Wolfgang Salomon, intimer Kenner der venezianischen Lagune, weiß zu jeder Ecke der verwinkelten Gassen Venedigs und seiner Inseln eine spannende Geschichte zu erzählen. Mit „Blaues Venedig – Venezia blu“ zeichnet er ein Bild der weltberühmten Lagunenstadt, wie man es sonst in keinem Reiseführer findet.
Er macht Lust darauf, die etwas anderen Stätten und Plätze der Lagune zu entdecken, die weit weg der Touristenströme nur darauf warten entdeckt zu werden. Ergänzt wird seine stimmungsvolle Spurensuche mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos.
Blaues Venedig / Venezia Blu
Eine Reise in die Abgründe der Lagunenstadt
Zum Geleit
Buonanotte a Torcello – »A Dream within a Dream«
Das ehemalige Henkershaus in Cannaregio
No sleep ’til Sant’Ariano – Mit dem Kajak durch die Laguna Morta
Wo der Papst am Boden schlief
San Giorgio in Alga
Die gar gräuliche Geschichte vom Luganeger aus Santa Croce
San Servolo, »Shutter Island« – Wahnsinn im Schatten der Serenissima
Theriak Veneziano, der vergessene Wundertrank der Serenissima
Poveglia – Isola di Fantasmi e Misteri
Venedig und die Auster
Venice Disaster – Das große Schiffsunglück vor San Marco
San Giacomo dall’Orio
Il Forte di Sant’Andrea – Der Wächter Venedigs
Das verlassene Ospedale – Vier Jahreszeiten al Mare
Epilog: Poveglia Revisited
Danksagung
Für meine Königin Michaela und unsere Infantin Charlotte
’Cause it’s a beautiful ride
As long as we’re living
Heather Nova, »Beautiful Ride«
Es ist für mich die Sehnsucht nach einem Ursprung, danach, einen Moment zu erhaschen aus längst vergangenen Zeiten, nach fernen, mystischen Plätzen, versunkenen Reichen, die heute niemand mehr kennt. Ein schwer in Worten zu beschreibendes Gefühl, verstreut wie die Inseln der venezianischen Lagune, das unstillbare Verlangen nach einem wundersamen Ort, der hier und trotzdem nirgends ist.
Blau gilt nicht nur als die Farbe der Sehnsucht. Blau gilt als die Farbe der Romantik, der Harmonie, der Zufriedenheit, der Ruhe und der Unendlichkeit. Blau ist auch die Farbe des Wassers, das Venedig umgibt, durchspült, am Leben erhält und unter Wasser setzt. Eine blaue, unermüdlich pumpende Lebensader, die zugleich ein Fluch für die Stadt sein kann. Ein mit sonst nichts auf dieser Welt vergleichbares Element der Verwandlung, dessen Blauschattierungen nie dieselben sind, sich stetig verändern.
Oft war es auch eine Fahrt ins Blaue, die mich in abgelegene Winkel und unentdeckte Ecken der Lagunenstadt und ihres Umlandes führte. Ziele, die trotz meiner zahlreichen Besuche in Venedig für mich absolutes Neuland waren und wo ich oftmals nicht wusste, was mich an meinen Destinationen erwarten würde. Stimulierende, geschichtsträchtige Orte, egal, ob sie entlang der ausgetretenen Touristenpfade oder an schwer erreichbaren Stellen der Lagune lagen, denen das Geheimnis ihrer Vergangenheit zu entlocken war. Gebäude, Plätze und Inseln, die in keinem der gängigen Reiseführer zu finden sind oder über die darin oberflächlich hinweggegangen wird.
