Über François Armanet

François Armanet, geboren 1951, ist Chefredakteur des Magazins Nouvel Observateur. Er hat drei Romane geschrieben und einen Film produziert. Er lebt in Paris.

Fußnoten

Essais critiques, Paris: la Pléiade, Gallimard 1999, S. 268273.

Christophe Pradeau, »Le jeu de l’île déserte«, www.fabula.org, Oktober 2006. Für ihn stellt sich um die Jahrhundertwende die Frage der Auswahl besonders dringlich, denn »mit den großen philologischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, deren Hauptkonsequenz die Vervielfachung der verfügbaren Bücher, die schwindelerregende Koexistenz von Büchern aller Epochen und aller Kulturen in unseren Bibliotheken ist, wird die Literatur polyzentrisch und besteht aus ganz verschiedenen, oft unvereinbaren Blickwinkeln.«

Uns nährt die Erde, S. 88, deutsch von Hans Prinzhorn, Stuttgart: DVA 1930.

Die schwarze Insel ist der siebente Band der Abenteuer von Tim und Struppi von Hergé. Er wurde zuerst 193738 als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht und ist der einzige Band der Serie, der in drei verschiedenen Versionen erschien.

»In Rom hatte ich etwa fünftausend Bände in meiner Bibliothek. Dadurch, dass ich sie beständig wieder und wieder las, fand ich heraus, dass man mit hundertfünfzig sorgfältig ausgewählten Werken zwar nicht die vollkommene Zusammenfassung aller menschlichen Erkenntnisse besitzt, aber dennoch alles Wissen, das einem Menschen nützlich sein kann. Ich habe drei Jahre meines Lebens darauf verwandt, (…) sodass ich sie schon beinahe auswendig konnte, als ich verhaftet wurde.« Alexandre Dumas, Der Graf von Monte-Cristo, deutsch von Xenia Gharbi und Martin Schoske, Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt 1994, S. 178.

»Ich war elf Jahre alt, ich hatte Lust, in dem Sommer ein richtig dickes Buch zu lesen. Mir fiel Der Graf von Monte Christo in die Hände. Tausend Seiten. Ein riesiger Haufen Wörter. Ich habe es geliebt. Das ist verrückt: Stellen Sie sich das vor, ein Elfjähriger, der sich den Finger in die Nase steckt und das Ding liest! Genial! Das Buch ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und ich habe mir gesagt: Ich werde epische Romane, dicke Bücher schreiben …« James Ellroy, aufgezeichnet von François Forestier, L’Obs, Mai 2015.

»Ich hätte gern in einem einzigen Buch das Buch der Bücher. Nach der Bibel das elektronische Buch, das alle Bücher vereinen würde?«, Kenzaburo Oé, L’Obs, 25. Juni 2015.

Francisca Folch, »Jorge Luis Borges muses on his desert island book selections«, Cultural Compass at the Harry Ransom Center, The university of Texas at Austin, 2011.

Raymond Queneau, Pour une bibliothèque idéale, Paris: Gallimard 1956, S. 7.

Im November 1919 veröffentlichten André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault die Umfrage »Warum schreiben Sie?« in der Monatszeitschrift Littérature. Die Antworten der überwiegend französischen Schriftsteller wurden in der umgekehrten Reihenfolge der Präferenz der Herausgeber veröffentlicht, um das Interesse an der Lektüre auch für die folgenden Nummern der Zeitschrift – 10, 11 und 12 – aufrechtzuerhalten. Unter den Antworten war die von Paul Valéry: »Aus Schwäche«, von Blaise Cendrars: »Darum«, von Knut Hamsun: »Ich schreibe, um die Zeit zu verkürzen«. Raymond Radiguet beendet seine mit einer Klammer: »(Fragt lieber eure Leser: Warum lest ihr?)«. André Gide hatte angemerkt, die eigentliche Frage hätte lauten müssen »Für wen schreiben Sie?«, die Aragon später, 1933, in seiner literarischen Umfrage für die Zeitschrift Commune stellte. 1985 stellte die Zeitung Libération die Frage »Warum schreiben Sie?« an zeitgenössische Schriftsteller und veröffentlichte die Antworten in einer Extranummer.

Um seinen 30. Geburtstag zu feiern, veröffentlichte der Nouvel Observateur, das größte französische News Magazine, das Jean Daniel immer unter das Signum der Literatur und der Ideen gestellt hatte, eine Sammlung »240 Schriftsteller erzählen einen Tag der Welt«, die ausschließlich der von François und Max Armanet durchgeführten Umfrage gewidmet war.

