zog mit einem jähen Schlenker an dem vor ihm fahrenden Auto vorbei und schlängelte sich weiter beschleunigend durch den Verkehr auf dem Riverside Drive.

Jetzt machte Proctor kehrt und rannte zurück zur Villa, steckte dabei die Waffe zurück hinter den Hosenbund und zog sein Handy heraus. Er hatte nur begrenzte Kenntnis von Pendergasts Kontakten beim FBI und anderen Bundesbehörden; zudem würde ein Anruf beim FBI die Dinge in dieser Situation nur verlangsamen. Dies war ein Fall für die örtliche Polizei. Er wählte 911.

»Neun-eins-eins Notrufzentrale«, meldete sich eine kühle weibliche Stimme.

Proctor erreichte die Villa, schlüpfte durch die Eingangstür und lief durch die Empfangsräume zur Rückseite des Gebäudes. Aus Sicherheits- und Vertraulichkeitsgründen war sein Handy mit einem falschen Namen und einer falschen Adresse verbunden, und er wusste, dass diese Informationen bereits auf dem Bildschirm der Vermittlung auftauchten. »Hier spricht Kenneth Lomax«, sagte er unter Benutzung des Decknamens, während er eine falsche Wandpaneele im hinteren Flur öffnete und einen speziellen Fluchtrucksack herausholte, der extra für Notfälle wie diesen dort deponiert war. »Ich bin gerade Zeuge einer gewaltsamen Entführung geworden.«

»Den genauen Ort, bitte.«

Proctor gab die Adresse durch und verstaute gleichzeitig die Glock zusammen mit zusätzlicher Munition im Rucksack. »Ich habe gesehen, wie dieser Mann eine Frau an den Haaren aus dem Haus gezerrt hat. Sie hat laut um Hilfe geschrien. Er hat sie in ein Auto gestoßen und ist weggefahren.«

»Beschreibung?«

»Ein schwarzer Navigator mit abgedunkelten Scheiben, unterwegs Richtung Norden auf dem Riverside Drive.« Er gab das Kennzeichen durch, während er nach dem Rucksack griff und durch die Küche auf die Garage zulief, in der Pendergasts Rolls-Royce Silver Wraith, Baujahr 1959, stand.

»Bleiben Sie bitte am Apparat, Sir. Ich schicke sofort mehrere Beamte los, um den Wagen abzufangen.«

Proctor startete den Motor, fuhr mit quietschenden Reifen aus der Auffahrt und bog in nördliche Richtung auf den Riverside Drive ab, trat dann so kräftig aufs Gas, dass er ordentlich Gummi auf dem Asphalt hinterließ, und überfuhr zunächst eine und dann noch eine zweite rote Ampel. Es herrschte wenig Verkehr, und er konnte die Straße vor sich etwa tausend Meter weit überblicken. Im diesigen Licht versuchte er, den Navigator auszumachen, und meinte, ihn etwa zehn Blocks vor sich zu erkennen. Er trat das Gaspedal noch weiter durch, manövrierte zwischen einigen Taxis hindurch und überfuhr unter dem wütenden Gehupe der anderen Autofahrer noch eine rote Ampel. Ihm war klar, dass die Vermittlerin in der Notrufzentrale – da es sich um eine mögliche Entführung handelte – die Kriminalpolizei einschalten würde, nachdem sie die Streifenwagen alarmiert hatte. Außerdem würde sie viele weitere Informationen von ihm haben wollen. Er warf das Handy mit der immer noch offenen Verbindung auf den Beifahrersitz. Dann schaltete er das Polizeifunkgerät unter dem Armaturenbrett ein.

Er beschleunigte noch weiter, die Straßenzüge flogen schemenhaft vorbei. Vom Navigator war auf der vor ihm liegenden Straße nichts mehr zu sehen, nicht einmal auf der langen schnurgeraden Strecke vor Washington Heights. Den Gesetzen der Logik folgend, müsste Diogenes eigentlich den West Side Highway als Fluchtweg benutzen – aber auf diesem Abschnitt des Riverside Drive North gab es keine Zufahrten zum Highway. Aus der Ferne hörte er Sirenengeheul. Die Polizei hatte schnell reagiert.