Interessante Charaktere und skurrile Persönlichkeiten durfte ich auf diesen Reisen kennenlernen. Neue Freundschaften wurden geschlossen, andere Begegnungen währten nur kurze Momente. Es ging mir nicht darum, diese verlassenen, versunkenen, von Sagen und Mythen umrankten Orte und Personen zu entmystifizieren. Die Begebenheiten und rätselhaften Ereignisse, die mit schierer Logik nicht zu erklären sind, ließ ich auf sich beruhen. Bohrte nicht nach Lösungen, forschte nicht nach Ursachen. Ich gab mich mit dem Unerklärlichen zufrieden. Genau diese kleinen Mythen und Geheimnisse sind es nämlich, die Venedig und die venezianische Lagune so reizvoll machen und seit Jahrhunderten Reisende aus allen Winkeln des Globus anziehen.
Mehr als zwei Jahre dauerten die Recherchearbeiten für »Blaues Venedig/Venezia Blu«. Sie führten mich zu verschiedenen Jahreszeiten, manchmal bei arktischen Temperaturen, dann wieder bei strömendem Regen, aber auch bei strahlendem Sonnenschein und in der unerbittlichen Hitze des venezianischen Sommers, an geheimnisvolle, wildromantische, unheimliche und entlegenste Orte, wo ich die unglaubliche Geschichte der Lagunenstadt bis zu ihren Ursprüngen und weit darüber hinaus hautnah mit allen Sinnen in mich aufnehmen konnte. Trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, nur einen Bruchteil der Geheimnisse erforscht zu haben, die es in der Lagune zu entdecken gibt. Die Sehnsucht bleibt.
P.S.: Während ich, auf einer Bank im Schatten der Kirche San Nicolò dei Mendicoli sitzend, kurz vor Fertigstellung dieses Buches diese Zeilen zu Papier bringe, sind bereits die nächsten Touren geplant, die mich zu einem historisch verbürgten Vampirgrab in den verwunschenen Mauern eines alten Klosters, zu einer unbewohnten Insel, die sich selbst entzündet, und zu einer von Pfauen okkupierten Wehranlage aus dem Ersten Weltkrieg führen werden. Es gibt noch viel zu tun.
Moon’s milk spills from my
unquiet skull and forms
a white rainbow
Coil, »Moon’s Milk (In Four Phases)«
Zwei Uhr schlägt die Turmuhr, als ich mich auf den Weg zurück in mein Quartier mache. Abertausende Sterne leuchten vom Firmament, und als ich in meinen Taschen nach dem Schlüssel krame, legt hinter mir ein schmales, verwittertes Boot an der Anlegestelle vor dem Hoteleingang an. Ich betrachte erstaunt das mitternachtsblaue Gefährt, dessen Ladung von löchrigen Stoffbahnen zugedeckt wird. Eine hochgewachsene Frau, deren Gesicht unter der breiten Krempe ihres Schlapphuts verdeckt ist, bedeutet mir mit einer einladenden Handbewegung, auf das Boot zu kommen. Ich lehne mein Kamerastativ an die Hauswand der Locanda, stelle die Fototasche mit meiner Ausrüstung auf den feuchten Steinboden und springe behände auf das Boot. Der Bug ist die einzige Stelle, wo ich noch Platz finde. Wir gleiten lautlos über das spiegelglatte Wasser des Kanals unter der Brücke hindurch, vorbei an der vor uns in der Dunkelheit liegenden Kathedrale. Torcello verschwindet hinter uns im Nebel, der in dichten Schlieren über das Wasser zieht, und ich starre erwartungsvoll in die gespenstische Dunkelheit. Wir passieren ein Bootswrack, dessen algenbewachsener Bug aus dem Wasser ragt. Eine Möwe verharrt regungslos auf der hölzernen Spitze des Bootes. Nur der Kopf dreht sich mit, als wir an dem Wrack vorbeischippern. Der Nebel, der die nächtliche Lagune wie eine schwarze Samtdecke überzieht, wird dichter, verschluckt die Umgebung und alle Geräusche. Neugierig hebe ich eine der schmutziggrauen Stoffbahnen, um einen Blick auf die Ladung zu werfen, die zwischen mir und der Steuerfrau gestaut ist. Erschrocken ziehe ich meine Hand zurück, als ich der fein säuberlich gestapelten Knochen ansichtig werde, die in der Dunkelheit bleich und grell unter der Abdeckung hervorlugen. Penibel aufgeschichtet reihen sich die Gebeine und Schädel von Dutzenden Menschen unter der Decke. Meine schweigsame Skipperin, deren Gesicht im Schatten ihrer Kopfbedeckung nicht zu sehen ist, hebt warnend den Zeigefinger der linken Hand, während sie mit der anderen das Steuerruder hält, und ich decke die schaurige Ladung wieder zu. Für eine geraume Zeit schippern wir durch die Schwärze, ich verliere vollkommen die Orientierung. Nicht einmal die Scheinwerfer des in nicht allzu weiter Ferne liegenden Aeroporto Marco Polo sind auszumachen. Die Feuchtigkeit legt sich wie ein Mantel um meine Kleidung und ich beginne zu frieren.