»Die Heimat, was Danton auch immer darüber gesagt hat, klebt einem am Hacken, und ohne es zu wissen, trägt man die Überreste seiner verstorbenen Vorfahren im Herzen. […] Mit der Literatur ist es dasselbe. Meinen ganzen Ursprung finde ich in dem Buch, das ich auswendig wusste, bevor ich lesen konnte, Don Quichotte, und darüber liegt noch mehr, die stiebende Gischt der normannischen See, die englische Krankheit, der widerliche Nebel.« Gustave Flaubert, Brief an Louise Colet vom 19. Juni 1852, Briefe an Louise Colet, deutsch von Cornelia Hastings, Haffmans: Zürich 1995.

»Stendhal, einer der schönsten Zufälle meines Lebens – denn Alles, was in ihm Epoche macht, hat der Zufall, niemals eine Empfehlung mir zugetrieben.« Nietzsche, Ecce Homo, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 285f., München: DTV [u.a.] 2004.

»Mein einziges Lektürevergnügen waren Shakespeare und die Memoiren von Saint-Simon […], eine Leidenschaft, die nachhaltig war, wie die Wirkung des Spinats auf den Körper, und die mit 53 mindestens so stark ist wie mit 13 Jahren.« Stendhal, Vie de Henry Brulard in Œuvres intimes, Bd.II, Paris, La Pléiade, 1982, S. 851, Kapitel 33.

»Als ich Sie kennenlernte, sagten Sie mir, daß Sie Spinoza und Stendhal zugleich sein wollten.« Simone de Beauvoir, Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Sartre, S. 171, Rowohlt: Reinbek 1983.

»Ich würde keine Bücher mitnehmen, denn mein Kopf ist bereits ein Buch, und ich hätte meine Brille vergessen. Ich würde angeln und begeistert die Fische betrachten. Und ich würde die Sprache der Vögel lernen.« Jim Harrison, Le Nouvel Observateur, 13. März 2014.

Molloy, S. 17, dt. von Elmar Tophoven, Erika Tophoven und Erich Franzen, Suhrkamp: Frankfurt.

Voltaire, Aus dem Philosophischen Wörterbuch, S. 68, dt. von Erich Salewski, Insel Verlag: Frankfurt 1967.

Im Oktober 2003 lernte ich Jay McInerney kennen, der in Paris seinen kürzlich erschienenen Erzählungsband La Fin de tout (How it ended) vorstellte. Er sprach von der verlorenen Sorglosigkeit Amerikas nach dem 11. September, erzählte von dem geringen Raum, den vor seiner Generation das urbane Leben in der amerikanischen Literatur eingenommen hatte, und von Schriftstellern, die ihn besonders inspiriert hatten. Ehe wir uns verabschiedeten, war eine Frage unumgänglich: »Welche drei Bücher würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?« Als er Tante Lisbeth von Balzac nannte, wusste er natürlich nicht, dass André Gide einst die gleiche Antwort gegeben hatte. Solche Gemeinsamkeiten bei der Auswahl, die der Erinnerung oder dem Vergessen trotzen, setzten mir den Floh ins Ohr. Talisman, Passwort, geheime Übereinstimmung über ein Jahrhundert hinweg? Die Schnitzeljagd hatte begonnen.