Plötzlich sah er im Rückspiegel, wie der Navigator aus der 147. Straße auf den Riverside Drive schoss – in Richtung Süden. Ihm wurde klar, dass Diogenes falsch herum in die Einbahnstraße gefahren war und gewendet hatte.

Mit zusammengepressten Lippen schätzte Proctor den Verkehr um sich herum ein. Dann riss er das Lenkrad scharf nach links. Gleichzeitig zog er die Handbremse, um die Reifen zu blockieren, so dass der Wagen in einem Powerslide wendete. Der ihn umgebende Verkehr quittierte das Manöver erneut mit wütenden Hupkonzerten und kreischenden Bremsen. Proctor schloss den Powerslide ab, ließ die Handbremse los, als der Wagen seine 180-Grad-Drehung vollzogen hatte, und gab Vollgas. Der große Rolls machte einen Satz nach vorn. Inzwischen waren in der Ferne die Blinklichter zu erkennen, die das Sirenengeheul begleiteten.

Fünf Blocks vor sich sah er den Navigator nach rechts auf die 145. West abbiegen. Das ergab keinen Sinn. Die 145. endete nach kurzer Zeit in einer Sackgasse auf dem Parkplatz des Riverbank State Parks – eine Grünfläche zwischen dem Hudson River und dem West Side Highway, die ironischerweise oberhalb einer Kläranlage angelegt worden war. Verfügte Diogenes über ein Schnellboot, das am Fluss auf ihn wartete?

Es dauerte nur eine halbe Minute, den Rolls durch den Verkehr zu lenken und dann scharf in die 145. abzubiegen. Aber es war entscheidend, dass er verstand, was Diogenes vorhatte, bevor er weitermachte. Proctor brachte den Rolls abrupt zum Halten, zog ein kleines, aber starkes Fernglas aus seinem Rucksack und inspizierte das vor ihm liegende Gelände, richtete das Fernglas erst zur Straße, dann zum Parkplatz und dessen angrenzenden Zufahrtswegen. Nirgends ein Zeichen von einem schwarzen Navigator. Wohin zum Teufel war er verschwunden?

Proctor nahm das Fernglas herunter. Dabei sah er aus dem Augenwinkel eine Art Unruhe im Buschwerk zu seiner Rechten. Der Seitenstreifen ging hier in eine steile Böschung über, die sich zum Nord-Süd-Band des West Side Highway hinunterzog. Das Laubwerk und die Schösslinge sahen frisch geschnitten aus. Proctor entdeckte eine feine, sich auflösende Staubwolke – und frische Reifenspuren im Sand.

Er hob das Fernglas wieder an die Augen. Dort, in der Ferne, fuhr der Navigator mit hoher Geschwindigkeit in nördlicher Richtung auf dem Highway. Proctor fluchte. Durch dieses Manöver hatte Diogenes sich mindestens eine halbe Meile Vorsprung verschafft.

Wieder ließ Proctor den Motor aufheulen, bog mit dem Rolls von der Straße ab und steuerte ihn den steilen, gefährlichen Weg die Böschung hinunter auf den Highway, wo er sich rabiat in den anrollenden Verkehr mischte. Dann griff er nach dem Handy auf dem Beifahrersitz. »Hier ist Kenneth Lomax. Das verdächtige Fahrzeug fährt auf dem West Side Highway Richtung Norden und nähert sich der George-Washington-Brücke.«

»Sir«, fragte die Frau aus der Einsatzzentrale, »woher wissen Sie das?«

»Weil ich den Wagen verfolge.«

»Verfolgen Sie ihn nicht selbst, Sir. Überlassen Sie das der Polizei.«

Proctor wurde selten laut, doch in diesem Augenblick machte er eine Ausnahme. »Dann kommen Sie verdammt noch mal in die Gänge und schnappen sich den Wagen. Sofort!« Er warf das Handy zurück auf den Beifahrersitz und ignorierte die Antwort der Frau.