Plötzlich reißt die Wolkendecke auf, der volle Mond taucht das Marschland und die Inseln der Laguna Morta in einen bläulichen Schimmer. Vor uns taucht die Umfriedungsmauer des Ossario Sant’Ariano auf, und als das Boot an dem fast zur Gänze weggebrochenen, morschen Holzsteg ruckartig anlandet, stolpere ich und komme auf dem zugedeckten Knochenhaufen zu sitzen. Die grausige Ladung scheint unter der Plane zu vibrieren. Meine unheimliche Skipperin steht plötzlich wie von Geisterhand geführt neben mir und reicht mir die Hand, um mir an Land zu helfen. Die schlanken Finger stützen mich, als ich über die morschen Planken des Steges balanciere. Und als ich das Eiland betrete, bewegt sich der Boden unter meinen Füßen. Ich gehe auf Menschenknochen, stelle ich seelenruhig fest, als ich mich dem vermauerten Eingang des Ossariums nähere. Vor der Pforte drehe ich mich zu meiner Begleiterin um. In ihrer Handfläche, die sie mir entgegenstreckt, sitzt ein riesiger, grünlich glänzender Käfer mit langen Zangen am Kopf, seine Beine machen enervierend kratzende Geräusche auf der Handfläche meiner Begleiterin. Ihre Augen blitzen unter der Krempe ihres Hutes unheimlich, ihre Lippen sind ein schmaler Strich, als sie mir das krabbelnde Insekt, dessen Beine sich unablässig bewegen, mit einer schnellen Bewegung zuwirft …
Schweißgebadet erwache ich. Mein Herz klopft wie eine Buschtrommel und ich brauche ein paar Sekunden, bis ich wieder weiß, wo ich mich befinde. Das schmucke Zimmer der Locanda Cipriani auf der Insel Torcello liegt im Halbdunkel. Zwar ist die Sonne noch nicht zu sehen, doch die ersten Strahlen des neuen Tages tauchen den Raum in ein warmes Graublau. Die Uhr zeigt sechs Uhr und zwölf Minuten. Das schabende Geräusch aus meinem gespenstischen Traum kann ich noch immer hören. Als ich die Decke zur Seite werfe, kullern mein ledergebundenes Reisetagebuch und meine Füllfeder auf die Holzdielen. Ich bin wieder einmal über der Arbeit eingeschlafen. Ich öffne die Balkontür und betrete die klitzekleine Holzveranda. Unter dem Balkon, genau an der Stelle, wo ich soeben im Traum das mitternachtsblaue Boot bestiegen habe, liegt eines dieser für Venedig typischen »Lieferboote«, das gerade seine Ladung mit frischen Lebensmitteln für die Restaurantküche entlädt. Kisten mit frischem Spargel, Milch, leuchtenden Pfirsichen und Fisch auf zerstoßenem Eis, die über eine kleine Holzplanke gezogen werden, verursachen das enervierend schabende Geräusch, das ich in meinem Alptraum mit dem Krabbeln des glänzenden Käfers assoziiert hatte. Nur im T-Shirt und in Shorts begrüße ich das noch im Morgendunst liegende Torcello mit ein paar den Kreislauf ankurbelnden Kniebeugen. Die noch kühle Luft der Lagune, die sich erst im Laufe des Tages zu einem fantastischen Frühlingstag erwärmen wird, vertreibt die Schlafgeister aus meinem Kopf. Der Traum hält sich allerdings weiterhin hartnäckig und fest eingenistet in meinen Gedanken und mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken.