Erster Hinweis: Gide. In der Aprilausgabe der Nouvelle Revue Française (NRF) schrieb er 1913: »Die zehn französischen Romane, die …«1 In dem nur wenige Seiten langen Artikel erfand er das »Spiel der einsamen Insel« insofern, als sich diese Frage »ausgehend von seinem Artikel und unter Bezug darauf dauerhaft im literarischen Leben festgesetzt hat«, wie Christophe Pradeau, Autor von La Grande Sauvagerie und Dozent an der Sorbonne, richtig analysiert hat.2 Mehr noch, Gide wird zum Vorreiter, indem er auf ein imaginäres Interview antwortet (der Anteil des Betrügers, ohne den jede literarische Suche todlangweilig wäre). Sein Text beginnt so: »Man hat mich im Auftrag einer großen Tageszeitung gebeten, die zehn Romane zu nennen, die ich am liebsten habe«, dann erwähnt er mit einem Hauch von Nostalgie das kleine Spiel, mit dem er sich als Zwanzigjähriger im Rhetorikkurs mit Pierre Louÿs amüsierte. Die Freunde machten zu Beginn jedes Semesters eine Liste von zwanzig Büchern, die sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden. Bewusstseinsprüfung, eine schwierige Übung für jemanden, der später in Uns nährt die Erde (Les Nourritures terrestres) schreiben sollte: »… seine Wahl treffen, das hieß in Ewigkeit allem Übrigen entsagen – und dieses Übrige war so zahlreich und vielfältig, dass es jeglichem Einzelnen gegenüber immer wieder den Vorzug verdiente.«3 Bei diesem Zeitvertreib schummelten Pierre und André, indem sie zum Beispiel Namen von Autoren statt von Werken aufschrieben und so ihre Bibliothek beträchtlich vergrößern konnten (auf bis zu vierhundert Bände). Keine Freude ohne Zwang. In seinem Artikel in der NRF beugte sich Gide weitgehend der Regel, die er sich auferlegte. Er beschränkte seine Auswahl auf Romane, obendrein nur französische, obwohl sich Frankreich in diesem Genre nicht gerade auszeichnet.

Er schwankte lange zwischen Rot und Schwarz und der Kartause von Parma, ehe er sich für Letztere entschied. Er wählte Gefährliche Liebschaften, die er sehr geliebt hat, Die Prinzessin von Clèves, Manon Lescaut, Dominique. Grübelte über Balzac, die Qual der Wahl: »Wie kann man nur einen Roman von Balzac den anderen vorziehen? Die Menschliche Komödie ist ein Ganzes. Nur einen Teil zu bewundern heißt, sie schlecht zu bewundern.« Kapitulierte schließlich: »Ich glaube, mit Tante Lisbeth werde ich den größte Gewinn beim Wiederlesen haben.« Er hob Madame Bovary von Flaubert hervor, den er »lange wie einen Meister, einen Freund, einen Bruder geliebt« hatte, Zolas Germinal, »von unglaublicher Kraft«. Geriet in gespielte Wut: »Man hat mich nicht gebeten, hier zehn Vorbilder zu nennen. Und ich beuge mich auch nicht bevorzugt über diese Bücher, weil ich versuche, mich darin wiederzufinden, um mein Spiegelbild anzubeten.« Und zum Abschluss offenbarte er seine letzte Wahl, Marianne von Marivaux, »ich erröte, weil ich es noch nicht kenne.«

Aber er hatte sich verzählt! Gide hatte nur neun Bücher gewählt. Als patentierter Falschmünzer überließ er es dem aufmerksamen Leser, das Bild zu vollenden. Diese Auslassung offenbart viel über die ständige Veränderung der Literatur und den inzestuösen Kannibalismus, mit dem sich jedes künftige Buch von den Kunstwerken ernährt, die ihm vorangegangen sind.

 

In diesem Insel-Mahlstrom tauchen ein paar Rettungsbojen für verirrte Schriftsteller oder Leser auf. Die einsame Insel ist ein Gesellschaftsspiel im Wandel der Zeit, das in den tiefsten Schichten unserer Phantasie an das Echo seines Gründungsmythos vom ultimativen Einsiedler rührt. Die Schatzinsel oder Die schwarze Insel4? Geheimnisvolle Insel zwischen verlorenem Paradies und höllengleichem Exil, Befreiung und Gefangenschaft, Erholung und Verzweiflung, Neuschöpfung und Regression. Prospero oder Nemo? Ein Phantasieort, von der Insel der Nymphe Calypso, die Odysseus sieben Jahre lang gefangen hielt, bis zu der von Robinson Crusoe, der viermal so lange, also achtundzwanzig Jahre, an der utopischen Küste Amerikas blieb, nicht weit von der Mündung des großen Flusses Orinoko in den Atlantik, der sich in Michel Tourniers Freitag durch eine boshafte Umkehrung in den Pazifik verwandelt. Auf seiner »Insel der Verzweiflung« liest Defoes Held die Bibel, und ihm fehlt nichts außer menschlicher Gesellschaft. Edmond Dantès wiederum bleibt vierzehn Jahre (zwischen Odysseus und Robinson) in der Einsamkeit eines Kerkers im Château d’If, vor Marseille, und erlebt seine Auferstehung dank der erlesenen Bildung von Abbé Faria, der in seiner Zelle heimlich ein einziges Buch verfasst hat, das die fünftausend Bände zusammenfasst, die einst in seiner Bibliothek standen.5