Er raste den West Side Highway hinauf, folgte dem Auf und Ab der Trasse, die angepasst an die natürlichen Gegebenheiten des Geländes um den Hudson River Greenway verlief. Er beschleunigte auf über einhundertsiebzig Stundenkilometer, aber er wusste, dass Diogenes dasselbe tat. Vor und über ihm wölbte sich der hohe schlanke Brückenbogen, der den Übergang der Interstate-95 auf die George Washington Bridge markierte. Der Navigator war nicht mehr zu sehen. Hatte Diogenes die Helix-Ausfahrt genommen und steuerte jetzt Richtung New Jersey, Long Island oder Connecticut? Oder war er auf dem letzten kurzen Zipfel von Manhattan auf dem Highway geblieben und in nördliche Richtung nach Westchester gefahren? Proctor fluchte erneut. Er schaltete durch die Funkbereiche des Polizeisenders, hörte, wie die Besatzungen der Streifenwagen auf die Anweisung antworteten, nach einem schwarzen Lincoln Navigator mit verdunkelten Scheiben Ausschau zu halten, der in nördlicher Richtung auf dem West Side Highway unterwegs war. Nur dass der Navigator inzwischen leider – auf dem einen oder anderen Weg – den West Side Highway verlassen hatte.

Die Jagd war zu Ende.

3

Oder auch nicht.

Im letztmöglichen Moment nahm Proctor, seinem Bauchgefühl folgend, die Ausfahrt zur Brücke, schleuderte über drei Fahrspuren, kaum fähig, den Rolls unter Kontrolle zu halten, als der Wagen die scharfe Kurve der ummauerten Auffahrt nahm. Proctor entschied sich für die untere Ebene der Brücke, weil der eingeschränkte Lkw-Verkehr eine größere Beweglichkeit und Beschleunigung ermöglichte. Wiederholte Meldungen im Polizeifunk kündeten von den fruchtlosen, negativen Ergebnissen der Suche. Aus dem Handy auf dem Beifahrersitz drang wieder mit zunehmender Lautstärke die Stimme der Telefonistin. Proctor wusste, dass er selbst in den Mittelpunkt des Interesses rücken würde, sobald die Polizisten ihre Aufmerksamkeit von der fehlgeschlagenen Jagd abwandten. Er hatte keine Zeit für unerwünschte Fragen oder – schlimmer noch – eine mögliche Festnahme. Er griff nach dem Handy, kurbelte die Scheibe herunter und warf es in hohem Bogen aus dem Fenster. Er hatte weitere Einweg-Handys im Rucksack verstaut.

Er kam an das andere Ende der Brücke, erreichte damit New Jersey und drosselte das Tempo auf einhundertzehn Stundenkilometer, als er die Mautstelle in Richtung Osten passierte. In einem so entscheidenden Moment wollte er nicht wegen einer Geschwindigkeitsübertretung angehalten werden. Er manövrierte sich durch das Gewirr der auseinanderlaufenden Freeways und steuerte die westwärts führende Überholspur der Interstate-80 an. Eine Viertelstunde später nahm er die Ausfahrt 65 von der Interstate, die zum Flughafen von Teterboro führte.

Proctor hatte angenommen, dass Diogenes nur zwei realistische Fluchtoptionen offenstanden: Entweder er tauchte in irgendeinem nahe gelegenen Versteck unter, das für diese Zwecke vorbereitet war, oder er brachte Constance per Geheimtransport an einen weiter entfernten Ort. Wenn er untergetaucht war, dann war es zu spät, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Wollte er Constance hingegen an einen weit entfernten Ort bringen, so konnte er es nicht riskieren, weiter im Navigator zu bleiben. Es wäre unmöglich, ein Entführungsopfer in ein kommerzielles Flugzeug oder irgendein anderes öffentliches Verkehrsmittel zu verfrachten – und sein Autokennzeichen war bekannt. Somit blieb als potentielles Ziel nur noch Teterboro, der nächstgelegene Flughafen, der Privatflugzeuge für Langstreckenflüge abfertigte.