Über das Balkongeländer gebeugt, beobachte ich die beiden Männer, die schweigend die Ladung ihrer Schaluppe löschen, die von den Bediensteten der Locanda in die Küche des Hotelrestaurants gebracht wird. Die beiden Männer entdecken mich und erwidern meinen Gruß. Mit einer Zigarette im Mundwinkel tuckern sie wieder in Richtung Venedig. Es riecht nach dem Diesel des Bootes, nach Salzwasser und nach frisch gemähtem Gras. Kleine, gekräuselte Wellen schlagen gegen die Mauern des Canale. Nach einigen Augenblicken ist das Wasser wieder spiegelglatt. Eine leere Plastikflasche treibt vorbei und verfängt sich in den Anlegepöllern. Mich fröstelt, der heiße Duschstrahl weckt meine Lebensgeister. Noch vor dem Frühstück mache ich mich mit meiner Kamera auf, um das noch verwaiste Torcello im Morgendunst abzulichten. In den nächsten beiden Stunden gehe ich vollkommen in meiner Arbeit auf. Ich springe über schmale Kanäle, von denen die Insel hinter der Kathedrale Assunta labyrinthartig durchzogen wird, wate durch den Morast des sumpfigen Marschlands, beobachte die Wildenten in ihren versteckten Brutplätzen und erfreue mich an der Abgeschiedenheit der ehemaligen Wiege Venedigs. Zufrieden mit den geschossenen Fotos bunkere ich die Fototasche in meinem Zimmer, wasche mir mit wohlriechender Lavendelseife den Schmutz von den Händen und begebe mich in den Speisesaal. Wie am Abend zuvor bin ich auch heute Früh der einzige Gast im Hause Cipriani. Die Saison beginnt mit dem morgigen Wochenende und die Küchenmannschaft ist bereits eifrig am Werken. Es riecht nach Spargel-Creme und Kräutern. Alberto, mein aufmerksamer Tischkellner, serviert mir ein opulentes Frühstück mit warmen Brötchen, Kuchen, Erdbeerjoghurt, Eieromelett und den leuchtenden, saftigen Pfirsichen, die mich bereits bei ihrer Anlieferung unter meinem Balkon verführerisch angelacht haben.
Hinter den in der Sonne spiegelnden Glasfronten des Speisesaals erstreckt sich der parkähnliche Garten der Locanda mit seinen gekiesten Wegen und den penibel gestutzten Hecken und Bäumen. Dahinter ragt der Campanile der Basilika Santa Maria Assunta in den wolkenlosen Himmel. Das heisere Meckern einer Ziege ist zu hören, als ich meinen Ristretto und die noch ofenwarmen Buranei-Kekse aus der hauseigenen Patisserie genieße. In mein Reisetagebuch schreibend lasse ich den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren.