Das schicksalhafte Wissen, das ihm sein Lehrer Faria vermittelt, verwandelt Dantès. Verzweiflung, Kreuzweg, Trost, Flucht, Rache, Aufstieg. Der vom Unglück zerstörte Mensch wird als maskierter Rächer neu geboren, der macht dann dem befriedeten Dandy Platz. Als Dumas 1842 im Toskanischen Archipel die kleine Insel Montecristo entdeckte, ein christlicher Zuckerhut, auf dem nur ein paar wilde Ziegen lebten, hatte er den Namen seines nächsten Romans gefunden. Da reiste er gerade auf einem großen Schiff mit Napoleon Bonaparte, nicht dem Kaiser, sondern dem Sohn von dessen Bruder Jérôme. Der damals neunzehnjährige Prinz war Dumas für eine Initiationsreise anvertraut. Nach einem Pilgerbesuch auf der Insel Elba wagten sie sich auf das bewegte Meer, fuhren um Montecristo herum, gingen jedoch nicht an Land, um die Quarantäne nach ihrer Rückkehr zu vermeiden. Verbotenes Land, Ziel eines Meisterwerks. »Warten und hoffen«, die Devise von Dantès. Ganz am Ende meiner Suche, als ich schon die Hoffnung aufgab, Dumas auftauchen zu sehen, kam in letzter Minute die Antwort von Ellroy: Monte Christo!6

Doch warum diese Dreierregel wie bei den drei Musketieren – mit einem Vierten im Hinterhalt? Warum diese heilige Dreifaltigkeit, diese taoistische Triade, dieses olympische Podium, Kaspar, Melchior, Balthasar paginiert, Heilige Drei Könige als Bücher, als Marschgepäck des Schiffbrüchigen?

Borges war wohl der Erste, der es erwähnte. Am 3. Dezember 2001 versetzte eine Auktion Bücherliebhaber auf der ganzen Welt in Aufregung. Versteigert wurde ein handgeschriebenes Manuskript, das Borges zwischen 1930 und 1935 für eine Zeitschrift verfasst hatte und das unveröffentlicht geblieben war. Borges war seit 1938 weitgehend, ab 1955 vollständig blind, er hat drei Viertel seines Werks diktiert; von seiner Hand geschriebene Texte sind höchst selten. Und nun tauchten aus dem Nichts drei mit einer engen Handschrift bedeckte Seiten auf, seine Auswahl von drei Büchern für eine einsame Insel!

Das ist nicht überraschend für den späteren Autor der Bibliothek von Babel, jener kabbalistischen Erzählung, die eine nahezu unendliche Bibliothek beschreibt, in der alle denkbaren schon geschriebenen und künftigen Bücher von vierhundertzehn Seiten (jede Seite mit vierzig Zeilen und ungefähr achtzig Zeichen) stehen, die wunderbarste Metapher für die Literatur als Universum. Jedes Werk dieser Arche Noah ist einzigartig, und die Suche nach dem Buch der Bücher7 gleicht der nach dem Heiligen Gral. Borges, ein fanatischer Enzyklopädist, der gelegentlich dachte, er sei in der Bibliothek seines Vaters geboren und habe sie nie verlassen, war in den dreißiger Jahren ein bescheidener Bibliothekar. Ab 1955 leitete er die Nationalbibliothek von Buenos Aires. Der blinde Konservator, der von seinem Posten zurücktrat, um gegen die Rückkehr des Diktators Perón zu protestieren, kannte zahlreiche Werke auswendig; besonders Robinson Crusoe, den er seit seiner Jugend in der Schweiz besonders liebte, als er während des Ersten Weltkriegs das Land wegen fehlender Visa nicht verlassen konnte. Nach der Rückkehr des Friedens erfand er auf der Insel Mallorca 191920 den Neologismus robinsonizarse (sich robinsonisieren). Zehn Jahre später formulierte er in einem Artikel die Regeln seines Spiels: Die einzelnen Bände müssen nicht »die drei bedeutendsten Bücher des Universums oder auch nur die denkwürdigsten unserer persönlichen Erfahrung sein«. Er schlug ein überraschendes Trio vor: Die Einführung in die mathematische Philosophie von Bertrand Russell oder ein ordentliches Handbuch der Algebra, ein metaphysisches Buch, »zum Beispiel Die Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer«, und ein Geschichtsbuch von Plutarch, Gibbon oder Tacitus.8 Borges’ Antwort bietet viel Raum für Interpretation. Drei Themen, drei Felder, die uns auf die Versuchung einer idealen Bibliothek verweisen.