Proctor bog auf die Industrial Avenue ab und hielt neben der nächsten Einfahrt zum Flughafen am Straßenrand. Prüfend musterte er die nahe gelegene Gebäudereihe: der Tower, eine Feuerwache und verschiedene Flughafendienstleister. Keine Spur vom Navigator, aber das hatte nichts zu bedeuten. Er konnte bereits in oder hinter irgendeinem des halben Dutzends Hangars abgestellt sein. Proctor öffnete die Fahrertür, stieg aus und überprüfte mit raschem Blick, ob Flugzeuge auf den Pisten rollten, was nicht der Fall war, und schaute zum Himmel hinauf. Er entdeckte einen Jet im Steigflug, der gerade das Fahrwerk einholte. Allerdings war der Luftraum über dem Dreistaatenbereich voll mit Flugzeugen; es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, ob sich Diogenes in dieser speziellen Maschine befand.

Jedenfalls noch nicht.

Zurück im Rolls, holte Proctor den Laptop heraus, ging ins Internet und zog eine grafische Darstellung von Teterboro auf den Schirm. Als Nächstes überprüfte er die AirNav-Website nach zusammenfassenden Informationen über den Flughafen: Längen- und Breitengrad, Betriebsstatistiken, Rollfeldausmaße. Die zwei Pisten von Teterboro waren beide gut zweitausend Meter lang, so dass Flugzeuge von nahezu jeder Größe starten und landen konnten. Proctor stellte fest, dass der Flughafen etwa vierhundertfünfzig Maschinen pro Tag abfertigte, sechzig Prozent davon allgemeine Luftfahrt. Jetzt scrollte er auf der Website nach unten, bis er auf die Informationen über die Flughafen-Dienstleister stieß: Daten über Bodenabfertigung, Avionik-Service, Charterverkehr. Er prägte sich alle Informationen ein.

Er setzte den Rolls in Gang und fuhr auf das Flughafengelände und an der Gebäudereihe entlang, bis er eine Halle erreichte, die sich direkt am oberen Ende von Rollbahn 1 befand. Ein höhlenartiger Hangar mit einem großen Schild, auf dem die Aufschrift NORTH JERSEY FLIGHT TRAINING prangte.

Proctor schnappte sich seinen Rucksack, stieg aus und rannte auf das Gebäude zu. Er warf einen kurzen Blick hinein und lief dann weiter bis zum Ende der Rollbahn. Die Flugschule hatte etwa ein halbes Dutzend schrabbeliger Cessna-152-Maschinen direkt auf dem Rollfeld stehen. In der nächstgelegenen entdeckte Proctor zwei Personen. Offenbar ein Pilot mit seinem Schüler, die gemeinsam den Flugplan für die bevorstehende Unterrichtsstunde durchgingen.

Proctor setzte eine sorgenvolle Miene auf, lief zur Maschine und bedeutete den beiden Insassen mit einem Handwedeln, dass sie das Fenster öffnen sollten. Sie sahen zu ihm nach draußen. Ihren Mienen war deutlich abzulesen, wer der Schüler und wer der Lehrer war.

»Können Sie mir helfen?«, fragte Proctor in hohem, klagendem Ton. »Haben Sie hier vielleicht einen Mann und eine Frau gesehen, die ein Flugzeug bestiegen haben?«

Die Männer in der Cessna schauten sich an.

»Die Frau ist jung, Anfang zwanzig, dunkles Haar. Der Mann groß, mit getrimmtem Bart und einer Narbe auf der Wange.«

»Mister, Sie dürfen sich hier nicht ohne Genehmigung aufhalten«, sagte der Pilot.

Proctor richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schüler: ein älterer Mann, der es offenkundig schon aufregend fand, einfach nur in einem Flugzeug zu sitzen. »Das war mein Boss«, stieß Proctor atemlos hervor und schwenkte den Rucksack. »Das hier hat er vergessen. Ich kann ihn auf dem Handy nicht erreichen. Es ist ungeheuer wichtig. Er braucht die Dokumente mit den Infos.«

»Ja, ich hab die beiden gesehen«, erklärte der Schüler. »Sie haben vor etwa fünf Minuten ein Flugzeug bestiegen, genau dort, auf der Startbahn. Die Frau sah krank aus. Sie schien total unsicher auf den Beinen zu sein.«

»Was für ein Flugzeug?«, fragte Proctor.