Die Mittagsmaschine muss fast eine halbe Stunde über dem Flughafen Marco Polo kreisen, bis das über die Lagune niedergehende Gewitter in Richtung Süden weiterzieht und eine Landung möglich ist. Das überfüllte Linienboot nach Venedig ist vor allem mit indischen Touristen besetzt, die in den letzten Jahren Venedig für sich entdeckt haben und der Lagunenstadt in großer Anzahl die Ehre erweisen. Ich bin der einzige Passagier, der auf Murano das Boot verlässt. Das Anschlussboot, das mich via Burano nach Torcello bringen soll, ist gerade am Ablegen, als ich an der Bootsstation eintreffe. Wundersamerweise wird für mich die Absperrung noch einmal geöffnet und ich darf noch mit aufs Boot. Der Himmel reißt auf und taucht die Lagune in kobaltblaues Licht. An der Reling lehnend, lasse ich den Blick über die kleinen Wellenkämme schweifen, bis das Boot in Burano Station macht. Meine Gedanken ordnend, inhaliere ich das unverkennbare Aroma Venedigs und knabbere die trockenen Cracker, die während des Fluges ausgeteilt wurden. Auf Burano leert sich das Boot und es bleiben nur wenige Passagiere an Bord, die nach Torcello übersetzen. Die Frühlingssonne lässt ihre Muskeln spielen und ich binde mir meine wasserdichte Jacke um die Hüften. Meine Ärmel aufkrempelnd, genieße ich das Gefühl der wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut. Auf den Uferfelsen nahe der Bootsanlegestelle Torcellos rupft eine schwarze Ziege Grashalme zwischen den bemoosten Steinen aus. Das Glöckchen um ihren Hals schellt mit feinem Ton, als sie den Kopf hebt, um uns neugierig zu beobachten. Der Wind trägt den Lärm eines landenden Fliegers über das Wasser. Das Zwitschern der Spatzen wechselt sich mit dem Schnattern der Wildenten ab. Ich verlasse als Letzter das Boot, nehme auf einer der Bänke am Kai Platz, warte, bis ich alleine bin, und lasse die Umgebung auf mich wirken. Eine Madonnenbüste aus Gips, mit dem sich an ihre Brust schmiegenden Jesuskind, ist zwischen drei Plastikblumentöpfen eingekeilt, aus denen die Stummel vertrockneter Pflanzen ragen.
Das markante Krähen eines Hahnes schallt über die Insel, als ich mich auf den Weg zu meinem Quartier in der Locanda Cipriani mache. Die Rollen meines Koffers rattern über den sorgfältig in Fischgrätmustern angelegten Ziegelboden, der entlang des Kanals ins Innere der Insel führt. Üppige Vegetation säumt die Ufer. In den Gärten erfreuen prachtvoll bunte Blumen das Auge. Ganz Torcello scheint zu blühen. Der Wind rauscht sanft über das mannshohe Gras zu meiner Linken. Ein Roma mit einem Schifferklavier sitzt unter einem Sonnenschirm, den Blick stoisch aufs Wasser gerichtet. Als er meiner ansichtig wird, spielt er den Donauwalzer. Den Donauwalzer? Ja, den Donauwalzer. Ich fühle mich durchschaut. In der Locanda werde ich wie ein König empfangen. Während ich auf meinen Zimmerschlüssel warte, betrachte ich die Bilder der »Hall of Fame« neben dem Entree. Hemingway, Elton John, Prinzessin Diana. You name it … Mein Zimmer im Obergeschoss ist klein, aber heimelig. An der Wand eine kleine Bibliothek, davor ein Ohrensessel, der zum Schmökern einlädt. Ein hölzerner Balkon mit Blick auf den Kanal. Ein Fläschchen feinster Sprudelwein im Eiskühler, eine Schale verlockend duftender Kekse und eine handgeschriebene Willkommenskarte des Hoteldirektors. Die Armaturen im marineblau verfliesten Badezimmer sind verchromt und es duftet nach Lavendel. Nach einer erfrischenden Dusche schlendere ich die Fondamente dei Borgognoni zurück und labe mich im Selbstbedienungsrestaurant der Taverna Tipica Veneziana mit Fiori di Zucca und Bis Saor und einer großen Flasche Wasser. Nach der schmackhaften Mahlzeit sitze ich mit beruhigten Magennerven im Schatten der Pergola, nasche weiße Profiteroles und nippe an meinem Ristretto.