 

Zurückhaltung oder Ausweitung? Wie löst man das Dilemma? 1956 schlug Raymond Queneau seine Variante des Spiels von der einsamen Insel vor, als er die literarische Umfrage Pour une bibliothèque idéale veröffentlichte. »Wir haben zweihundert Schriftstellern oder anderen Persönlichkeiten einen Fragebogen und dazu eine Art Memorandum geschickt, dass die Antworten vereinfachen soll. Wir wollten versuchen, gemeinsam eine Art ›ideale Bibliothek‹ zusammenzustellen, das heißt eine Liste der hundert Werke, die jeder ›anständige Mensch gelesen haben sollte‹.«9 Einige waren bereit zu antworten, andere lehnten es ab, zuweilen mit langen Erklärungen. Zu den vierzig, die das Spiel mitmachten und ihm die Liste der hundert wesentlichen Bücher lieferten, gehören Paul Claudel und Georges Simenon, Paul Éluard, Henry Miller und André Maurois. Ganz oben auf der Liste stehen Shakespeare, die Bibel, Proust, Montaigne und Rabelais, und wir werden sehen, dass man sie auch sechzig Jahre später noch unter den Antworten auf unsere Umfrage findet.

Wie ist sie entstanden? Es gibt viele denkwürdige literarische Umfragen, von der der Surrealisten, die 1919 ihren Zeitgenossen die Frage »Warum schreiben Sie?«10 stellten, bis zu der, die ich mit meinem Bruder Max 1994 für den Nouvel Observateur durchgeführt habe: »Ein Tag der Welt«, in der zweihundertvierzig Schriftsteller aus allen Ecken der Welt von demselben Tag in ihrem Leben, dem 29. April 1994, erzählten.11 Ihre Begeisterung bewies mir, dass sich Menschen, deren Leben das Schreiben ist, über die Grenzen hinweg mobilisieren lassen, wenn es darum geht, etwas zu vermitteln. Sie bilden eine Bruderschaft, eine eingeschworene Gemeinschaft, in der sich ihre Leser wiederfinden. Jedes Buch ist ein Wiedererkennungszeichen. Jeder Autor nährt sich von den Büchern, die andere geschrieben haben, hegt einen geheimen Garten, in dem großartige Titel zu Hause sind. Seit den Anfängen des Romans offenbaren uns die Schriftsteller in Memoiren, Tagebüchern und Briefwechseln ihre Liebe zu Büchern: ursprüngliche Erleuchtung, prägendes Vergnügen, Initiationshelden, unerschütterliche Leidenschaften, Staub der Vorfahren12, zufällige Begegnungen13, Frontalkollisionen. Treibriemen. Im Archipel der Empfehlungen machen die Meister füreinander Räuberleiter: von Shakespeare zu Stendhal, von Cervantes zu Flaubert, von Stendhal zu Nietzsche oder Sartre14 … Was gibt es Kostbareres als ein Buch, das einem der Lieblingsautor empfiehlt? Vertraulicher Dialog, Verführung zur Entdeckung ignorierter Bücher, Einladung zur Reise, unverzichtbarer Trost für die Einsiedelei und das Leid des Insellebens.

»Welche drei Bücher würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?« Diese klassische Frage war nie Gegenstand einer großen Umfrage. Am Anfang also die Antwort von McInerney. Dann, im Laufe der Jahre, die von achtzig Schriftstellern, die wir für den Nouvel Observateur interviewt haben. Über zehn Jahre bin ich mit meinem Freund Gilles Anquetil in bester Gemeinsamkeit dieser Sitte treu geblieben. Mit ihm habe ich die rituelle Frage zum Abschluss denkwürdiger Interviews in Paris oder anderenorts gestellt. Einige der Befragten sind inzwischen tot, darunter Updike, Havel, Ballard, Fuentes, Grass, Tabucchi, Stone, Wolf und Brink, aber ihre Stimmen begleiten uns weiter. So entstand eine lange literarische Reise durch Epochen und Kontinente als Versuch einer idealen Bibliothek des anständigen Menschen im 21. Jahrhunderts, ein Überlebenshandbuch für Schiffbrüchige.

2014