Der Pilot runzelte die Stirn. »Sir, wir können keine …«

Doch der Schüler, eindeutig ein Enthusiast, fiel ihm ins Wort. »Es war ein zweistrahliger Jet. Ein Lear. Kenne das Modell nicht.«

»Ja«, sagte Proctor. »Ein Lear. Das ist er. Vielen Dank. Ich werde versuchen, irgendwie Kontakt zu ihm aufzunehmen.« Der Pilot öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor er dazu kam, hatte Proctor sich schon umgedreht und joggte zurück zum Hangar der Flugschule.

Wieder im Rolls, rief er die Website des Flugtrackers FlightAware auf und gab als Suchbegriff KTEB ein, den Code der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation für Teterboro. Daraufhin erschien eine Karte des Dreistaatenareals, mit Teterboro im Zentrum, überlagert von den geisterhaft weißen Formen winziger Flugzeuge, die in unterschiedlichste Richtungen flogen. Unter der Karte befanden sich zwei Felder, »Ankunft« und »Abflüge«.

Schnell überprüfte Proctor die Liste der Abflüge. Sie bestand aus mehreren Zeilen mit Fluginformationen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Jede Zeile stand für ein Flugzeug, das Teterboro in den letzten Stunden verlassen hatte, und gab das Kennzeichen des Flugzeugs, den Typ, das Ziel, die Abflugzeit und die geschätzte Ankunftszeit an. Jetzt war es zwölf Uhr fünfundvierzig. Den angezeigten Informationen konnte Proctor entnehmen, dass die Flugzeuge, die zuletzt aus Teterboro gestartet waren, um 12:41 Uhr, 12:32 Uhr und 12:29 Uhr abgeflogen waren. In den letzten fünf Minuten hatte also nur eine Maschine den Flughafen verlassen.

Er überprüfte den Flugzeugtyp, der um 12:41 Uhr gestartet war. Und die Angabe lautete tatsächlich LJ45 – ein Learjet 45. Zielflughafen war KOMA. Eine Schnellsuche ergab, dass es sich dabei um den ICAO-Code für das Eppley Airfield in Omaha, Nebraska, handelte.

Die Website listete die ID-Nummer oder das Kennzeichen als LN303P auf. Proctor klickte sie an, woraufhin sich ein neues Fenster öffnete: Eine Karte zeigte die geplante Flugroute von New Jersey nach Nebraska an. Das kleine Flugzeugsymbol hatte eine kurze durchgezogene Linie hinter sich, die von Teterboro ausging; vor dem Flugzeugsymbol zeigte eine gepunktete Linie mit zwei leichten Ausschlägen den geplanten Kurs nach Westen an. Eine Datenzeile auf der einen Seite des Bildschirms sagte ihm, dass die geplante Reisefluggeschwindigkeit der Maschine vierhundertzwanzig Knoten betrug, dass sie sich im Steigflug auf die geplante Reiseflughöhe von sechstausend Metern befand und derzeit achtzehnhundert Meter erreicht hatte.

Proctor klickte das Fenster mit der Flugkarte weg. Inzwischen besaß er zwei entscheidende Informationen: Diogenes und Constance befanden sich in diesem Learjet, und Diogenes hatte bei der FAA einen Flugplan für Nebraska aufgegeben. Ein derartiger Flugplan war für alle Instrumentenflüge vorgeschrieben. Die Missachtung dieser Vorschrift würde sofortige und unwillkommene Überprüfungen zur Folge haben.

Bei der Durchsicht der Ankunftsliste stellte Proctor fest, dass der Learjet mit dem Kennzeichen LN303P erst eine halbe Stunde zuvor in Teterboro gelandet war. Es handelte sich also nicht um ein lokales Charterflugzeug – Diogenes hatte einen »repositionierten« Charter von einem anderen Flughafen genutzt, um seine Spuren zu verwischen.

Schlau. Aber nicht schlau genug. Denn er hatte es versäumt – ob aus Unachtsamkeit oder Unwissenheit –, sein Kennzeichen bei Flugtrackern wie FlightAware zu blockieren. Mit dem Ergebnis, dass Proctor jetzt genau wusste, welches Ziel er ansteuerte.