War Torcello noch vor einigen Jahren eine abgelegene Insel, die mit den Linienbooten nur ein paarmal am Tag angefahren wurde, so hat mittlerweile auch auf der sogenannten Wiege Venedigs der Massentourismus Einzug gehalten. Charter- und Linienboote landen im Minutentakt an und die Touristengruppen werden im Eiltempo von der Bootsanlegestelle zur Basilika geführt, um den ehemaligen Bischofssitz zu bestaunen, bevor sie in Windeseile bereits wieder unterwegs sind, um die bunten Häuser auf Burano zu bewundern oder auf Murano durch eine der letzten Glasbläserwerkstätten der Insel geführt zu werden.
Der schneebedeckte Alpenbogen am Horizont scheint heute aufgrund der klaren Luft unwirklich nahe. An einem Baumstamm ist ein Futterhäuschen für die zahlreichen Fledermäuse, die auf Torcello heimisch sind, angebracht. Drei Fledermäuse mit leuchtenden Knopfaugen wurden auf die Vorderfront des Holzhäuschens aufgepinselt. Darüber steht: »Bath House« (bat engl. = Fledermaus; bath engl. = Bad). Ein Wassertaxi tuckert gemächlich vorbei. Es fährt so langsam, dass sich so gut wie keine Kielwellen bilden. Bevor ich mich auf den Rückweg in die Locanda mache, um meine Fotoausrüstung zu holen, statte ich noch dem rührigen Museo Andrich einen Besuch ab, das von der Taverna nur ein paar Minuten Fußmarsch entfernt liegt.
In diesem Museum kann man das Lebenswerk des Künstlerehepaars Clementina de Luca und Lucio Andrich bewundern. Über 1300 Malereien, Wandteppiche, Mosaiken, Gemälde und Glasskulpturen, die bis in die 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückreichen, sind im Wohnhaus des mittlerweile verstorbenen Künstlers (Lucio Andrich 1927–2003) ausgestellt. Der Blick vom Garten des Museums in Richtung Marschland und in die von Flamingos bevölkerte und abhängig von den Jahreszeiten rosa schimmernde Lagune ist paradiesisch, vor allem wenn die Sonne im Begriff ist, in goldgelben Tönen über Marghera unterzugehen.
Wenn dann schließlich und endlich die letzten Tagestouristen die Insel verlassen haben und nur mehr die zehn ständigen Einwohner Torcellos (bis vor wenigen Tagen waren es noch elf) zurückbleiben, beginnt die Stunde des magischen Lichts, Ruhe und Beschaulichkeit kehren wieder auf dem Eiland ein. Die auf der Insel wild lebenden Katzen, mit ihren im Kampf zerbissenen Ohren und zerzausten Fellen, wagen sich wieder in ihre Futter- und Schlafhäuschen auf dem Platz vor der Kathedrale. Die Kioske werden versperrt, eine leichte Brise trägt das salzige Aroma der Lagune durch die malerischen, kleinen Weingärten Torcellos und selbst die meckernden Ziegen, die immer wieder während des Tages zu hören waren, scheinen verstummt.
Ich habe die Kathedrale und den Campanile mit seinem Rundumblick über die ganze Lagune komplett für mich allein. Meine Schritte hallen über den jahrhundertealten Mosaikboden. Ehrfürchtig streiche ich mit den Fingerkuppen über die geschichtsträchtigen Wände. Die vollkommene Stille hat etwas Meditatives, Beruhigendes, und nachdem ich die engen Stufen des Glockenturms erklommen habe, lasse ich mir die Abendbrise um die Ohren wehen. Fledermäuse umschwärmen den Campanile, bevor sie sich in der Finsternis des Dachstuhls verkriechen. In der Ferne ist die Silhouette Venedigs zu erkennen. Zwei Schüsse eines Jagdgewehrs zerreißen die Stille. Das Echo der Schüsse bricht sich an den Wänden der Kirche. Die glühende Sonnenscheibe berührt bereits den Horizont, als ich mich wieder auf den Weg nach unten mache. Hinter mir sperrt die Wächterin der Kirche das Portal ab.
In der Locanda bekomme ich ein fürstliches Abendmahl, bestehend aus butterweichen, hausgemachten Gnocchi mit frischem Spargel von Sant’Erasmo, ebenso auf dem Gaumen schmelzendem, klassischem Fegato alla Veneziana mit Polenta und einer himmlischen Pistazien-Crème-Brûlée. Der Malvasia, den ich dazu genieße, stammt ebenfalls von der Laguneninsel Sant’Erasmo und der betörende Duft des Rebsaftes spiegelt die Aromen der Lagune wider. Als ob man ein Stück flüssiges Venedig trinken würde. Da ich der einzige Gast bin, hat mein Tischkellner Alberto, der nur während seines Dienstes auf Torcello nächtigt, Zeit für ein kleines Pläuschchen und wir unterhalten uns über die Vor- und Nachteile des abgeschiedenen Insellebens, bevor ich mich auf meine nächtliche Fototour mache.
Ein milchig weißer Mond scheint auf Torcello nieder und die Sterne funkeln prachtvoll. Die hölzernen Gattertore entlang des Kanalufers scheinen ins Nirgendwo des dahinter befindlichen Marschlandes zu führen. Ab und zu bewegen sich die Zweige der Büsche leicht in der Brise. In den nächsten Stunden lichte ich das Marschland, den nördlichen Kanal, den verwaisten Platz vor der Kathedrale und vor allem den fantastischen Sternenhimmel über Torcello ab. Außerdem mache ich ungewollt Bekanntschaft mit den riesigen, fast drei Zentimeter großen Ameisen, die auf Torcello heimisch sind. Eine schwarze Katze umschmiegt meine Beine und folgt mir auf Schritt und Tritt. Streicheln lässt sich das stolze Wesen allerdings nicht. Nach getaner fotografischer Arbeit lasse ich mich auf dem Ponte del Diavolo nieder, rauche eine Zigarette, lasse die müden Beine vom Brückenrand baumeln und starre ganz verzaubert auf das sternengleißende Firmament. Meine stumme Begleitung mit dem seidigen Fell wartet in sicherem Abstand am Ufer neben der Brücke. Es ist bereits weit nach Mitternacht und die Geisterstunde lange vorbei. Zur Geisterstunde soll ja der Teufel auf der Brücke in Form einer schwarzen Katze warten, um eine Ampulle mit den Seelen von sieben ungetauften Neugeborenen zu erhalten, die ihm eine Hexe für seine Hilfe versprach, zwei Liebende wieder zusammenzuführen. Leider starb die Hexe bei einem Brand und so soll der Teufel noch heute um Mitternacht auf die Zauberin und vor allem auf die Ampulle warten. Trotz dieser schaurigen Sage finde ich die Atmosphäre auf der Brücke friedvoll und entspannt. Meine vierbeinige Begleitung lässt sich schließlich neben mir auf der Brücke nieder und – oh Wunder! – ich darf sie auch berühren. Mit geschlossenen Augen und wohligem Schnurren lässt sie sich das Fell zwischen den Ohren und entlang ihres schwarzen Halses kraulen, bevor sie sich streckt, beim Gähnen ihre spitzen Zähne zeigt und stumm zwischen den Büschen verschwindet. Mein Gähnen steht dem der Katze um nichts nach und ich mache mich ebenfalls auf den Weg zu meinem Schlafgemach. Zwei Uhr schlägt die Turmuhr, als ich mich auf den Weg zurück in mein Quartier mache. Abertausende Sterne leuchten vom Firmament, und als ich in meinen Taschen nach dem Schlüssel krame, legt hinter mir ein schmales, verwittertes Boot an der Anlegestelle vor dem Hoteleingang an …
But now I laugh and pull so hard,
And see you swinging on the Gallows Pole
Led Zeppelin, »Gallows Pole«
Bocca del LeoneBoccasLuganegerSeite 70