Dieses Wissen war allerdings nur von begrenztem Nutzen, denn mit jeder verstreichenden Minute entfernte sich Diogenes mit aberhundert Stundenkilometern weiter von ihm in Richtung Nebraska.

4

Laut der AirNav-Website, die er früher gecheckt hatte, war DebonAir Aviation Services der einzige Charterdienst, der zurzeit direkt auf dem Gelände von Teterboro arbeitete. Als Proctor an den Gebäuden der Flughafen-Dienstleister vorbeifuhr, entdeckte er schließlich das Charter-Schild. Er parkte nahe der Eingangstür aus mattiertem Glas, griff sich Rucksack und Laptop und sprang eilig aus dem Rolls.

Das Innere des Charterdienstes glich anderen derartigen Unternehmen, die er kannte – komfortabel, aber ausgesprochen funktional. Die meisten Charterbetreiber waren entweder ehemalige Berufspiloten oder Ex-Militärflieger. Von den drei Schreibtischen war nur einer besetzt. An den Wänden hingen gerahmte Luftfahrtposter. Eine offene Tür im hinteren Teil des Büros führte offenbar zu einem Aktenraum.

Proctor musterte den Mann hinter dem Schreibtisch. Er war um die fünfzig, hatte kurzes eisengraues Haar und einen muskulösen Körperbau. Ein Namensschild auf seinem Schreibtisch wies ihn als Mr. Bowman aus. Er erwiderte Proctors Blick und hielt ihn offenkundig für einen angehenden Kunden.

Proctor überdachte die Lage. Sein Anliegen war ungewöhnlich, außerdem würden die dazugehörigen Vorkehrungen normalerweise einige Zeit in Anspruch nehmen, mehr Zeit, als er zur Verfügung hatte. Schnell und methodisch erwog er seine Optionen, folgte jedem Entscheidungsbaum bis zu seinem logischen Schluss. Dann nahm er auf einem freien Stuhl vor dem Schreibtisch Platz, stellte den Computer auf dem Boden ab und hielt den Fluchtrucksack schützend auf dem Schoß.

»Ich brauche sofort einen Charter«, sagte er.

Der Mann kniff die Augen zusammen. »Sofort?«, wiederholte er.

Proctor nickte.

»Warum die Eile?«, fragte der Mann. In seinem Gesicht, das jäh einen misstrauischen Ausdruck annahm, stand die unausgesprochene Frage, bevor er sie stellte: »Irgendwas Illegales?«

»Nichts dergleichen«, sagte Proctor. Er hatte bereits entschieden, dass ein gewisses Maß an Ehrlichkeit die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Ergebnisses erhöhte – Ehrlichkeit, gefolgt von anderen Anreizen. »Es handelt sich um einen Verfolgungseinsatz.«

Bei dieser Formulierung horchte der Mann auf. Er sah Proctor noch einmal genauer an. Von Soldat zu Soldat. »Rangers?«, fragte er.

Proctor machte eine vage Handbewegung. »Spezialeinheiten.« Er blickte zu einem gerahmten Ausstellungsstück an der Wand hinter Bowman. »Luftlandetruppen?«

Bowman nickte. Der misstrauische Ausdruck hatte sich abgeschwächt. »Wieso wenden Sie sich nicht an die Polizei?«

»Es geht um eine Intervention in einem Entführungsfall. Jede Beteiligung der Polizei könnte den Tod der Geisel zur Folge haben. Der Kidnapper ist intelligent wie auch extrem gewalttätig. Außerdem ist es eine heikle persönliche Angelegenheit, und Zeit ist von entscheidender Bedeutung. Ich kenne das Kennzeichen der Maschine und ihr Ziel. Ich muss diesen Ort erreichen, bevor das Zielobjekt verschwindet.«

Bowman nickte erneut, langsamer diesmal. »Das Ziel?«

»Eppley Airfield, Omaha.«

»Omaha«, wiederholte der Mann. »Das bedeutet jede Menge Treibstoff, mein Freund. Wie lange würde der Zwischenstopp dauern?«

»Kein Zwischenstopp. Ein One-Way-Trip.«

»Trotzdem muss ich Ihnen den leeren Rückflug in Rechnung stellen.«

»Selbstverständlich.«

»Anzahl der Passagiere?«

»Sie sehen ihn vor sich.«

Pause. »Ihnen ist klar, dass ein Last-Minute-Charter wie dieser – angesichts des zusätzlichen Papierkriegs und Extra-Aufwands – mit einem erheblichen Aufpreis einhergehen würde.«

»Kein Problem.«

Der Mann schien einen Moment darüber nachzudenken. Dann wandte er sich dem Computer auf seinem Schreibtisch zu und fing an zu tippen.

Proctor nutzte die Gelegenheit, um seinen eigenen Laptop zu öffnen und den Status von Diogenes’ Flugzeug zu überprüfen. Das Symbol der LN303P bewegte sich immer noch pfeilförmig westwärts. Inzwischen flog die Maschine auf einer Höhe von dreieinhalbtausend Metern und hatte ihre geplante Reisefluggeschwindigkeit fast erreicht.

»Sie haben Glück«, sagte Bowman. »Wir haben ein Flugzeug zur Verfügung, eine Pilatus PC-12. Wir haben auch einen lizenzierten Piloten auf dem Flughafen. Er holt sich gerade was zu essen.« Der Mann zog einen Taschenrechner hervor. »Einschließlich Treibstoff, Parkgebühren, Landegebühren, Segmentgebühren, Tagespauschale, One-Way-Gebühr und einem fünfzehnprozentigen, ähm, Nutzungsaufschlag wären das dann eintausendzweihundert pro …«

»Das wird nicht funktionieren«, unterbrach Proctor.

Der Mann schaute ihn an. »Wieso nicht?«

»Die PC-12 ist eine einmotorige Turboprop. Ich brauche einen Jet.«

»Einen Jet.«

»Ich verfolge einen Learjet 45. Ich brauche etwas, das genauso schnell oder schneller ist.«

Der misstrauische Blick kehrte einen Moment lang zurück. Dann sah Bowman wieder auf seinen Computer. »Wir haben tatsächlich ein derartiges Flugzeug da. Eine Gulfstream IV. Aber sie wird nicht so schnell starten können.«

»Warum nicht?«

»Ich habe Ihnen gesagt, wir haben einen Piloten zur Verfügung. Von zwei habe ich nichts gesagt. Man kann einen Jet nicht allein fliegen.« Wieder schnelles Getippe. »Ich habe jemanden auf Stand-by. Der könnte gleich morgen früh hier sein. Das heißt, wenn die zusätzlichen Kosten für die Gulfstream kein Problem sind …«

»Inakzeptabel.«

Der Mann verstummte abrupt, starrte Proctor an.

»Ich muss unverzüglich starten«, fuhr Proctor mit ruhiger Stimme fort.

»Und ich habe Ihnen gesagt, dass ich vor morgen früh keinen Copiloten zur Verfügung habe.«

Proctor wägte erneut seine Optionen ab. Gewalt war normalerweise seine erste Wahl. Doch unter den gegebenen Umständen schien es unklug. Es waren zu viele Variablen im Spiel, zu viel Security auf dem Gelände und in dessen Umfeld. Außerdem war er auf eine freiwillige Kooperation angewiesen, wenn er erfolgreich sein wollte. »Was wäre der Normalpreis für einen Hin- und Rückflug nach Omaha mit der Gulfstream IV?«

Der Mann zog erneut seinen Rechner zu Rate. »Dreitausendachthundert die Stunde.«

»Also schätze ich mal, dass wir uns – bei einem Hinflug von etwa drei Stunden – im Rahmen von etwa fünfundzwanzigtausend Dollar bewegen.«

»Klingt richtig …«, setzte der Mann an, hielt aber wieder inne, als Proctor in seinen Rucksack griff, mehrere Bündel Hundertdollarscheine herauszog und auf den Tisch legte. »Hier sind dreißigtausend. Also los!«

Der Mann starrte auf die Geldbündel. »Ich hab Ihnen doch gesagt, ich habe keinen …«

»Sie haben doch eine Pilotenlizenz, oder?«, sagte Proctor. Mit dem Kinn deutete er auf ein gerahmtes Schriftstück an der Wand.

»Ja, aber …«

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